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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[260 c]

9. Heft. Preis 10 cents. 2. Mai 1899.



Max Wel & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[260 d]

Inhalt.
Seite
Nur ein Mensch. Roman von Ida Boy-Ed 261
Der alte Birnbaum. Gedicht von Johannes Proelß. 272
Die angeblichen Zahnungsbeschwerden der Kinder. Von Dr. Carl Hochsinger 274
Der König von Thule. (Zu unserer Kunstbeilage.) 275
Burg Lauenstein. Von A. Trinius.
Mit Abbildungen nach photographischen Aufnahmen
276
Krystallvisionen. Von C. Richter. 280
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (8. Fortsetzung) 280
Blätter und Blüten: Die Feuersbrunst in Kranichfeld. (Mit Abbildung.) S. 290. – Arabische Schule in Algier. (Zu dem Bilde S. 261.) S. 290. – Der Ziegenrücken im Riesengebirge. (Zu dem Bilde S. 265.) S. 291. – Ein Gedicht. (Zu dem Bilde S. 269.) S. 291. – Chinesische Brautsänfte. (Mit Abbildung.) S. 291. – Hans Joachim von Zieten. (Zu dem Bilde S. 281). S. 291. – Fahrscäfer auf der Schwäbischen Alb. (Zu dem Bilde S. 285.) S. 291. – Die „Pretoria“ im Riesenschwimmdock von Blohm und Voss in Hamburg. (Mit dem Bilde S. 289.) S. 291. – Das „Haus im Busch“. (Mit Abbildung.) S. 292.
Illustrationen: Arabische Schule in Algier. S. 261. – Der Ziegenrücken im Riesengebirge. Von P. Linke. S. 265. – Ein Gedicht. Von H. Vogler. S. 269. – Abbildungen zu dem Gedichte „Der alte Birnbaum“. Von W. Gause. S. 272 und 273. – Abbildungen zu dem Artikel „Burg Lauenstein“. Von A. Trinius. Burg Lauenstein. Eingang zur Innenburg. S. 277. Im Hof der Burg. S. 278. Rittersaal im Thünaschen Flügel. Erker im Hirschensaal. S. 279. – Hans Joachim von Zieten. Von Adolph Menzel. S. 281. – Fahrschäfer auf der Schwäbischen Alb. Von H. Zügel. S. 285. – Die „Pretoria“ im Riesenschwimmdock von Blohm und Voss in Hamburg. S. 289. – Ansicht der Brandstätte in Kranichfeld. S. 290. – Chinesische Brautsänfte. S. 291. – Das „Haus im Busch“ im Haag, der Sitz der Friedenskonferenz. S. 292.


Hierzu Kunstbeilage IX: „Der König von Thule.“ Von P. van der Ouderaa.




Kleine Mitteilungen.


Adolf Guyer-Zeller †. Es ist noch nicht lange her, da konnte die „Gartenlaube“ (vgl. Jahrgang 1898, S. 728) ihren Lesern in Bild und Wort eine Schilderung bieten von dem Feste der Einweihung der ersten Strecke der Jungfraubahn. Der kühne Mann, der das Unternehmen ins Leben rief, bis zum Gipfel der Jungfrau eine Eisenbahn hinaufzuführen, erfreute sich damals noch vollster Rüstigkeit, und mit dem Gruße: „Auf Wiedersehen bei der Vollendung der Bahn im Jahre 1904“ entließ er seine Gäste nach dem Festmahl im Scheidegghotel. Es war ihm nicht vergönnt, dies heiß erstrebte Ziel zu erleben; am 2. April dieses Jahres ist Adolf Guyer-Zeller, 60 Jahre alt, in Zürich aus dem Leben geschieden. Er stammte aus einer angesehenen Familie des Züricher Oberlandes. Anfänglich beschränkte er sich auf den Betrieb einer Baumwollenfabrik in Neuthal bei Bauma. Sein unternehmender Geist fand aber daran kein Genüge. Er beteiligte sich lebhaft an der Entwicklung des Eisenbahnverkehrs in der Schweiz und spekulierte dabei mit seinem Vermögen so glücklich, daß er als Aktionär der wichtigsten Schweizer Bahnen außerordentlichen Einfluß errang. 1894 wurde er Präsident des Verwaltungsrates der Nordostbahn. Sein letztes großes Unternehmen war die Jungfraubahn. Mit außerordentlicher Energie hat er die Verwirklichung des von vielen als undurchführbar bezeichneten Planes begonnen und bis zu seinem Lebensende betrieben. Er starb an einer Lungenentzündung.

Kleine Naturstudien. Für jüngere Naturfreunde ist es sehr empfehlenswert, leichtere Versuche, die uns in die Lebensbethätigungen der Pflanzen Einblick gewähren, in freien Stunden auszuführen. Eine derartige Beschäftigung ist nicht allein interessant und belehrend, sondern auch geeignet, den Sinn für Beobachtung zu schärfen. Wir geben im nachstehenden einige Anregungen hierzu.

Es ist wohl jedem unserer Leser aus der Schule bekannt, daß grüne Pflanzen die Eigenschaft haben, im Lichte die Kohlensäure aus der Luft oder dem Wasser aufzunehmen und dieselbe derart zu zersetzen, daß sie den Kohlenstoff behalten, den Sauerstoff aber an die Umgebung abstoßen. Mit sehr geringfügigen Mitteln ist es möglich, den letzteren Teil dieses Lebensvorganges, den wir Assimilation nennen, sichtbar zu machen.

Wir brauchen dazu eine beliebige Wasserpflanze, zum Beispiel Wasserpest, Tannenwedel oder dergleichen. Einen Sproß derselben beschweren wir mit einer Glasperle oder einem kleinen Eisennagel und setzen ihn in ein mit Wasser gefülltes Glas ein, so daß er ganz untertaucht. Stellen wir nun das Glas in das Sonnenlicht, so werden wir bald sehen, daß von der Schnittstelle des Sprosses kleine Gasbläschen emporsteigen. Diese Gasbläschen bestehen, wie chemische Untersuchungen erwiesen haben, aus reinem Sauerstoff. Wir können nun lernen, daß diese Sauerstoffabscheidnng von zwei Bedingungen abhängt; das Wasser muß Kohlensäure enthalten und die Pflanze muß dem Lichte ausgesetzt werden.

Lassen wir den Sproß längere Zeit in der Sonne stehen, so wird die Sauerstoffabscheidung allmählich geringer und hört zuletzt ganz auf. Die Pflanze hat die im Wasser befindliche Kohlensäure verbraucht. Leiten wir nun Kohlensäure in das Wasser ein, was dadurch geschehen kann, daß wir etwas „kohlensaures Wasser“ zugießen, so wird im Sonnenlichte die Abscheidung der Gasbläschen von neuem beginnen.

Um den Einfluß des Lichtes auf diesen Vorgang nachzuweisen, brauchen wir nur die im Sonnenlichte arbeitende Pflanze mit einem dünneren Blatt Papier zu beschatten. Sogleich wird die Thätigkeit herabgesetzt, in derselben Zeit werden aus dem Sproß weniger Gasbläschen austreten. Bringen wir unser Versuchsglas in tiefen Schatten, so wird die Gasausscheidung völlig aufhören. Des Abends läßt sich noch der Einfluß des künstlichen Lichtes auf die Assimilation nachweisen. Wir setzen den Pflanzensproß im Wasser dem Lampenlichte aus und merken, daß die Gasausscheidung äußerst geringfügig ist oder bei schwacher Lichtquelle überhaupt nicht stattfindet.

Wer farbige Glasscheiben besitzt, kann auch über den Einfluß verschiedenartigen Lichtes auf die Assimilation sich unterrichten. In eine Pappschachtel, mit der man das Versuchsglas zudecken kann, schneidet man in der einen Seitenwand ein schmäleres Guckloch ein und in der gegenüberliegenden eine weitere Oeffnung. Durch die letztere läßt man zunächst Sonnenlicht auf den Versuchssproß fallen und zählt, wie viel Gasbläschen er in der Minute ausscheidet. Nehmen wir an, es seien fünfundzwanzig gewesen. Decken wir jetzt die Oeffnung mit einer roten Scheibe zu; die Zahl der in einer Minute aufsteigenden Bläschen wird sich verringern und vielleicht nur fünfzehn betragen; beim Vorsetzen einer gelben Scheibe wird die Gasentwicklung wieder lebhafter und bei Anwendung einer violetten Scheibe fast gänzlich aufhören.

Ebenso wie die Wasserpflanzen verhalten sich auch die an der Luft lebenden Pflanzen. Wenn wir von ihnen Zweige und Blätter abschneiden, sie ins Wasser tauchen und dem Sonnenlichte aussetzen, so werden wir auch in diesem Falle die Abscheidung von Gasbläschen an den Blättern bemerken. Für Versuchszwecke wählen wir aber Wasserpflanzen, weil ihre Leistung im Wasser eben größer und darum sichtbarer ist.

Die Assimilation der Pflanzen ist für den Haushalt der Natur sehr wichtig; denn aus dem Kohlenstoff, den sie von der Kohlensäure der Luft und des Wassers zurückbehalten, bereiten sie in ihren Zellen kohlenstoffhaltige Stoffe wie Stärke, Zucker u. dgl., die für die Ernährung der Tierwelt von höchster Bedeutung sind.

Ein Lebensmittelzug. Die deutsch-italienischen Handelsbeziehungen sind in neuester Zeit bedeutend gefördert worden. Auf Veranlassung der Adriatischen Bahn wurde im Verein mit den beteiligten österreichischen und deutschen Bahnen nun auch ein besonders beschleunigter Güterzug, ein sogenannter Lebensmittelzug, eingerichtet, welcher von Neapel ausgeht, die Punkte Ala, Kufstein, München berührt und in Berlin endet. Auf diese Weise soll der Norden mit den Erzeugnissen des Südens, namentlich mit frischen Früchten, mit Gemüsen und anderen Lebensmitteln auf dem kürzesten und schnellsten Wege versorgt werden. Es wird Ala von Neapel aus schon in 33 Stunden, München in 60 Stunden und Berlin in etwa 90 Stunden erreicht, so daß die Waren vollständig frisch und im besten Zustande auf die dortigen Märkte gelangen. Br.     

Tagebücher des Mutterglücks. Die Kinderstube ist das kleine Reich, in dem die Hausfrau als Mutter waltet. An den jungen Menschenblumen, die dort sich entfalten, hängt ihr Herz mit allen Fasern, und nirgends genießt sie so reine Freuden wie bei der Pflege ihrer Kinder. Freilich wechselt auch in der Kinderstube Regen und Sonnenschein. Die unvermeidlichen Kinderkrankheiten bilden die Quelle schwerer Sorgen und angstvoll durchwachter Nächte, und Kindertrotz trübt manche Stunde des Tages. Doch wie leicht sind nicht die Sorgen und der Aerger vergessen und wie leuchtend stehen nicht in der Erinnerung der Mutter die drolligen heiteren Scenen, die sich so oft in der Kinderstube abspielen. Leider verblassen mit der Zeit auch diese Bilder. Man sollte sie festhalten, niederschreiben, damit sie uns noch später erfreuen.

Ein Tagebuch, in dem die kleinen Ereignisse des Kinderlebens verzeichnet stehen, bildet eins der schönsten und teuersten Familienandenken. Für derartige Aufzeichnung ist ein vor kurzem im Verlage von E. Haberland, Leipzig, erschienenes Album „Mutterglück“ bestimmt.

Es enthält eine Anzahl unbeschriebener Blätter, Kartons zur Aufnahme von Photographien und dazwischen eine Fülle von Dichteraussprüchen über Kindeslust und Mutterglück, die von Similde Gerhard gesammelt wurden. Sein Inhalt, den die junge Mutter ergänzen soll, zerfällt in die Abschnitte „In der Wiege“, „Wachsen und Gedeihen“, „Der Geist erwacht“, „Kinderlust und -leid“, „Kindliche Einfälle“ und „Zucht und Belehrung“. Das geschmackvoll von Prof. G. Sturm illustrierte Album eignet sich trefflich als Geschenk für junge Mütter.

[260 e]


DER KÖNIG VON THULE
Nach dem Gemälde von P. van der Ouderaa

Die Gartenlaube 1899. Kunstbeilage 9

[261]

Halbheft 9.   1899.


Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.


1.

Es kam Achim von Körlegg vor, als könne er die quälende Unthätigkeit, zu welcher er sich schon seit zwei Monaten verurteilt sah, nun nicht einen Tag länger mehr ertragen. Als er die Festungshaft antrat, that er es mit tausend Vorsätzen und einem reichgegliederten Plan. Nicht nur dachte er eine ganze Reihe militärwissenschaftlicher Werke durchzustudieren, sondern seiner allgemeinen Bildung auf allen möglichen Wissenschaftsgebieten aufzuhelfen.

Arabische Schule in Algier.
Nach einer Photographie von A. Leroux in Algier.

[262] Aber die starkgefüllte Bücherkiste ward nur zum kleinsten Teil ausgepackt. Achim fühlte, daß Studieren um des Studierens willen gar nicht seine Sache war. Er brauchte Gegendruck und Anreiz des praktischen Lebens. Mitten in demselben stehend, konnte er sich Stunden des Schlafes rauben, nur um eine Wissenslücke auszufüllen, die irgend ein Vorkommnis des Tages ihm offenbart. Und dann hatte er völlig die Vertiefung und Sammlung, die ihm hier, im einförmigen Lauf der Stunden, fehlte.

Vielleicht war der Frühling schuld, der ihn quälte.

Draußen im Lande, um Wälle und Gräben der Festung war ein Schimmern und Flimmern von jungem Grün der Wipfel, durch die der Wind strich, vom weißgelben Blühen der Wiesen und vom zitternden Silbergrau der Pappeln, die steilragend in langen Linien die Landstraße einsäumten. Wenn Achim auf dem Walle stand, ging sein Blick hinweg über die Ebene, die in zarten Farben reizvoll dalag, bis zum fernen Horizont, wo die blaßgräuliche Linie der Erde sich kaum noch vor dem blaßblauen Himmel abhob. Die Weite des Blickes und das Werden in der Natur machte es ihm doppelt qualvoll, an die eine enge Stätte gebunden zu sein.

Die Sehnsucht machte ihn beinah’ krank. Aber wonach er sich eigentlich sehnte, konnte er selbst nicht sagen.

Er rechnete sich täglich aus, wann die Begnadigung eintreffen könne. Daß er nicht die anderthalb Jahre hier bleiben werde, zu welchen er verurteilt worden war, unterlag keinem Zweifel. Eigentlich hatte er, wie die Sachen lagen, schon die kaiserliche Begnadigung viel früher erwartet.

