Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die Himmelskönigin
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 48–51
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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[48]
22. Die Himmelskönigin

Die Himmelskönigin, auch heilige Mutter genannt, war bei ihren Lebzeiten eine Jungfrau aus Fukien, namens Lin. Sie war rein, ehrfürchtig und fromm von Art. Als sie siebzehn Jahre alt war, starb sie, ohne verheiratet gewesen zu sein. Sie zeigt ihre Macht auf dem Meere, darum wird sie von den Schiffern fromm verehrt. Wenn sie unerwartet von [49] Wind und Wogen überfallen werden, so rufen sie sie an, und jederzeit ist sie bereit, zu erhören.

In Fukien gibt es viele Seefahrer, und jedes Jahr kommt es vor, daß Leute ums Leben kommen. Da war es wohl so, daß die Himmelskönigin zu ihren Lebzeiten Mitleid hatte mit der Not ihrer Landsleute. Und weil ihr Geist unentwegt darauf gerichtet war, den Ertrinkenden aus ihrer Not zu helfen, so erscheint sie jetzt häufig auf dem Meere.

Auf allen Schiffen, die das Meer durchfahren, hängt in der Kajüte ein Bild der Himmelskönigin, und ferner werden drei Talismane aus Papier im Schiffe aufbewahrt. Auf dem einen ist sie gemalt mit Krone und Szepter, auf dem zweiten ist sie gemalt als Jungfrau in gewöhnlichem Gewand, auf dem dritten ist sie gemalt mit offenem Haar, barfuß, ein Schwert in der Hand und stehend. Kommt nun das Schiff in Gefahr, so verbrennt man den ersten Talisman, und es naht die Hilfe. Hilft der noch nicht, so verbrennt man den zweiten und schließlich den dritten. Tritt dann noch keine Hilfe ein, so ist nichts mehr zu machen.

Wenn in Wind und Wogen und Wolkendunkel die Schiffer ihre Richtung verloren, so rufen sie in frommem Gebet die Himmelskönigin an. Dann erscheint eine rote Lampe auf den Wassern. Folgt man der Lampe nach, so kommt man sicher aus aller Gefahr. Oft sieht man auch die Himmelskönigin in den Wolken stehen und mit ihrem Schwerte den Wind zerteilen. Der Wind entfernt sich dann nach Nord und Süd, und die Wogen glätten sich.

Vor dem heiligen Bilde im Schiffe ist stets ein hölzerner Stab. Oft kommt es vor, daß die Fischdrachen auf dem Meere spielen. Das sind zwei riesige Fische, die gegeneinander das Wasser in die Höhe blasen, also daß des Himmels Sonne verfinstert wird und tiefes Dunkel das Meer verhüllt. Aus der Ferne sieht man oft in diesem Dunkel eine lichte Öffnung. Wenn man das Schiff gerade daraufzu hält, so kommt man durch und ist plötzlich wieder [50] im stillen. Blickt man zurück, so sieht man die beiden Fische Wasser speien. Das Schiff war gerade unter ihren Mäulern durchgefahren. Es ist aber immer ein Sturm in der Nähe, wenn die Fischdrachen schwimmen; darum verbrennt man Papier oder Schafwolle, damit die Drachen das Schiff nicht in die Tiefe ziehen, oder man läßt den Stabmeister im Schiff Weihrauch verbrennen vor dem Stab in der Kajüte. Dann nimmt er den Stab und schwingt ihn über dem Wasser einmal im Kreise, so ziehen die Drachen den Schwanz ein und verschwinden.

Wenn die Asche im Weihrauchgefäß ohne Ursache auffliegt und sich in der Luft zerstreut, so ist es sicher, daß schwere Gefahr droht.

Vor etwa zweihundert Jahren ward ein Heer ausgerüstet, um Formosa zu unterwerfen. Die Fahne des Feldherrn wurde geweiht mit dem Blute eines weißen Pferdes. Da erschien plötzlich die Himmelskönigin auf der Spitze der Fahne. Im Augenblick war sie wieder verschwunden, aber der Heereszug hatte Erfolg.

Ein anderes Mal, zur Zeit Kienlungs, erhielt der Minister Dschou Ling den Befehl, auf den Liu-Kiu-Inseln einen neuen König einzusetzen. Als die Flotte südlich von Korea vorbeifuhr, erhob sich ein Sturm, und sie wurden verschlagen nach dem schwarzen Wirbel. Das Wasser sah aus wie Tinte; Sonne und Mond verloren ihren Schein, und es erhob sich die Rede, man sei in den schwarzen Wirbel geraten, aus dem noch kein Mensch lebend wieder herausgekommen. Die Schiffer und Reisenden erwarteten klagend ihr Ende. Plötzlich erschienen auf der Fläche des Wassers unzählige Lichter wie rote Lampen. Da wurden die Schiffer hocherfreut und beteten in der Kajüte. „Wir werden leben“, sagten sie, „die heilige Mutter ist gekommen.“ Und richtig erschien eine schöne Jungfrau mit goldnen Ohrringen. Die strich mit der Hand durch die Luft; der Wind wurde still und die Wogen eben. Es war, als würde das Schiff von mächtiger Hand gezogen. Plätschernd [51] strich es durch die Wellen, und plötzlich war man außerhalb des schwarzen Wirbels.

Dschou Ling kam zurück, berichtete über die Sache und bat, daß der Himmelskönigin Tempel errichtet und sie in die Liste der Götter aufgenommen werden möge. Und der Kaiser erfüllte die Bitte.

Seitdem stehen an allen Hafenorten Tempel der Himmelskönigin. Am achten Tag des vierten Monats wird ihr Geburtstag gefeiert mit Schauspiel und Opfern.

Anmerkungen des Übersetzers

[391] 22. Die Himmelskönigin. (vgl. Sü Tsi Hiä.)

Die Himmelskönigin Tiän Hou oder genauer Tiän Fe Niang Niang ist eine von den Taoisten gepflegte Gottheit der Seefahrt, an Küstenplätzen ziemlich allgemein verehrt. Es begegnen sich in ihrer Geschichte Lokalsagen, die auf die Provinz Fukiän weisen, und eine Übertragung der indischen Maritschi (die jedoch als achtarmige Dschunti noch eine besondere Verehrung hat).

Die Tiän Hou gehört seit der Mandschudynastie zu den amtlich anerkannten Gottheiten.