Die Heilbarkeit der Trunksucht

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Autor: Dr. med Hugo Hoppe
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Titel: Die Heilbarkeit der Trunksucht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 462–467
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Heilbarkeit der Trunksucht.
Von Dr. med. Hugo Hoppe.


Neben der Lungenschwindsucht ist der chronische Alkoholismus oder die Trunksucht die weitest verbreitete und folgenschwerste Krankheit unseres Jahrhunderts, eine furchtbare Geißel für die Menschen, nicht nur vom hygieinischen Standpunkte, sondern auch in volkswirtschaftlicher Beziehung.

In den Heilanstalten Preußens wurden von 1886 bis 1895 jährlich 10 497 Personen (von denen Frauen nur 6% bildeten) an chronischem Alkoholismus und Säuferwahnsinn behandelt, dabei sind die Irrenanstalten nicht berücksichtigt. Allein an Säuferwahnsinn starben in den allgemeinen Krankenhäusern Preußens in dem Jahrzehnt 1877 bis 1887 jährlich im Durchschnitt 1247 Personen (1132 Männer, 115 Frauen), in den preußischen Irrenanstalten etwa 100 Personen. An Selbstmord infolge von Trunksucht sind in den Jahren 1888 bis 1892 jährlich 540, an akutester Alkoholvergiftung und tödlichen Unfällen infolge von Trunksucht etwa 400 Personen zu Grunde gegangen. Also im Königreich Preußen sterben jährlich mindestens 2300 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Trunksucht. Dazu kommen aber noch die unzähligen statistisch gar nicht genau festzustellenden Todesfälle durch Organerkrankungen, wie Herz-, Nieren-, Leber-, Hirnleiden, welche durch chronischen Alkoholmißbrauch hervorgerufen werden und einen großen Teil unserer Männer in der Blüte der Jahre dahinraffen.

Man hat berechnet, daß in Deutschland im Jahre ungefähr 500 000 Männer dem Alkohol zum Opfer fallen. Aehnlich oder noch viel schlimmer liegen die Verhältnisse in anderen europäischen Ländern. Die bisher mitgeteilten Zahlen geben schon einen gewissen Begriff von der Verbreitung der Trunksucht und ihren furchtbaren Folgen. Dazu kommt weiter noch das große Heer von Geisteskranken, von Verbrechern und von Bettlern, welche wir der Trunksucht verdanken.[1] [463] Wie groß mag nun die Zahl aller Trunkenbolde in Deutschland sein? Auch darüber stehen uns Daten zu Gebote, welche uns wenigstens erlauben, diese Zahl annähernd zu schätzen. Im Jahre 1877 wurden in der Rheinprovinz nach einer Umfrage der Regierung 7138 Trunkenbolde ermittelt (wobei aber eine Reihe von großen Städten mit zusammen beinahe 1 Million Einwohner fehlt); in Westfalen zählte man 3928 notorische Trinker. In Berlin gab es im Jahre 1885 9300 Trunkenbolde und in Ost- und Westpreußen im Jahre 1890 20 000. Danach würde die Zahl der von Trunksucht Befallenen in ganz Deutschland über 300 000 betragen (in England schätzt man die Zahl derselben auf 500 000). Doch sind in dieser Zahl fast ausschließlich die notorischen Branntweintrinker berücksichtigt, während die den bemittelteren Ständen angehörigen Gewohnheitstrinker, welche sich mit Bier oder Wein zu berauschen pflegen, meist außer Beobachtung stehen und daher zum großen Teil außer Rechnung fallen. Einen gewissen Schluß aber auf die Zahl derselben kann man z. B. aus folgender Thatsache ziehen: einer der Fabrikanten für Geheimmittel gegen die Trunksucht, Reinhold Retzlaff in Dresden, hat, wie der Nachweis der Bücher bei einer gerichtlichen Untersuchung ergeben hat, in einem Jahre nicht weniger als 300 000 Mark für Enzianpulver eingenommen. Wenn er von jedem Nachsuchenden durchschnittlich sogar 10 Mark Bezahlung für das Medikament genommen hat, so ergeben sich allein in diesem einen Jahre 30 000 Gewohnheitstrinker, welche sich an ihn wandten und wohl zu einem nicht geringen Teil den zahlungsfähigeren Kreisen angehörten, wenn auch sicher so manche arme Frau ihr letztes Scherflein zum Geheimmittelfabrikanten trägt, um den Ruin aufzuhalten, welchem die Familie durch die Trunksucht des Mannes entgegengeführt wird. Wie viel solcher Geheimmittelfabrikanten aber mag es wohl in Deutschland geben? Man bekommt einen ungefähren Begriff davon, wenn man die Annoncenteile unserer Tageszeitungen und Wochenschriften durchmustert und die zahlreichen Anpreisungen von „unfehlbaren“ Mitteln gegen die Trunksucht liest, von Heilung derselben „mit oder ohne Vorwissen“ des Trinkers.

