Saids Schicksale Märchen-Almanach auf das Jahr 1828 von Wilhelm Hauff
Die Höhle von Steenfoll
Das kalte Herz, Zweite Abteilung
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Die Höhle von Steenfoll.[1]
Eine schottländische Sage.


Auf einer der Felseninseln Schottlands lebten vor vielen Jahren zwei Fischer in glücklicher Eintracht. Sie waren beide unverheuratet, hatten auch sonst keine Angehörigen, und ihre gemeinsame Arbeit, obgleich verschieden angewendet, nährte sie beide. Im Alter kamen sie einander ziemlich nahe, aber von Person und Gemütsart glichen sie einander nicht mehr als ein Adler und ein Seekalb.

Kaspar Strumpf war ein kurzer, dicker Mensch mit einem breiten, fetten Vollmondsgesicht und gutmütig lachenden Augen, denen Gram und Sorge fremd zu sein schienen. Er war nicht nur fett, sondern auch schläfrig und faul, und ihm fielen daher die Arbeiten des Hauses, Kochen und Backen, das Stricken der Netze zum eigenen Fischfang und zum Verkaufe, auch ein großer Teil der Bestellung ihres kleinen Feldes anheim. Ganz das Gegenteil war sein Gefährte: lang und hager, mit kühner Habichtsnase und scharfen Augen, war er als der tätigste und glücklichste Fischer, der unternehmendste Kletterer nach Vögeln und Daunen, der fleißigste Feldarbeiter auf den Inseln und dabei als der geldgierigste Händler auf dem Markte zu Kirchwall[2] bekannt; aber da seine Waren gut und sein Wandel frei von Betrug war, so handelte jeder gern mit ihm, und Wilm Falke (so nannten ihn seine Landsleute) und Kaspar Strumpf, mit welchem ersterer trotz seiner Habsucht gerne seinen schwer errungenen Gewinn teilte, hatten nicht nur eine gute Nahrung, sondern waren auch auf gutem Wege, einen gewissen Grad von Wohlhabenheit zu erlangen. Aber Wohlhabenheit allein war es nicht, was Falkes habsüchtigem Gemüte zusagte; er wollte reich, sehr reich werden, und da er bald einsehen lernte, daß auf dem gewöhnlichen Wege des Fleißes das Reichwerden nicht sehr schnell vor sich ging, so verfiel er zuletzt auf den Gedanken, er [214] müßte seinen Reichtum durch irgend einen außerordentlichen Glückszufall erlangen, und da nun dieser Gedanke einmal von seinem heftig wollenden Geiste Besitz genommen, fand er für nichts anderes Raum darin, und er fing an, mit Kaspar Strumpf davon als von einer gewissen Sache zu reden. Dieser, dem alles, was Falke sagte, für Evangelium galt, erzählte es seinen Nachbarn, und bald verbreitete sich das Gerücht, Wilm Falke hätte sich entweder wirklich dem Bösen für Gold verschrieben, oder hätte doch ein Anerbieten dazu von dem Fürsten der Unterwelt bekommen.

Anfangs zwar verlachte Falke diese Gerüchte, aber allmählich gefiel er sich in dem Gedanken, daß irgend ein Geist ihm einmal einen Schatz verraten könne, und er widersprach nicht länger, wenn ihn seine Landsleute damit aufzogen. Er trieb zwar noch immer sein Geschäft fort, aber mit weniger Eifer, und verlor oft einen großen Teil der Zeit, die er sonst mit Fischfang oder andern nützlichen Arbeiten zuzubringen pflegte, in zwecklosem Suchen irgend eines Abenteuers, wodurch er plötzlich reich werden sollte. Auch wollte es sein Unglück, daß, als er eines Tages am einsamen Ufer stand und in unbestimmter Hoffnung auf das bewegte Meer hinausblickte, als solle ihm von dorther sein großes Glück kommen, eine große Welle unter einer Menge losgerissenen Mooses und Gesteins eine gelbe Kugel - eine Kugel von Gold - zu seinen Füßen rollte.

Wilm stand wie bezaubert; so waren denn seine Hoffnungen nicht leere Träume gewesen, das Meer hatte ihm Gold, schönes, reines Gold geschenkt, wahrscheinlich die Überreste einer schweren Barre, welche die Wellen auf dem Meeresgrund bis zur Größe einer Flintenkugel abgerieben. Und nun stand es klar vor seiner Seele, daß vor Jahresfrist hier irgendwo an dieser Küste ein reich beladenes Schiff gescheitert sein müsse, und daß er dazu ersehen sei, die im Schoße des Meeres begrabenen Schätze zu heben. Dies wurde von nun an sein einziges Streben; seinen Fund sorgfältig, selbst vor seinem Freunde verbergend, damit nicht auch andere seiner Entdeckung auf die Spur kämen, versäumte er alles andere und brachte Tage und Nächte an dieser Küste zu, wo er nicht sein Netz nach Fischen, sondern eine eigens [215] dazu verfertigte Schaufel – nach Gold auswarf. Aber er fand nichts als Armut; denn er selbst verdiente nichts mehr, und Kaspars schläfrige Bemühungen reichten nicht hin, sie beide zu ernähren. Im Suchen größerer Schätze verschwand nicht nur das gefundene Gold, sondern allmählich auch das ganze Eigentum der Junggesellen. Aber so wie Strumpf früher stillschweigend von Falke den besten Teil seiner Nahrung hatte erwerben lassen, so ertrug er es auch jetzt schweigend und ohne Murren, daß die zwecklose Tätigkeit desselben sie ihm jetzt entzog; und gerade dieses sanftmütige Dulden seines Freundes war es, was jenen nur noch mehr anspornte, sein rastloses Suchen nach Reichtum weiter fortzusetzen. Was ihn aber noch tätiger machte, war, daß, so oft er sich zur Ruhe niederlegte und seine Augen sich zum Schlummer schlossen, etwas ihm ein Wort ins Ohr raunte, das er zwar sehr deutlich zu vernehmen glaubte und das ihm jedesmal dasselbe schien, das er aber niemals behalten konnte. Zwar wußte er nicht, was dieser Umstand, so sonderbar er auch war, mit seinem jetzigem Streben zu tun haben könne; aber auf ein Gemüt, wie Wilm Falkes, mußte alles wirken, und auch dieses geheimnisvolle Flüstern half ihm in dem Glauben bestärken, daß ihm ein großes Glück bestimmt sei, das er nur in einem Goldhaufen zu finden hoffte.

Eines Tages überraschte ihn ein Sturm am Ufer, wo er den Goldbarren gefunden hatte, und die Heftigkeit desselben trieb ihn an, in einer nahen Höhle Zuflucht zu suchen. Diese Höhle, welche die Einwohner die Höhle von Steenfoll nennen, besteht aus einem langen, unterirdischen Gange, welcher sich mit zwei Mündungen gegen das Meer öffnet und den Wellen einen freien Durchgang läßt, die sich beständig mit lautem Brüllen schäumend durch denselben hinarbeiten. Diese Höhle war nur an einer Stelle zugänglich, und zwar durch eine Spalte von oben her, welche aber selten von jemand anderem als mutwilligen Knaben betreten ward, indem zu den eigenen Gefahren des Ortes sich noch der Ruf eines Geisterspuks gesellte. Mit Mühe ließ Wilm sich in denselben hinab und nahm ungefähr zwölf Fuß tief von der Oberfläche auf einem vorspringenden Stein und unter einem überhängendem Felsenstück Platz, wo er mit [216] den brausenden Wellen unter seinen Füßen und dem wütenden Sturm über seinem Haupte in seinen gewöhnlichen Gedankenzug verfiel, nämlich von dem gescheiterten Schiffe, und was für ein Schiff es wohl gewesen sein mochte; denn trotz allen seinen Erkundigungen hatte er selbst von den ältesten Einwohnern von keinem an dieser Stelle gescheiterten Fahrzeug Nachricht erhalten können. Wie lange er so gesessen, wußte er selber nicht; als er aber endlich aus seinen Träumereien erwachte, entdeckte er, daß der Sturm vorüber war; und er wollte eben wieder emporsteigen, als eine Stimme sich aus der Tiefe vernehmen ließ und das Wort Car-mil-han ganz deutlich in sein Ohr drang. Erschrocken fuhr er in die Höhe und blickte in den leeren Abgrund hinab. „Großer Gott!“ schrie er, „das ist das Wort, das mich in meinem Schlafe verfolgt, was, ums Himmelswillen, mag es bedeuten?!“ - „Carmilhan!“ seufzte es noch einmal aus der Höhle herauf, als er schon mit einem Fuß die Spalte verlassen hatte, und er floh wie ein gescheuchtes Reh seiner Hütte zu.