Aber man konnte niemals wissen, durch was für kleine Zufälligkeiten und Äußerlichkeiten sie aufgehalten wurde.

Nun lief morgen der zweite Monat ab. Und als Achim von Körlegg von seinem Nachmittagsspaziergang heimkam, in sein mit spartanischer Einfachheit eingerichtetes Zimmerchen, dachte er: Morgen – gewiß morgen!

Er fühlte sich erschöpft und ärgerte sich, daß er einen einstündigen Spaziergang in den Gliedern spürte.

Wie ein nervöses Frauenzimmer, dachte er erbittert.

Auf seinem Tisch lag die Post. Er griff mit Gier nach den Sachen. Außer der Zeitung waren es drei Postkarten von Kameraden, eine Rechnung und ein Brief, der unter seiner Regimentsadresse an ihn abgesandt worden war, aus Amerika kam und ihm hierher nachgeschickt wurde.

Die Kameraden schrieben ihm scherzhafte Grüße und berichteten von einer Verlobung im Regiment.

Er hatte sich während des Winters für die betreffende Dame interessiert gehabt. Sie auch für ihn. Und er wußte: wenn jenes unselige Duell nicht dazwischen gekommen wäre …. wenn er seine Bewerbungen hätte fortsetzen können …. vorbei, vorbei! Es war alles so gleichgültig jetzt! Es lag so fernab in der Tiefe der Zeiten!

Er saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Der Tisch stand unter dem einen der beiden Fenster und that, als ob er ein Schreibtisch wäre, während vier ganz gemeine Holzbeine eine ebenso gewöhnliche Platte trugen. Achim hatte ihn mit Schreibzeug, Büchern und Papieren so beladen, daß er wie die Arbeitsstätte eines Gelehrten aussah.

Achim grübelte darüber nach, wieso ihm eigentlich der Wunsch nach einer ganz neuen Existenz aufgären konnte. Er liebte doch nach wie vor seinen Beruf. Er hätte gar nichts anderes sein mögen als gerade Offizier. Er liebte auch seine Kameraden, er durfte mit Wohlwollen oder mit Dankbarkeit an alle die Menschen denken, die der Zufall seinem Leben dienstlich oder gesellschaftlich beigeordnet hatte.

Er war sich bewußt, mit niemand in geheimer Abneigung oder offener Feindschaft zu leben.

Und dennoch war ihm wie einem, der am liebsten alle Schiffe hinter sich verbrannt hätte.

„Das sind überreizte Stimmungen,“ sagte er sich, „geboren aus der thatenlosen Einförmigkeit des Daseins.“

Und dann kam ihm ein ironischer Gedanke: Freilich, wenn man einen Menschen totgeschossen hat, ist das eine That, von der man sich lange ausruhen muß!

Er nahm den amerikanischen Brief in die Hand.

Von Robert Burry, dachte er. Der gute Junge ahnt von nichts.

Es war ihm mit dem Lesen nicht eilig. Der da geschrieben hatte, war ein Jugendfreund, der mit ihm zusammen Sekunda und Prima durchgemacht hatte. Aber seitdem führte Beruf und Nationalität ihre Wege weit auseinander. Achim von Körlegg trat in ein Garderegiment, und Robert Burry ging nach Washington zurück, sich der staatsmännischen Carriere zu widmen.

Achim war sich nie ganz klar darüber, ob der junge Amerikaner diese Jugendfreundschaft so zähe aufrecht erhielt aus wahrhafter Treue, oder um sich Beziehungen zu bewahren für den Fall einer Rückkehr nach Europa. Ebenso wußte er nicht, weshalb er selbst eigentlich immer antwortete. Vielleicht aus einer Art Pietät gegen frohe Jugendtage? Vielleicht um dann und wann aus einer andern, freieren Welt etwas zu hören, an dem er sich erheitern konnte, nach den landläufigen, harmlosen kleinen Schimpfereien im Kameradenkreis.

Ach diese Schimpfereien! Achim lächelte in sich hinein. Ueber was alles raisonnieren die jungen Lieutenants nicht? Gleichsam bloß zu einer Art Geistesgymnastik. Und was für lächerliche kleine Vorkommnisse so im Garnisons- und Kasinoleben zu Ereignissen aufgebauscht wurden, die man tagelang erregt besprach!

Er hatte nun wirklich was erlebt! Und das war so groß, so ernst, daß ihm jetzt noch däuchte, er könne nie wieder am Kleinkram des Dienstes wichtiges Interesse nehmen.

Wer weiß, dachte er plötzlich, es war vielleicht Schicksalsfügung, daß Robert und ich aneinander festhielten? Wenn ich hinüberginge .... ich könnte mich ein Jahr à la suite stellen lassen – es wäre eine große, einschneidende Abwechselung ....

Beinahe hastig riß er den Briefumschlag ab.

Robert Burry schrieb eine große Handschrift und reihte sie in weit voneinander abstehenden Linien hin. So stand auf zwölf Seiten kaum mehr, als ein hingebender Briefschreiber auf zwei Seiten bringen konnte.

 „Lieber Achim!

Vor acht oder zehn Wochen sandtest Du mir Deine Photographie. Ich danke nicht vor heute, weil ich inzwischen gewesen bin im Auftrage meiner Regierung nach San Francisco. Den langen, etwas mageren und faden Primaner – mit ‚fade‘ meine ich bloß die Farben – ich erkannte kaum wieder. Du siehst entschieden Frithjof Nansen ähnlich – vielleicht eine Kleinigkeit mehr Fülle im Wangenoval. Und, es scheint Dein helles Blond nachgedunkelt. Vielleicht aschgrau?

Also ein schöner Mann alles in allem geworden? Energisch, ein bißchen düster sogar? Oder hat der Photograph nur vergessen zu sagen: bitte, freundlich! Wann werde ich sehen das Original dieses interessanten Bildes wieder? Zwar sind erheblich meine Aussichten, einmal als Gesandtschaftsattaché nach Berlin zu kommen. Mein Vater bohrt dafür. Und wenn James Burry was will, wird es auch. Aber momentan ist keine Vakanz und wenn auch: zwei, drei Jahre es kann für mich noch dauern.

Aber Du? Mußt Du denn ‚drillen‘ ewig Rekruten? Du bist doch pekuniär unabhängig. Für deutsche Begriffe sogar wohlhabend. Also nimm mal einen Urlaub – so sechs Monate oder mehr wird sich die deutsche Armee behelfen ja wohl ohne den Premierlieutenant von Körlegg. Obenein: ich habe da was gelesen. Du weißt, ich halte zwei deutsche Zeitungen. Die Kreuzzeitung und – die Frankfurter Zeitung. Als Diplomat – –

Aber die erste Nachricht muß mir entgangen sein. Ich sah nur die zweite, die zu künden schien den letzten Akt eines Dramas. Du bist verurteilt zu einer langen Festungshaft infolge Duellvergehen? Wenn das einem Offizier passiert, bleiben die Jahre und Monate bei Euch ein papierner Scherz und so wirst auch Du vielleicht längst sein begnadigt. Aber Duelle haben Gründe und die Gründe sind manchmal peinlich. Der Pistolenschuß verknallt und verhallt – die Ursache steht noch da. Besonders wenn es ist ein Weib.

Ich bin nicht neugierig, aber ich sage: sitzest Du in Zuständen oder auch nur in Stimmungen, die Dir erscheinen lassen einen Luftwechsel für einige Zeit angenehm und nervenbekömmlich, so packe ein und komm her! Erst zeige ich Dir Washington und [263] dann New York, später gehen wir an die See. Mein Vater hat eine Villa in Newport. Da wirst Du sehen was ist Leben. Du wirst merken Unterschiede. Wie zwischen einem netten kleinen Ruderboot und einer prachtvollen Dampfjacht. Und Du wirst auch kennenlernen meine Cousine Miß Ethel Burry. Sie hat zehn Millionen Dollars, lieber Achim. Und der alte preußische Adel steht bei uns ebenso hoch im Kurse. So es sich gleicht aus. Aber darüber hinaus: sie ist ein lovely girl. Mich will sie nicht. Mir gönnte ich sie am liebsten. Aber weil da nichts zu machen ist: demnächst Dir.

Ich erwarte Deine Nachricht: mit dem und dem Schiff komme ich – Robert, sei in Hoboken. Und Du findest pünktlich zum Empfang zur Stelle
Deinen alten Robert.“ 

Achim fühlte sich erfrischt und beglückt. Also seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen. Von dem Jugendfreund kam ihm ein Wink zur Neugestaltung des Lebens. Er wollte über den Ocean gehen, da war Vergessen, da waren Ereignisse!

Und er lechzte nach Ereignissen. Irgend etwas mußte geschehen, ihn aus dem Grau seiner Tage hinaus zu retten in den vollen Sonnenschein.

Er vergaß in diesem Augenblick ganz, daß Robert ihn beinahe in jedem Brief mit ähnlichen Worten einlud und daß er ihm diese Millionen-Cousine und noch einige andere Erbinnen als Lockspeise schon öfters vorgehalten. Früher hatte er diese Hinweise Roberts belächelt und gedacht: „So ein Amerikaner kann sich’s wohl gar nicht anders vorstellea, als daß man nach Geld heiratet.“

Und wenn er den Kameraden diese Hinweise auf reiche, schöne Amerikanerinnen vorlas, hatte sich wohl scherzhaft der eine oder andere erboten, anstatt seiner hinüberzugondeln und die Dollars einzufangen.

Heute lachte er nicht. Er bildete sich abergläubisch ein, daß das ein Zeichen sei, und fühlte sich plötzlich wieder dem Freund so nahe wie in den Primanertagen. Gc hatte Robert lieb. Er machte sich Vorwürfe, diese Liebe so lange vor sich selbst verleugnet zu haben. Und er setzte sich hin, in einem langen, langen Briefe sein Herz zu entlasten.

Er schrieb den ganzen Abend und schrieb am nächsten Vormittag weiter. Ihm wurde wohl und leicht und vieles, was er bis dahin nur dumpf empfunden, klärte sich zu Worten, formte sich zu Erkenntnissen. Es war kein Brief, es war beinahe ein Manuskript. Und es lautete:

 „Mein alter Junge!

Die Photographie, zu welcher Du so schmeichelhafte Randglossen machst, habe ich Dir nicht vor acht oder zehn Wochen, sondern vor rund vier Monaten geschickt. Aber es ist mir lieb gewesen, daß Du mir erst jetzt, gerade jetzt erst, den Empfang anzeigst. Dein Brief konnte in keinem günstigeren Augenblick zu mir kommen. Ich hatte es gerade verzweifelt nötig, daran erinnert zu werden, daß die Welt groß und weit ist und daß ich vielleicht in neuen, fremden Verhältnissen das finde, wonach meine ganze Seele sich sehnt: unbekümmerte Frische, interessanten, zerstreuenden Inhalt für mein Leben. So entschloß ich mich denn, fast noch ehe ich Deinen Brief gelesen hatte, nur auf den Anblick Deiner Handschrift und den der amerikanischen Freimarke hin, eine mehrmonatige Reise nach Amerika zu machen und mich so lange à la suite stellen zu lassen. Denn meine Zukunft kann ich mir schließlich doch nicht anders denken als im Soldatenrock. Ich will nichts aufgeben. Ich will bloß ein Intermezzo. Es kann sein, daß ich sehr bald komme. Am Tage, wo die Begnadigung eintrifft, die stündlich zu erwarten ist, werde ich sogleich mein Gesuch, betreffend die à la suite-Stellung, einreichen. Zugleich werde ich meine Versetzung in ein anderes Regiment beantragen. Was das für einen deutschen Offizier heißt, aus seinem Regiment zu scheiden, wo er seit seinen kindlich wichtigen Avantageurtagen gestanden hat, kannst Du nicht begreifen. Aber das wirst Du begreifen, daß es immer auch nicht leicht ist, Berlin als Garnison aufzugeben, um vielleicht in irgend einem Provinznest weiter zu vegetieren. Warum? Das nachher.

Erst will ich Dir noch sagen, daß ich im Prinzip auch nicht abgeneigt bin, mich drüben zu verheiraten. Deine Cousine Ethel Burry mit ihren zehn Millionen Dollars kommt hierbei natürlich nicht in Betracht. Das ist zu viel für einen einfachen adeligen Infanterieoffizier der Linie – denn mit der Garde ist es wohl vorbei –. Du bist so höflich, zu bemerken, der alte Adel stehe hoch im Kurse drüben. Jawohl: wenn er eine Grafen- oder Herzogskrone bieten kann oder eine große Stellung bei Hof. Mir eine solche mit dem Gelde meiner Frau zu machen, widerstrebt mir total, obschon ja an und für sich bei keinem Lieutenant, auch mir nicht, Geld ein Hindernis für Liebe ist. Bei uns ist ja nun einmal, wenn vom Heiraten die Rede ist, auch fast immer vom Geld die Rede – darum sind thatsächliche Geldheiraten aber doch selten, während es häufig, zu häufig vorkommt, daß ein junger Offizier und ein junges Mädchen mit wehem Herzen aufeinander verzichten müssen, weil’s eben am Gelde fehlt. So haben wir uns denn gewöhnt, da wir ein Weib nicht ernähren können, wenn wir kein Familienvermögen haben, immer gleich von vornherein jedes Mädchen auf ihre mögliche Mitgift zu taxieren.

Ich, der ich eine auskömmliche Rente habe, sah mir die heiratsfähigen jungen Damen ohne diese Nebengedanken an. Aber in Amerika werde auch ich immerhin fragen: wieviel? Was man einer deutschen jungen Dame als treffliche Versorgung bieten kann, möchte den Damen Deiner Kreise vielleicht lächerlich bescheiden vorkommen. Aber reich, in Eurem Sinne reich, darf sie nicht sein. Ich liebe die Gesundheit und das Gleichgewicht in allen Dingen. Es soll ein gewisser pedantischer Zug in mir sein, sagen meine Freunde. Weißt du noch: auf der Schule sagten sie, der Mangel an Ueberschwang in Dir und mir mache, daß wir so gut zusammenpaßten.

Bei Dir war dieser Mangel ein Zeichen klarsten, zielbewußten Verstandes. Bei mir war’s vielleicht die Furcht vor dem Ungewöhnlichen.

Denn es hat sich nun klärlich an mir erwiesen, daß all meine seelischen Organe gerade bloß für das Korrekte ausreichen. Oder schätze ich mich da nicht richtig ein? Ist es das Landläufige, daß jeder, der etwas erlebt, denkt: Ich nehme mir das zu sehr zu Herzen! – Ich leide mehr, als ich andere unter ähnlichen Verhältnissen leiden sah. Man hält sich, in naiver Arroganz, vielleicht immer für tiefer und intensiver an Gefühl als seinen Nebenmann rechts und links.

