Die Gebärdensprache der Süditaliener

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Autor: Woldemar Kaden
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Titel: Die Gebärdensprache der Süditaliener
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 284–287
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Gebärdensprache der Süditaliener.

Von Woldemar Kaden. Mit Illustrationen von P. Scoppetta.


 „Lauter Bewegung ist er, er spricht mit tausend Gebärden,
 Drückt mit Zeichen so klar wie mit der Zunge sich aus.
 Staunend sehn Nordländer ihn an: ein anderes Wesen,
 Regsam wie ein Polyp, scheint die lebend’ge Figur.“
 Wilhelm Waiblinger. „Bilder aus Neapel und Sizilien“.


Am 9. Juni 1815, nach der Niederlage Murats, hatte Ferdinand, seiner großen Bourbonennase wegen familiär der Nasone genannt, endlich den Mut, sich seinem „getreuesten“ napolitanischen Volke zum erstenmal wieder in seiner neuvergoldeten Herrlichkeit als König beider Sizilien auf dem Balkon des hauptstädtischen Schlosses zu zeigen.

Das Volk, eine gährende Hefenmasse lazzaronesker Elemente, hatte ihn herausgeschrieen. es meinte, für seine Treue zu einer Belohnung berechtigt zu sein, und verlangte von seinem guten „Vater“ stürmisch die schon vor Eintreffen des Königs nur mühselig verhinderte endliche Plünderung der Muratschen Hinterlassenschaft. Gieriges Brüllen, heischendes Toben schlug an die Ohren der lächelnden Majestät, die sich endlich erweichen ließ, vorzutreten, eine Rede zu halten, eine Rede ohne Worte, aber eindringlicher, wirkungsvoller als die donnerndste Philippika eines Demosthenes.

Ferdinand, der an gewöhnlichen Leben wie im Ministerrate nur den dicksten Dialekt der niedern Volksquartiere sprach, war auch in der Gebärdensprache der Söhne Masaniellos zu Hause.

Aller Augen hingen an seinen – Fingern.

In der theatralischen Weise eines Königs der Bretter streckte er die Rechte aus, zog sie scharf zurück und legte den Zeigefinger senkrecht über die Mitte des geschlossenen Mundes ... Nun bog er den Arm, die Hand mit den wie eine geschlossene Tulpe vereinigten Fingern, einen finsterfragenden Ausdruck im Gesicht, gegen die Menge schüttelnd (vergl. Fig. 3 auf unserer Bildertafel).

„Murats Habe!“ brüllte es hier und da.

Rasch lösten sich die Finger und fuhren wie beim Harfenspiel (angedeutet in der Figur über dem Knaben mit der Gans) seitwärts, wie klimpernd, eine halbe Kreislinie beschreibend nach rechts unten durch die Luft, bis sie wieder eine scheinbar etwas festhaltende Faust bildeten.

Dann kam der effektvolle Schluß. Hochauf richtete sich der königliche Redner, bog die Hand mit geschlossenen Fingern, den Rücken nach oben, unter das Kinn (wie das Mädchen auf dem Mittelbilde), unter dem er mehrmals heftig vor- und rückwärts strich, dazu den Kopf mit kurzem Augenschließen energisch zurückwerfend ....

Lauter zustimmender Jubel des Volks, tausendstimmige „Evviva Nasone!“ – „Hoch, hoch, der Nasone“ – folgten der aus nur vier Sätzen bestehenden Rede des teuern Vaters, der in uralter, antiker Sprache sich mit seinen Kindern verständigt hatte.

Mit Genugthuung entließ er die Versammlung, indem er die geöffnete Hand (auf der „Schneide“) mehrmals von unten nach oben in die Ferne hinein bewegte (siehe die linke Hand der Minerva auf dem obern antiken Vasenbilde, sowie die des Zeitungsjungen rechts oben in der Ecke), und grüßte die abrückende Menge mit dem graziösen napolitanischen Handgruße der drei wie winkend bewegten mittleren Finger der sanftgebogenen Rechten.

Wie aber hätte die Rede gelautet, in Worte übersetzt?