Wilm war indessen keine Memme; die Sache war ihm nur unerwartet gekommen, und sein Geldgeiz war auch überdies zu mächtig in ihm, als daß ihn irgend ein Anschein von Gefahr hätte abschrecken können, auf seinem gefahrvollen Pfade fortzuwandern. Einst, als er spät in der Nacht beim Mondschein der Höhle von Steenfoll gegenüber mit seiner Schaufel nach Schätzen fischte, blieb dieselbe auf einmal an etwas hängen. Er zog aus Leibeskräften, aber die Masse blieb unbeweglich. Inzwischen erhob sich der Wind, dunkle Wolken überzogen den Himmel, heftig schaukelte das Boot und drohte umzuschlagen; aber Wilm ließ sich nichts irren; er zog und zog, bis der Widerstand aufhörte, und da er kein Gewicht fühlte, glaubte er, sein Seil wäre gebrochen. Aber gerade als die Wolken sich über dem Monde zusammenziehen wollten, erschien eine runde, schwarze Masse auf der Oberfläche, und es erklang das ihn verfolgende Wort Carmilhan! Hastig wollte er nach ihr greifen, aber ebenso schnell, als er den Arm darnach ausstreckte, verschwand sie in der Dunkelheit der Nacht, und der eben losbrechende Sturm zwang ihn, unter den nahen Felsen Zuflucht zu suchen. Hier schlief er vor Ermüdung ein, um im Schlafe, von einer ungezügelten Einbildungskraft [217] gepeinigt, aufs neue die Qualen zu erdulden, die ihn sein rastloses Streben nach Reichtum am Tage erleiden ließ. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen auf den jetzt ruhigen Spiegel des Meeres, als Falke erwachte. Eben wollte er wieder hinaus an die gewohnte Arbeit, als er von ferne etwas auf sich zukommen sah. Er erkannte es bald für ein Boot und in demselben eine menschliche Gestalt; was aber sein größtes Erstaunen erregte, war, daß das Fahrzeug sich ohne Segel oder Ruder fortbewegte, und zwar mit dem Schnabel gegen das Ufer gekehrt und ohne daß die darin sitzende Gestalt sich im geringsten um das Steuer zu bekümmern schien, wenn es ja eins hatte. Das Boot kam immer näher und hielt endlich neben Wilms Fahrzeug stille. Die Person in demselben zeigte sich jetzt als ein kleines, verschrumpftes, altes Männchen, das in gelbe Leinwand gekleidet und mit roter, in die Höhe stehender Nachtmütze, mit geschlossenen Augen und unbeweglich wie ein getrockneter Leichnam dasaß. Nachdem er es vergebens angerufen und gestoßen hatte, wollte er eben einen Strick an das Boot befestigen und es wegführen, als das Männchen die Augen aufschlug und sich zu bewegen anfing, auf eine Weise, welche selbst den kühnen Fischer mit Grausen erfüllte.

„Wo bin ich?“ fragte es nach einem tiefen Seufzer auf Holländisch. Falke, welcher von den holländischen Heringsfängern etwas von ihrer Sprache gelernt hatte, nannte ihm den Namen der Insel und fragte, wer er denn sei und was ihn hieher gebracht.

„Ich komme, um nach dem Carmilhan zu sehen.“

„Dem Carmilhan? Um Gottes willen! Was ist das?“ rief der begierige Fischer.

„Ich gebe keine Antwort auf Fragen, die man mir auf diese[3] Weise tut“, erwiderte das Männchen mit sichtbarer Angst.

„Nun“, schrie Falke, „was ist der Carmilhan?“

„Der Carmilhan ist jetzt nichts, aber einst war es ein schönes Schiff, mit mehr Gold beladen, als je ein anderes Fahrzeug getragen.“

[218] „Wo ging es zu Grunde, und wann?“

„Es war vor hundert Jahren; wo, weiß ich nicht genau; ich komme, um die Stelle aufzusuchen und das verlorene Gold aufzufischen; willst du mir helfen, so wollen wir den Fund miteinander teilen.“

„Mit ganzem Herzen, sag’ mir nur, was muß ich tun?“

„Was du tun mußt, erfordert Mut; du mußt dich gerade vor Mitternacht in die wildeste und einsamste Gegend auf der Insel begeben, begleitet von einer Kuh, die du dort schlachten und dich von jemand in ihre frische Haut wickeln lassen mußt. Dein Begleiter muß dich dann niederlegen und allein lassen, und ehe es ein Uhr schlägt, weißt du, wo die Schätze des Carmilhan liegen.“

„Auf diese Weise fiel des alten Engrol Sohn mit Leib und Seele ins Verderben!“ rief Wilm mit Entsetzen. „Du bist der böse Geist“, fuhr er fort, indem er hastig davonruderte, „geh zur Hölle! Ich mag nichts mit dir zu tun haben.“

Das Männchen knirschte, schimpfte und fluchte ihm nach; aber der Fischer, welcher zu beiden Rudern gegriffen hatte, war ihm bald außer Gehör und, nachdem er um einen Felsen gebogen, auch aus dem Gesichte. Aber die Entdeckung, daß der böse Geist sich seinen Geiz zu nutze zu machen und mit Gold in seine Schlingen zu verlocken suchte, heilte den verblendeten Fischer nicht, im Gegenteil, er meinte die Mitteilung des gelben Männchens benutzen zu können, ohne sich dem Bösen zu überliefern, und indem er fortfuhr, an der öden Küste nach Gold zu fischen, vernachlässigte er den Wohlstand, den ihm die reichen Fischzüge in andern Gegenden des Meeres darboten, sowie alle andere Mittel, auf die er ehemals seinen Fleiß verwendet, und versank von Tag zu Tag nebst seinem Gefährten in tiefere Armut, bis es endlich oft an den notwendigsten Lebensbedürfnissen zu fehlen anfing. Aber obgleich dieser Verfall gänzlich Falkes Halsstarrigkeit und falscher Begierde zugeschrieben werden mußte, und die Ernährung beider jetzt Kaspar Strumpf allein anheimfiel, so machte ihm doch dieser niemals den geringsten Vorwurf; ja, er bezeugte ihm immer noch dieselbe Unterwürfigkeit, dasselbe Vertrauen in seinen bessern Verstand als zur Zeit, wo ihm seine [219] Unternehmungen allezeit geglückt waren; dieser Umstand vermehrte Falkes Leiden um ein Großes, aber trieb ihn, noch mehr nach Gold zu suchen, weil er dadurch hoffte, auch seinen Freund für sein gegenwärtiges Entbehren schadlos halten zu können. Dabei verfolgte ihn das teuflische Geflüster des Wortes Carmilhan noch immer in seinem Schlummer; kurz, Not, getäuschte Erwartung und Geiz trieben ihn zuletzt zu einer Art von Wahnsinn, so daß er wirklich beschloß, das zu tun, was ihm das Männchen angeraten, obgleich er nach der alten Sage wohl wußte, daß er sich damit den Mächten der Finsternis übergab.

Alle Gegenvorstellungen Kaspars waren vergebens: Falke ward nur um so heftiger, je mehr jener ihn anflehte, von seinem verzweifelten Vorhaben abzustehen; und der gute schwache Mensch willigte endlich ein, ihn zu begleiten und ihm seinen Plan ausführen zu helfen. Beider Herzen zogen sich schmerzhaft zusammen, als sie einen Strick um die Hörner einer schönen Kuh, ihr letztes Eigentum, legten, die sie vom Kalbe aufgezogen und die sie sich immer zu verkaufen geweigert hatten, weil sie’s nicht übers Herz bringen konnten, sie in fremden Händen zu sehen. Aber der böse Geist, welcher sich Wilms bemeisterte, erstickte jetzt alle bessere Gefühle in ihm, und Kaspar konnte ihm in nichts zu widerstehen. Es war im September, und die langen Nächte des langen schottländischen Winters hatten angefangen. Die Nachtwolken wälzten sich schwer vor dem rauhen Abendwinde und türmten sich wie Eisberge im Maelstrom[4], tiefer Schatten füllte die Schluchten zwischen dem Gebirge und den feuchten Torfsümpfen, und die trüben Bette der Ströme blickten schwarz und furchtbar wie Höllenschlünde. Falke ging voran und Strumpf folgte, schaudernd über seine eigene Kühnheit, und Tränen füllten sein schweres Auge, so oft er das arme Tier ansah, welches so vertrauungsvoll und bewußtlos seinem baldigen Tode entgegenging, der ihm von der Hand werden sollte, die ihm bisher seine Nahrung gereicht. Mit Mühe erreichten sie das enge sumpfige Bergtal, welches hier und da mit Moos und Heidekraut bewachsen, mit großen Steinen übersäet war und von einer wilden Gebirgskette [220] umgeben lag, die sich in grauem Nebel verlor, und wohin der Fuß eines Menschen sich selten verstieg. Sie näherten sich auf wankendem Boden einem großen Stein, welcher in der Mitte stand, und von welchem ein verscheuchter Adler krächzend in die Höhe flog. Die arme Kuh brüllte dumpf, als erkenne sie die Schrecknisse des Ortes und das ihr bevorstehende Schicksal. Kaspar wandte sich weg, um sich die schnellfließenden Tränen abzuwischen; er blickte hinab durch die Felsenöffnung, durch welche sie heraufgekommen waren, von wo aus man die ferne Brandung des Meeres hörte, und dann hinauf nach den Berggipfeln, auf welche sich ein kohlschwarzes Gewölk gelagert hatte, aus welchem man von Zeit zu Zeit ein dumpfes Murmeln vernahm. Als er sich wieder nach Wilm umsah, hatte dieser bereits die arme Kuh an den Stein gebunden und stand mit aufgehobener Axt im Begriff, das gute Tier zu fällen.