In einer dieser Annoncen, welche regelmäßig in einer populären naturwissenschaftlichen Wochenschrift erscheint, heißt es:
„Für Rettung von Trunksucht
versendet Anweisung nach 22jähriger approbierter Methode zur sofortigen radikalen Beseitigung, mit, auch ohne Vorwissen zu vollziehen, keine Berufsstörung. Briefen sind 50 Pf. in Briefmarken beizufügen.“

Für jeden Einsichtigen wird es ja klar sein, daß derartige Annoncen auf die Dummen spekulieren, welche bekanntlich nicht alle werden, oder auf die Verzweifelten berechnet sind, welche sich an einen Strohhalm klammern. Nicht, daß ein Mittel gegen die Trunksucht nicht existierte, es giebt ein solches, wie wir gleich sehen werden, nur besteht es nicht in irgend einem Medikament.

Die Geheimmittel gegen die Trunksucht sind entweder ziemlich indifferente chemische oder pflanzliche Stoffe, wie das Enzianpulver des oben erwähnten Retzlaff (ein Bittermittel, welches etwas auf den Appetit wirkt), oder sie haben die Eigenschaft, Ekel (resp. Brechen) zu erregen, wodurch dem Trinker der Alkohol gleichsam verekelt werden soll (Ekelkuren).

Solche Heilmethoden beruhen auf einer Vorstellung, deren Hinfälligkeit sich bei einigem Ueberlegen von selbst ergiebt. Denn wie sollte es wohl ein Medikament geben, welches die Natur eines Menschen so tief veränderte, daß derselbe von nun an einen dauernden Abscheu vor einer ganz bestimmten Substanz empfinden sollte?

Ueberhaupt, wer da glaubt oder verspricht, daß irgend ein Medikament die Trunksucht heilen soll, hat von dem Wesen der Trunksucht keine Ahnung. Er stellt sich die Trunksucht etwa als einen Fremdkörper vor, als einen bösen Geist oder als einen Krankheitsstoff, welcher in den Körper hineingefahren ist und nun durch das Medikament, mit welchem sich der Krankheitsstoff nicht verträgt, hinausgetrieben werden soll.

Es wäre dies allerdings sehr bequem: man nimmt täglich so und so viel Eßlöffel von der Medizin oder so und so viel Pulver „mit oder ohne Vorwissen“, und man ist nach einiger Zeit „mit oder wider Willen“ von der fatalen „Leidenschaft“ befreit. Kann es etwas Einfacheres geben, und kann man sich wundern, daß Tausende und aber Tausende ihr Geld zum Geheimmittelfabrikanten tragen, der sie von der Trunksucht zu befreien verspricht, ohne daß sie dabei etwas anderes zu thun brauchen, als täglich einige Pulver oder Mixturen zu schlucken? So einfach aber ist die Sache denn doch nicht.

Was das Wesen der Trunksucht betrifft, so muß vor allem festgehalten werden, daß die Trunksucht im allgemeinen keine böse Gewohnheit, kein Laster ist, wie noch vielfach geglaubt wird, sondern eine Krankheit, die, wie gerade neuere Untersuchungen gezeigt haben, meistens auf angeborener Anlage beruht, wenn auch dieselbe während des Lebens durch allmähliche Gewöhnung an das Gift erworben werden kann. Die Trunkenbolde sind gewöhnlich erblich belastete Individuen, sei es, daß Trunksucht oder Geistesstörungen oder schwere Nervenkrankheiten in der Familie das belastende Moment bilden. Professor Kräpelin in Heidelberg hat bei 3/4 der Trinker, die er in den letzten Jahren beobachtet hat, erbliche Belastung feststellen können; bei der Hälfte derselben war der Vater Trinker gewesen. Dr. Schmitz (Bonn) fand bei 90% seiner Patienten erbliche Belastung, die in 75% der Fälle durch Trunksucht der Eltern (meist des Vaters) oder der Voreltern entstanden ist.