Trotzdem sehe ich die Sachen nicht sentimental an.

Ich bin Edelmann und Offizier. Die Redereien und Schreibereien über das Duell gehen an meinem Ohr und an meinem Auge vorbei. Solange mir nicht jemand zu sagen vermag, was ich thun und fühlen soll, wenn meine Ehre angegriffen wird, oder die Ehre meiner Mutter, meiner Schwester, meines Weibes, meiner Tochter, oder wenn man heilige Begriffe wie Kaiser und Vaterland vor meinen Ohren roh besudelt, solange werde ich elementar fühlen: d.h. ich werde als Mann zur Waffe greifen.

Und trotzdem, lieber Robert – – ein Menschenleben! Ja, das ist etwas seltsam Großes.

Oder wird es nur so wuchtend, so groß, so bedeutungsvoll durch die Umstände?

Mein alter Onkel Körlegg – Du erinnerst Dich seiner? – sprach oft zu mir vom Kriege. Er hat ihn als Hauptmann mitgemacht. Seine Brust ist voll Orden, sein Leib voll Wunden. Er war ein Held und Mann. Und weißt Du, was er sagt? Er sagt: der Mensch an sich ist eine feige Bestie. Scham vor dem Nebenmann und eiserne Disciplin hindern ihn zu fliehen. Aus Naturtrieb zöge keiner in den Kampf. Die meisten hatten bleiche Wangen, und ein heimliches Zittern war in ihnen allen. Bis der erste Schuß fiel. Bis der erste Kamerad tot hinstürzte! Dann wurden sie Berserker! Voll Wut und Mut stürzten sie auf den Feind. Tod und Wunden waren nichts mehr. Der Anblick des ersten Blutstropfens hatte sie zu Helden gemacht. Ja, zu lachenden Helden, die Rache wollten.

Das war in der Masse. Da war es nicht der Mensch, der den Menschen tötete. Das war ein Volk, das seine Heiligtümer verteidigte.

Nun, ich habe auch ein Heiligtum verteidigt.

Ist das denn gleich so etwas anderes: einer gegen einen?!

Meinen alten Verwandten, denselben, der mit einer objektiven Psychologie die naturgemäße und verborgene Feigheit vor der [264] Schlacht, die auch er selbst fiebrisch in sich gespürt, mir aufdeckte, sah ich mit leuchtenden Augen erzählen, wie er einen französischen Lieutenant niedergeknallt habe, als derselbe eine Schmähung gegen unsern König ausstieß.

Ich habe dasselbe gethan mit einem deutschen Mann, aber meine Augen, glaube ich, leuchten nicht.

Der Mann war nicht mein Freund, ich kannte ihn kaum, was ich von ihm gesehen, war unsympathisch – und dennoch: ich möchte, er lebte! Ich möchte, meine Kugel hätte ihm einen Denkzettel geschrieben, aber keinen Totenschein. Ich schoß auch nicht, um zu töten. Aber mein ‚Ziel‘ bewegte sich, und anstatt in den Arm ging meine Kugel ins Herz.

Hiernach, lieber Robert, siehst Du, daß ein Weib nicht ins Spiel kam und daß ich nicht in romantisch verworrenen oder gar schuldvollen Verhältnissen stecke. Die Leidenschaften aller Art sind mir immer noch fern geblieben. Vielleicht bin ich nicht disponiert dafür. Wenn ich andere in Flammen sehe, bin ich voll Staunen und Mitleid. Voll Staunen, wenn das Feuer schnell erlischt und immer neu sich erzeugt, voll Mitleid, wenn es vernichtet. Möchte mich nie etwas ergreifen, mich nie etwas treffen, das mich aus meiner ruhigen Bahn reißt.

Also keine Romane! Aber eine klare, schöne, gute Ehe. Die Gelegenheit dazu finde ich hoffentlich drüben. Denn es hat viel Reiz für mich, mir eine Frau aus Verhältnissen zu holen, die von den unseren ganz verschieden sind. Ich denke mir, daß so eine Frau den Mann ganz besonders beschäftigen muß. Beschäftigt sein, ist schon beinahe Glück. Wenigstens erscheint mir das jetzt so, im Stillleben meiner Festungshaft.

Und wenn es Dir recht ist, wollen wir kein Wort sprechen über mein letztes Erlebnis! Es soll für mich begraben sein, vom Augenblick ab, wo ich Europa verlasse. Damit Dir aber in demselben nichts verborgen bleibe und damit Dir auch mein Seelenzustand ganz ohne Rückstand aufgehellt werde, will ich Dir alles ganz genau berichten.

In unser Regiment ist seit etwa einem halben Jahr ein Herr von Zeuthern eingetreten. Er ist ein tüchtiger junger Mensch, mit einer Neigung, leicht heftig, ja ausfallend zu werden, deren er sich wohl bewußt war, die er als Familienanlage bezeichnete und stets so wacker zu bekämpfen strebte, daß wir, wenn es ihn doch einmal hinriß, Nachsicht übten und seine Worte nicht wogen. In unserm Regiment herrscht ein wahrhaft brüderlicher Geist, ich schrieb Dir schon oft davon. Jedes neu eintretende Element wird zunächst als Störung empfunden, aber das Bestreben ist allgemein, es zu assimilieren. Bald hatte Zeuthern sich denn auch eingelebt, vielmehr er war eingelebt worden! Er hatte einen Bruder in Berlin, einen verheirateten Bruder mit zwei kleinen Kindern und einer Frau, die sehr schön sein soll. Dieser Bruder war Regierungsassessor gewesen. Aber er war nicht mehr im Dienst. Es hieß, er sei ein mißvergnügter Nobile, zu rechthaberisch, um sich seinen Vorgesetzten zu fügen, erbittert und gekränkt, weil der Staat seine Dienste entbehren wollte. Zeuthern führte niemand von den Kameraden dort ein. Wir waren zu diskret, nachzuforschen. Man brauchte auch noch nicht gerade Ungastlichkeit und Militärfeindlichkeit anzunehmen. Die Gründe schienen doch auf der Hand zu liegen: jemand, dessen einziger Lebensinhalt es ist, auf die Regierung zu schimpfen, lädt sich dazu nicht gerade Offiziere als Zeugen ein.

Doch hatten einige von uns den älteren Zeuthern flüchtig kennengelernt. Es kam wohl vor, daß er seinen in der Kaserne wohnenden Bruder besuchte und mit ihm abends einige Augenblicke im Kasino erschien. Alle Kameraden waren darin einig, daß der Regierungsassessor keine besonders gewinnende Persönlichkeit sei. Trotzdem kam ein Tag, wo wir ihn als Gast an unserer Tafel im Kasino hatten.

Der junge Zeuthern hatte seinen Geburtstag, der nach Regimentssitte hoch gefeiert wurde, zumal es der erste Geburtstag war, den er in unserm Kreise beging.

Das Geburtstagskind pflegt an solchem Tag bei Tisch neben dem anwesenden Rangältesten zu sitzen, also neben unserm noch immer unverheirateten Hauptmann von Steineck.

Das ist sonst, als ältestem Premier, mein Platz. Weil nun die beiden Zeutherns eingeschoben wurden, saß ich Ellbogen an Ellbogen mit dem Assessor.

Wir tranken scharf. Mein Gott, das ist nun einmal so. Der Deutsche kann nicht anders, scheint’s. Zur Festlichkeit gehört eben immer ein bedeutender Konsum von alkoholischer Flüssigkeit. Zumal bei Soldaten. Wir wurden etwas zwanglos. Doch nicht so, daß von Trunkenheit oder Sinnlosigkeit die Rede sein konnte. Ich hatte mit einem gewissen Vorsatz meine Unterhaltung mit Zeuthern in sehr wohltemperierter Art belassen, über alle Dinge nur so hinspielend, ganz konventionell und doch sehr beflissen, keine Pause eintreten zu lassen. Wir nennen das jemand ‚ansohlen‘. Zeuthern schien denselben Vorsatz zu haben, an der Oberfläche zu bleiben. Aber seine Vorsätze ertranken allmählich in Heidsieck. Er wurde aggressiv. Die natürlich einseitig gefärbte Darstellung seiner Verabschiedung hörte ich mit schicklicher Teilnahme an, ohne dies und jenes Wort gegen den Landesherrn, das ich anderswo schon nicht hätte dulden dürfen, scheinbar zu beachten. Zeuthern war unser Gast. Wollte er darauf keine Rücksicht nehmen, mußten wir es, so lange es ging. Aber der Augenblick kam, wo es nicht mehr ging.

Zeuthern wurde laut. Die Umsitzenden, allen voran der vor Schreck schon völlig ernüchterte und erblaßte Bruder, wurden aufmerksam. Steineck flüsterte dem Lieutenant zu, lieber den Bruder auf schickliche Weise hinauszuführen.

Der Assessor stieß die leise mahnende Hand des Bruders zurück.

Nie werde ich das Bild vergessen:

Der ganze Raum, lang und schmal wie er ist, war von blauem Dunst erfüllt, in wagerechten Lagen ruhte darin der dicke, weißliche Cigarrendampf. Die Flammen der beiden Gaskronen schienen trübe zu brennen, wie fünf rötliche Monde hingen die Glaskuppeln über der Tafel, oben und unten. Auf dem weißen Tischtuch herrschte eine wüste Unordnung, zerknüllte Servietten lagen zwischen Gläsergruppen, Aschbecher standen daneben. Herr von Löhner hatte die Fruchtschale an sich herangezogen, hinter den drei Etagen derselben sah man immer Teile seines Gesichts in lächerlichen Abschnitten. Er suchte sich Mandeln zwischen den Apfelsinen heraus und knackte sie auf. Und all die andern Gesichter waren uns zugewandt, mit aufmerksamem, unbehaglichem Ausdruck auf den roten, erhitzten Zügen. Steineck spielte mit nervösen Fingern Klavier auf der Tischkante; der junge Zeuthern zerrte seinen Bruder am Arm.

Und das häßliche, von Triumph und Schadenfreude vollends entstellte Gesicht des keifenden Mannes sah ich dicht vor mir.

‚Sie sind Offizier, Herr‘ schrie er mich an, ‚das heißt, Sie sind von Berufs wegen ein mundtoter Mann. Sie haben keine Meinung, kein Urteil – nicht mal Gedanken. Still haben sie zu sein. Immer bloß stille! Was wollen Sie mir sagen: ich ginge zu weit? Sie? Haben Sie Ansichten? Haben Sie Kritik? Sie können mir leid thun! Wenn der Kaiser sagt, dies Tischtuch ist schwarz, ist es für Sie schwarz, und wenn er sagt, es ist blau, na da ist es eben für Sie blau?‘

Der junge Zeuthern sprang auf.

‚Hören Sie ihn nicht! Ich flehe Sie an. Komm, komm – du hast zu viel getrunken,‘ rief er außer sich.

‚Nein,‘ sagte ich so laut ich konnte und auch so ruhig ich konnte, ‚ich höre ihn nicht. Sonst müßte ich ihm sagen, daß der Kaiser sein Heer nicht von Marionetten, sondern von denkenden Männern ausbilden läßt. Sie haben recht, lieber Zeuthern, Ihr Bruder hat vielleicht etwas zu viel getrunken, es ist besser, Sie veranlassen ihn, sich zurückzuziehen.‘

Der unselige Mensch riß sich mit Gewalt aus seines Bruders ihn thürwärts zwingenden Armen. Er trat dicht an mich heran, so dicht, daß ich seinen Atem voll Weindunst widrig spürte.

‚Betrunken soll ich sein,‘ schrie er, ‚weil ich nicht auf den Knieen rutsche vor Euren Götzenbildern? Weil ich in meiner Sache meine Meinung habe? Elende Byzantiner seid ihr alle, wie es ja auch nicht anders sein kann ...‘ Und nun folgte eine Beleidigung des ehrwürdigen greisen Fürsten, der uns das Reich gegründet, die ich auch jetzt nicht wiederholen mag.

Ein ungeheurer Lärm entstand. ‚Und Sie sind ein dummer Junge,‘ fuhr der Rasende fort, sie alle überschreiend, ‚der nichts versteht, als seine Soldaten mißhandeln.‘

Ich stieß ihn zurück, mit harter Faust, blind vor Zorn.

[265]

Photographie im Verlag von C. T. Wiskott in Breslau.
Der Ziegenrücken im Riesengebirge.
Nach dem Gemälde von P. Linke.

[266] Alle waren aufgesprungen und umringten uns. Zehn, zwölf klammernde Hände hielten Zeutherns beide Arme.

Der junge Zeuthern stand mit gefalteten Händen vor Steineck wie ein jammerndes Kind.

Man brachte den Forttobenden und Weiterschimpfenden hinaus und ließ ihn unter Aufsicht seines Bruders in eine Droschke setzen.

Am andern Morgen trat sofort der Ehrenrat zusammen. Aus kameradschaftlichem Mitgefühl für den jungen Zeuthern zeigte man sich bereit, auf seiten des Beleidigers Trunkenheit als Milderungsgrund anzunehmen. Ich ließ ihn für den mir applizierten ‚dummen Jungen‘ gelten; aber nicht für die Schmähung des Andenkens Kaiser Wilhelms I. Nur wenn Assessor von Zeuthern hätte ehrenwörtlich die Erklärung abgeben können, er wisse von nichts mehr, durfte man doch sinnlose Trunkenheit annehmen. Dieser aber erklärte, absolut nüchtern gewesen zu sein und nichts zurücknehmen zu wollen. Der junge Bruder meldete sich sofort beim Oberst, und es wurde vereinbart, daß der Lieutenant gleich eine achttägige Urlaubsreise anzutreten habe. Er wollte und konnte seines Bruders Sekundant hierbei nicht sein, für ihn gab es nur einen Ausweg: nicht einmal als Zeuge an der Sache beteiligt zu sein.

Dies, mein lieber Robert, war die Vorgeschichte des Duells. Ich habe die Beleidigung selbst nicht aus meiner Feder gebracht. Das verstehst Du.

Indem ich Dir alles so ruhig erzähle, drängt sich mir klarer als jemals die Erkenntnis auf, daß ich in einer ähnlichen Lage immer wieder so handeln müßte und würde handeln wollen. Es konnte von einer Freiheit der Entschließung gar nicht die Rede sein; die äußerlichen Umstände banden den Willen ebensosehr wie das eigene angeborene und anerzogene Empfinden.