Dies war zu viel für seinen Entschluß, sich in den Willen seines Freundes zu fügen: mit gerungenen Händen stürzte er sich auf die Knie. „Um Gottes willen, Wilm Falke!“ schrie er mit der Stimme der Verzweiflung, „schone dich, schone die Kuh! schone dich und mich! schone deine Seele! – Schone dein Leben! Und mußt du Gott so versuchen, so warte bis morgen und opfere lieber ein anderes Tier als unsere liebe Kuh!“

„Kaspar, bist du toll?!“ schrie Wilm wie ein Wahnsinniger, indem er noch immer die Axt in der Höhe geschwungen hielt. „Soll ich die Kuh schonen und verhungern?“

„Du sollst nicht verhungern,“ antwortete Kaspar entschlossen. „Solange ich Hände habe, sollst du nicht verhungern. Ich will vom Morgen bis in die Nacht für dich arbeiten. Nur bring dich nicht um deiner Seele Seligkeit und laß mir das arme Tier leben!“

„Dann nimm die Axt und spalte mir den Kopf“, schrie Falke mit verzweifeltem Tone, „ich gehe nicht von diesem Fleck, bis ich habe, was ich verlange. – Kannst du die Schätze des Carmilhan für mich heben? Können deine Hände mehr erwerben als die elendesten Bedürfnisse des Lebens? – Aber sie können meinen Jammer enden – komm und laß mich das Opfer sein!“

„Wilm, töte die Kuh, töte mich! Es liegt mir nichts daran, [221] es ist mir ja nur um deine Seligkeit zu tun. Ach! dies ist ja der Piktenaltar[5], und das Opfer, das du bringen willst, gehört der Finsternis.“

„Ich weiß von nichts dergleichen“, rief Falke wild lachend wie einer, der entschlossen ist, nichts wissen zu wollen, was ihn von seinem Vorsatz abbringen könnte. „Kaspar, du bist toll und machst mich toll – aber da“, fuhr er fort, indem er das Beil von sich warf und das Messer vom Steine aufnahm, wie wenn er sich durchstoßen wollte, „da, behalte die Kuh statt meiner!“

Kaspar war in einem Augenblick bei ihm, riß ihm das Mordwerkzeug aus der Hand, erfaßte das Beil, schwang es hoch um den Kopf und ließ es mit solcher Gewalt auf des geliebten Tieres Kopf fallen, daß es ohne zu zucken und tot zu seines Herrn Füßen niederstürzte.

Ein Blitz, begleitet von einem Donnerschlage, folgte dieser raschen Handlung, und Falke starrte seinen Freund mit den Augen an, womit ein Mann ein Kind anstaunen würde, das sich das zu tun getrauet, was er selbst nicht gewagt. Strumpf schien aber weder von dem Donner erschreckt, noch durch das starre Erstaunen seines Gefährten außer Fassung gebracht, sondern fiel, ohne ein Wort zu reden, über die Kuh her und fing an, ihr die Haut abzuziehen. Als Wilm sich ein wenig erholt hatte, half er ihm in diesem Geschäfte, aber mit so sichtbarem Widerwillen, als er vorher begierig gewesen war, das Opfer vollendet zu sehen. Während dieser Arbeit hatte sich das Gewitter zusammengezogen, der Donner brüllte laut im Gebirge, und furchtbare Blitze schlängelten sich um den Stein und über das Moos der Schlucht hin, während der Wind, welcher diese Höhe noch nicht erreicht hatte, die untern Täler und das Gestade mit wildem Heulen erfüllte; und als die Haut endlich abgezogen war, fanden beide Fischer sich schon bis auf die Haut durchnäßt. Sie breiteten jene auf dem Boden aus, und Kaspar wickelte und band Falken, so wie dieser es ihn geheißen, in derselben fest ein. Dann erst, als dies geschehen war, brach der arme Mensch das lange Stillschweigen, und indem er mitleidig auf seinen betörten Freund hinabblickte, [222] fragte er mit zitternder Stimme: „Kann ich noch etwas für dich tun, Wilm?“

„Nichts mehr“, erwiderte der andere, „lebe wohl!“

„Leb wohl“, erwiderte Kaspar, „Gott sei mit dir und vergebe dir, wie ich es tue!“

Dies waren die letzten Worte, welche Wilm von ihm hörte, denn im nächsten Augenblicke war er in der immer zunehmenden Dunkelheit verschwunden; und in demselben Augenblicke brach auch einer der fürchterlichsten Gewitterstürme, die Wilm nur je gehört hatte, aus. Er fing an mit einem Blitze, welcher Falken nicht nur die Berge und Felsen in seiner unmittelbaren Nähe, sondern auch das Tal unter ihm, mit dem schäumenden Meere und den in der Bucht zerstreut liegenden Felseninseln zeigte, zwischen welchen er die Erscheinung eines großen, fremdartigen und entmasteten Schiffes zu erblicken glaubte, welches auch im Augenblick wieder in der schwärzesten Dunkelheit verschwand. Die Donnerschläge wurden ganz betäubend; eine Masse Felsenstücke rollte vom Gebirge herab und drohte ihn zu erschlagen; der Regen ergoß sich in solcher Menge, daß er in einem Augenblick das enge Sumpftal mit einer hohen Flut überströmte, welche bald bis zu Wilms Schultern hinaufreichte, denn glücklicherweise hatte ihn Kaspar mit dem obern Teile des Körpers auf eine Erhöhung gelegt, sonst hätte er auf einmal ertrinken müssen. Das Wasser stieg immer höher, und je mehr Wilm sich anstrengte, sich aus seiner gefahrvollen Lage zu befreien, desto fester umgab ihn die Haut. Umsonst rief er nach Kaspar; Kaspar war weit weg. Gott in seiner Not anzurufen, wagte er nicht, und ein Schauder ergriff ihn, wenn er die Mächte anflehen wollte, deren Gewalt er sich hingegeben fühlte.

Schon drang ihm das Wasser in die Ohren, schon berührte es den Rand der Lippen: „Gott, ich bin verloren!“ schrie er, indem er einen Strom über sein Gesicht hinstürzen fühlte – aber in demselben Augenblick drang ein Schall wie von einem nahen Wasserfall schwach an sein Gehör, und sogleich war auch sein Mund wieder unbedeckt. Die Flut hatte sich durch das Gestein Bahn gebrochen. Und da auch zu gleicher Zeit der Regen etwas nachließ und das tiefe Dunkel des Himmels sich etwas verzog, [223] so ließ auch seine Verzweiflung nach, und es schien ihm ein Strahl der Hoffnung zurückzukehren. Aber obgleich er sich wie von einem Todeskampfe erschöpft fühlte und sehnlich wünschte, aus seiner Gefangenschaft erlöst zu sein, so war doch der Zweck seines verzweifelten Strebens noch nicht erreicht, und mit der verschwundenen unmittelbaren Lebensgefahr kam auch die Habsucht mit all ihren Furien in seine Brust zurück; aber überzeugt, daß er in seiner Lage ausharren müsse, um sein Ziel zu erreichen, hielt er sich ruhig und fiel vor Kälte und Ermüdung in einen festen Schlaf.

Er mochte ungefähr zwei Stunden geschlafen haben, als ihn ein kalter Wind, der ihm übers Gesicht fuhr, und ein Rauschen, wie von herannahenden Meereswogen, aus seiner glücklichen Selbstvergessenheit aufrüttelte. Der Himmel hatte sich aufs neue verfinstert; ein Blitz, wie der, welcher den ersten Sturm herbeigeführt, erhellte noch einmal die Gegend umher, und er glaubte abermals das fremde Schiff zu erblicken, das jetzt dicht vor der Steenfollklippe auf einer hohen Welle zu hängen und dann jählings in den Abgrund zu schießen schien. Er starrte noch immer nach dem Phantom, denn ein unaufhörliches Blitzen hielt jetzt das Meer erleuchtet, als sich auf einmal eine berghohe Wasserhose aus dem Tale erhob und ihn mit solcher Gewalt gegen einen Felsen schleuderte, daß ihm alle Sinne vergingen. Als er wieder zu sich selbst kam, hatte sich das Wetter verzogen, der Himmel war heiter; aber das Wetterleuchten dauerte noch immer fort. Er lag dicht am Fuße des Gebirges, welches dieses Tal umschloß, und er fühlte sich so zerschlagen, daß er sich kaum zu rühren vermochte. Er hörte das stillere Brausen der Brandung und mitten drinnen eine feierliche Musik wie Kirchengesang. Diese Töne waren anfangs so schwach, daß er sie für Täuschung hielt; aber sie ließen sich immer wieder aufs neue vernehmen, und jedesmal deutlicher und näher, und es schien ihm zuletzt, als könne er darin die Melodie eines Psalms unterscheiden, die er im vorigen Sommer an Bord eines holländischen Heringsfängers gehört hatte.