Es handelt sich bei diesen erblich Belasteten um nervöse, minderwertige, geistig oder moralisch defekte, willensschwache Naturen, welche, sowie sie den Alkohol kennengelernt haben, nicht mehr von demselben lassen können, bald kein Maß mehr finden, zu immer größeren Excessen vorschreiten und mehr oder weniger schnell von Stufe zu Stufe sinken. Der regelmäßige Alkoholmißbrauch ruft, wenn er einen geeigneten Boden findet, sehr schnell, langsamer aber, wenn er denselben erst schaffen muß, eine bleibende krankhafte Veränderung des Nervensystems hervor, welche sich vor allem in einem unwiderstehlichen Trieb nach dem Gifte äußert.

Die zeitliche Entbehrung des gewohnten Giftes versetzt den Alkoholisten in einen unbehaglichen und leistuugsunfähigen Zustand, ähnlich wie den Morphinisten die Entbehrung des Morphiums, welche allerdings weit qualvoller ist. Dazu kommt noch, daß bei gewohnheitsmäßigem Alkoholmißbrauch die Energie und die moralische Widerstandskraft, wie der Charakter überhaupt, sehr geschwächt wird, so daß die Trinker den zahlreichen Versuchungen, welche ihnen in Gestalt guter Freunde, fideler Zechgenossen und lockender Trinkhallen auf allen Schritten begegnen. nur zu leicht erliegen. „Die durch das Gift geschwächte Energie gestattet keinen selbständigen Entschluß, kein Aufraffen aus dem gewohnten Schlendrian.“ So schmiedet sich das Gift selbst die Ketten, um seine Opfer in Fesseln zu schlagen, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint.

Zum Trost sei es allen Alkoholisten wiederholt: es giebt ein Mittel, welches aus dieser Sklaverei befreit, allerdings nur ein einziges, und dieses heißt: völliger und dauernder Verzicht auf alle alkoholischen Getränke.

Der Vorsatz der Mäßigkeit hat noch keinen Trinker geheilt, da das erste Glas die besten Vorsätze erschüttert und über den Haufen wirft. Es handelt sich also darum, das erste Glas, den ersten Schluck zu vermeiden. Wie aber soll das möglich sein in unserer alkoholfreudigen Gesellschaft, da an allen Orten und bei jeder Gelegenheit alkoholische Getränke genossen werden und ein solcher Trinkzwang herrscht, daß jeder, der sich von den Trinkgewohnheiten ausschließt, als Schwächling oder Sonderling verhöhnt wird?!

Es ist deshalb von dem bekannten (kürzlich verstorbenen) Irrenarzte Dr. Kahlbaum in Görlitz vor einigen Jahren in allem Ernste der Vorschlag gemacht worden, die Trinker zusammen auf einer einsamen Insel anzusiedeln, von welcher alle alkoholischen Getränke ausgeschlossen werden könnten. Offenbar wäre dies das einfachste und sicherste Verfahren, wenn – der Vorschlag nur ausführbar wäre. Wenn man sich aber nicht Utopien hingiebt, sondern mit gegebenen Verhältnissen rechnet, so bleibt nur ein Weg zur Heilung der Trunksucht übrig, das ist die zeitweilige Unterbringung des Kranken in einer Trinkerheilanstalt. Hier soll der Alkoholkranke an die völlige Enthaltung von alkoholischen Getränken gewöhnt werden, während andrerseits durch eine zweckentsprechende Behandlung die körperlichen Kräfte gehoben, das [466] zerrüttete Nervensystem regeneriert, die Energie und die Widerstandskraft belebt und gefestigt werden sollen.

