Die Heidelberger Karcer
Die Heidelberger Karcer.
Sollte Jemand bei dem Worte Karcer an mittelalterliche Verließe denken, sollten die Bleikammern Venedigs, Londons Tower, die Bastille, der Spielberg mit dem Freiherrn von Trenck, der Hohenasperg mit dem unglücklichen Dichter Schubart vor den Augen seiner Seele aufsteigen, so braucht er nur einen Blick auf die nebenstehenden Bilder zu werfen, und das aufkeimende Schauergefühl wird sich in eine gelinde Lustigkeit verwandeln.
Ja, in diesen Räumen ist nichts von Finsterniß, Grabeskälte, Moderluft, Schlangenbiß und Unkenruf, nichts von Ketten und Fesseln. Gottes Sonne schaut voll herein in stattliche Stuben; das unvermeidliche Stroh findet sich nur in den Säcken bequemer Lagerstätten; Wasser und Brot erscheint in Gestalt von Braten und Bier, Austern und Chablis, ja selbst Fruchteis und Champagner, wenn wir den redseligen Wänden Glauben schenken dürfen. Die Stelle des Kerkermeisters vertritt die schmucke Karoline, nach der hier so viele Lippen geseufzt haben und so viele Herzensergießungen in Poesie und Prosa noch seufzen. Kein Schrei der Verzweiflung bricht sich an diesen buntscheckigen Mauern; melodischer Sang jugendlicher Bierkehlen hallt in ihnen wider; statt wilder Flüche steigen zum Himmel die blauen Ringe des duftigen Varinas; statt der krampfhaft geballten Fäuste sind wohlgepflegte Hände bestrebt, mit anmuthiger Galanterie die Freuden des Karcers zu schildern, ihm Schattenrisse und Photographien zu widmen, die Namen unter Beifügung launiger Bildlein und lustigen Reimwerks in das Stammbuch seiner Wände, Balken, Tische, Stühle etc. einzutragen.
Die Karcerstuben sind nicht viel weniger hoch und breit, als auch sonst die Studentenbuden zu sein pflegen, an je einer dem Dach entsprechenden Seite abgestutzt und von Gebälk durchzogen. Ueberall finden sich ein Ofen, zwei Bettstellen mit Strohsäcken, zwei Tische, zwei Stühle, ein Rouleau, in „Solitude“ sogar eine Klingel mit der Unterschrift darunter: „Bitte zu klingeln: einmal Karoline, zweimal Valentin, dreizehnmal ein Polyp[1], 14 Stunden lang unausgesetzt für den Bierrichter!“ – Für Decken, Kopfkissen, Plumeaus, Toilettengegenstände etc. hat der zum Karcer verurtheilte Studio selbst zu sorgen. Das Essen läßt er sich bringen, wenn er es nicht vorzieht, während der ihm für Kollegienbesuch vergönnten freien, manchmal über den ganzen Tag ausgedehnten Stunden seinen Imbiß außerhalb einzunehmen. An Getränken wird eine bestimmte Portion Wein und Bier durch den Hausmeister verabreicht. Doch versteht es der Sträfling, sich damit nöthigen Falles auch auf Schleichwegen zu versorgen. Die Wäscherin, der Stiefelfuchs, benachbarte gute Freunde, ein Strick mit anhängenden Flaschen, der heimlich nach oben gezogen wird, verschaffen ihm den gewohnten Trunk.
Die Nacht wird gewöhnlich im Karcer schlafend zugebracht; doch meldet die Universitätschronik auch von nächtlicher Ueberkletterung des nördlichen Hofthors und Wiederzurücksteigen mittels Leitern, so daß bei der Morgenvisitation die Vögel wieder zwitschernd oder schnarchend im Käfig angetroffen wurden.