Endlich unterschied er sogar Stimmen, und es deuchte ihm, als vernehme er sogar die Worte jenes Liedes; die Stimmen [224] waren jetzt in dem Tale, und als er sich mit Mühe zu einem Stein hingeschoben, auf den er den Kopf legte, erblickte er wirklich einen Zug von menschlichen Gestalten, von welchen diese Musik ausging, und der sich gerade auf ihn zu bewegte. Kummer und Angst lag auf den Gesichtern der Leute, deren Kleider von Wasser zu triefen schienen. Jetzt waren sie dicht bei ihm, und ihr Gesang schwieg. An ihrer Spitze waren mehrere Musikanten, dann mehrere Seeleute, und hinter diesen kam ein großer starker Mann in altväterlicher, reich mit Gold besetzter Tracht, mit einem Schwert an der Seite und einem langen, dicken spanischen Rohr mit goldenen Knöpfen in der Hand. Ihm zur Linken ging ein Negerknabe, welcher seinem Herrn von Zeit zu Zeit eine lange Pfeife reichte, aus der er einige feierliche Züge tat und dann weiter schritt. Er blieb kerzengerade vor Wilm stehen, und ihm zu beiden Seiten stellten sich andere, minder prächtig gekleidete Männer, welche alle Pfeifen in den Händen hatten, die aber nicht so kostbar schienen als die Pfeife, welche dem dicken Manne nachgetragen wurde. Hinter diesen traten andere Personen auf, worunter mehrere Frauenspersonen, von denen einige Kinder in den Armen oder an der Hand hatten, alle in kostbarer, aber fremdartiger Kleidung; ein Haufen holländischer Matrosen schloß den Zug, deren jeder den Mund voll Tabak und zwischen den Zähnen ein braunes Pfeifchen hatte, das sie in düsterer Stille rauchten.

Der Fischer blickte mit Grausen auf diese sonderbare Versammlung; aber die Erwartung dessen, was da kommen werde, hielt seinen Mut aufrecht. Lange standen sie so um ihn her, und der Rauch ihrer Pfeifen erhob sich wie eine Wolke über sie, zwischen welcher die Sterne hindurchblinkten. Der Kreis zog sich immer enger um Wilm her, das Rauchen ward immer heftiger und dicker die Wolke, die aus Mund und Pfeifen hervorstieg. Falke war ein kühner, verwegener Mann; er hatte sich auf Außerordentliches vorbereitet – aber als er diese unbegreifliche Menge immer näher auf sich eindringen sah, als wolle sie ihn mit ihrer Masse erdrücken, da entsank ihm der Mut, dicker Schweiß trat ihm vor die Stirne, und er glaubte vor Angst vergehen zu müssen. Aber man denke sich erst sein Schrecken, als er von ungefähr die Augen wandte und dicht an seinem Kopf das gelbe Männchen [225] steif und aufrecht sitzen sah, wie er es zum erstenmal erblickt, nur daß es jetzt, als wie zum Spotte der ganzen Versammlung, auch eine Pfeife im Munde hatte. In der Todesangst, die ihn jetzt ergriff, rief er, zu der Hauptperson gewendet: „Im Namen dessen, dem Ihr dienet, wer seid Ihr? Und was verlangt Ihr von mir?“ Der große Mann rauchte drei Züge, feierlicher als je, gab dann die Pfeife seinem Diener und antwortete mit schreckhafter Kälte: „Ich bin Aldret Franz Van der Swelder, Befehlshaber des Schiffes Carmilhan vom Amsterdam, welches auf dem Heimwege von Batavia mit Mann und Maus an dieser Felsenküste zu Grunde ging: dies sind meine Offiziere, dies meine Passagiere und jenes meine braven Seeleute, welche alle mit mir ertranken. Warum hast du uns aus unsern tiefen Wohnungen im Meere hervorgerufen? Warum störtest du unsere Ruhe?“

„Ich möchte wissen, wo die Schätze des Carmilhan liegen.“

„Am Boden des Meeres.“

„Wo?“

„In der Höhle von Steenfoll.“

„Wie soll ich sie bekommen?“

„Eine Gans taucht in den Schlund nach einem Hering, sind die Schätze des Carmilhan nicht ebensoviel wert?“

„Wieviel davon werd’ ich bekommen?“

„Mehr, als du je verzehren wirst.“ Das gelbe Männchen grinste, und die ganze Versammlung lachte laut auf. „Bist du zu Ende?“ fragte der Hauptmann weiter.

„Ich bin’s. Gehab dich wohl!“

„Leb wohl, bis aufs Wiedersehen“, erwiderte der Holländer und wandte sich zum Gehen, die Musikanten traten aufs neue an die Spitze, und der ganze Zug entfernte sich in derselben Ordnung, in welcher er gekommen war, und mit demselben feierlichen Gesang, welcher mit der Entfernung immer leiser und undeutlicher wurde, bis er sich nach einiger Zeit gänzlich im Geräusche der Brandung verlor. Jetzt strengte Wilm seine letzten Kräfte an, sich aus seinen Banden zu befreien, und es gelang ihm endlich, einen Arm loszubekommen, womit er die ihn umwindenden Stricke löste und sich endlich ganz aus der Haut wickelte. [226] Ohne sich umzusehen, eilte er nach seiner Hütte und fand den armen Kaspar Strumpf in starrer Bewußtlosigkeit am Boden liegen. Mit Mühe brachte er ihn wieder zu sich selbst, und der gute Mensch weinte vor Freude, als er den verloren geglaubten Jugendfreund wieder vor sich sah. Aber dieser beglückende Strahl verschwand schnell wieder, als er von diesem vernahm, welch verzweifeltes Unternehmen er jetzt vorhatte.

„Ich wollte mich lieber in die Hölle stürzen, als diese nackten Wände und dieses Elend länger ansehen. – Folge mir oder nicht, ich gehe.“ Mit diesen Worten faßte Wilm eine Fackel, ein Feuerzeug und ein Seil und eilte davon. Kaspar eilte ihm nach, so schnell er’s vermochte, und fand ihn schon auf dem Felsstück stehen, auf welchem er vormals gegen dem Sturme Schutz gefunden, und bereit, sich an dem Stricke in den schwarzen brausenden Schlund hinabzulassen. Als er fand, daß alle seine Vorstellungen nichts über den rasenden Menschen vermochten, bereitete er sich, ihm nachzusteigen, aber Falke befahl ihm, zu bleiben und den Strick zu halten. Mit furchtbarer Anstrengung, wozu nur die blindeste Habsucht den Mut und die Stärke geben konnte, kletterte Falke in die Höhle hinab und kam endlich auf ein vorspringendes Felsenstück zu stehen, unter welchem die Wogen, schwarz und mit weißem Schaume bekräuselt, brausend dahin eilten. Er blickte begierig umher und sah endlich etwas gerade unter ihm im Wasser schimmern. Er legte die Fackel nieder, stürzte sich hinab und erfaßte etwas Schweres, das er auch heraufbrachte. Es war ein eisernes Kästchen voller Goldstücke. Er verkündigte seinem Gefährten, was er gefunden, wollte aber durchaus nicht auf sein Flehen hören, sich damit zu begnügen und wieder heraufzusteigen. Falke meinte, dies wäre nur die erste Frucht seiner langen Bemühungen. Er stürzte sich noch einmal hinab – es erscholl ein lautes Gelächter aus dem Meere, und Wilm Falke ward nie wieder gesehen. Kaspar ging allein nach Hause, aber als ein anderer Mensch. Die seltsamen Erschütterungen, die sein schwacher Kopf und sein empfindsames Herz erlitten, zerrütteten ihm die Sinne. Er ließ alles um sich her verfallen und wanderte Tag und Nacht gedankenlos vor sich starrend umher, von allen seinen vorigen Bekannten bedauert und vermieden. [227] Ein Fischer will Wilm Falke in einer stürmischen Nacht mitten unter der Mannschaft des Carmilhan am Ufer erkannt haben, und in derselben Nacht verschwand auch Kaspar Strumpf.

Man suchte ihn allenthalben, allein nirgends hat man eine Spur von ihm finden können. Aber die Sage geht, daß er oft nebst Falke mitten unter der Mannschaft des Zauberschiffes gesehen worden sei, welches seitdem zu regelmäßigen Zeiten an der Höhle von Steenfoll erschien.




„Mitternacht ist längst vorüber“, sagte der Student, als der junge Goldarbeiter seine Erzählung geendigt hatte, „jetzt hat es wohl keine Gefahr mehr, und ich für meinen Teil bin so schläfrig, daß ich allen raten möchte, niederzuliegen und getrost einzuschlafen.“

„Vor zwei Uhr morgens möcht’ ich doch nicht trauen“, entgegnete der Jäger; „das Sprichwort sagt: von eilf bis zwei Uhr ist Diebes Zeit.“

„Das glaube ich auch“, bemerkte der Zirkelschmidt; „denn wenn man uns etwas anhaben will, ist wohl keine Zeit gelegener als die nach Mitternacht. Drum meine ich, der Studiosus könnte an seiner Erzählung fortfahren, die er noch nicht ganz vollendet hat.“

„Ich sträube mich nicht“, sagte dieser, „obgleich unser Nachbar, der Herr Jäger, den Anfang nicht gehört hat.“

„Ich muß ihn mir hinzudenken, fanget nur an“, rief der Jäger.