Amerika gebührt das Verdienst, die Einrichtung von Trinkerheilanstalten zuerst angeregt zu haben, und zwar war es ein Arzt, Dr. Benjamin Rush, welcher im Jahre 1809 die Ansicht aussprach, daß Trinker Kranke seien, die zu ihrer Heilung besonderer Anstalten bedürften. Doch dauerte es noch beinahe 50 Jahre, ehe in Boston, im Jahre 1857, die erste (staatliche) Trinkerheilanstalt eröffnet wurde. Seitdem sind in den verschiedenen Staaten Nordamerikas etwa 50 Trinkerasyle entstanden, die meisten allerdings von privater Seite.

Auch die englischen Trinkerasyle, von denen das erste 1852 gegründet wurde, sind alle Privatanstalten. In Frankreich und Oesterreich ist man in den allerletzten Jahren mit der Gründung von öffentlichen Trinkerheilanstalten vorgegangen.

Die deutschen Trinkerheilanstalten, welche fast ausschließlich Wohlthätigkeitsanstalten und von Geistlichen oder religiösen Genossenschaften gegründet und geleitet sind, datieren weiter zurück. Die älteste und bedeutendste ist Lintorf am Rhein. Sie ist überhaupt das älteste aller Trinkerasyle. Sie wurde im Jahre 1851 durch das Diakonissenhaus in Duisburg gegründet, zunächst allerdings nicht nur für Trinker, sondern als Rettungshaus für gesunkene und verkommene Individuen, welchen letzteren später nach trüber Erfahrung die Pforten verschlossen wurden. Die Anstalt enthält 25 Plätze, der Pensionspreis beträgt 150 bis 450 Mark jährlich. Im Jahre 1879 kam dazu das Haus Siloah für Trinker der besseren Stände, auch mit 25 Plätzen (Pensionspreis 1500 und 1800 Mark jährlich). Die übrigen Asyle sind alle erst nach 1880 gegründet, und zwar 1882 Sophienhof bei Tessin in Mecklenburg von Pastor Neuck und Freiherrn v. d. Oertzen mit 12 Plätzen (150 Mark jährliche Vergütung), 1886 Niederleipa bei Jauer in Schlesien mit 21 Plätzen (250 bis 400 Mark jährlich), 1887 Salem in Holstein vom Landesverein für innere Mission mit 25 Plätzen (3 Klassen: 250, 500 und 750 Mark), 1888 Friedrichshütte, Wilhelmshütte und Eichhof bei Bielefeld von Pastor v. Bodelschwingh (1 bis 1,50 Mark für den Tag, in Eichhof für wohlhabende Kranke 1700 Mark jährlich und darüber), im Jahre 1889 Klein-Drenzig bei Guben vom Provinzialverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (600 Mark jährlich), 1892 Stenz bei Königsbrück im Königreich Sachsen (400 Mark jährlich), Sagorsch bei Rahmel, Westpreußen (3 Klassen: 350, 500 und 1000 Mark) und Karlshof bei Rastenburg in Ostpreußen, 1893 Brückenhof bei Frankfurt a. M., schließlich ganz neuerdings (1898) der Oejendorfer Hof bei Schiffbek, das einzige öffentliche Asyl, das unter ärztlicher Aufsicht steht (Dr. Nonne in Hamburg), und das am 1. Dezember 1898 eröffnete „Pommersche Trinkererrettungshaus“ in Elisenhof bei Pollnow (300 bis 500 Mark jährlich). In Aussicht genommen und bereits beschlossen ist die Errichtung einer öffentlichen Berliner Trinkerheilanstalt für 50 Kranke von dem Berliner Zweigverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke auf einem 150 Morgen großen Grundstück bei Fürstenwalde (Kostenanschlag 140 000 Mark) und die Errichtung einer katholischen Trinkerheilanstalt bei Werden im Landkreise Essen durch den Kamillianerorden, während der Dresdner Zweigverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke die Errichtung einer öffentlichen Heilstätte für Trunksüchtige aller Stände in Dresden plant.