Das Zeichen des Schweigens zuerst – „So, Kinder, nun seid erst ’mal ein bißchen still! – Jetzt nehmt Eure fünf Sinne zusammen wie ich meine fünf Finger und überlegt, was Ihr wollt! – Mausen wollt Ihr? Krummfingern wollt Ihr? – Als Antwort nehmt das Zeichen der allerschärfsten Verneinung: daraus wird absolut nichts! So, und nun schiebt Euch einmal langsam beiseite und bleibt mir gewogen!“

Das ist ein historisches Anekdötchen aus dem großen völkerpsychologischen Buche der Gebärdensprache, das Tausende von interessanten Blättern hat, aber noch lange nicht fertig geschrieben ist.

Die Gebärdensprache ist uralt, so alt wie die Welt; die Gebärdensprache geht über die ganze Welt, sie ist international.

Was sind Gebärden? Professor Erdmann versteht unter Gebärden die Bewegungen, die zwar willkürlich gemacht und unterlassen werden können, die aber durch ihre Allgemeinverständlichkeit beweisen, daß sie nicht ganz beliebig gewählte Zeichen sind wie etwa die Buchstaben in der Fingersprache. Diese Verständlichkeit der Gebärden, die bei einigen darin liegt, daß sie Anfänge zum Handeln sind (das bloße Heben des Stockes versteht auch das Tier als Anfang des Schlagens), gründet sich bei andern auf ihre Symbolik, das heißt darauf, daß die Gebärden bildlich andeuten, was ausgedrückt werden soll. Wird einer ganz und gar vom Leid übernommen, so reckt er wie hilfesuchend die Hände über den Kopf, gleich einem Ertrinkenden.

Zu ihren Werkzeugen haben die Gebärden die Bewegungsorgane, ihrem Spiel (Gesten, Gestikulieren) dienen vor allem die Hände (ausnahmsweise die Füße), denen sich die beweglichen Teile des Gesichts, wie die Angabe von Nuancen in der Musikschrift, gesellen; dessen Gebärden nennen wir Mienen.

Unsre gewöhnliche Sprache, d. h. die gegliederte, aus kurzen bedeutungsvollen Lauten bestehende Menschensprache, ist das Mittel der Verständigung mit Andern, im weitesten Sinne Mitteilung von Gedanken durch sinnliche Mittel: hier nun setzt die auch der eigentlichen Sprache oft zur Seite gehende Gebärdensprache ein, mit anderen Worten: der Ausdruck von Gedanken und Empfindungen durch Gesten und Mienen.

Wie H. Schaaffhausen in seinen Anthropologischen Studien ausführt, unterstützen rohe Völker ihre Wortsprache durch Gebärden, teils wegen der Unvollkommenheit dieser Wortsprache, teils aus natürlicher Lebhaftigkeit, teils aus Bequemlichkeit. Das lebhafte Gebärdenspiel der Napolitaner hängt sicher mit ihrer Neigung zum „süßen Nichtsthun“ zusammen. Frau Ida Pfeiffer erzählt, daß die Puri in Brasilien für heute, morgen und gestern nur ein Wort haben, das Tag bedeutet, sie zeigen aber dabei aufwärts, vorwärts und hinter sich. Schon Greenhill gab an, daß östlich von Kap Palmas in Afrika ein Volk lebe, dessen Sprache im Dunkeln nicht zu verstehen sei, weil sie, um verstanden zu werden, der Gebärden bedürfen. Dasselbe versichert Burton von einem Stamme nordamerikanischer Indianer, die kaum miteinander im Dunkeln reden könnten, um einem Fremden aber verständlich zu sein, an das Lagerfeuer gehen müßten. Zweifellos mußte auch der Mensch der Vorzeit seine Sprache durch Gebärden verbessern.

Mag bei gebildeten Völkern der Anstand gebieten, die lebhaften Gebärden zu unterdrücken, dem gemeinen Manne der sogenannten klassischen Länder gelingt das nicht: diese Gebärden sind dem Menschen so natürlich und bequem.