Ist der Student aus einer der unzähligen zumeist harmlosen, an den Wänden abzulesenden Ursachen inhaftirt worden, so ist seine nächste Beschäftigung, sich in Bild oder Schrift zu verewigen. Die Silhouetten werden mit Hilfe des Lichts gemalt, indem dasselbe den Schatten des Delinquentenkopfes auf die Wand wirft, der einfach nachgezeichnet wird. Zu diesem Geschäft sind natürlich zwei Personen erforderlich. Das umrissene Konterfei wird dann mit Tusche, Tinte, Oelfarbe, Kienruß, Wichse und anderen schwärzenden Materien ausgefüllt und die umgebende Partie so weit abgekratzt, daß das Profil erkennbar sich abhebt.
Die Namen werden gleichfalls mit dem verschiedensten Material an allen denkbaren Orten angebracht, sie werden geschrieben, gepinselt, geschmiert, gekratzt, geschnitten, gravirt, und zwar auf die Decken, die Balken, die Wand, die Bettstatt, Tische, Stühle, Rouleaus, Fenster; selbst Kaminthüren und Tischschubladen müssen herhalten, um diese internationale Autographensammlung bereichern zu helfen. Dazwischen sind massenhafte Verse gekritzelt, so daß auf den ersten Blick die Karcerwände den Eindruck machen, als seien sie von oben bis unten mit förmlichen Hieroglyphen übersäet. Jetzt sieht der Karcer so aus, wie unsere Bilder ihn naturgetreu wiedergeben, aber in verhältnißmäßig kurzer Zeit wird er eine ganz andere Physiognomie zur Schau tragen. [534] Denn der Kampf ums Dasein zeigt sich auch hier. Ein Name verdrängt den anderen, ein Bild macht dem anderen das Terrain streitig, ein poetischer Erguß läuft dem anderen den Rang ab. Bedeutende Köpfe nehmen plötzlich einer Unmasse bescheidener Existenzen den Raum weg, leuchten wie die Größen der Weltgeschichte und verschwinden wie sie, entweder noch Gewaltigeren oder dem Schwarm der rudis indigestaque moles Platz machend. Zuweilen fährt ein Sturm der Vernichtung in Gestalt weißender Anstreicherpinsel darüber hin und läßt nichts zurück, als eine fahle, kahle Fläche, auf welche dann die Gegenwart mit mächtigem Ungestüm eindringt. Der Karcer ist alt genug, aber darin von einem Greise verschieden, daß er nur das Jüngste behalten kann. Die Vergangenheit, die Jenem so unauslöschbar treu in der Erinnerung steht, kommt ihm immer von neuem abhanden, und sein Gedächtniß reicht nicht über Jahrzehnte hinaus.
Ja, die Karcer der früheren Zeit selbst sind der Vergessenheit anheimgefallen; wir wissen nur, daß ursprünglich Bürger- und Studentengewahrsam gemeinschaftlich war, daß 1545 die Universität das jus incarcerandi erhielt, das heißt, daß sich die Studenten nicht wie „beliebige Knoten“ auf die Stadtwache schleppen zu lassen brauchten, was gleichwohl vorkam, indem die Wächter der Stadt behaupteten, bei Nacht sei es unmöglich, einen Studenten von einem Schneidergesellen zu unterscheiden, „und man muß ihn darum bei nächtlicher Weyl behalten, bis man ihn kennen kann.“ Deßhalb waren die Scholaren verpflichtet, zur Nachtzeit in Studententracht und mit einem sichtbar brennenden Licht auf der Straße zu erscheinen.