„Nun denn“, wollte eben der Student beginnen, als sie durch das Anschlagen eines Hundes unterbrochen wurden; alle hielten den Atem an und horchten; zugleich stürzte einer der Bedienten aus dem Zimmer der Gräfin und rief, daß wohl zehen bis zwölf bewaffnete Männer von der Seite her auf die Schenke zukommen.

Der Jäger griff nach seiner Büchse, der Student nach seinem Pistol, die Handwerksbursche nach ihren Stöcken, und der Fuhrmann zog ein langes Messer aus der Tasche. So standen sie und sahen ratlos einander an.

„Laßt uns an die Treppe gehen!“ rief der Student, „zwei oder drei dieser Schurken sollen doch zuvor ihren Tod finden, ehe wir überwältigt werden.“ Zugleich gab er dem Zirkelschmidt [228] sein zweites Pistol und riet, daß sie nur einer nach dem andern schießen wollten. Sie stellten sich an die Treppe; der Student und der Jäger nahmen gerade ihre ganze Breite ein; seitwärts neben dem Jäger stand der mutige Zirkelschmidt und beugte sich über das Geländer, indem er die Mündung seiner Pistole auf die Mitte der Treppe hielt. Der Goldarbeiter und der Fuhrmann standen hinter ihnen, bereit, wenn es zu einem Kampf Mann gegen Mann kommen sollte, das ihrige zu tun. So standen sie einige Minuten in stummer Erwartung: endlich hörte man die Haustüre aufgehen, sie glaubten auch das Flüstern mehrerer Stimmen zu vernehmen.

Jetzt hörte man Tritte vieler Menschen der Treppe nahen, man kam die Treppe herauf, und auf der ersten Hälfte zeigten sich drei Männer, die wohl nicht auf den Empfang gefaßt waren, der ihnen bereitet war. Denn als sie sich um die Pfeiler der Treppe wandten, schrie der Jäger mit starker Stimme: „Halt! Noch einen Schritt weiter, und ihr seid des Todes. Spannet die Hahnen, Freunde, und gut gezielt!“

Die Räuber erschraken, zogen sich eilig zurück und berieten sich mit den übrigen. Nach einiger Weile kam einer davon zurück und sprach: „Ihr Herren! Es wäre Torheit von euch, umsonst euer Leben aufopfern zu wollen, denn wir sind unserer genug, um euch völlig aufzureiben; aber ziehet euch zurück, es soll keinem das geringste zuleide geschehen; wir wollen keines Groschen Wert von euch nehmen.“

„Was wollt ihr denn sonst?“ rief der Student. „Meint ihr, wir werden solchem Gesindel trauen? Nimmermehr! Wollt ihr etwas holen, in Gottes Namen, so kommet, aber den ersten, der sich um die Ecke wagt, brenne ich auf die Stirne, daß er auf ewig keine Kopfschmerzen mehr haben soll!“

„Gebt uns die Dame heraus, gutwillig“, antwortete der Räuber. „Es soll ihr nichts geschehen, wir wollen sie an einen sichern und bequemen Ort führen, ihre Leute können zurückreiten und den Herrn Grafen bitten, er möge sie mit zwanzigtausend Gulden auslösen.“

„Solche Vorschläge sollen wir uns machen lassen?“ entgegnete der Jäger, knirschend vor Wut, und spannte den Hahn. [229] „Ich zähle drei, und wenn du da unten nicht bei drei hinweg bist, so drücke ich los, eins, zwei –“

„Halt!“ schrie der Räuber mit donnernder Stimme. „Ist das Sitte, auf einen wehrlosen Mann zu schießen, der mit euch friedlich unterhandelt? Törichter Bursche, du kannst mich totschießen, und dann hast du erst recht keine große Heldentat getan; aber hier stehen zwanzig meiner Kameraden, die mich rächen werden. Was nützt es dann deiner Frau Gräfin, wenn ihr tot oder verstümmelt auf der Flur liegt? Glaube mir, wenn sie freiwillig mitgeht, soll sie mit Achtung behandelt werden, aber wenn du, bis ich drei zähle, nicht den Hahnen in Ruhe setzst, so soll es ihr übel ergehen. Hahnen in Ruh’, eins, zwei, drei!“

„Mit diesen Hunden ist nicht zu spaßen“, flüsterte der Jäger, indem er den Befehl des Räubers befolgte; „wahrhaftig, an meinem Leben liegt nichts, aber wenn ich einen niederschieße, könnten sie meine Dame um so härter behandeln. Ich will die Gräfin um Rat fragen. Gebt uns“, fuhr er mit lauter Stimme fort, „gebt uns eine halbe Stunde Waffenstillstand, um die Gräfin vorzubereiten, sie würde, wenn sie es so plötzlich erfährt, den Tod davon haben.“

„Zugestanden“, antwortete der Räuber und ließ zugleich den Ausgang der Treppe mit sechs Männern besetzen.

Bestürzt und verwirrt folgten die unglücklichen Reisenden dem Jäger in das Zimmer der Gräfin; es lag dieses so nahe, und so laut hatte man verhandelt, daß ihr kein Wort entgangen war. Sie war bleich und zitterte heftig, aber dennoch schien sie fest entschlossen, sich in ihr Schicksal zu ergeben: „Warum soll ich nutzlos das Leben so vieler braver Leute aufs Spiel setzen?“ sagte sie; „warum euch zu einer vergeblichen Verteidigung auffordern, euch, die ihr mich gar nicht kennet? Nein, ich sehe, daß keine andere Rettung ist, als den Elenden zu folgen.“

Man war allgemein von dem Mut und dem Unglück der Dame ergriffen; der Jäger weinte und schwur, daß er diese Schmach nicht überleben könne. Der Student aber schmähte auf sich und seine Größe von sechs Fuß. „Wäre ich nur um einen halben Kopf kleiner“, rief er, „und hätte ich keinen Bart, so wüßte ich wohl, was ich zu tun hätte, ich ließe mir von der [230] Frau Gräfin Kleider geben, und diese Elenden sollten spät genug erfahren, welchen Mißgriff sie getan.“

Auch auf Felix hatte das Unglück dieser Frau großen Eindruck gemacht. Ihr ganzes Wesen kam ihm so rührend und bekannt vor, es war ihm, als sei es seine frühe verstorbene Mutter, die sich in dieser schrecklichen Lage befände. Er fühlte sich so gehoben, so mutig, daß er gern sein Leben für das ihrige gegeben hätte. Doch als der Student jene Worte sprach, da blitzte auf einmal ein Gedanke in seiner Seele auf; er vergaß alle Angst, alle Rücksichten, und er dachte nur an die Rettung dieser Frau. „Ist es nur dies“, sprach er, indem er schüchtern und errötend hervortrat, „gehört nur ein kleiner Körper, ein bartloses Kinn und ein mutiges Herz dazu, die gnädige Frau zu retten, so bin ich vielleicht auch nicht zu schlecht dazu; ziehet in Gottes Namen meinen Rock an, setzet meinen Hut auf Euer schönes Haar und nehmet meinen Bündel auf den Rücken und – ziehet als Felix, der Goldarbeiter, Eure Straße.“

Alle waren erstaunt über den Mut des Jünglings, der Jäger aber fiel ihm freudig um den Hals: „Goldjunge“, rief er, „das wolltest du tun? Wolltest dich in meiner gnädigen Frau Kleider stecken lassen und sie retten? Das hat dir Gott eingegeben; aber allein sollst du nicht gehen, ich will mich mit gefangen geben, will bei dir bleiben an deiner Seite als dein bester Freund, und so lange ich lebe, sollen sie dir nichts anhaben dürfen.“ – „Auch ich ziehe mit dir, so wahr ich lebe!“ rief der Student.

Es kostete lange Überredung, um die Gräfin zu diesem Vorschlag zu überreden. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß ein fremder Mensch für sie sich aufopfern sollte; sie dachte sich im Fall einer spätern Entdeckung die Rache der Räuber, die ganz auf den Unglücklichen fallen würde, schrecklich. Aber endlich siegten teils die Bitten des jungen Menschen, teils die Überzeugung, im Fall sie gerettet würde, allem aufbieten zu können, um ihren Retter wieder zu befreien. Sie willigte ein. Der Jäger und die übrigen Reisenden begleiteten Felix in das Zimmer des Studenten, wo er sich schnell einige Kleider der Gräfin überwarf. Der Jäger setzte ihm noch zum Überfluß einige falsche Haarlocken der Kammerfrau und einen Damenhut [231] auf, und alle versicherten, daß man ihn nicht erkennen würde. Selbst der Zirkelschmidt schwur, daß, wenn er ihm auf der Straße begegnete, würde er flink den Hut abziehen und nicht ahnen, daß er vor seinem mutigen Kameraden sein Kompliment mache.