Und – unterhaltend! Stundenlang, wenn man sonst nichts Besseres zu thun hat, kann man diesen schlanken zierlichen biegsamen Marionetten, den Händen, zusehen. Was können diese zwei mit ihrem Zehnfingerpersonal nicht alles ausdrücken: ganze Geschichten können sie erzählen, Liebeserklärungen machen, Heiraten stiften, werben und abweisen, geloben und lügen, schwören, küssen und kosen. Mit den Händen wird gedroht, geschmeichelt, beleidigt; sie bitten, bewundern grüßen, verhexen und bannen bösesten Zauber, zeigen und zählen. Ohne Erröten drücken sie Scham und Reue aus, werden zu Befehlshabern, zu Tröstern, Propheten, zu Spöttern, zu graziösen und verschwiegenen Kupplern; bitterer Hohn, tödliche Beleidigung kann von ihnen ausgehen. Die Hände schreien, die Hände schweigen, sprechen ihr Ja und Amen deutlicher als der Pfarrer auf der Kanzel.

O, über diese Knechte der Gebärde! Die Hände sind Dämonen, sie sind Engel, die einzelnen Finger kleine Zauberkünstler, boshafte Alräunchen und Hexenmeisterlein, wie das schon W. Grimm so reizend ausgeführt hat, da er die Finger als belebte Wesen, als zwergenhafte Geisterchen anspricht, wie die Volks- und Kinderphantasie es schon immer empfunden:

„Das ist die Scheunenmaus,
Das ist der Stehlkern,
Das ist der Paßauf etc.“

Oder:

„Das ist der Daumen,
Der schüttelt die Pflaumen etc.“

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Gebärdensprache der Süditaliener.

Und im Alemannischen:

„De ist in Bach g’heit,
De het en uße g’reicht,
De hät en is Bett gleggt,
De hät ne warm zudeckt,
Und de chliene Schölm do
Hät ne wieder ufgweckt.“

Auch bei den Griechen, wo die Gebärdensprache die höchste Ausbildung erfuhr, hatten die Finger die Bedeutung von Dämonen, von mythischen Wesen, die besondere Namen (der Heizer, der Schmied, der Ambos u. a.) führten. Sie galten auch geheimer Natur- und Heilkräfte kundig und standen im Rufe der Zauberei. Jeder Finger war einer anderen Gottheit heilig, wie ähnlich im alten deutschen Recht, wo jeder Finger eine besondere Beziehung zur Gottheit und zu dem von ihr ausgehenden Gesetz hatte.

Wie bei den Griechen waren selbstverständlich auch bei den Römern die Finger voller Bedeutung. Ganz koboldhaft, durch Zucken und Jucken, können sie Geheimnisse andeuten und verraten. Manus loquax, die geschwätzige Hand, nennt sie Petronius, Cassiodor redet von linguosi digiti, von schwatzhaften Fingern. Der Zeigefinger (von zeihen, anklagen) ist der Bogenspanner, aber auch der Dieb. Der Gold- oder Ringfinger ist der Herzfinger, auch Arztfinger – digitus medicus, denn besondere Heilkraft steht ihm zu. Der kleine Finger, Myops, der Kurzsichtige, bei den Griechen, war dem Merkur heilig er hatte die Gabe der Weissagung; die Franzosen nennen ihn auriculaire, was wohl so viel wie Ohrenbläserlein bedeuten soll, im Sinne unserer Redensart „Mein kleiner Finger hat’s mir gesagt.“

Nun stelle man sich vor, welch ein muntres Leben in diese Kobolde fährt, wenn sie zur Vorstellung zugelassen werden, wenn [286] sie Rollen übernehmen, Monologe und Dialoge halten oder den Sang der mündlichen Rede wie ein Instrument, eine Zither oder Harfe begleiten müssen!

Dann waren sie Künstler.

Die höchste Ausbildung in ihrer Kunst erfuhren sie bei den griechischen und römischen Schauspielern, ganz besonders bei jenen, deren Gesicht durch die Maske verdeckt war, so daß sie, unter Verzicht auf das Mienenspiel, einzig auf die Gebärdensprache der Hände und Gliedmaßen angewiesen waren.

Jede veränderte Haltung der Hände und Arme, jede Bewegung der einzelnen Finger drückte einen anderen Sinn aus, der nie mißzuverstehen war. Das war höchste Kunst und jeder Schauspieler suchte sie zu erweitern, auszubilden, zu verfeinern, zu raffinieren: wer etwa einen Zitherspieler darzustellen hatte und hätte dabei die saitenrührende Bewegung der Hände angewendet, würde als ganz ordinärer Pfuscher angesehen worden sein.