Also kann ich von Reue nicht sprechen, und ich bereue auch nichts.

Ich habe einen Menschen erschossen, der mir voll böser Absicht selbst in die Schußlinie gelaufen ist. Das ist alles. Ich bin nicht dafür verantwortlich.

Und dennoch, lieber Robert, dennoch ist seitdem irgend ein kranker Punkt in mir. Ich kann beinahe sagen: ich bin monoman geworden, ich denke nur immer an den Toten, sein Weib, seine Kinder.

Meine Gedanken kreisen um diese Familie, die ich nicht kenne und vermutlich niemals kennen werde.

Das, was ich so an äußerlichen Daten erfragen konnte, habe ich erfragt von den Kameraden, mit denen der junge Zeuthern naturgemäß nach diesem Vorfall etwas offener über seinen Bruder und dessen Verhältnisse sprach als vordem. Ich weiß, daß der Erschossene sein erhebliches Vermögen und auch das seines Bruders an der Börse verspekulierte und daß auch weitere Zeuthernsche Familienmitglieder stark geschädigt sein sollen.

Und mir kommen Gedanken: wenn mein Schuß fehlgegangen wäre! Wenn der Mann noch lebte! Vielleicht konnte er dann seine Spekulationen ruhig abwickeln, er konnte sie zu einem glücklichen und gewinnbringenden Ende führen! Durch mich im Grunde, durch mich sind diese Leute verarmt.

Der Bruder bekommt von einem alten Onkel mütterlicherseits nun eine auskömmliche Zulage; auch der Witwe und den Kindern giebt dieser gute alte Mann eine kleine Rente.

Mir ist, als bezahlte da ein Fremder meine Schulden. Und doch möchte ich mich verspotten wegen solcher Gedanken.

Die Frau ist die Tochter eines sehr wohlhabenden Gutsbesitzers; sie würde wohl in ihr Elternhaus zurückkehren, heißt es.

Das ist nie leicht. Da geht jemand in die Abhängigkeit zurück, der schon selbständig war. Und das ist die Folge meiner That.

Aber das sind nur die äußerlichen Folgen.

Ich zermartere mein Hirn mit viel schwereren Fragen.

Habe ich da ein seliges Eheglück zerstört? Hat die Frau diesen Mann sehr geliebt? Wenn man ihn sah und so erkannte, wie wir ihn erkennen mußten, erschien es unmöglich, daß ein Weib sich ihm anders als im Jugendirrtum gegeben haben sollte. Wenn man seinen Blick und seine Züge sich vergegenwärtigt, muß man glauben, daß er als kleinlicher Tyrann eher ein Weib gequält, denn beglückt habe.

Dennoch – dennoch! Frauenherzen haben ihre wunderlichen Neigungen. Dieses Weib, das ich nicht kenne und deshalb nicht beurteilen kann, hat diesen Mann, der uns Männern so widerwärtig schien, doch vielleicht geliebt.

Dann hab’ ich Eine einsam gemacht, die vorher mit dem Gefährten im Glücke stand. Dann lebt in der Seele einer mir fremden Frau ein Haß gegen mich. Dann verfolgen mich harte Gedanken, und ein stiller Rachewunsch geht mir unsichtbar überall nach. Und ich kann nicht einmal hingehen und ihr sagen: Verzeihe mir!

Er hatte auch Kinder! Zwei kleine reizende Kinder. Steineck hat ihr Bild in Zeutherns Zimmer gesehen. Es sollen ein paar süße Dinger sein, mit großen dunklen Augen und dunklem Haar, das ihre Wangen umrahmt.

Kinder! Haben wir, die wir noch nichts von der Ehe wissen und noch nichts vom Vaterglück, haben wir jungen Männer es nicht rings in unsern Kreisen hundertmal beobachten können, daß auch ein tyrannischer, unliebenswürdiger Ehemann als Vater noch seinen Charme und seine Milde haben kann? Vielleicht war dieser verbitterte, gehässige, heftige und heimtückische Mann seinen Kindern ein rührender, hingebender Vater?

Vielleicht liebte er sie so leidenschaftlich, daß es ihn nur ihretwegen so empörte, aus seiner Carriere gestoßen zu sein, vielleicht ließ er sich nur, um ihnen ein Vermögen zusammenzuraffen, zu blinden Spekulationen hinreißen?

Was für einen Erzieher, was für einen Versorger habe ich ihnen dann genommen! Wieviel Treue, wieviel Wachsamkeit ihrer Kindheit und Jugend geraubt!

Wie wird sich die Entwicklung und das Leben der Vaterlosen gestalten?!

Wird der erste männlichere Gedanke des kleinen Jungen nicht ein Zornesgedanke sein gegen mich, der ihm den Vater erschoß?

Wird das kleine Mädchen, wenn es heranwächst, sich nicht mit ihrer Mutter vereinen im Haß gegen mich?

Und ich, der ich ihnen den Ernährer, den Erzieher, den Beschützer genommen habe, ich kann ihnen den Verlorenen nicht einmal ersetzen. Ich müßte diesen Kindern sorgsam aus dem Wege gehen, wo immer ich sie träfe.

So, mein lieber Robert, streiten sich mein Verstand und meine Empfindungen in mir herum.

Vielleicht ist dies ganz natürlich, und nur ein in Roheit verhärteter Mann würde frei von diesem Gedankenballast sein.

Daß es Ballast ist, den ich nicht dauernd mit mir herumschleppen darf, wenn ich wieder ein frischer, leistungsfähiger Offizier werden soll, das ist gewiß. Ich darf auch wohl annehmen, daß mein derzeitiges thatenloses Leben alles mir schwerer und unüberwindlicher erscheinen läßt, als es ist. Und ich darf auch wohl hoffen, daß so gänzlich neue Eindrücke, wie eine mehrmonatige Reise nach Amerika sie mir natürlicherweise bringen muß, mein Blut wieder leichtflüssiger machen. Ein lustig hüpfender Quell ist es ja von Hause aus nie gewesen.

Mein Gedächtnis und meine Phantasie sind mir üble Gefährten gewesen in dieser Zeit. Sie waren allzuthätig. Und sind doch unsere besten Freunde und – unsere intimsten Feinde.

Wie danke ich Dir, Robert, daß Du mir die Gelegenheit gabst, mich auszusprechcn. Mir scheint beinahe, als ob mir schon fröhlicher ums Herz sei.

Das Bild, welches mir der Blick aus dem Fenster über meinem Schreibtisch zeigt, erscheint mir nicht mehr so kerkerhaft. Auf der Mauer drüben, die zur Wohnung des Kommandanten gehört, prallt der Sonnenschein. Er läßt diese Mauer gradezu impertinent rot und neu und poesielos erscheinen – aber es ist doch immer Sonnenschein. Anstatt auf einer Mauer, die zum Gebäudekomplex einer Festungskommandantur gehört, werde ich die Sonne sehen auf blauen, blitzenden, rastlosen Wogen.

[267] Und wenn ich heimkomme, wird mich nichts mehr an dieses trübe Ereignis mahnen: ich kehre nicht in mein Regiment zurück. So sehr der junge Zeuthern auch seinen Bruder verdammt, er ist eben doch immer der Bruder! Und es ist taktvoller, daß wir beide nicht Tag für Tag aus derselben Schüssel unsere Suppe geschöpft bekommen. Wie ich schon sagte: ich lasse mich versetzen.

Dieser Brief hat Dir gezeigt, wer ich zur Zeit bin: ein Reueloser, ein Unschuldiger, der einige von den Lasten eines Reuigen und Schuldigen aufgebürdet bekam.

Bei Dir hoffe ich sie abzuwerfen. Die nächste oder übernächste Post bringt Dir die kurze Kunde, wann und mit welchem Schiff ich eintreffe. Deinem Vater empfiehl mich voll Verehrung.
 Von Herzen
Dein Achim.“ 


2.

Durch den tobenden, rastlosen Lärm der Prenzlauer Straße fuhr der Straßenbahnwagen in schneller Fahrt dahin. Achim saß schon im Reisecivil in der vorderen rechten Ecke und sah gedankenlos zum Fenster hinaus. Draußen zogen, bunten, verworrenen Flecken gleich, die Häuser vorüber mit ihren prahlerischen Firmeninschriften auf weißem Grund, ihren Ladenfenstern, hinter denen die Waren aufgebaut waren. Das Auge konnte kein Bild genau festhalten, Linien und Farben wechselten zu schnell. Und wenn man die lange Straße hinauf und hinunter sah, schien sie von einem graugelben, silbrig schimmernden Dunst erfüllt. Auf dem Fahrdamm und Bürgersteig wimmelte es von Fuhrwerken und Menschen.

Das war Leben. Das Leben, von dem Achim so lange getrennt gewesen war. Aber es that seinem Auge und seinem Ohre weh. Er wünschte, alles möchte mal einen Augenblick stille stehen und stille sein. Die Stadt erschien ihm wie ein ungeheures Wesen, das nie recht tief Atem schöpft, sondern immer nur daran denkt, schnell weiterzuhetzen, sich und andere. Wozu? Warum?

Es ging ihm fast wie einem Kranken, der nach langen Wochen, in denen er nur sich gelebt, alle Vorgänge in der Welt sehr unwichtig, sehr unbedeutend findet und dem es vorkommt, als sei die frühere Anteilnahme an Menschen und Dingen nur ein eingebildetes Interesse gewesen, das man ganz gut entbehren könne.

Er hatte geglaubt, wenn er nur Berlin wiedersähe, würde ihm das frische, quellende Leben eine große Wohlthat sein. Aber nun machte ihn die Riesenstadt nervös und die trockene Mailuft, die in den Tagesstunden mit Staub und allen Dünsten der Großstadt sich langsam und ganz füllte, schien ihm unerträglich.

Er ordnete so rasch, als es irgend angängig war, seine kleinen Geschäfte. Seinen Abschied vom Regiment hatte er gestern gefeiert. Der junge Zeuthern war fern geblieben. Alle Kameraden zeigten ein besonders herzliches Bestreben, heiter und brüderlich dem Scheidenden die Stunden angenehm zu machen. Aber er selbst vermochte nicht in Stimmung zu kommen. Er sagte sich, daß es Unsinn sei, sich bedrückt zu fühlen, und fühlte sich doch so.

Auch that der Abschied weh, verzweifelt weh. Sechzehn Jahre lang hatte man in Freud’ und Leid sich Eins mit dem Regiment gefühlt, sechzehn Jahre lang mit den älteren Kameraden zusammen treu Dienst und Geselligkeit geteilt, hatte den jüngeren Nachwuchs erziehen helfen und war so fest, so fest verwachsen, daß es beinahe unfaßlich schien, sich trennen zu müssen.

Ja, wenn es eine Kommandierung gewesen wäre, die ihn zugleich mit seiner Beförderung zum Hauptmann in ein anderes Regiment versetzte! Aber so! So unfreiwillig-freiwillig! Es war ihm hart angekommen. Auch den Kameraden. Sie waren alle tief bewegt gewesen bei den letzten Umarmungen und seinen Schwüren, das Regiment nie zu vergessen und es oft besuchen zu wollen. Der Fähnrich hatte sogar geweint. Der durfte noch weinen. Er war „das Kind“.

Achim aber biß noch die Zähne zusammen in diesem Augenblicke, als er dahinfuhr, unter fremden Menschen, die neben ihm stumpfsinnig oder ungeduldig auf den blanken Bänken saßen, fortgezogen von automatenhaft trottenden Pferden durch den rohen Lärm der Straße.

Er hatte ein besonderes Ziel. Ein Gefühl, das zu übermächtig war, als daß er nur den Versuch gemacht hätte, ihm zu widerstehen, zwang ihn, das Grab seines Toten zu besuchen, bevor er noch mit dem Nachmittagszug nach Bremen abreiste.

Er fürchtete wohl, er würde, wenn ihn morgen das Schiff auf die See hinaustrug, das Bild dieses Grabes mit sich hinwegnehmen. Es würde vielleicht sein Gedächtnis empfindlich beschweren; er würde sich noch mehr belasten. Aber er mußte sehen, wo sein Toter lag.

In seinen Gedanken nannte er ihn so: „mein Toter“.

Er hatte sich genau die Stelle von Steineck beschreiben lassen. Auf dem Begräbnisplatz der Marien-Gemeinde, dicht vor dem Prenzlauer Thor, hatten Zeutherns ein Familiengrab. Seit zwei oder drei Generationen waren sie in Berlin ansässig gewesen, ärmlich stille aber vornehme Leute, die erst durch die Heirat desjenigen Zeuthern, welcher der Vater des Assessors und des Leutnants gewesen, wieder zu Geld kamen. Und dieser Zeuthern hatte ein stattliches Grab mit schönem Denkmal gestiftet, in welches er dann auch noch die Gebeine seiner Eltern und Großeltern bringen ließ.

„Man kann es gar nicht verfehlen,“ sagte Steineck, „ein hohes schwarzes Marmorkreuz steht zu Häupten; auf der großen schwarzen Marmorplatte sind die Namen sämtlicher Zeuthern beiderlei Geschlechtes in Gold eingegraben. Eine ganze Zeuthern-Genealogie.“

An der Haltestelle verließ Achim den Wagen.

Langsam ging er unter der die Straße einsäumenden Mauer des Friedhofes hin.

Die Spitzen schlank beschnittener Taxusbäume sahen über die Mauer und die gleichsam niedergequetschten Kronen von Trauereschen. Denkmäler, die sich drinnen vor der Mauer befanden, kehrten der Straße den oberen Teil ihrer Rückseite zu.

Achim dachte plötzlich, daß er doch lieber nicht hineingehen wolle. Er fand seinen Einfall, das Grab des Duellgegners zu besuchen, sentimental.

Er stand zögernd.

Der Straßenlärm grollte weiter, dicht an ihm vorbei und von fern noch sandte er seine Tonwellen. Von allen Seiten schien er zu kommen.

Und hinter jener Mauer war die Ruhe des Todes.

Es schien, als wehe Blumenduft herüber.

Dicht neben dem großen, weitgeöffneten Gitterthor stand eine kastenartige Bude. Das Schutzdach sprang weit vor und gab so viel Schatten, daß die Händlerin hinter ihrer Auslage von Kränzen und Blumentöpfen wie ein kühles, dunkles Bild wirkte.

Achim trat heran und kaufte einen Kranz, einen grünen blanken Blätterkranz mit einem großen weißen Gewinde köstlicher Blumen daran.

Er handelte wie ein Mensch, der unter einer Zwangsvorstellung steht.