Dic jetzigen Karcerräumlichkeiten, bestehend aus den ebenerdigen Kasematten (vincula) und dem viertheiligen Gewahrsam unter dem Dach des Seitenflügels (carceres), fungiren seit Errichtung des jetzigen Universitätsgebäudes (vergl. Illustration S. 532) unter Karl Philipp im Jahre 1735. Daß im Lauf des 19. Jahrhunderts auch die Veste Dilsberg bei Neckarsteinach als Karcer für politische Vergehen der Studenten benutzt wurde, ist bekannt, und die dort übliche strenge Zucht erhellt aus der Antwort, welche einst reisenden Engländern zu Theil ward, als sie die Burgverließe Dilsbergs in Augenschein nehmen wollten: „Die Studenten sind fort und haben die Schlüssel mit.“
Doch kehren wir zu den Heidelberger Karcern der Gegenwart zurück! Wir steigen 47 steinerne, mit eisernem Geländer eingefaßte Stufen empor und treten in das „Vestibulum“, die Vorhalle, ein. An der Wand auf der linken Seite erblicken wir einen Wegweiser, der nach den vier Kerkerzimmern hinweist. Sie sind nicht wie die Zellen in den gewöhnlichen Gefängnissen mit prosaischen Nummern bezeichnet; der Studentenwitz hat ihnen Namen verliehen, die folgendermaßen lauten: Sanssouci, Palais royal, Solitude und Villa Trall. Schon hier sind die Wände mit zahllosen Zeichnungen und Inschriften bedeckt. Vor Allem fällt uns ein mächtiger Reitersmann, der einen Humpen schwingt, in die Augen; neben ihm steht der berühmte Zecher und Wächter am Heidelberger Riesenfaß, der Zwerg Perkeo. Darunter lesen wir den Vers, welcher dem Ankömmling als tröstender Gruß entgegenwinkt:
„Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten;
Wie traurig auch herauf Ihr steigt,
Ich bitt’ Euch, thut die Köpfe aufrecht halten,
Auch hujus loci (dieses Ortes) genius ist feucht.“
Unweit davon blickt uns eine Nachbildung des Heidelberger Wrede-Denkmals entgegen; die Figur trägt einen Hut auf dem Kopf, und darunter lesen wir die erklärenden Reime:
„Weil sie mit Schläue auf die tête
Den Hut gesetzt dem Marschall Wrede,
Brummt Altfelix und Rosenthal
Und Roß zusammen auf einmal.“
Unter dem Gewirr der Namen, welche die Wände bedecken und die selbst vermittels rußender Lichtflamme an der Decke angebracht worden sind, treten uns manche von bekanntem und gutem Klange entgegen; wir heben nur zwei: Helmholtz und Häusser, hervor.
In welches der vier Karcerzimmer sollen wir zuerst eintreten? Uns lockt zunächst Solitude, über dessen Thür die viel verheißende Inschrift: „Ein fideles Gefängniß!“ prangt. Es muß in der That in diesen Räumen lustig zugehen, denn die heitere Burschengruppe, die unsern Artikel schmückt, steht in dem Fenster von Solitude. Und das Bild ist nicht etwa das Phantasiewerk eines Zeichners; die Mitglieder der „Rhenania“ drängten sich an einem gewissen Tage wirklich so zum vergitterten Fenster, während der Photograph im Nachbarhause seinen Apparat richtete.
Besonders charakteristisch für Solitude ist die Innenfläche der Thür, auf der sich etwa 120 Photographien unter Glas und Kittrahmen befinden, und zwar 45 Rhenanen, 29 Borussen, 17 Guestphalen, 13 Vandalen, 11 Schwaben, mehrere Vertreter auswärtiger Korps und ein Bummler (unter fühlenden Brüsten die einzige Larve!), der seine nur halbberechtigte Anwesenheit in so erlauchter Gesellschaft dadurch schützen zu müssen glaubte, daß er auf seine Photographie schrieb:
,,Is qui hoc tangit, Anathema sit!“
(„Wer hier Hand anlegt, Den treffe mein Fluch!“)
Originell ist das Bild von F. Klingel, einem Mitglied der Suevia. Darunter ist zu lesen: „2 + 1 + 4 + 8 + 10 + 21 + 8 = 54 Tage. Das genügt!“ welchem Ausspruch beizupflichten wir nicht umhin können. – Auch die hochberühmte Familie derer von Bismarck ist vertreten. „F. Graf Bismarck s. m. l. Karcer 27–29 IV. 74!“ lautet die Widmung. – Die charakteristischen Züge des ehemaligen Studiosus und jetzigen Direktors im Reichsgesundheitsamt, G. Wolffhügel, leuchten uns entgegen. Endlich finden wir hier die beiden Guestphalenmitglieder Gebrüder Schön, die sich so ähnlich sahen, daß Einer den Andern im Karcer oder sonstwo vertreten konnte, ohne daß es Jemand gewahr wurde.