Diese Kunst drang damals ins Volk, hat sich im Volke Italiens fortgeerbt, ist aber am lebendigsten geblieben, gleich tausend andern antiken Reminiscenzen, im Süden: beim napolitanischen und sizilianischen Volke, bei denen man sie sozusagen noch an dem Quellbache studieren kann.

Der Archäolog, der die herrlichen figurierten Vasen der süditalienischen Museen studiert, auf denen Gestalten in mancherlei sprechenwollenden Gebärden dargestellt sind, findet eine Erklärung dieser stummen Sprache in den Gebärden des gestikulierenden Volkes am parthenopeischen Molo, wo ein Kerl in Lumpen einem Parterre von Lumpen mit höchstem Pathos des Worts und der Gebärde das Ariostsche Epos vorträgt ....

„und der Vorzeit gedenk’ ich, da unter glücklichem Himmel
Einst vom Achill und Ulyß Griechen der Sänger erzählt.“

Hier mag der Archäologe forschen ...

„Wohl in Lumpen und Schmutz gewahrst du griechische Bildung,
Geistreich lächelt der Kopf unter der Mütze dich an.“

In einem sehr gelehrten, freilich auch sehr trockenen Werke „La mimica degli antichi“ („Die Mimik der Alten“) vom napolitanischen, sein Volk gründlich kennenden Kanonikus Andrea de Jorio (Neapel 1832) wird der Zusammenhang der napolitanischen Mimik mit der altgriechischen nachzuweisen gesucht. Der Gegenstand hat, wie es scheint, seinen Mann höchlichst interessiert, er ist aber nicht der erste, der darüber schrieb: schon 1616 erschien von dem Rechtsgelehrten Giov. Bonifacio das Werk „L’arte de’ cenni“, dessen deutsche Ausgabe den Titel führt „Die Kunst der Zeichen, allwo durch sichtbare Sprache von der stummen Beredsamkeit gehandelt wird oder von dem wohlverständlichen Schweigen. Eine neue Materie, insbesondere für die Fürsten, die ihrer Würde wegen sich mehr durch Zeicheu weder denn durch Worte verständlich machen.“ Noch mancher Band wäre anzuführen, welcher beweist, wie das Thema schon viele „Perückenhäupter, arme schwitzende Menschenhäupter“ beschäftigt hat, aber hier könnten nur Momentphotographieapparate helfen: die Gebärdensprache beschreiben, heißt Blitze und Funken fangen und zergliedern wollen.

So mag es kommen, daß Nordländer dem sprechenden Napolitaner gegenüber nicht bloß staunen über den „regsamen Polypen“, sondern daß ihnen diese „haspendzappelnden“ Gebärden, aus denen sie nicht klug werden, geradezu unheimlich erscheinen. So sagt der alte gute Bogumil Goltz, kleinstädterischen Angedenkens, unberührt von klassischen Reminiscenzen: „Die geistige Unthätigkeit macht dem napolitanischeu Volke die körperliche Agitation zum Bedürfnis, denn irgendwo will das Leben doch hinaus, irgendwie will es sich doch äußern, so fährt es denn in die Arme und Beine, aber die Schlaffheit und Stupidität der meisten steht mit ihrer krampfhaft leidenschaftlichen Beweglichkeit in desto unheimlicherem Kontrast.“ Lassen wir das Leben selbst ihm entgegnen.

Der frisch zugereiste Freund ruft mich eben ans Fenster.

„Sieh! sieh da, auf dem steilen Dache da drüben ein Verrückter Sieh nur, wie er mit den Händen in seinem Gesicht herumfuchtelt, die Luft durchfingert, mit den Fingern ficht!!“

„Das ist eine alte Komödie, Freund. Fast jeden Tag wird sie an derselben Stelle aufgeführt. Ein Liebesduett! Wir sehen nur den glühenden Leander, Hero wohnt ein paar Dächer weiter unten jenseit der Straße, was sie eben spricht, sehen wir im Spiegel der Gebärden des Liebhabers. Paß auf!