Die Gräfin hatte sich indessen mit Hülfe ihrer Kammerfrau aus dem Ränzchen des jungen Goldarbeiters mit Kleidern versehen. Der Hut, tief in die Stirn gedrückt, der Reisestock in der Hand, das etwas leichter gewordene Bündel auf dem Rücken machten sie völlig unkenntlich, und die Reisenden würden zu jeder andern Zeit über diese komische Maskerade nicht wenig gelacht haben. Der neue Handwerksbursche dankte Felix mit Tränen und versprach die schleunigste Hülfe.

„Nur noch eine Bitte habe ich“, antwortete Felix, „in diesem Ränzchen, das Sie auf dem Rücken tragen, befindet sich eine kleine Schachtel; verwahren Sie diese sorgfältig, wenn sie verloren ginge, wäre ich auf immer und ewig unglücklich; ich muß sie meiner Pflegmutter bringen und –“

„Gottfried, der Jäger, weiß mein Schloß“, entgegnete sie, „es soll Euch alles unbeschädigt wieder zurückgestellt werden, denn ich hoffe, Ihr kommet dann selbst, edler junger Mann, um den Dank meines Gatten und den meinigen zu empfangen.“

Ehe noch Felix darauf antworten konnte, ertönten von der Treppe her die rauhen Stimmen der Räuber; sie riefen, die Frist sei verflossen und alles zur Abfahrt der Gräfin bereit. Der Jäger ging zu ihnen hinab und erklärte ihnen, daß er die Dame nicht verlassen werde und lieber mit ihnen gehe, wohin es auch sei, ehe er ohne seine Gebieterin vor seinem Herrn erschiene. Auch der Student erklärte, diese Dame begleiten zu wollen. Sie beratschlagten sich über diesen Fall und gestanden es endlich zu, unter der Bedingung, daß der Jäger sogleich seine Waffen abgebe. Zugleich befahlen sie, daß die übrigen Reisenden sich ruhig verhalten sollen, wann die Gräfin hinweggeführt werde.

Felix ließ den Schleier nieder, der über seinen Hut gebreitet war, setzte sich in eine Ecke, die Stirne in die Hand gestützt, und in dieser Stellung eines tief Betrübten erwartete er die [232] Räuber. Die Reisenden hatten sich in das andere Zimmer zurückgezogen, doch so, daß sie, was vorging, überschauen konnten; der Jäger saß anscheinend traurig, aber auf alles lauernd in der andern Ecke des Zimmers, das die Gräfin bewohnt hatte. Nachdem sie einige Minuten so gesessen, ging die Türe auf und ein schöner, stattlich gekleideter Mann von etwa sechsunddreißig Jahren trat in das Zimmer. Er trug eine Art von militärischer Uniform, einen Orden auf der Brust, einen langen Säbel an der Seite, und in der Hand hielt er einen Hut, von welchem schöne Federn herabwallten. Zwei seiner Leute hatten gleich nach seinem Eintritt die Türe besetzt.

Er ging mit einer tiefen Verbeugung auf Felix zu; er schien vor einer Dame dieses Ranges etwas in Verlegenheit zu sein, er setzte mehrere Mal an, bis es ihm gelang, geordnet zu sprechen. „Gnädige Frau“, sagte er, „es gibt Fälle, worin man sich in Geduld schicken muß. Ein solcher ist der Ihrige. Glauben Sie nicht, daß ich den Respekt vor einer so ausgezeichneten Dame auch nur auf einen Augenblick aus den Augen setzen werde; Sie werden alle Bequemlichkeit haben, Sie werden über nichts klagen können als vielleicht über den Schrecken, den Sie diesen Abend gehabt.“ Hier hielt er inne, als erwartete er eine Antwort; als aber Felix beharrlich schwieg, fuhr er fort: „Sehen Sie in mir keinen gemeinen Dieb, keinen Kehlenabschneider. Ich bin ein unglücklicher Mann, den widrige Verhältnisse zu diesem Leben zwangen. Wir wollen uns auf immer aus dieser Gegend entfernen; aber wir brauchen Reisegeld. Es wäre uns ein leichtes gewesen, Kaufleute oder Postwagen zu überfallen, aber dann hätten wir vielleicht mehrere Leute auf immer ins Unglück gestürzt. Der Herr Graf, Ihr Gemahl, hat vor sechs Wochen eine Erbschaft von fünfmalhunderttausend Talern gemacht. Wir erbitten uns zwanzigtausend Gulden von diesem Überfluß, gewiß eine gerechte und bescheidene Forderung. Sie werden daher die Gnade haben, jetzt sogleich einen offenen Brief an Ihren Gemahl zu schreiben, worin Sie ihm schreiben, daß wir Sie zurückgehalten, daß er die Zahlung so bald als möglich leiste, widrigenfalls – Sie verstehen mich, wir müssten dann etwas härter mit Ihnen selbst verfahren. Die Zahlung wird nicht angenommen, wenn [233] sie nicht unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit von einem einzelnen Mann hiehergebracht wird.“

Diese Szene wurde mit der gespanntesten Aufmerksamkeit von allen Gästen der Waldschenke, am ängstlichsten wohl von der Gräfin beobachtet. Sie glaubte jeden Augenblick, der Jüngling, der sich für sie geopfert, könnte sich verraten. Sie war fest entschlossen, ihn um einen großen Preis loszukaufen, aber ebenso fest stand ihr Gedanke, um keinen Preis der Welt auch nur einen Schritt weit mit den Räubern zu gehen. Sie hatte in der Rocktasche des Goldarbeiters ein Messer gefunden. Sie hielt es geöffnet krampfhaft in der Hand, bereit, sich lieber zu töten, als eine solche Schmach zu erdulden. Jedoch nicht minder ängstlich war Felix selbst. Zwar stärkte und tröstete ihn der Gedanke, daß es eine männliche und würdige Tat sei, einer bedrängten, hülflosen Frau auf diese Weise beizustehen. Aber er fürchtete, sich durch jede Bewegung, durch seine Stimme zu verraten. Seine Angst steigerte sich, als der Räuber von einem Briefe sprach, den er schreiben sollte.

Wie sollte er schreiben? Welche Titel dem Grafen geben, welche Form dem Briefe, ohne sich zu verraten?

Seine Angst stieg aber aufs höchste, als der Anführer der Räuber Papier und Feder vor ihn hinlegte, ihn bat, den Schleier zurückzuschlagen und zu schreiben.

Felix wußte nicht, wie hübsch ihm die Tracht paßte, in welche er gekleidet war; hätte er es gewußt, er würde sich vor einer Entdeckung nicht im mindesten gefürchtet haben. Denn als er endlich notgedrungen den Schleier zurückschlug, schien der Herr in Uniform, betroffen von der Schönheit der Dame und ihren etwas männlichen, mutigen Zügen, sie nur noch ehrfurchtsvoller zu betrachten. Dem klaren Blick des jungen Goldschmidts entging dies nicht; getrost, daß wenigstens in diesem gefährlichen Augenblick keine Entdeckung zu fürchten sei, ergriff er die Feder und schrieb an seinen vermeintlichen Gemahl, nach einer Form, wie er sie einst in einem alten Buche gelesen; er schrieb:

„Mein Herr und Gemahl!

Ich unglückliche Frau bin auf meiner Reise mitten in der Nacht plötzlich angehalten worden, und zwar von Leuten, welchen [234] ich keine gute Absicht zutrauen kann. Sie werden mich so lange zurückhalten, bis Sie, Herr Graf, die Summe von 20,000 Gulden für mich niedergelegt haben.

Die Bedingung ist dabei, daß Sie nicht im mindesten über die Sache sich bei der Obrigkeit beschweren, noch ihre Hilfe nachsuchen, daß Sie das Geld durch einen einzelnen Mann in die Waldschenke im Spessart schicken; widrigenfalls ist mir mit längerer und harter Gefangenschaft gedroht.

Es fleht Sie um schleunige Hilfe an

Ihre unglückliche     
Gemahlin.“

Er reichte den merkwürdigen Brief dem Anführer der Räuber, der ihn durchlas und billigte. „Es kömmt nun ganz auf Ihre Bestimmung an“, fuhr er fort, „ob Sie Ihre Kammerfrau oder Ihren Jäger zur Begleitung wählen werden. Die eine dieser Personen werde ich mit dem Briefe an Ihren Herrn Gemahl zurückschicken.“

„Der Jäger und dieser Herr hier werden mich begleiten“, antwortete Felix.