Neben diesen im gewissen Sinne öffentlichen Asylen giebt es noch mehrere nur für die wohlhabenden Stände bestimmte und von Aerzten geleitete Privatanstalten: die älteste ist die von Dr. Schmitz in Bonn, dann folgen die von Dr. Römer in Elsterberg bei Zwickau (Kgr. Sachsen), von Dr. Smith zu Schloß Marbach am Bodensee, von Dr. Fürer in Rockenau bei Eberbach in Baden, von Dr. Colla zu Finkenwalde bei Stettin (Sanatorium Buchheide) und von Dr. Silberstein in Hamburg (Sanatorium Barmbeck). Dazu kommen schließlich noch einige neuerdings gegründete Kurpensionen, die des Rittergutsbesitzers Smith auf Neudorf am Schallsee in Lauenburg, die Pension für Alkoholkranke zu Barghorst bei Ahrensbök im Amte Eutin (Fürstentum Lübeck) und Villa Margaretha in Nesse bei Loxstedt (Hannover), letztere beide unter ärztlicher Leitung. Alle diese Asyle sind nur für Männer bestimmt. Trunksüchtige Frauen finden Aufnahme im Diakonissenhaus zu Borsdorf bei Leipzig, in der Heimstätte für weibliche Alkoholkranke zu Bonn von Frl. B. Lungstreß (1. Klasse 5 Mark, 2. Klasse 2 bis 3 Mark täglich), im Elisenheim in Himmelsthür von Hildesheim, sowie im Hause des Dr. med. Schomerus zu Walsrode (Hannover). Eine besondere Erwähnung verdienen noch die trefflich eingerichteten und geleiteten schweizer Asyle, vor allem die 1889 mit Unterstützung der Regierung gegründete Trinkerheilanstalt Ellikon im Kanton Zürich mit 40 Plätzen, dann Nüchtern im Kanton Bern mit 20 Plätzen, Trelex im Kanton Waadt mit 22 Plätzen, während für die Kranken der besseren Stände neuerdings das unter ärztlicher Leitung stehende Abstinenzsanatorium Schloß Hard in Ermatingen am Untersee mit 30 Plätzen (Verpflegung 6 Franken für den Tag, Zimmer 2 bis 20 Franken) gegründet worden ist.

Wenn auch in den unter geistlicher Leitung stehenden Asylen religiöse Einwirkungen und religiöse Uebungen naturgemäß den Mittelpunkt der Behandlung bilden[2], so gelten doch auch hier wie in den von Aerzten geleiteten Anstalten völlige Abstinenz und körperliche Beschäftigung als unentbehrliche Mittel der Behandlung. In vereinzelten Asylen der ersten Gattung soll jedoch Braunbier gestattet sein. Demgegenüber muß nachdrücklich betont werden, daß mit einem auch noch so schwachen alkoholischen Getränk (Braunbier enthält 11/2 bis 2%, unser „Bayrisches“ 3 bis 5% Alkohol) kein Trinker zur Abstinenz erzogen werden kann. In den ärztlichen und nach ärztlichen Grundsätzen geleiteten Anstalten bildet daher die vollständige Abstinenz den wichtigsten Teil der Behandlung. Abstinenz ist nicht nur die Bedingung für die Kranken, sondern auch für die gesamte Umgebung. In die Anstalt darf kein Tropfen alkoholischer Getränke gelangen. Die Angestellten nebst ihren Familien müssen sich der vollständigen Abstinenz befleißigen: sie sollen den Kranken mit gutem Beispiel vorangehen und an ihrem eigenen Leibe zeigen, daß man ohne alkoholische Getränke sehr gut leben und bestehen kann.

Die Kranken, welche, da der Eintritt in die Anstalt ein freiwilliger ist, auch eine gewisse Freiheit der Bewegung genießen, müssen bei demselben einen Revers unterschreiben, in welchem sie sich wie zum strengen Innehalten der Hausordnung, so auch besonders dazu verpflichten, keine alkoholischen Getränke zu genießen und sich keine heimlich zu verschaffen.

Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, also von 1900 an, wird es auch möglich sein, Trinker zwangsweise in Heilanstalten unterzubringen. Nach § 6, Absatz 3, ist nämlich die Entmündignng von Trinkern möglich. („Entmündigt kann werden, wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt oder die Sicherheit anderer gefährdet.“) Als Entmündigter erhält er einen Vormund, welcher berechtigt und verpflichtet ist, geeignetenfalls auch gegen den Willen des Trinkers, für dessen Aufnahme und Festhaltung in einer Heilanstalt zu sorgen, um dadurch, wenn möglich, die Heilung des Trinkers herbeizuführen.