Er schließt beide ausgestreckte Zeigefinger zusammen, bewegt die auf die Schneide gestellte Rechte steuerruderähnlich vor sich hin ... deutet kurz und entschieden mit dem Zeigefinger gegen den Mittelpunkt der Erde ... schlägt, den Kopf fragend vorgeneigt, mit demselben Zeigefinger, malend einen Brückenbogen durch die Luft ... schlägt zwei Brückenbogen ... jetzt beugen sich die Kniee und die Hände kreuzen sich krampfhaft, zugleich eine Augenverdrehung gen Himmel ...“

„Ja aber was heißt das alles?“

O, der ist noch lange nicht fertig, schau, der Zeichentelegraph spricht weiter. Bisher hat er gesagt: Schatz, können wir denn nicht einmal zusammen sein, Promenadenwege wandeln? Vielleicht morgen? ....! Dann übermorgen? ....! Nun faßt ihn die Verzweiflung. Er stellt die fünf Finger der Rechten wie eine Glocke oder wie einen Weiberrock auf die Fläche der Linken und zeigt wieder auf den Boden, schmiegt nun die linke Wange bei geneigtem Kopfe mit geschlossenen Augen in die linke hohle Hand, zeigt auf die eigene Brust und dann auf die Geliebte, hebt die weitgeöffnete rechte Hand bei straffem Arm gegen die Ferne, stößt mit dem Zeigefinger in senkrechter Haltung mehrmals gegen den Boden und verschwindet.

Die Finger als Weiberrock auf der Linken und all das folgende bedeuten: die Mutter ... ist sie zu Hause? Was macht sie? Schläft sie? Ja? So komm’ ich auf einen Sprung unter deinen Balkon ... erwarte mich! ... jetzt, jetzt, ich komme sofort!“

„Wie aber können jene Bogen in die Luft morgen und übermorgen bedeuten?“

„Sie können je nach dem Inhalte des Gespräches auch Wochen, Monate, Jahre bezeichnen, ja, eine halbe Ewigkeit kann man durch sie ausdrücken, wenn man rasch hintereinander in die Luft schlägt und mit der Hand auf der Schneide zuletzt das Zeicheu des Und-so-weiter macht. Die ursprüngliche Bedeutung des Halbkreises ist der Lauf der Sonne vom Aufgang zum Niedergang.“

„Wie aber fängt man so eine Liebe über die Dächer weg an?“

„Hast Du Lust dazu? Waibliuger erlebte es und dichtete es:

Dort ans Fenster führt mir der Schalk ein liebliches Mädchen,
Erst nur Blicke, doch bald folgt der verstohlene Gruß.
Und man redet mit Zeichen, man redet mit Augen und Händen;
Andere Sprache vergönnt lauschende Nachbarschaft nicht.
Kannst du lesen, mein holdestes Kind? so frag’ ich mit Zeichen,
‚Ja,‘ ist die Antwort, im Nu liegt auch ein Briefchen bereit.“

Mit dem Kleingewehrfeuer der Blicke fängt man auch hier an; um aber die Einleitungsphrase „Wie schön bist Du!“ durch Gebärden auszusprechen, öffnet man Daumen und Zeigefinger der Rechten ziemlich weit, nimmt in diese Spanne seine eigenen beiden Wangen und fährt leicht und rund mehrmals an ihnen herab (s. Fig. 7), dazu süße Augen ... Die Napolitanerin kennt das nur zu gut: „Dein Gesichtchen ist so glatt und rund wie ein Ei, also schön, ich möchte es liebkosen.“ Drückte man Daumen und Zeigefinger bei ganz der gleichen Gebärde zu tief in die Wangen hinein, so würde es Magerkeit bedeuten: „Du bist mir zu mager“, und zur Antwort würde dem Ungeschickten das reizende Händchen in der Formation von Fig. 11 oder auch beide, wie es der Junge im Mittelbilde thut, entgegengestreckt werden und dies bedeutet nichts Angenehmes, vor allen Dingen ist es eine Verwünschung. „Daß Du platzen möchtest!“