An der Wand dieses fidelen Gefängnisses darf selbstverständlich ein Loblied auf Heidelberg und seinen Karcer nicht fehlen, und in der That lesen wir hier, frei nach Goethe’s Mignon:
„Kennst du die Stadt, nach der sich Alle sehnen,
Mit ihrem Schloß an hohen Bergeswänden?
Hast du gehört des Stromes Lob ertönen
Von lust’gen Kehlen durstiger Studenten?
Kennst du sie wohl? Dahin, dahin
Möcht’ ich mit dir, du mein Geliebter, zieh’n!
Kennst du das Haus, von Ziegeln ist sein Dach,
Doch glänzt von Farben jegliches Gemach.
Und lust’ge Bilder steh’n und schau’n dich an.
Was hast du denn, du armer Kerl, gethan?
Der Karcer ist’s. Dahin, dahin
Möcht’ ich mit dir, Kommilitone, zieh’n!“
Die Krone aller in der Solitude befindlichen Inschriften bildet aber folgender an Ulrich von Hutten erinnernder Ausruf:
„O tempora, o mores! In diesem schrecklichen Kerker seufzte ein Opfer moderner Barbarei bei Bordeaux und Sekt. O XIXtes Jahrhundert, es ist eine Lust, in dir zu leben!“
In den drei übrigen Zimmern des Heidelberger Karcers finden wir Aehnliches und Verwandtes, und wir verzichten darum auf nähere Beschreibung derselben. So trennen wir uns von diesen Räumen, die Verse wiederholend, welche vor dem Palais royal geschrieben stehen:
„Auf dem Karcer lebt sich’s herrlich,
Auf dem Karcer lebt sich’s schön.
O wie schrecklich, ach nun soll ich
Von dem lieben Karcer geh’n.
Hätt’ ich doch statt fünf Laternen
Fünfundzwanzig ausgemacht,
Hätte dann statt zwei der Tage
Zehne wohl hier zugebracht.“
Wir steigen nunmehr die 47 steinernen Stufen wieder hinab, gelangen in den Universitätshof und von hier aus durch eine Thür in den Parterregang des Hauptgebäudes. Dort, wo etwas über der Mitte der Südseite die breite, marmorne, früher steinerne Treppe in die oberen Stockwerke führt, gelangt man durch ein Seitengängchen an eine dickeichene, eisenbeschlagene, mit schwerfälligem Riegelschloß versehene niedrige Thür, die sich nur mühsam und unwillig knarrend in ihren eingerosteten Angeln bewegt. Durch dieselbe tritt man gebückt in einen quadergebildeten, ziemlich engen Verschlag, der rechts den Zutritt zum schiefwinkeligen lichten und links zu dem wenige Meter im Geviert betragenden Dunkelkarcer gestattet. Beide sind wieder mit massiven Eichenthüren verwahrt, die in der Mitte eine verschließbare Oeffnung zum Durchreichen von Wasser und Brot besitzen. Auch hier in den engen Kasematten finden wir eine große Anzahl von Inschriften; sie stammen alle aus den Jahren 1768 bis 1785, aus jener längst vergangenen Zeit, wo das Universitätsgericht noch schwere Strafen verhängen durfte. Sie sind indeß nicht heiter und lustig, wie die Wandpoesien der oberen Räume, und ihre Wiedergabe würde wenig zu der gehobenen Feststimmung passen, die jetzt durch die Straßen von Altheidelberg wogt und in welcher aus jungen und alten Kehlen der übermüthige Ruf ertönt: „Vivat concarceria!“ G. W.
- ↑ Studentenausdruck für Nachtwächter, Schutzmann etc.