„Gut“, entgegnete jener, indem er an die Türe ging und die Kammerfrau herbeirief, „so unterrichten Sie diese Frau, was sie zu tun habe!“

Die Kammerfrau erschien mit Zittern und Beben. Auch Felix erblaßte, wenn er bedachte, wie leicht er sich auch jetzt wieder verraten könnte. Doch ein unbegreiflicher Mut, der ihn in jenen gefährlichen Augenblicken stärkte, gab ihm auch jetzt wieder seine Reden ein. „Ich habe dir nichts weiter aufzutragen“, sprach er, „als daß du den Grafen bittest, mich so bald als möglich aus dieser unglücklichen Lage zu reißen.“

„Und“, fuhr der Räuber fort, „daß Sie dem Herrn Grafen aufs genaueste und ausdrücklichste empfehlen, daß er alles verschweige und nichts gegen uns unternehme, bis seine Gemahlin in seinen Händen ist. Unsere Kundschafter würden uns bald genug davon unterrichten, und ich möchte dann für nichts stehen.“

Die zitternde Kammerfrau versprach alles. Es wurde ihr noch befohlen, einige Kleidungsstücke und Linnenzeug für die Frau Gräfin in einen Bündel zu packen, weil man sich nicht [235] mit vielem Gepäcke beladen könne, und als dies geschehen war, foderte der Anführer der Räuber die Dame mit einer Verbeugung auf, ihm zu folgen. Felix stand auf, der Jäger und der Student folgten ihm, und alle drei stiegen, begleitet von dem Anführer der Räuber, die Treppe hinab.

Vor der Waldschenke standen viele Pferde; eines wurde dem Jäger angewiesen, ein anderes, ein schönes, kleines Tier, mit einem Damensattel versehen, stand für die Gräfin bereit, ein drittes gab man dem Studenten. Der Hauptmann hob den jungen Goldschmidt in den Sattel, schnallte ihn fest und bestieg dann selbst sein Roß. Er stellte sich zur Rechten der Dame auf, zur Linken hielt einer der Räuber; auf gleiche Weise waren auch der Jäger und der Student umgeben. Nachdem sich auch die übrige Bande zu Pferd gesetzt hatte, gab der Anführer mit einer helltönenden Pfeife das Zeichen zum Aufbruch, und bald war die ganze Schar im Walde verschwunden.

Die Gesellschaft, die im obern Zimmer versammelt war, erholte sich nach diesem Auftritt allmählich von ihrem Schrecken. Sie wären, wie es nach großem Unglück oder plötzlicher Gefahr zu geschehen pflegt, vielleicht sogar heiter gewesen, hätte sie nicht der Gedanke an ihre drei Gefährten beschäftigt, die man vor ihren Augen hinweggeführt hatte. Sie brachen in Bewunderung des jungen Goldschmidts aus, und die Gräfin vergoß Tränen der Rührung, wenn sie bedachte, daß sie einem Menschen so unendlich viel zu verdanken habe, dem sie nie zuvor Gutes getan, den sie nicht einmal kannte. Ein Trost war es für alle, daß der heldenmütige Jäger und der wackere Student ihn begleitet hatten, konnten sie ihn doch trösten, wenn sich der junge Mann unglücklich fühlte, ja, der Gedanke lag nicht gar zu ferne, daß der verschlagene Weidmann vielleicht Mittel zu ihrer Flucht finden könnte. Sie berieten sich noch miteinander, was zu tun sei. Die Gräfin beschloß, da ja sie kein Schwur gegen den Räuber binde, sogleich zu ihrem Gemahl zurückzureisen und allem aufzubieten, den Aufenthalt der Gefangenen zu entdecken, sie zu befreien; der Fuhrmann versprach, nach Aschaffenburg zu reiten und die Gerichte zu Verfolgung der Räuber anzurufen. Der Zirkelschmidt aber wollte seine Reise fortsetzen.

[236] Die Reisenden wurden in dieser Nacht nicht mehr beunruhigt; Totenstille herrschte in der Waldschenke, die noch vor kurzem der Schauplatz so schrecklicher Szenen gewesen war. Als aber am Morgen die Bedienten der Gräfin zu dem Wirt hinabgingen, um alles zur Abfahrt fertig zu machen, kehrten sie schnell zurück und berichteten, daß sie die Wirtin und ihr Gesinde in elendem Zustande gefunden hätten. Sie liegen gebunden in der Schenke und flehten um Beistand.

Die Reisenden sahen sich bei dieser Nachricht erstaunt an. „Wie?“ rief der Zirkelschmidt, „so sollten diese Leute dennoch unschuldig sein? So hätten wir ihnen unrecht getan, und sie standen nicht im Einverständnis mit den Räubern?“

„Ich lasse mich aufhängen statt ihrer“, erwiderte der Fuhrmann, „wenn wir nicht dennoch recht hatten. Dies alles ist nur Betrug, um nicht überwiesen werden zu können. Erinnert ihr euch nicht der verdächtigen Mienen dieser Wirtschaft? Erinnert ihr euch nicht, wie ich hinabgehen wollte, wie mich der abgerichtete Hund nicht losließ, wie die Wirtin und der Hausknecht sogleich erschienen und mürrisch fragten, was ich denn noch zu tun hätte. Doch sie sind unser, wenigstens der Frau Gräfin, Glück. Hätte es in der Schenke weniger verdächtig ausgesehen, hätte uns die Wirtin nicht so mißtrauisch gemacht, wir wären nicht zusammengestanden, wären nicht wach geblieben. Die Räuber hätten uns überfallen im Schlafe, hätten zum wenigsten unsere Türe bewacht, und diese Verwechslung des braven jungen Burschen wäre nimmer möglich geworden.“

Sie stimmten mit der Meinung des Fuhrmanns alle überein und beschlossen, auch die Wirtin und ihr Gesinde bei der Obrigkeit anzugeben. Doch um sie desto sicherer zu machen, wollten sie sich jetzt nichts merken lassen. Die Bedienten und der Fuhrmann gingen daher hinab in das Schenkzimmer, lösten die Bande der Diebeshehler auf und bezeugten sich so mitleidig und bedauernd als möglich. Um ihre Gäste noch mehr zu versöhnen, machte die Wirtin nur eine kleine Rechnung für jeden und lud sie ein, recht bald wiederzukommen.

Der Fuhrmann zahlte seine Zeche, nahm von seinen Leidensgenossen Abschied und fuhr seine Straße. Nach diesem machten [237] sich die beiden Handwerksbursche auf den Weg. So leicht das Bündel des Goldschmidts war, so drückte es doch die zarte Dame nicht wenig. Aber noch viel schwerer wurde ihr ums Herz, als unter der Haustüre die Wirtin ihre verbrecherische Hand hinstreckte, um Abschied zu nehmen. „Ei, was seid Ihr doch für ein junges Blut“, rief sie beim Anblick des zarten Jungen, „noch so jung und schon in die Welt hinaus! Ihr seid gewiß ein verdorbenes Kräutlein, das der Meister aus der Werkstatt jagte. Nun, was geht es mich an, schenket mir die Ehre bei der Heimkehr, glückliche Reise!“

Die Gräfin wagte vor Angst und Beben nicht zu antworten, sie fürchtete, sich durch ihre zarte Stimme zu verraten. Der Zirkelschmidt merkte es, nahm seinen Gefährten unter den Arm, sagte der Wirtin Ade und stimmte ein lustiges Lied an, während er dem Wald zuschritt.

„Jetzt erst bin ich in Sicherheit!“ rief die Gräfin, als sie etwa hundert Schritte entfernt waren. „Noch immer glaubte ich, die Frau werde mich erkennen und durch ihre Knechte festnehmen. O, wie will ich euch allen danken! Kommet auch Ihr auf mein Schloß, Ihr müßt doch Euern Reisegenossen bei mir wieder abholen.“

Der Zirkelschmidt sagte zu, und während sie noch sprachen, kam der Wagen der Gräfin ihnen nachgefahren; schnell wurde die Türe geöffnet, die Dame schlüpfte hinein, grüßte den jungen Handwerksburschen noch einmal, und der Wagen fuhr weiter.

Um dieselbe Zeit hatten die Räuber und ihre Gefangenen den Lagerplatz der Bande erreicht. Sie waren durch eine ungebahnte Waldstraße im schnellsten Trab weggeritten; mit ihren Gefangenen wechselten sie kein Wort, auch unter sich flüsterten sie nur zuweilen, wenn die Richtung des Weges sich veränderte. Vor einer tiefen Waldschlucht machte man endlich Halt. Die Räuber saßen ab, und ihr Anführer hob den Goldarbeiter vom Pferd, indem er sich über den harten und eiligen Ritt entschuldigte und fragte, ob doch die „gnädige Frau“ nicht gar zu sehr angegriffen sei.

Felix antwortete ihm so zierlich als möglich, daß er sich nach Ruhe sehne, und der Hauptmann bot ihm den Arm, ihn [238] in die Schlucht zu führen. – Es ging einen steilen Abhang hinab; der Fußpfad, welcher hinunter führte, war so schmal und abschüssig, daß der Anführer oft seine Dame unterstützen mußte, um sie vor der Gefahr, hinabzustürzen, zu bewahren. Endlich langte man unten an. Felix sah vor sich beim matten Schein des anbrechenden Morgens ein enges, kleines Tal von höchstens hundert Schritten im Umfang, das tief in einem Kessel hoch hinanstrebender Felsen lag. Etwa sechs bis acht kleine Hütten waren in dieser Schlucht aus Brettern und abgehauenen Bäumen aufgebaut. Einige schmutzige Weiber schauten neugierig aus diesen Höhlen hervor, und ein Rudel von zwölf großen Hunden und ihren unzähligen Jungen umsprang heulend und bellend die Angekommenen. Der Hauptmann führte die vermeintliche Gräfin in die beste dieser Hütten und sagte ihr, diese sei ausschließlich zu ihrem Gebrauch bestimmt; auch erlaubte er auf Felix’ Verlangen, daß der Jäger und der Student zu ihm gelassen wurden.