Die Gebärde ist in Deutschland nicht unbekannt, dort bezeichnet man sie unschuldigerweise als „Jemaud einen Esel bohren“ und haben der ausgestreckte Zeige- und kleine Finger die Bedeutung von Eselsohren. In Italien heißt die Hand in dieser Fingerstellung „mano cornuta“, die „gehörnte“, und ist sie in das öffentliche und Privatleben derart verflochten, daß der Napolitaner ohne mano cornuta nicht leben möchte, nicht leben könnte, denn durch sie und nur durch sie wendet er das Unheil ab, das ihm von „allen Enden her bereitet“ wird durch den bösen Blick – „Malocchio“, auch „Jettatura“ genannt –, welchen nur die gehörnte Hand, die so leicht an Stelle des nicht immer bereiten Hornes tritt, besiegt.

Das Kapitel „Horn“, die Rolle, die alles Hornähnliche, wie Korallenästchen, Krebsnasen, Hahnensporen, Pferdezähne, Schweinshaüer, Schweineklauen, Hufeisen, Halbmöndchen, die bezeichnete Gebärde in sich schließend, als Amulett in Italien spielt, ist ja hundertfach behandelt worden – hier beschäftigt uns nur die Gebärde.

Und die hat vieles zu bedeuten: die Drohung, jemand die Augen auszustechen, wobei die Bewegung, so der Bedrohte fern ist, gegen die eigenen Augen ausgeführt wird; eine verächtliche, unwerte Sache („kein Horn wert“); eine Verwünschung; Stolz und [287] Ueberhebung („komm nur her, ich will Dir die Hörner schon brechen!“); Härte im physischen und moralischen Sinn; Abwehr (Amulett) gegen alles Böse, wobei die Hand vorgestreckt wird, gegen das Unheil im allgemeinen, gegen die Jettatura, den vermutlichen Jettatore und endlich gegen die Person, die man vor der bösen Wirkung des bösen Blicks beschützen möchte!

Genau die gleichen Bedeutungen hatte diese Gebärde bei den Griechen und Römern, wie zahlreiche Wandgemälde bezeugen.

In die Klasse der Verachtung ausdrückenden Gebärden, die aber gleichzeitig als Amulett dienen, gehört die „mano in fica“, d. i. die Hand zu einer Faust geballt, die Spitze des Daumens hervorragend zwischen Zeige- und Mittelfinger. Jetzt eine der häufigsten Gebärden im Verkehr des Volkes, die soviel wie ein Herausstecken der Zunge mit der Hand bedeutet, hatte sie im Altertum den Charakter tödlicher Beleidigung. So verhöhnte der Kaiser Caligula auf schwerste Weise den Tribunen seiner Leibwache, Cassius Chärea, indem er ihm die Hand zum Küssen in dieser Weise darbot. Dieser erbat sich später dafür die Ehre, den ersten Streich auf des Kaisers Haupt zu führen.

Auch diese Gebärde findet sich auf antiken Bilderwerken.

Gleichwertig, d. h. in Bezeigung von Verachtung, sind Daumen und Zeigefinger zum Kreis zusammengebogen. Beide Finger ganz zum Kreise geschlossen, wie Fig. 1 zeigt, haben vielfältige Bedeutung. Ursprünglich wies die Gebärde auf das Halten der Wage der Gerechtigkeit hin. Realistischer ist die Symbolik, wenn sie ausdrückt: „Ich werde Dich packen wie einen Floh“ – das ist auf unserem Mittelbild der Fall, wo der erste der beiden mit dem jungen Weib in Streit begriffenen Männer deren verächtliche Gebärde so beantwortet. Eine letzte Bedeutung ist Exaktheit, genau abgewogen, „stimmt“.

Wir haben im Deutschen die Redensart „Einen über die Achsel ansehen“ – sie ist der Gebärdensprache entnommen und bedeutet „ihn verachten“. Sie war auch bei den Römern schon im Schwange, wie ihnen auch die verachtende Gebärde des Deutens mit dem bloßen Daumen auf einen zu Bezeichnenden bekannt war, einen Gestus, den Quintilian in seinem Werk über die Beredsamkeit den öffentlichen Rednern als gemein untersagte.