Um das Einhalten der Abstinenz zu erleichtern, ist die Lage der Trinkerasyle meist etwas isoliert, fern von Verkehr und den mit demselben verbundenen Gasthäusern gewählt. Dr. Smith in Schloß Marbach hat es durchzusetzen gewußt, daß den Wirtschaften der Nachbarorte von der Regierung verboten ist, den Insassen von Marbach alkoholische Getränke zu verabfolgen. Damit die Kranken leichter imstande sind, den Versuchungen zu widerstehen, dürfen sie (so lange es der Leiter für nötig befindet) weder Geld noch Geldeswert bei sich führen, in der ersten Zeit entweder gar nicht oder nur in Begleitung ausgehen, in keinem Gasthaus einkehren u. dgl. m., bis ihre Widerstandskraft so weit gefestigt scheint, daß die Zügel allmählich etwas gelockert werden können. Man läßt später den Kranken erst auf kürzere Dauer, dann auf längere Zeit ohne Begleitung ausgehen, erlaubt ihm, etwas Taschengeld bei sich zu führen, und beurlaubt ihn wohl auch gelegentlich auf einige Tage nach Hause, um ihn so langsam an den Gebrauch der Freiheit zu gewöhnen.

Neben der Abstinenz bildet geregelte körperliche Beschäftigung den wichtigsten Faktor für die körperliche und geistige Regeneration des Kranken. Besonders wertvoll sind in dieser [467] Beziehung Feld- und Gartenarbeiten. Die regelmäßige Beschäftigung in der frischen Luft und die körperlichen Anstrengungen üben einen wohlthätigen Einfluß auf Körper und Geist aus, sie regen den Appetit an und fördern den Stoffwechsel, schaffen das schwammige Fett fort und stärken die Muskulatur, während der Geist mit wohligem Behagen und neuem Lebensmut erfüllt wird.

Im Winter, wo natürlich die Arbeiten im Freien beschränkt sind, kommen Arbeiten in den verschiedensten Werkstätten an deren Stelle. Zur Erholung dienen gemeinsame Spaziergänge, Ausflüge, körperliche Spiele aller Art, kleine Festlichkeiten, musikalische Unterhaltungen, Lektüre u. dgl. m. In den größeren und komfortabel eingerichteten Privatanstalten bieten zahlreiche Turnapparate in luftigen Räumen reichlichste Gelegenheit zu methodischer körperlicher Anstrengung, die täglich unter ärztlicher Leitung geübt wird; schwedische Gymnastik, Massage, Hydrotherapie bilden dann noch eine Unterstützung der Behandlung, welche natürlich auch die Heilung der mit der Trunksucht verbundenen Organerkrankungen erstrebt (besonders Herzerweiterung findet sich häufig bei Trinkern und scheint in manchen Fällen die Trunksucht zu befördern, resp. hervorzurufen).

Auf reichliche und zweckmäßige Ernährung wird in allen Anstalten ein um so größerer Wert gelegt, als die Trinker meist körperlich sehr heruntergekommen sind, die Kranken ein gewisses Maß von körperlicher Anstrengung leisten müssen, und der Mangel des gewohnten Reizmittels einen gewissen Ersatz in guten und sorgfältig zubereiteten Speisen finden muß.

Schließlich ist noch die strenge Disciplin zu erwähnen. Es wird auf Aufrechthaltung eines absolut guten Tones und genaue Befolgung der Hausordnung geachtet.

Als disciplinare Maßregeln kommen allerdings nur der Verweis und, wenn dieser nichts hilft, die Entlassung aus der Anstalt in Betracht.

Die Resultate, welche in den Trinkerheilanstalten erreicht werden, sind recht befriedigend. Nach einer Statistik, die sich über 3000 Fälle aus Amerika erstreckt, ergiebt sich eine vollständige Heilung von 40%. In Ellikon sind von den 1889 bis Ende 1896 Behandelten 43,6% abstinent geblieben.