Als er, noch sein Portemonnaie einsteckend, von der Bude zurücktrat, den Kranz über dem linken Arm, sich dem Kirchhofsthor zuwandte, trat eine schöne, hohe Dame, von langen Kreppschleiern umwallt, mit einer Witwenschneppe tief auf die Stirn herab, gerade heraus.

Achim erschrak. Wenn das Frau von Zeuthern wäre?

Sie ging an ihm vorbei. Nein – es war eine ältere Dame – nicht alt, aber doch jedenfalls höher in Jahren, als des Toten Gattin sein konnte.

Wenn ich vor jedem schwarzen Kleid erschrecken will, sollte ich lieber draußen bleiben, dachte Achim und machte sich klar, daß man auf Kirchhöfen naturgemäß trauernden Frauengestalten begegnet.

Er ging hinein.

Obschon der Straßenlärm nach wie vor durch die Luft ging, hatte Achim doch augenblicklich die wohlthätige Illusion der Stille ringsumher.

[268] Zwischen den Epheumatten, aus denen graue, weiße und dunkle Tafeln und Kreuze ragten, gingen auf hellen Wegen wenige stille Menschen mit ernsten Mienen. Zwischen dem Schwarzgrün des Epheus leuchteten bunte Blumen wie lustige Farbenflecken auf. Die Trauereschen und -weiden hatten an hängenden, dünnen Zweigen Grün. Still und hoch, cypressenähnlich, standen die verschiedenen Arten Taxusbäume.

In lachendem Blau prahlte droben der Himmel.

Achim hatte jetzt mehr eine ernste, gehobene Frühlingsstimmung in sich als Schauer vor dem Grauen des Todes. Ihm war mit einemmal freier, ja gesünder zu Mut geworden.

Wie so ein bißchen Natur einem gleich thut, dachte er dankbar, selbst in diesem frisierten Zustand – aber Grün bleibt Grün und Blumen Blumen. Und der Himmel da oben, das ist auch morgen mein Himmel auf dem ewigen Meere!

Das gesuchte Grab fand er gleich. Auf dem Weg dahin begegneten ihm noch zweimal schwarz gekleidete Damen. Aber der erste, thörichte Schreck hatte ihn wohl gefeit. Er beachtete sie nicht.

Steineck hatte recht gehabt: das war eine ganze Zeuthern-Genealogie auf der großen schwarzen Platte, die, in blanken Lichtreflexen schimmernd, wuchtig in einem dicken Kranz von rankendem Epheu lag.

Achim überflog die Namen. Leopold von Zeuthern und Marie von Zeuthern, geborene Osterroth – das mußten die Eltern sein. Darunter folgte: Leopold von Zeuthern, Regierungsassessor a. D.

Also Leopold hieß er, dachte Achim. Dann fiel ihm ein, daß er das ja schon in der Todesanzeige gelesen hatte und daß der junge Zeuthern den Bruder „Leo“ gerufen habe.

Seltsamer Einfall! – den Regierungsassessor a. D. auf den Grabstein einmeißeln zu lassen, dachte er weiter. Vielleicht hatte er das so bestimmt, um sein Querulantentum noch zu verewigen.

Ihm wurde immer leichter und besser, sein Sinn wurde frei. Alle Grübeleien der letzten Wochen schienen wie fortgeweht.

Mein Gott, dachte er, das ist ja ein ganz fremder Mensch, an dessen Grab ich hier stehe! Er und ich, wir gingen uns nichts an. Da war nichts Persönliches zwischen ihm und mir, kein Haß und keine Liebe. Ein Sachliches, ein Unterschied des Denkens und Fühlens rief mich zu seinem Richter auf. Zufällig mich! Es ist doch dasselbe, wie wenn man im Kriege einen Feind tötet. Ich darf dies Grab ehren – aber daß dieser Mann darin ruht, darf mich nicht beschweren.

Er neigte sich, um seinen Kranz niederzulegen. In allem Ernst andachtsvoller Stimmung war er fast glücklich. Ihm schien, als sei er nun allen „Gedankenballast“ los geworden.

Von der andern Seite kam eine schwarz gekleidete Dame und schritt zwischen den Gräbern, so daß ihr Kleidersaum vor den Epheuwällen nicht sichtbar ward. Achim achtete nicht auf sie, es war die vierte oder fünfte derartige Erscheinung, die seit den letzten fünf Minuten an ihm vorbeigegangen war.

Diese ging aber nicht vorbei; sie kam so geradeswegs auf Achim zu, daß er ihr entgegensah.

Die auffallende Schönheit der Frau machte ihn geradezu betroffen. Die Farben des Gesichtes erschienen durch den schwarzen Schleier, der, vom Hut zurückfallend, einen breiten dunklen Hintergrund gab, schimmernd weiß. Das dunkle Haar lag frei und lockig vor dem diademartigen Hütchen. Die Gestalt der Frau war über Mittelgröße und sehr schlank.

Sie blieb an dem Nachbargrab stehen. Dies trug überreichen und ganz frischen Schmuck, Kranz lastete da auf Kranz; vielleicht hatte man da erst gestern jemand zur Ruhe gebracht.

Aber wenn die schöne Frau gekommen war, dieses Grab zu besuchen, so erschien es doch seltsam, daß sie ihre Blicke nicht andachtsvoll darauf niedersenkte.

Sie stand vielmehr und sah erstaunt, ja mit unverhohlener Neugier zu Achim hinüber.

Der Raum zwischen ihnen, von zwei Ruhestätten ausgefüllt, war doch so gering, daß jeder ganz genau das Angesicht des andern erkennen konnte.

In atemlosem seligen Staunen starrte Achim in diese großen, dunklen Augen.

Sein Herz schlug schwer. Sekunden verrannen. Da machte die Frau eine Bewegung. Achim erschrak.

Die mächtige Angewohnheit zwang ihn zu einer ganz leeren Höflichkeit. Er lüftete den Hut, und ihm schien, als neigte die Dame leise das Haupt.

Er wandte sich um und ging. Er fühlte, daß er gehen müsse. Das war vielleicht eine trauernde Tochter, die das Grab von Vater oder Mutter zu besuchen gekommen war. Er durfte nicht die Taktlosigkeit begehen, fremden Gram zu belauschen.

Aber er verließ nicht den Kirchhof. Er schritt planlos um zwei, drei Vierecke der Anlagen, las da gedankenlos eine Inschrift, starrte dort, ohne wirklich zu sehen, ein Denkmal an.

Er wollte wissen, wer sie war. Dazu gab es ein so einfaches Mittel. Wenn sie gegangen war, wollte er an das reichgeschmückte Grab zurückkehren und sehen, ob es einen Namen trug. Wer da auch begraben war – sie mußte ihm eine allernächste Leidtragende sein, denn ihr Schleier, der hinter ihrem Haupte herabfloß, war von Krepp, ihr Kleid bis zu den Knieen mit Krepp besetzt.

Ganz flüchtig durchzuckte ihn der Gedanke, es könnte Frau von Zeuthern gewesen sein, die gezögert habe, sich dem Grab ihres Gatten vollends zu nähern, weil sie einen fremden Mann dort stehen sah.

Sie ist es unter keinen Umständen gewesen, bewies er sich. Sie trug keine Witwenschneppe und ihr unverhülltes Angesicht sah wohl ernst aus, aber nicht vergrämt!

Ihre Erscheinung paßte nicht zu dem Bild, das man sich von einer jungen Witwe am noch frischen Grabe ihres Gatten macht!

Als einige Minuten verstrichen waren, näherte er sich der Stelle, wo er sie gesehen hatte. Gerade sah er sie langsam fortgehen.

Eine sonderbare Aufregung ergriff ihn. Vielleicht konnte es ihm glücken, ihr zu folgen, in denselben Pferdebahnwagen zu steigen oder bis zum nächsten Droschkenstand hinter ihr her zu gehen. Er mußte erfahren, wer sie war, um jeden Preis. Er hatte noch niemals ein Frauenantlitz gesehen, das ihn so übermächtig angezogen hatte.

So hastig, als es der Ort irgend erlaubte, ging er an das Grab. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, auch diese Stätte trug, wie die Zeuthernsche, zu Häupten der Gruftplatte ein ragendes Denkzeichen. Hier war es eine abgebrochene Säule, auf deren Sockel deutlich zu lesen stand:
Ruhestätte der Familie Th. F. Müller.

Er war enttäuscht. Das war nichts. Daran konnte man sich nicht halten. Ich werde nachher den Kirchhofsaufseher suchen und fragen. Der Mann muß ja wissen, wo die Familie zu finden ist, der das Grab gehört, dachte er und eilte dem Ausgang zu.

Eine große Erregung ergriff ihn – dort vor der Pforte stand noch die schwarze Frauengestalt.

Wartete sie vielleicht auf ihn? Er gestand sich, daß auch sie ihn angesehen, wie man sonst einen fremden Mann nicht ansieht: durchdringend, forschend, lange.

Sie sah nach rechts, sie sah nach links. Eine bemerkbare Unruhe war in ihrer Haltung.

Dann schritt sie an die Blumenbude und fragte die Verkäuferin nach etwas.

„Mein Gott, wie fatal!“ hörte Achim sie rufen.

Er hatte hinter dem großen Thorpfeiler gestanden und glaubte, den Augenblick erfassen zu dürfen.

Den Hut lüftend, in ehrerbietiger Haltung, trat er näher und sprach: „Befinden Gnädigste sich in irgend einer Verlegenheit? Darf ich meine Dienste anbieten?“

Sie neigte dankend das Haupt, ohne jede Verlegenheit, durch die Anrede des fremden Mannes weder verwundert noch beleidigt. „In Verlegenheit allerdings, mein Herr,“ sagte sie, „allein helfen werden Sie mir nicht können. Eine junge Dame und zwei Kinder, die mit mir gekommen waren und mich hier zurückerwarten wollten, sind verschwunden. Auch die Blumenhändlerin hat drei solche Personen, wie ich sie ihr beschrieb, nicht beachtet

[269]

Copyright 1894 by Franz Hanfstaengl in München.
Ein Gedicht.
Nach dem Gemälde von H. Vogler.

[270] und kann mir nicht sagen, nach welcher Richtung sie sich entfernt haben.“

„Wenn Gnädigste mir jene Personen beschreiben wollten ....“

„Sie sind sehr gütig. Aber es wäre thöricht, zu suchen. Während man die Straße hinauf sucht, kommt die kleine Gesellschaft vielleicht die Straße herab. Ich werde warten müssen. Meine Cousine – die junge Dame – ist ganz fremd hier in der Gegend ....“

Sie schwieg. Achims Ohr hatte sich an ihrem Organ entzückt. Es war so viel Klang darin. Auch hatte sie eine besondere und sichere Art zu sprechen.

„Darf ich mit Ihnen warten?“ fragte er und sah sie eindringlich an.

„Aber bitte …. Sie derangieren sich meinetwegen,“ sagte sie zögernd. „Man steht hier mitten im Straßenverkehr,“ setzte sie hinzu und trat unwillkürlich vom Bürgersteig zurück, ein wenig hinein in die Kirchhofspforte.

„Ich bin glücklich, wenn Sie mir gestatten, mit zu warten,“ sprach er, neben ihr bleibend.

Sie errötete langsam, schien sich zu besinnen, mit sich zu kämpfen und sagte endlich, ihn frei und mit bezwingender Liebenswürdigkeit ansehend:

„Sie verzeihen mein offenes Geständnis: ich habe wirklich und wahrhaftig Ihren Namen vergessen. Ich kann Sie absolut nicht unterbringen. Und doch haben wir uns natürlich schon gesehen. Ihr Gesicht kenne ich genau. Nur der Name! Ich will es nur gestehen. Nicht wahr – das kommt vor? Man wird einander vorgestellt, hört ein Gemurmel und weiß nachher doch nicht, wer der andere ist. Schon vorhin, am Grabe, zerbrach ich mir den Kopf, wer Sie seien.“

„Meinen Namen vergessen …“ wiederholte Achim zögernd.

Kein Zweifel, sie glaubte, man habe sich schon irgendwo gesehen, sei irgendwann einmal einander vorgestellt worden. Deshalb nahm sie seine Anrede so einfach hin!

Wenn er ihr nun sagte, daß sie sich täusche, daß sie einander noch nie gesehen hätten, daß er ein Angesicht wie das ihre, ein paar Augen wie die ihren nie vergessen haben würde, daß er sich an sie geheftet haben würde wie ein eifriger Verfolger, nur um das Glück anzustreben, sie oft zu sehen. Nein, wenn er sagte: Sie täuschen sich, sah sie ohne Zweifel in seiner Anrede nur noch eine kühne Zudringlichkeit.

„Das,“ sprach sie lebhaft, „das nehmen Sie übel? Oh, ich sehe Ihnen es an!“

„Aber ganz gewiß nicht, meine Gnädige! Wie sollte Sie auch mein Name interessieren. Er ist unbedeutend genug,“ brachte er heraus.

„Und dennoch müssen Sie dem Toten sehr freundschaftlich nahegestanden haben, weil Sie einen Kranz auf sein Grab legten. Ich sah es wohl, als ich herankam.“

Er erbleichte. Ihm war, als begönnen seine Knie zu beben.

„Herrn von Zeuthern – – freundschaftlich – –“ stammelte er.

„Nun ja. Und deshalb müßte ich Sie doch kennen. Er war so vereinsamt. Nur zwei oder drei alte Studienfreunde sprachen manchmal noch vor. Ich komme mir ganz pietätlos vor, daß ich jemand nicht wiedererkenne, der doch dem Toten nahegestanden haben muß. Schon vorhin kämpfte ich mit mir, ob ich Sie anreden und Ihnen danken sollte. Also sein Andenken wird doch noch in einem Freundesherzen treu gepflegt, sagte ich mir. Im Namen seiner Kinder danke ich Ihnen!“

Sie streckte ihm die Hand hin. Ihre Stimme hatte nicht gebebt und in ihren Augen waren keine Thränen. Sie sprach herzlich und liebenswürdig, aber nicht ergriffen.

„Sie sind?!“ rief Achim.

„Sabine von Zeuthern. Ich dachte, Sie kennen mich,“ sprach sie erstaunt.

Er trat zurück. Sein Gesicht war fahl. Warum hatte er es noch hören wollen! Seit zwei Minuten wußte er’s ja schon!

„Ich – ich – darf diesen Dank nicht nehmen – diese Hand nicht fassen,“ sagte er mit kaum hörbarer Stimme.

Auch Sabine von Zeuthern erbleichte. Sie hatte begriffen: solche Worte konnte nur ein einziger Mann auf der ganzen Welt zu ihr sprechen.