Hat man seiner Verachtung gründlich genug gethan, so wendet man dem Gegner und dem Ort den Rücken und schlägt zum Zeichen, daß alles aus ist, ein großes Kreuz gegen die nächste Wand oder noch wirksamer, indem man sich bückt, auf den Fußboden. „Hier ist Dein Leichenstein, Du bist tot für mich!“

Will ich ihm sagen: Was Du mir angethan, werde ich mir, unsrer deutschen Redensart gemäß, „hinter die Ohren“ schreiben, so mache ich die Gebärde der letzten Figur, rechts unten auf unserer Tafel, wobei die eine Hand wie ein Schirm über den aufgerichteten Zeigefinger der andern gebreitet wird. Das heißt: hier unten regnet’s nicht, was hier geschrieben steht, wäscht kein Regen weg, also das Gegenstück zu unserm „in den Rauchfang schreiben“.

Die Gebärden des Spottes sind zahllos. Die kindliche des Zungenausstreckens ist uralt und geht über die ganze Welt, sie wird am Nordpol wie am Aequator geübt, und im Propheten Jesaias kann man lesen: „Ueber wen wollt ihr nun das Maul aufsperren und die Zunge herausrecken?“ Ebenso verbreitet ist: die geöffnete Hand mit dem Daumen an die Nase gesetzt und in fächernden Schwingungen bewegt; an die dem andern durch eine traurige Ueberraschung schon länger gewordene Nase will man noch „un palmo di naso“ hinzufügen. Fig. 6 will noch etwas mehr besagen. Der Daumen ans Ohr oder an die Schläfe gesetzt, die andern Finger aufgerichtet, will andeuten: „Du bist ein Esel“; beide Hände in dieser Weise gebraucht: „Du bist ein großer Esel“; beide Hände ebenso, aber schlapp nach vorn überhängend: „Du bist ein Quadrat- oder Erzesel“. Der Esel aber im Super-Superlativ ist der Esel auf dem Piedestal der rechten Hand, wie ihn der Bursche links im Mittelbilde ausstellt.

Denn alle Gebärden haben auch ihre grammaakalischen Steigerungem Positiv, Komparativ, Superlativ. Ich will den Teil einer Sache und lege den rechten Zeigefinger wie ein schneidendes Messer horizontal über den linken. Ich will mehr und stelle die Rechte auf die Schneide in das linke Armgelenk hinein. Ich will alles und fahre mit dieser Hand bis über die Schulterhöhe. Bei „wenig“ und „weniger“ fährt man zurück bis auf die Handwurzel und schneidet nun mit dem Zeigefinger kleine Portiönchen vom Daumen oder vom andern Zeigefinger ab, und das gilt ebensowohl für einen Salami wie für Talent, Liebe und Aehnliches. Nur für Flüssigkeiten giebt es ein andres Maß: der geradeausgestreckte Zeigefinger besagt einen Finger hoch Wein, und so fügt man, die Hand wie auf der Schneide, einen Finger nach dem andern zu und der einen Hand die andre. Die Gruppe der drei Alten rechts unten stellt die beim niedern und hauptsächlich beim Bettlervolk am meisten geübten Gebärden dar. Der Hemdärmelige öffnet weit wie einen Geierschnabel Daumen und Zeigefinger der Rechten und fackelt damit vor dem geöffneten Munde hin und her, was er meist mit den Worten: „fa acqua ’n pipp’“, ich rauche Wasser auf der Pfeife, oder „pass’ ’a vacc’“, die Kuh geht vorüber (ich habe kein Geld, die Milch zu kaufen) begleitet und sagen will: ich bin ein grundarmer Teufel. Sein Nachbar deutet durch seine nach dem Munde geführte Hand, die aussieht, als ob sie einen Bissen hielte, seinen Hunger an. Führte er sie mit demselben Fingerschlusse hoch über den Kopf gehalten gegen den Mund, so würde er sein Maccaroniverlangen andeuten. Der Dritte im Bunde der Heischenden formt seine Hand zu einer Flasche: er will trinken.

Der Lastträger, der dir, ohne Schweiß, die Köfferchen getragen, macht alle drei Bewegungen und fährt, um zu zeigen, daß er der großen Anstrengung wegen einen guten Lohn verdient, mit dem Nagel des Daumens über die Stirn, die rinnenden Schweißtropfen abzuleiten (Fig. 4).