Natürlich giebt es auch eine Reihe unheilbarer Fälle. Diese betreffen meist schwachsinnige, geistig und moralisch defekte, degenerierte, verkommene oder zu alte Personen, die von vornherein wenig Aussicht bieten und in manchen Anstalten erst gar nicht aufgenommen werden, zumal da sie die Statistiken verschlechtern. Diese gehören ihrer Gemeingefährlichkeit wegen in Trinkerbewahranstalten, welche leider noch nicht existieren, aber eine dringende Notwendigkeit sind.

Die Heilungen nehmen mit der Dauer der Anstaltsbehandlung zu. Ein halbes Jahr gilt an den meisten Anstalten als das niedrigste Zeitmaß, um eine vollständige Heilung zu sichern, manche halten eine Behandlung von einem Jahr für notwendig.

Damit die Entlassenen außerhalb der Anstalt einen Halt, einen Stützpunkt haben, hat sich der Zusammenschluß derselben zu Vereinen oder der Anschluß an bestehende Abstinentenvereine (Alkoholgegnerbund, Blaues Kreuz, Guttemplerorden)[3] als sehr zweckmäßig erwiesen. So hat sich durch die Bemühungen des Hausvaters des Asyls Ellikon, welches in vielen Beziehungen vorbildlich ist, ein Verein „Nüchternheit“ ehemaliger Pfleglinge dieses Asyls gebildet, der 1895 über 90 Mitglieder zählte. Derselbe stellt u. a. die Aufgabe, sich gegenseitig in der Abstinenz zu bestärken und zu kontrollieren, in Wort und That für den Abstinenzgrundsatz Propaganda zu machen, namentlich Trinkern nachzugehen und sich derselben anzunehmen, sodann solche zu veranlassen, in einer Trinkerheilstätte Heilung zu suchen.

Ich habe hier des längeren auseinandergesetzt, welche Mittel wir haben, die Trunksucht zu heilen. Ich würde jedoch fürchten, nicht vollständig zu sein, wenn ich nicht zum Schluß noch darauf hinweisen wollte, daß die wirksamste Art, die Trunksucht zu bekämpfen, ihre Verhütung ist. Eine Krankheit verhüten hat mehr Wert, als die entstandene heilen, diese Anschauung hat sich immer mehr und mehr Bahn gebrochen und zu dem mächtigen Aufblühen der modernen Wissenschaft der Hygieine geführt.

Und so ist denn auch bei der Trunksucht das Verhüten die erste und wichtigste Aufgabe. Der Kampf gegen die Trunksucht, gegen den immer mehr überhand nehmenden Alkoholmißbrauch bildet eins der Hauptkapitel der praktischen Hygieine. In diesem Kampfe müssen sich staatliche Maßnahmen, ärztliche Bemühungen und private Bestrebungen vereinigen, wenn derselbe zum Heile des Menschengeschlechts erfolgreich sein soll.


  1. Wer sich über diese und andere Punkte der Alkoholfrage eingehender belehren will, sei auf die Schrift „Die Thatsachen über den Alkohol. Für gebildete Laien, Verwaltungsbeamte und Aerzte. Dargestellt von Dr. Hugo Hoppe“ (Dresden 1899, Verlag von O. B. Böhmert) verwiesen.
  2. Sittliche Beeinflussung und eingehende Belehrung über den Alkohol und seine Wirkungen finden natürlich in allen Anstalten statt.
  3. Nach den Erfahrungen der Enthaltsamkeitsvereine, besonders des (auch in Deutschland) immer weitere Fortschritte machenden großen Guttemplerordens scheint es, daß eine große Zahl Trunksüchtiger auch ohne Anstaltsbehandlung geheilt werden kann, „dadurch, daß ihnen in rechter Weise das Gelübde lebenslänglicher Enthaltsamkeit abgenommen wird, und sie sich einem richtig arbeitenden Enthaltsamkeitsvereine eng anschließen, wo sie Aufklärung über den absoluten Unwert aller alkoholischen Getränke erhalten, wo sie Halt und Selbstgefühl wieder finden, und wo sie es lernen, dem Alkohol nun ihrerseits seine Opfer zu entreißen.“