Aber mit großen, festen Blicken sah sie unverwandt in sein Angesicht.

Der Ausdruck dieser dunklen, lodernden Augen erschien ihm unergründlich.

Haß stand nicht darin, das fühlte er wohl. Prüfend sah sie ihn an – staunend – so durchdringend, als wollte sie sich seine Züge für immer einprägen.

Es war, als sagten diese Augen: Also du bist es – du?! Du, der mir den Gatten erschoß – du, in dem sich mein Schicksal verkörpert!

Und ihr stolzer, üppiger Mund, dessen Lippen im weißen Gesicht so auffallend rot erschienen, blieb fest verschlossen.

„Gnädige Frau,“ sprach er, mühsam nach Worten suchend, die ihr wohlzuthun vermöchten, und doch fast unfähig, irgend etwas Zusammenhängendes zu denken, „gnädige Frau – seit jener unseligen Stunde, wo Ihr Gatte – … wo ich …. ja seitdem habe ich nur den einen Wunsch gehabt, einmal vor Ihnen stehen zu dürfen, um zu bitten: Vergeben Sie einem, der sehr durch das Ereignis gelitten hat! Mehr als er hier sagen kann. Nun hat der Zufall mir gewährt, was ich absichtsvoll nie herbeizuführen gewagt hätte! Ich bitte Sie, wenn Sie das Uebermenschliche vermögen: denken Sie meiner ohne Haß!“

Sie schwieg noch und sah ihn immer nur an. Er wartete. Ihm schienen Minuten zu verrinnen. Und doch war es nur ein paar Herzschläge lang. Er ertrug es nicht.

„Ich erwarte mein Urteil,“ sprach er.

Sie seufzte, aus langen, schweren Gedanken sich losreißend.

„Wenn Sie denn meiner Vergebung zu bedürfen meinen: ich zürne nicht – ich hasse nicht,“ sagte sie. „Mein Schwager hat mir genau die Vorgeschichte des Duells erzählt. Ich weiß, daß nicht Sie es waren, der es provozierte. Und wenn der Ausgang Ihr Gemüt beschwert, so beklage ich Sie! Vielleicht thut es Ihnen wohl, daß ich Ihnen das sage. Vielleicht habe ich sogar die Pflicht, zu sagen: vergeben Sie dem Toten.“

Unter diesen Worten änderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes und ihrer Stimme. Ihre Nasenflügel bebten, ihre Augen flammten. Die Lippen verzogen sich in Bitterkeit, und ihre Stimme klang verschleiert.

Er aber sah plötzlich, wie in einer Vision, neben dieser schönen, kraftvollen und leidenden Frau das Keifergesicht des gehässigen Mannes, den er erschossen hatte. Ihm war, als habe ihm jemand laut und deutlich gesagt: der Mann hat dieses Weib sehr elend gemacht und du hast sie nicht beraubt, sondern befreit.

„Nein, nein,“ dachte er ängstlich. „Dergleichen darf ich nicht glauben – das ist ein feiger Wunsch von mir – um mich leichter fühlen zu können …“

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ sprach er voll Haltung. „Wenn etwas von meiner Zukunft die düsteren Schatten nehmen kann, so sind es Ihre Worte. Leichter und freier ist mir nun ums Herz und ich kann als ein Entlasteter über das Meer ziehen.“

Er stand mit dem Hut in der Hand, um sich zu verabschieden.

„Sie gehen fort? Nach Amerika? In die Kolonien? Deshalb?“ fragte sie hastig und ungläubig.

„Ja und nein, gnädige Frau,“ antwortete er, „ich gehe für mehrere Monate in die Vereinigten Staaten; ich habe einen Jugendfreund drüben. Aber ich komme zurück. Nicht in mein altes Regiment; ich lasse mich versetzen. Meine Freunde finden mich etwas schwerblütig, weil ich mich mit dem Ereignis so abplage. Aber ich glaube, sie sagen es nur. Ich glaube nicht, daß einer unter ihnen ist, der es in der That leicht nähme, einen Mann erschossen zu haben, wenn auch auf dem für uns undiskutierbaren und ehrenrechtlich notwendigen Felde des Zweikampfes. Ein Menschenleben ist eine große Sache. Und obenein das Leben eines Mannes, der Weib und Kinder hatte! O, gnädige Frau – der Gedanke an diese Kinder … der hat mich verfolgt! – Aber immerhin ist es ja möglich, daß ein Mann von anderm Stoff sich etwas schneller innerlich wieder zurechtgefunden [271] hätte. Jeder muß sich nach seiner Ärt ausleben. Ich beschloß die Reise, um zu gesunden – wenn es krank ist, was ich empfinde. Aber seinem König den Dienst aufsagen – nein, das thut ein Körlegg nicht, solange er sich der Ehre wert fühlt, zu dienen.“

Er verneigte sich. „Leben Sie wohl, gnädige Frau,“ sprach er, „Gott gebe Ihrer Zukunft Licht und Glück!“

Sie neigte stumm das Haupt.

„Sie gestatten mir, in Sehweite zu bleiben, bis ich die Beruhigung habe, daß Sie Ihre Begleiter wiederfanden?“

Zum zweiten Male neigte sie das Haupt und schwieg.

Er trat zurück, ging einige Schritte seitwärts und lehnte sich gegen den Thorpfeiler.

Sie blieb mitten auf dem Platz innerhalb der Einfahrt stehen, in stolzer ruhiger Haltung.

Sie fühlten es beide: niemand durfte sie hier im Gespräch zusammen finden. Jeder Zeuge und jeder Mitwisser ihrer Begegnung hätte dieser die ernste Weihe geraubt.

An dem Rand eines Grabes – und welch eines für sie beide bedeutungsvollen Grabes – waren sie sich begegnet. Das war eine Schicksalsfügung gewesen. Ein wunderbarer, inhaltsreicher Augenblick ihres Lebens.

Ihn festzuhalten, durften sie nicht die Hand ausstrecken.

Achim fühlte, daß es schicklicher gewesen wäre, sich weiter zurückzuziehen. Aber er vermochte nicht, sich zu besiegen. Mit klopfendem Herzen stand er und sah zu dem schönen Weib hinüber.

Solches Weib hatte der Tote besessen! Und war doch ein unfriedlicher, kleinlicher Mensch geblieben oder geworden? Anstatt in unaussprechlichem Glück über alle Fatalitäten seines Berufslebens einfach zu lachen.

Diese wundervollen Augen hatten ihm geleuchtet. Ihm vielleicht diese Leidenschaft geflammt, die das ganze Wesen des Weibes umwitterte, wie süßer, schwerer Duft eine blühende Rose. Und er war dennoch ein Unzufriedener und Verbitterter gewesen?! Armseliger Mann! –

Sabine von Zeuthern fühlte, daß seine Blicke unausgesetzt an ihr hingen. Sie atmete schneller. Ihr Herz klopfte.

Die sonderbare Lage, in der sie sich befanden, diese stumme Nähe, dies stete Anschauen – alles machte sie erregt. Und gegen ihren Vorsatz, einem innern Zwang folgend, wandte sie langsam das Haupt und sah nach Achim hinüber.

Ihre Blicke trafen sich.

Er errötete. Er glaubte sich gestraft und wollte sich etwas mehr entfernen. Aber er blieb – in neuer Erregung. –

Zwei Kinder liefen an den Händen eines jungen Mädchens heran und hielten sogleich erschreckt inne, als sie ihrer Mutter ansichtig wurden, die ihnen zuwinkte, still zu sein.

„St – –,“ machte Sabine, „hier darf man nicht laut sein! Aber um Gotteswillen, Susanne, wo seid ihr gewesen?“

„Es kamen zwei Männer mit einem Bären und einem Affen quer über die Straße,“ sagte das junge Mädchen, „Leo und Milly wollten sie durchaus nahebei sehen. Da sind wir ein Stückchen die Friedensstraße mitgezogen. Leo wollte auch wissen, wohin die Männer mit den Tieren gingen.“

„Nach Weißensee, Mammi,“ rief der kleine Junge, „als er sammelte, gab Susanne ihm Geld, und da sagte er es. Laß uns auch nach Weißensee fahren!“

„Milly auch mit Eißensee,“ plapperte das kleine Mädchen.

„Nein, nein, wir nehmen einen Wagen und fahren heim,“ sagte Sabine. „Aber Milly, dein Hut ist ja ganz schief!“

Zärtlich kniete sie nieder, um der Kleinen den Hut frisch aufzusetzen. Es war reizend anzusehen, wie die vielen weißen Stofffalten rund um das dunkellockige Köpfchen standen, wie unter dem festen kleinen Kinn eine große, wohlzurechtgezupfte Schleife zustande kam.

Achim hatte ein seltsames Gefühl: er bildete sich ein, sie zögerte hier auf dem Platze vor seinen Augen, damit ihre Kinder von ihm genau betrachtet werden könnten, damit er ihr Mutterglück sähe. Als wolle sie zeigen, schien es ihm, wie reich sie noch sei, wie viel ihr das Schicksal noch gelassen habe.

Er hätte zu ihr hinstürzen mögen, um ihr dafür in heißer Dankbarkeit den Kleidersaum zu küssen.

Ja, das war ein stolzes Mutterglück: zwei solche Kinder zu haben! Der Knabe konnte fünf oder sechs Jahre alt sein, sein Gesicht war trotzig und dunkel. Sein Wesen rasch und selbstbewußt; das kleine Mädchen zählte höchstens drei und sah aus großen, mächtigen Augen zaghaft und neugierig um sich.

Für das junge Mädchen hatte Achim keinen Blick. Sabine erhob sich.

„Nun kommt,“ sagte sie und nahm die Kleine an der Hand.

„Ach, laß uns erst noch nach Papa gehen,“ flehte der Junge, „vielleicht steht er wieder auf.“

„Papa schläft für immer,“ sprach Sabine sanft, und es schien Achim, als sähe sie zu ihm hinüber.

„Aber Frau Schulze sagt, die Toten stehen wieder auf,“ behauptete der Knabe und versuchte seine Mutter an der Hand fortzuziehen.

„Einst …. am Jüngsten Tag,“ antwortete statt der Mutter das junge Mädchen.

„Wann ist das?“

„Das lernst du alles später.“

„Ich will zu Haus gleich nachsehen, Frau Schulze hat noch einen alten Kalender von vorigem Jahr, darin kann man alle Tage finden. Mammis Geburtstag und meinen und Weihnacht und alles,“ erzählte der Knabe.

An der Hand des jungen Mädchens schritt er plaudernd voran.

Gerade kam eine trauernde Familie, mehrere Personen, Kränze tragend, mit verschleierten und verweinten Gesichtern.

Sabine sah sich genötigt, mit ihrem Töchterchen etwas seitwärts zu treten, um den Trauernden ehrfurchtsvoll Platz zu machen. So stand sie noch einmal Aug’ in Auge mit Achim. Sie sah ihn fest an.

Er war sehr bleich. Sein Blick senkte sich tief und gramvoll in den ihren.

Sie versuchte ein gütiges Lächeln zu erzwingen. Aber es ging nur ein schmerzliches Zucken um ihren Mund.

Dann war auch das vorüber.

Achim stand im Treiben der Straße, umwirrt vom Gewühl aller Töne, und sah fern ein überschlankes, schwarzgekleidetes Weib mit wallendem Schleier entschwinden. Von den beiden Kindern sah er nichts mehr.

Ihre Figürchen waren versteckt hinter der veränderlichen, beweglichen Wand, welche die straßauf- und straßabwärts Gehenden bildeten.

Nun war all sein dämonisches Begehren gestillt. Er hatte das Grab des Toten besucht und dort innere Freiheit gefunden. Er hatte das Weib des Toten gesehen und Vergebung erflehen können. Er hatte auch die Kinder gesehen und das thöricht tiefe Geplauder des Kleinen vernommen, um es nie, nie wieder zu vergessen.

Er stand da als ein freier Mann, der in Frieden seine Straße ziehen konnte, denn kein Haß folgte ihm, und er hatte mit dem Vergangenen abgerechnet. Morgen schon legte sich der Ocean zwischen ihn und die Vergangenheit.

Er seufzte auf. Ihm war, als habe er diese ganze Reise nur beschlossen und vorbereitet, um vor dieser wunderschönen Frau zu fliehen.

Er floh vor ihr wie vor einem Schicksal.

Er fühlte wohl, er würde nicht, wie er gefürchtet hatte, das Bild eines Toten und eines Grabes mit hinwegnehmen, sondern das einer Lebenden.

Der Inhalt seiner Tage würde sein, über das nachzugrübeln, was ihre dunklen, rätselhaften Augen ihm gesagt hatten.

Ihr Blick beschwerte sein Herz.

Und er schritt in die sonnendurchbrütete, staubige, laute Stadt zurück, mitten im Strom und Gegenstrom der Menschen ein stillträumender Mann.

Sein Ausdruck war herbe, seine Gedanken resigniert. So schritt er dahin, nicht wie einer, der frohen Mutes einen neuen Lebensabschnitt beginnt, sondern wie einer, der alles verloren hat, auch das Beste, was der Mensch besitzt: die Hoffnung und die Neugier auf die Zukunft.

Er glaubte in dieser Stunde, daß er nicht mehr die Lust habe, mit dem Leben zu kämpfen, sondern daß er sich vom Leben treiben lassen werde, wohin es wolle.

(Fortsetzung folgt.)


[272]

Der alte Birnbaum

Nach einer Originalzeichnung von W. Gause.


Der alte Birnbaum

Es wächst die Stadt, ihr Wuchs verschlingt
Die grüne Welt, die sie umringt.

Wo, seit am Fluß der Ort entstand,
Ein Obstwald schirmte Wiesenland,

5
Im Lenz von Blüten übergossen —

Wo vor den Thoren sonst die Saat
Gekeimt, gegrünt, gereift zur Mahd,
Wo Tannenwald das Feld umschlossen —
Da drängte sich die Stadt hinaus,

10
Ließ Straßen wachsen, Haus an Haus.

Und wo sonst Gärten Geißblattlauben
Mit ihrer Büsche Grün umhegt,
Wo am Spalier vorm Haus die Trauben
Des Hausherrn treue Hand gepflegt,

15
Der fern vom Stadtlärm drin die Sorgen

Des Amts in sanfter Ruh’ verschlief,
Bis heller Amselgruß am Morgen
Hervor ihn zu den Blumen rief —
Da wütet mörderisch das Eisen,

20
Den Schmuck dem Boden zu entreißen,

Die Sträucher, Bäume hinzuraffen:
Für Steinkolosse Platz zu schaffen.
Ein Haus tritt auf des andern Saum,
Da bleibt für keinen Garten Raum!