Leichter verdient sein Geld jener Bankdirektor, über den sich die beiden Facchini links unten unterhalten. Die rechte Hand des Einen sagt „Stehlen“, die Linke deutet voll Verachtung nach ihm, das Gegenüber sagt: „Aber fein hat er’s angefangen.“ Die bessere Gesellschaft warnt vor ihm durch die Geste von Fig. 8: „Macht die Augen auf! Hütet Euch! Er ist sehr listig!“ Aehnliches bedeutet Fig. 5: „Er betrügt, aber mein Schlund (durch den Halskragen angedeutet) ist zu eng, solche Bissen durchzulassen.“ „Seine Wege sind wie die der Meerkrabbe“, deren Gestalt und Bewegung durch Fig. 2 versinnlicht wird, „krumm und kreuz und quer und unberechenbar“, „aber endlich kommt der Tag, wo er die Sonne als Schachbrett, d. h. durch Gefängnisgitter sehen wird“ – das deutet Fig. 9 an, die im Deutschen etwa „durch die Finger sehen“, also fast das Gegenteil, besagen würde.

Höchsten Zorn gegen sich und andere (aber auch Bedrohung: „so werde ich Dein Herz zerfleischen“) drückt das ohnmächtige Zerbeißen der Finger aus (Fig. 10).

Eine schier endlose Reihe von Gebärden zieht an meinem Auge vorüber, ich muß mit dieser Auswahl mich begnügen, denn von den beiden Alten rechts oben warnt mich der eine mit den flach ausgestreckten, langsam sich auf- und niederbewegenden Händen. „Nur langsam voran, langsam –“ und gebietet der andre mir, mit seiner flach ausgestreckten Hand eine Mauerfläche versinnbildlichend, ein wohlgemeintes „Halt!“, worin er von dem kleinen Gänsejungen, links unten, einer in Pompeji gefundenen Brunnenfigur, unterstützt wird.

Die Abrollungen von zwei antiken griechischen Vasenbildern auf unserer Bildertafel sollen gleich dieser Figur das schon oben besprochene Alter dieser Gebärdensprache des Südländers veranschaulichen. Das obere Vasenbild zeigt Minerva im Kriegsrat, inmitten zweier verschiedenen Parteien. Derjenigen zu ihrer Rechten deutet ihre erhobene linke Hand die Notwendigkeit an, rasch nach links zur Hilfe zu eilen. Sie stößt auf Widerspruch, denn die Hand des sitzenden Alten, vor der weiblichen Person, empfiehlt ruhige Ueberlegung: „Nur langsam.“ So sagt auch die erhobene Linke des hinter ihm stehenden Weibes: „Halt! Warte! Mir steigen Zweifel auf.“ Das Gegenteil sagt die Gruppe zur Linken der Göttin; sie stimmt dieser bei. Des sitzenden Alten Hand sagt: „Was wollt Ihr? Alles schon erwogen.“ Vorwurfsvoll lebhaft schreitet der andere vor, er ahmt fast die Bewegung der Minerva nach, doch sagt seine Gebärde: „Schweigt und macht Euch sofort auf!“

Auf dem untern Bild ist die männliche Gestalt mit dem Thyrsusstab Bacchus – trotz seiner Passivität. Die Handlung ist ein Privatzank zwischen zwei Frauen. Die zur Linken erhebt den Zeigefinger der Rechten zu einem eifersüchtig tadelnden „Du!“ Daß es tadelnd geschieht, erhellt aus der Gebärde der Gegnerin, die beide Arme ausstreckt als Zeichen der Abwehr und der Verneinung, ebenso den Oberleib in demselben Sinne zurückwirft. Die linke Hand der Klägerin deutet an, daß es sich um eine Liebe handelt. Der Gegenstand dieser Liebe ist der Flötist. Bacchus, der Gott der Lebenslust, soll entscheiden. So lassen sich auf Grund der noch heute üblichen Gebärden die antiken Bildwerke enträtseln, ohne den Aufwand an Scharfsinn, den auf dem kleinen Relief der rätsellösende Oedipus vor der Sphinx mit seinem gegen die Stirn gehobenen Zeigefinger andeutet.