Die Hütte war mit Rehfellen und Matten ausgelegt, die zugleich zum Fußboden und Sitze dienen mußten. Einige Krüge und Schüsseln, aus Holz geschnitzt, eine alte Jagdflinte und in der hintersten Ecke ein Lager, aus ein paar Brettern gezimmert und mit wollenen Decken bekleidet, welchem man den Namen eines Bettes nicht geben konnte, waren die einzigen Geräte dieses gräflichen Palastes. Jetzt erst, allein gelassen in dieser elenden Hütte, hatten die drei Gefangenen Zeit, über ihre sonderbare Lage nachzudenken. Felix, der zwar seine edelmütige Handlung keinen Augenblick bereute, aber doch für seine Zukunft im Fall einer Entdeckung bange war, wollte sich in lauten Klagen Luft machen; der Jäger aber rückte ihm schnell näher und flüsterte ihm zu: „Sei um Gottes willen stille, lieber Junge; glaubst du denn nicht, daß man uns behorcht?“ – „Aus jedem Wort, aus dem Ton deiner Sprache könnten sie Verdacht schöpfen“, setzte der Student hinzu. Dem armen Felix blieb nichts übrig, als stille zu weinen.

„Glaubt mir, Herr Jäger“, sagte er, „ich weine nicht aus Angst vor diesen Räubern oder aus Furcht vor dieser elenden Hütte, nein, es ist ein ganz anderer Kummer, der mich drückt! [239] Wie leicht kann die Gräfin vergessen, was ich ihr schnell noch sagte, und dann hält man mich für einen Dieb, und ich bin elend auf immer!“

„Aber was ist es denn, was dich so ängstigt?“ fragte der Jäger, verwundert über das Benehmen des jungen Menschen, der sich bisher so mutig und stark betragen hatte.

„Höret zu, und ihr werdet mir recht geben“, antwortete Felix. „Mein Vater war ein geschickter Goldarbeiter in Nürnberg, und meine Mutter hatte früher bei einer vornehmen Frau gedient als Kammerfrau, und als sie meinen Vater heuratete, wurde sie von der Gräfin, welcher sie gedient hatte, trefflich ausgestattet. Diese blieb meinen Eltern immer gewogen, und als ich auf die Welt kam, wurde sie meine Pate und beschenkte mich reichlich. Aber als meine Eltern bald nacheinander an einer Seuche starben, und ich ganz allein und verlassen in der Welt stand und ins Waisenhaus gebracht werden sollte, da vernahm die Frau Pate unser Unglück, nahm sich meiner an und gab mich in ein Erziehungshaus; und als ich alt genug war, schrieb sie mir, ob ich nicht des Vaters Gewerbe lernen wollte. Ich war froh darüber und sagte zu, und so gab sie mich meinem Meister in Würzburg in die Lehre. Ich hatte Geschick zur Arbeit und brachte es bald so weit, daß mir der Lehrbrief ausgestellt wurde und ich auf die Wanderschaft mich rüsten konnte. Dies schrieb ich der Frau Pate, und flugs antwortete sie, daß sie das Geld zur Wanderschaft gebe. Dabei schickte sie prachtvolle Steine mit und verlangte, ich solle sie fassen zu einem schönen Geschmeide, ich solle dann solches als Probe meiner Geschicklichkeit selbst überbringen und das Reisegeld in Empfang nehmen. Meine Frau Pate habe ich in meinem Leben nicht gesehen, und ihr könnet denken, wie ich mich auf sie freute. Tag und Nacht arbeitete ich an dem Schmuck, er wurde so schön und zierlich, daß selbst der Meister darüber erstaunte. Als er fertig war, packte ich alles sorgfältig auf den Boden meines Ränzels, nahm Abschied vom Meister und wanderte meine Straße nach dem Schlosse der Frau Pate. Da kamen“, fuhr er in Tränen ausbrechend fort, „diese schändlichen Menschen und zerstörten all’ meine Hoffnung. Denn wenn Eure Frau Gräfin den Schmuck verliert oder vergißt, was ich [240] ihr sagte, und das schlechte Ränzchen wegwirft, wie soll ich dann vor meine gnädige Frau Pate treten? mit was soll ich mich ausweisen? woher die Steine ersetzen? Und das Reisegeld ist dann auch verloren, und ich erscheine als undankbarer Mensch, der anvertrautes Gut so leichtsinnig weggegeben. Und am Ende – wird man mir glauben, wenn ich den wunderbaren Vorfall erzähle?“

„Über das letztere seid getrost!“ erwiderte der Jäger. „Ich glaube nicht, daß bei der Frau Gräfin Euer Schmuck verloren gehen kann; und wenn auch, so wird sie sicherlich ihn ihrem Retter wiedererstatten und ein Zeugnis über diese Vorfälle ausstellen. – Wir verlassen Euch jetzt auf einige Stunden, denn wahrhaftig, wir brauchen Schlaf, und nach den Anstrengungen dieser Nacht werdet Ihr ihn auch nötig haben. Nachher laßt uns im Gespräch unser Unglück auf Augenblicke vergessen, oder besser noch, auf unsere Flucht denken.“

Sie gingen; Felix blieb allein zurück und versuchte dem Rat des Jägers zu folgen.

Als nach einigen Stunden der Jäger mit dem Studenten zurückkam, fand er seinen jungen Freund gestärkter und munterer als zuvor. Er erzählte dem Goldschmidt, daß ihm der Hauptmann alle Sorgfalt für die Dame empfohlen habe, und in wenigen Minuten werde eines der Weiber, die sie unter den Hütten gesehen hatten, der gnädigen Gräfin Kaffee bringen und ihre Dienste zur Aufwartung anbieten. Sie beschlossen, um ungestört zu sein, diese Gefälligkeit nicht anzunehmen, und als das alte, häßliche Zigeunerweib kam, das Frühstück vorsetzte und mit grinsender Freundlichkeit fragte, ob sie nicht sonst noch zu Diensten sein könnte, winkte ihr Felix zu gehen, und als sie noch zauderte, scheuchte sie der Jäger aus der Hütte. Der Student erzählte weiter, was sie sonst noch von dem Lager der Räuber gesehen. „Die Hütte, die Ihr bewohnt, schönste Frau Gräfin“, sprach er, „scheint ursprünglich für den Hauptmann bestimmt. Sie ist nicht so geräumig, aber schöner als die übrigen. Außer dieser sind noch sechs andere da, in welchen die Weiber und Kinder wohnen, denn von den Räubern sind selten mehr als sechs zu Hause. Einer steht nicht weit von dieser Hütte Wache, der [241] andere unten am Weg in der Höhe, und ein dritter hat den Lauerposten oben am Eingang in die Schlucht. Von zwei Stunden zu zwei Stunden werden sie von den drei übrigen abgelöst. Jeder hat überdies zwei große Hunde neben sich liegen, und sie alle sind so wachsam, daß man keinen Fuß aus der Hütte setzen kann, ohne daß sie anschlagen. Ich habe keine Hoffnung, daß wir uns durchstehlen können.“

„Machet mich nicht traurig, ich bin nach dem Schlummer mutiger geworden“, entgegnete Felix; „gebet nicht alle Hoffnung auf, und fürchtet ihr Verrat, so lasset uns lieber jetzt von etwas anderem reden und nicht lange voraus schon kummervoll sein. Herr Student, in der Schenke habt Ihr angefangen, etwas zu erzählen, fahret jetzt fort, denn wir haben Zeit zum Plaudern.“

„Kann ich mich doch kaum noch erinnern, was es war“, antwortete der junge Mann.

„Ihr erzähltet die Sage von dem kalten Herz, und seid stehen geblieben, wie der Wirt und der andere Spieler den Kohlenpeter aus der Türe werfen.“

„Gut, jetzt entsinne ich mich wieder“, entgegnete er, „nun, wenn Ihr weiter hören wollet, will ich fortfahren“:


  1. Die Höhle von Steenfoll; vgl. über diese Erzählung unsere Einleitung oben S. 12 und die Anmerkungen am Schlusse des Bandes.
  2. Kirchwall oder Kirkwall ist die Hauptstadt der schottischen Orkney-Inseln und auf der Ostseite der Insel Pomona gelegen.
  3. D. h. mit Anrufen des Namens Gottes.
  4. Gefährliche wirbelartige Meeresstömung.
  5. Ein heidnischer Altar, nach der heidnischen Urbevölkerung der Inseln, den Pikten, so genannt.
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