25
Es wächst die Stadt, ihr Wuchs verschlingt

Die grüne Welt, die sie umringt.

Jetzt, wenn der Lenz mit Blütenduft
Uns auf zur Daseinsfreude ruft,
Da heißt es, lange Straßenzeilen

30
Auf hartem Pflaster zu durcheilen,

Bis uns bewillkommt Wiesengrün,
Auf Baum und Strauch das lichte Blüh’n.
Doch siehe — dort, wo jenen hohen
Gebäuden, die schon unter Dach,

35
Im Bau begriffen, noch in rohen

Gerüsten, andre wachsen nach,
Da grüßt der Rest von einem Garten,
Da ragt in stolzem Blütenflor,
Mit Aesten, schmuck wie Feststandarten,

40
Ein alter Birnbaum hoch empor.

Ein letztes Mal sich zu entfalten
In Lenzespracht war ihm gewährt,
Bald wird auch ihn die Axt zerspalten —
Bevor den Blüten Frucht beschert!

45
Der Abendsonne gold’ne Gluten

Umweben ihn mit lichtem Schein,
Es hüllen seines Duftes Fluten
Ihn sanft in Lenzesträume ein.

Noch steht die Bank, auf der sein Schatten

50
So manchen Müden schon gekühlt,

Auf der am Abend Kinder, Gatten
In seinem Duft sich wohlgefühlt.

Und sieh, zum Sitz, dem morschen, kommen
Zwei alte Leute, Arm in Arm —

55
Was mag der Gang dem Pärchen frommen?

Sie blicken traurig und voll Harm,
Indes sie Platz am Baume nehmen,
Der bebend seine Zweige wiegt,
Als schau’re ihn vor einem Schemen,

60
Der drohend ihm vorüberfliegt.


Es wächst die Stadt, ihr Wuchs verschlingt
Die grüne Welt, die sie umringt.

Das m[uß] ein liebeselig Wandern
Hinaus [z]um altvertrauten Ort,

65
Ein jed[e]r sah verklärt im andern

Des kü[n]ft’gen Glückes sich’ren Hort!
Doch al[s] sie kamen her zur Stelle,
Da zäu[n]ten Hecken ein den Baum,
Und ne[b]en ihm da grüßte helle

70
Ein tr[au]lich Häuschen aus dem Raum.

Die Th[ü]r des Gartens fand sich offen,
Der W[e]g zum Freunde dicht umrankt,
Dort h[a]ben sie ihr höchstes Hoffen
Ihm a[n]vertraut und ihm gedankt!

[273] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



75
Und auch das Paar ergreift ein Schauern,

Ein Vorgefühl vom jähen Tod,
Der hier inmitten Grabesmauern
Dem Baume über ihnen droht.
Dem Baum, der ihnen Freund gewesen

80
Soweit all ihr Erinnern reicht,

Dess’ Gruß stets aufgefrischt ihr Wesen,
Auch dann, da längst ihr Haar gebleicht …

Als einst um ihre Stirnen flogen
Die Kinderlocken, blond und braun,

85
Sind hier zum Spielplatz sie gezogen

Durch offne weite Wiesenau’n;
In seiner Zweige dichter Krone
Da war ihr herrlichstes Asyl,
Dort brach er Früchte ihr zum Lohne

90
Für ihre Treu’ im kind’schen Spiel …

In seines Laubes trautem Schatten
Ward dann der erste Kuß getauscht,
Hat sie als Braut des künft’gen Gatten
Begeist’rungsworten froh gelauscht.

95
Und als die lange dann Getrennten

Voll Hochzeitsglück sich wiedersah’n,
War’s ihnen, als müßt’ Segen spenden
Der Baum für ihre Lebensbahn …

Als sie sich dann zum Rückweg wandten

100
Und an dem Häuschen hing ihr Blick,

Mit seinen Giebeln und Veranden
Ein lauschig Nest für stilles Glück —
Als eben sich, noch frei vom Neide,
Der Wunsch in ihrer Brust geregt:

105
O, könnten hausen doch wir beide

Bald auch so traut, so grünumhegt! —
Da durften sie — o frohes Staunen! —
Erkennen, daß das Häuschen frei,
Und von den Zweigen klang ein Raunen:

110
Eilt, daß es euer eigen sei!


Nun ganz und gar ward zum Genossen
Des eignen Lebens, frisch und jung,
Der starke Baum — sein Grünen, Sprossen
Gab ihren Kräften Trieb und Schwung.

115
Und wenn er bot aus falbem Laube

Der goldnen Früchte Herrlichkeit,
Wie regte mächtig sich ihr Glaube
An ihres Fleißes Erntezeit.
Wenn aber gar in seine Aeste

120
Beim frohgestimmten Kindtaufsfeste

Hinauf das Hoch des Vaters scholl,
Da gab’s ein Rauschen in den Zweigen —
Er segnete mit sanftem Neigen
Den kleinen Paten liebevoll!

125
Die Alten unterm Birnbaum plaudern,

Längst sind vom Kummer sie befreit,
Längst wich der Todesahnung Schaudern
Lichtbildern der Vergangenheit.
Der Duft des todgeweihten Baumes

130
Bezaubert ihren Sinn mit Macht,

Das Eden ihres Lebenstraumes
Ist ganz zur Wirklichkeit erwacht!
Das ist ein Leben und ein Weben,
Es blüht und duftet um sie her,

135
Sie fühlen sich von Glück umgeben

An dieser Stätte, wüst und leer.
Sie hören ihre Kinder singen,
Und seh’n sie springen hell im Chor,
Die kleinen Stimmen jauchzend dringen

140
Zum Vogelsang im Baum empor.


Der Alten Herzen froh sich weiten —
Die einst hier klein, jetzt sind sie groß —
Was auch vernichtet all die Zeiten,
Gesegnet blieb ihr Elternlos!

145
Und mußten sie das Heim auch missen,

Das hier nun stolzrem Baue wich —
Bei jedem ihrer Kinder wissen
Sie traut ein Heim bereitet sich …
Da rauscht’s im Baum und weckt die Alten,

150
Der Mond aus Wolkenschleiern tritt —

Sie aber ihre Hände falten
Und geh’n vom Ort mit festem Schritt.
Doch ehe sie ihn ganz verlassen,
Da machen sie noch einmal Halt;

155
Die alten Augen zärtlich fassen

Des Baumes mächtige Gestalt.
Ja — so in lichter Blüten Hülle,
Mit seines Wipfels sanftem Weh’n —
Wann auch sein Schicksal sich erfülle —

160
So bleibt für sie er fortbesteh’n!


 Johannes Proelß.

[274]

Die angeblichen Zahnungsbeschwerden der Kinder.

Von Dr. Carl Hochsinger.

Die Anschauung, daß die Zahnung, d. h. das Hervorbrechen der Zähne aus den Kiefern des in Entwickelung begriffenen Säuglings, zu krankhaften Störungen des Allgemeinbefindens führen kann, ist wahrscheinlich beinahe so alt wie das Menschengeschlecht. Findet sich doch in dem Werke des berühmten Wiener Kinderarztes Professor Kassowitz über die Zahnung (Wien 1891) ein historischer Beleg dafür, daß bereits im 16. Jahrhundert v. Chr. ein derartiger Volksglaube bestanden hat. Das altindische heilige Buch „Athasvaveda“ enthält nämlich bereits eine Beschwörungsformel gegen die Krankheitserscheinungen, welche sich beim Hervorbrechen der beiden ersten Schneidezähne der Kinder regelmäßig einstellen sollen.

Es handelt sich also in unserem Falle um eine altehrwürdige und tief eingewurzelte Irrlehre, zu deren Erschütterung es erst wiederholter Anstrengungen angesehener Kinderärzte dieses Jahrhunderts, wie J. E. Wichmann, L. M. Pollitzer, A. Fleischmann und M. Kassowitz, bedurfte. Die Ergebnisse der neuen Forschung nach dieser Richtung hin mögen im Folgenden wiedergegeben werden.

Es ist bekannt, daß das Kind – sehr seltene Ausnahmen abgerechnet – mit zahnlosen Kiefern auf die Welt kommt und daß erst gegen den 7. Lebensmonat hin die ersten Zähne im Kiefer desselben erscheinen. Ueber die Art und Weise der Vorgänge, welche beim Durchtreten der Zähne aus den Kiefern in Wirklichkeit stattfinden, ist nun das Laienpublikum gar nicht unterrichtet.

Von einem Drucke seitens des herauskommenden Zahnes auf die Nerven, auf den Kieferknochen, auf das Zahnfleisch und dergleichen mehr, wie in Laienkreisen vielfach verkündet wird, ist hier absolut keine Rede. Das Hervortreten der Zähne aus den Kiefern ist vielmehr ein ganz harmloser Wachstumsprozeß, welcher darin besteht, daß der Zahnkeim, der im Kiefer des neugeborenen Kindes bereits angelegt ist, sich vergrößert, während die umgebenden Knochen- und Weichteile – doch nur ganz allmählich – eingeschmolzen und aufgesaugt werden, bis jene Lücken im Kiefer und im Zahnfleische entstanden sind, welche das Hervorkommen dieses Zahnkeimes nach außen hin gestatten. Der Zahn wächst eben nicht anders wie jedes andere knöcherne Gebilde des menschlichen Körpers; mithin können auch bei der Entwickelung der Zähne keine anderen Folgen für das wachsende Individuum entstehen wie beim Wachstum jedes beliebigen anderen knöchernen Organes, sagen wir etwa eines Fingerknochens oder des Nasenbeines.

Es ist daher thatsächlich vollständig ungerechtfertigt, wenn man sich einbildet, daß die Kinder durch das Zahnen wirklich und wahrhaftig erkranken, daß ihre Atmungs-, ihre Kreislaufs- und Verdauungsorgane infolge der Bildung von Zähnen von krankhaften Veränderungen ergriffen werden können.

Im Volksmunde und auch in gebildeten Laienkreisen spricht man hauptsächlich von folgenden 5 Arten von Zahnungsleiden: 1. Zahnfraisen, 2. Zahnfieber, 3. Zahnhusten, 4. Zahndiarrhöen, 5. Zahnausschläge. Wir wollen diese fünferlei Krankheitsgattungen, welche dem Zahndurchbruche in die Schuhe geschoben werden, durchgehen und sehen, was von denselben eigentlich zu halten ist.

Unter Zahnfraisen verstehen die Bekenner des Glaubens von den Zahnungsübeln das Befallenwerden der Kinder von Krämpfen (im Volksmunde „Fraisen“ genannt) infolge und während der Entwickelung von Zähnen.

Darauf ist zu erwidern, daß während des ganzen Kindesalters Krankheiten, welche mit Krampfanfällen verbunden sind, sehr häufig beobachtet werden. Die meisten Fieberkrankheiten der Säuglinge, fast alle Gehirn- und Nervenkrankheiten derselben und die Englische Krankheit (Rachitis), wenn sie den Schädelknochen des Säuglings in Mitleidenschaft zieht, sind in ihrem Beginne oder in ihrem Verlaufe von Krampfanfällen begleitet. Will man daher der Entstehung von solchen „Fraisenanfällen“ bei Säuglingen auf die richtige Spur kommen, so muß man zuerst entscheiden, ob bei dem Kinde Fieber besteht, man muß die Temperatur desselben messen. Weiters wird der herbeigerufene Arzt bald erkennen, ob das Kind von einer Nerven- oder Gehirnkrankheit befallen ist oder nicht. Von der höchsten Wichtigkeit ist es aber, immer festzustellen, ob das Kind nicht an Englischer Krankheit der Schädelknochen leidet, ob nicht eine abnorme Weichheit der genannten Knochen vorliegt. Denn durch das Uebel der Englischen Krankheit, welches unglaublich weit verbreitet ist, werden am allerhäufigsten Fraisenanfälle bei den Kindern hervorgerufen. Die Eltern, Anverwandten, Wärterinnen der Kinder, kurz, die Laien überhaupt ahnen gar nicht, wie häufig an den Schädelknochen ihrer kleinen Lieblinge Zeichen von Englischer Krankheit existieren, ohne daß irgend eine Störung im Befinden des Kindes den Gedanken an das Bestehen der Englischen Krankheit bei Laien wachzurufen vermöchte. Erst wenn ein Fraisenanfall auftritt, ein Arzt herbeigerufen wird, welcher den Kopf des Kindes untersucht und erweichte Knochenstellen daselbst konstatiert, wird die wahre Ursache des Krampfanfalles klar. Die Englische Krankheit ist eine der häufigsten Ursachen der sogenannten Zahnfraisen. Mit den Zähnen aber haben diese Anfälle gar nichts zu thun.

Wohl aber verursacht die Englische Krankheit auch eine Verlangsamung der Zahnentwickelung und eine Verzögerung des Zahndurchbruches, da die Kieferknochen, ebenso wie die Kopfknochen, bei der Englischen Krankheit in Mitleidenschaft gezogen werden.

Weil man nun sehr oft sieht, daß Kinder, bei denen die Zahnentwickelung langsam vor sich geht, von Krampfanfällen heimgesucht werden, hat man die letzteren auf das Kerbholz der Zahnung geschrieben, ohne zu wissen, daß es die Englische Krankheit ist, welche sowohl die Verzögerung der Zahnbildung als auch das Auftreten der Fraisenanfälle verursacht.

Krampfanfälle bei zahnenden Kindern haben also immer einen andern Grund als den Prozeß der Zahnentwickelung.

Was ist ferner das sogenannte Zahnfieber? Es ist immer irgend eine fieberhafte Krankheit, welche zufällig während der Zahnentwickelung des Kindes aufgetreten ist. In der Regel liegt hinter dem sogenannten Zahnfieber eine Mandelentzündung, ein Magenleiden, eine Schwämmchenkrankheit des Mundes oder eine Grippe versteckt. Man muß eben, wenn das zahnende Kind fiebert, gerade wie zu jeder anderen Lebenszeit des Kindes den Arzt holen lassen und darf sich nicht damit begnügen, anzunehmen, das Kind sei unwirsch, unruhig und heiß, weil es „zahnt“. Den genannten Leidenserscheinungen liegt stets eine bestimmte fieberhafte Erkrankung des Kindes zu Grunde, welche mit der Zähnung in keinem Zusammenhang steht.

Nicht viel anders verhält es sich mit dem im Volksmunde vielgenannten Zahnhusten. Während der ersten zwei Lebensjahre sind Kinder für Erkältungen und Ansteckungen durch das Schnupfen- und Grippekontagium ungemein empfänglich. Sobald ein Säugling aber Schnupfen oder Rachenkatarrh bekommt, hustet er auch schon. Hat irgend eine erwachsene Person im Hause Schnupfen, so kann man mit Bestimmtheit annehmen, daß bald darauf der Säugling, ob er jetzt im Zahnen begriffen ist oder nicht, Schnupfen und Husten bekommen wird.

Das wird von Laien fast ausnahmslos übersehen, den Husten aber, von welchem das Kind ergriffen wird, legt man den herannahenden, durchbrechenden oder den schon durchgetretenen Zähnen zur Last. Entwickelt sich aus der einfachen Hustenkrankheit, weil sie nicht richtig gewürdigt und behandelt worden ist, eine Bronchitis, eine Lungenentzündung und dergl. mehr, dann heißt es: „Die ‚Zahnungskrankheit‘ hat sich auf die Lunge geschlagen.“ Welch thörichter Wahn!

Nicht anders steht es mit den angeblichen „Zahndiarrhöen und Zahnausschlägen“. Die angeblichen Zahndiarrhöen sind ganz gewöhnliche Darmkatarrhe, wie man solche während des ganzen Säuglingsalters, besonders in der wärmeren Jahreszeit, alltäglich [275] beobachtet. Sie hängen zusammen mit schlechter oder unzweckmäßiger Ernährungsmethode und mit Diätfehlern, niemals aber mit den Zähnen.

Die Behauptung, daß Ausschläge durch das Zahnen verursacht werden, ist wohl das Absurdeste, was in Hinsicht der Zahnungskrankheiten geleistet worden ist. Hierfür giebt es überhaupt gar keine Worte der Widerlegung mehr! Denn man kann sich auch nicht im allerentferntesten eine Vorstellung davon machen, wieso ein Zähnchen, welches sich im Kiefer bildet und welches durch das Zahnfleisch herauswächst, dem Kinde an der Haut seiner Schenkel oder des Bauches juckende Pusteln zu verursachen imstande sein sollte.

Die Sache liegt aber auch hier ganz klar. Die Haut des Säuglings ist überhaupt sehr reizbar und sehr empfindlich. Es können äußere Einwirkungen reizender Art oder auch Einwirkungen reizender Stoffe, welche durch den Nahrungskanal und hierauf durch die Blutcirkulation in die Haut gelangen, bei Kindern Juckausschläge veranlassen. Solches kommt während des ersten Kindesalters vielfach vor. Was Wunder, daß auch Ausschlagskrankheiten der Kinder in die Periode der Zahnbildung fallen!

Aehnliches gilt von manch anderer Erkrankungsform, welche im Kindesalter vorkommt. Hat man doch auch Augenentzündungen und Ohrenflüsse mit der Zahnung in Zusammenhang gebracht und besonders dem Durchbruche der sogenannten Augen- oder Eckzähne einen entzündungserregenden Einfluß auf die Augen der Kinder zugeschrieben.

Beobachtet man die Kinder während der Zahnungsperiode genau, so findet man, daß den Kindern das Heraustreten der Zähne aus den Kiefern nicht die geringste Störung in ihrem Wohlbefinden verursacht. Selbst das im übrigen ganz harmlose Speicheln, welches allgemein dem Zahndurchbruche in die Schuhe geschoben wird, hängt nicht mit dem Herauskommen der Zähne zusammen, sondern findet sich als ständige Erscheinung bei den meisten Kindern vom zweiten bis zum vierten Lebenshalbjahre angefangen. Es ist aber leider eine Thatsache, daß gerade in der Zeit vom sechsten Lebensmonate bis zur Vollendung des Milchgebisses (Ende des zweiten Lebensjahres) die Kinder oft von Krankheiten heimgesucht werden, welche, obwohl in gar keinem ursächlichen Zusammenhange mit der Zahnung stehend, dennoch mit derselben in einen solchen gebracht werden, nur aus dem Grunde, weil diese Krankheiten mit der Zahnungszeit zufällig zusammenfallen.

Am häufigsten sind es Erkältungskrankheiten, ferner Infektionskrankheiten und Störungen der Verdauung, welche, weil sie bei kleinen Kindern überhaupt ungemein häufig vorkommen, mit Zahnungskrankheiten fälschlich verwechselt werden. Leider behaupten die Anhänger der Irrlehre, daß bei den Zahnungskrankheiten keine Behandlung notwendig ist, weil die Krankheit mit dem Durchbruche des Zahnes ohnehin schwindet. Aus diesem Grunde wird es nur zu oft unterlassen, rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Jedermann, dem das Wohl seines Kindes am Herzen liegt, lasse ab von solchem Wahne und beherzige die Lehre: Es ist zwar leicht, sich dadurch zu beruhigen, daß man die Krankheit eines zahnenden Kindes auf den Prozeß der Zahnung schiebt, es ist aber schwer zu helfen, wenn einmal die richtige Zeit versäumt ist, der einmal ausgebildeten Krankheit durch Heilmittel zu begegnen. Ich habe es schon häufig erlebt, daß intelligente junge Mütter, welche von Haus aus von der Unhaltbarkeit der Lehre von den Zahnungskrankheiten durchdrungen waren, anderer Meinung geworden sind, weil angeblich praktische Frauen, Hebammen oder alte Pflegerinnen, ihnen den ganzen Tag mit den Fabeln von den Zahnungsübeln in den Ohren lagen. Die Pflege des Kindes verlangt genaue Befolgung der seitens der ärztlichen Wissenschaft angegebenen Regeln. Hier muß die Altweiberwirtschaft und der Köhlerglaube ein Ende nehmen! Wahrheit und Aufklärung muß in die Laienwelt dringen, denn niemals rächt sich die Außerachtlassung einer vernünftigen Obsorge für das Leben und die Gesundheit eines Kindes mehr als dann, wenn es sich um den Beginn eines krankhaften Zustandes beim Kinde handelt.

Man hat vielfach die Ansicht gehegt, es sei zweckmäßig, den Kindern zur Erleichterung des Zahndurchbruches Körper in den Mund zu stecken, auf welche die Kinder ihre Kiefer zusammenbeißen können. Man ist dabei von der Anschauung ausgegangen, daß zum Durchtreten der Zähne das Zahnfleisch von den Zähnen „durchbrochen“ werden muß; dieser Akt soll nun leichter von statten gehen, wenn durch eine beständige Druckwirkung auf das Zahnfleisch dieses allmählich verdünnt wird. Diese Anschauung ist jedoch vollkommen irrig. Das Zahnfleisch wird von dem sich bildenden Zahne erst dann durchbrochen, wenn die Spitze des Zahnes soweit vorgedrungen ist, daß das Zahnfleisch dem Wachsen des Zahnes von selbst nachgiebt. Dieser Prozeß geht ganz allmählich und ohne dem Kinde Schmerz zu bereiten, vor sich, denn je mehr der Zahn aus dem Kiefer nach dem Zahnfleisch zu wächst, desto dünner wird das darüber stehende Stückchen Zahnfleisch, weil es allmählich aufgezehrt wird, und desto blässer wird es, bis endlich der Kreislauf des Blutes an jener Stelle, welche der Zahnspitze anliegt, erlischt und das vorliegende, nunmehr schon ganz dünne Häutchen vollends aufgesogen wird. Es geht also, wie anfangs schon angedeutet, bei dem Zahndurchbruche eine Aufsaugung der kleinen Zahnfleischpartien vor sich, welche über den Spitzen der vordringenden Zahnkronen liegen. Elfenbein, Veilchenwurzel, trockenes Leder und dergleichen mehr den Kindern in den Mund zu stecken, ist deswegen schädlich, weil das beständige Lutschen an diesen Dingen zu Speichelflüssen Veranlassung giebt, und weil in den Poren dieser Gegenstände sich Speichel- und Nahrungsreste ansammeln, welche natürlich in den Magen hineinkommen und daselbst Gärungsprozesse, also Magen- und Darmkatarrhe, verursachen können. Gar manche angebliche Zahndiarrhöe, gewiß aber der häufig beobachtete angebliche Speichelfluß der zahnenden Kinder ist nichts anderes als ein künstlich erzeugtes Leiden, hervorgerufen durch den Gebrauch solcher vermeintlicher „Zahndurchbruchsbeförderungsmittel“. Also auch mit diesen muß vollkommen aufgeräumt werden!




Der König von Thule.

(Zu unserer Kunstbeilage.)

Die herrliche Ballade, welche Goethe im „Faust“ seinem Gretchen in den Mund legt, hat den Maler van der Ouderaa zu seinem ausdrucksvollen Gemälde angeregt.

„Es war ein König in Thule
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldnen Becher gab.

Es ging ihm nichts darüber,
Er leert’ ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.

Und als er kam zu sterben,
Zählt’ er seine Städt’ im Reich,
Gönnt’ alles seinem Erben,
Den Becher nicht zugleich.

Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem Schloß am Meer.

Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut
Und warf den heil’gen Becher
Hinunter in die Flut.

Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer.
Die Augen thäten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.“

Viele Leser und Hörer werden sich schon gefragt haben, wer ist dieser sagenhafte König und wo ist sein sagenhaftes Land zu suchen, ohne darüber befriedigende Auskunft zu finden.

Zu diesem Zwecke müssen wir die Geographie des Altertums zu Rate ziehen – die ultima Thule, deren Beiwort so etwas wie das Ende der Welt verkündigt, findet sich bei den römischen Klassikern; doch wenn wir näher nachforschen, erhalten wir eine Auskunft, die in unserer Zeit der Polarexpeditionen von großem Interesse ist. Auch das Altertum hatte seine kühnen Entdeckungsreisenden und bei dem damaligen Stande der Schiffahrt war das Wagnis ihrer Fahrten um so bewundernswerter. Einer dieser kühnen Seehelden war Pytheas aus Massilia, dem heutigen Marseille, damals einer blühenden Handelskolonie der Griechen, weit abgelegen vom Mutterlande. Pytheas lebte gegen das Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr.; die Aufzeichnungen über seine [276] Seefahrt berichten zuerst von der Insel Thule. Wahrscheinlich mit Unterstützung der Kaufmannschaft von Massilia hatte er eine Expedition ausgerüstet, welche den Norden und Nordwesten Europas erkunden sollte; jedenfalls war er der Leiter derselben, nicht ein mitreisender Passagier oder untergeordneter Gelehrter. Durch die „Säulen des Herkules“ ging die Fahrt nach Britannien, und über das „dreieckige“ Albion hinaus bis zur Insel Thule, die sechs Tagfahrten nördlich von Britannien gelegen sein soll; ja Pytheas kam noch eine Tagfahrt darüber hinaus. Die Barbaren zeigten ihm die Stelle, wo die Sonne Ruhe habe; hier ist die Nacht kurz, nur etwa zwei Stunden, so daß nach dem Untergang nach kurzer Frist die Sonne wieder aufgeht.

Thule liegt nahe an dem „geronnenen Meer“, doch darf man darunter nicht das gefrorene Meer verstehen. Wo damals jene Schiffer nicht weiter vorzudringen wagten, da begann ihnen das „geronnene Meer“, sie waren überzeugt, daß sie ans Ende der Welt gelangt oder doch ihrer Grenze nahe seien, wo Erde, Luft und Meer zusammenrinnen und nicht mehr für sich bestehen – umhüllte doch dichter Nebel die Sonne, umschloß die Aussicht nach jeder Seite, kein Wind regte sich und die Tagesarbeit wurde den Ruderern schwerer und schwerer. Dies Meer des Pytheas war die wahre Grenze der geographischen Kunde der Alten gegen Norden. Im Jahre 84 n. Chr. suchte die Römerflotte des Agricola Thule auf; doch die Römer betraten die Insel nicht und die Flotte kehrte in Sicht derselben wieder um. Thule galt den Römern für die äußerste britannische Insel und so ist sie auch auf der römischen Weltkarte verzeichnet.

Wenn Pytheas seine Entdeckung dem Handelsverkehr seiner Vaterstadt dienstbar zu machen suchte, so war der Erfolg nicht der erwünschte; denn die Bewegungen der keltischen Völker hemmten diesen Verkehr.

Wo aber liegt diese geheimnisvolle Insel Thule, hinter welcher nach der Meinung der Alten die Welt aufhörte?

Lange Zeit hat man Island dafür gehalten. Doch ist für diese Annahme der Abstand Islands von Britannien zu groß, auch trafen die Normannen auf Island außer einigen Iren keine eingeborene Bevölkerung, während Pytheas von bewohntem Lande spricht, soweit er auch nach Norden kam. Auch Norwegen kann Thule nicht sein; dagegen spricht die Lage und Entfernung. Höchst wahrscheinlich ist es eine der Shetlandinseln gewesen.

Wenn man von dem sagenhaften Thule spricht, so muß man nur an das Altertum und nicht an das Mittelalter denken. Der hohe Norden war überhaupt ein Bereich, in dem sich die Phantasie der Alten frei ergehen konnte. Haben doch die Gelehrten im Zeitalter Plutarchs noch behauptet, daß Kronos auf einer heiligen Insel im hohen Norden jenseit Britanniens vom Schlaf gefesselt liege, von Briareos bewacht und von Dämonen bedient. Antonius Diogenes, ein Romanschriftsteller jener Zeit, der in seinen phantastischen Reisebeschreibungen an Jules Verne erinnern mag, erzählt in seinen „Unglaublichkeiten jenseit Thule“, daß ein Arkadier Dinas, um die Erde herumreisend, nach Thule gekommen sei, wo er eine Schönheit aus Tyrus gefunden habe, die mit ihrem Bruder durch einen ägyptischen Priester aus Tyrus vertrieben wurde. An dies Liebesabenteuer, das zuletzt die Liebenden in die syrische Handelsstadt zurückführt, knüpft sich eine phantastische „Nordpolexpedition“.

Wer aber Goethes „König in Thule“ liest, der wird nicht unmittelbar an diese Sagen des Altertums erinnert, der sieht vor Augen einen jener romantischen Nordlandskönige aus der Zeit der nordischen Heldensagen, und er wird zu wissen wünschen, in welchen Sagenkeis der greise Fürst eingesponnen ist, welcher dieser sagenhaften Dynastien er angehört.

Damit ist es nun freilich schlecht bestellt; von den Königen Thules ist in keinem mittelalterlichen Gedicht die Rede und die eifrigste Goetheforschung könnte nur zu dem Resultat kommen, daß Goethe diesen König frei erfunden hat. Wie einer der Erklärer meint, hat er den Namen Thule gewählt, des fabelhaften Scheines wegen, in welchen diese Insel gehüllt ist, vermutlich mit Berücksichtigung des Reimes auf „Buhle“. Die Ballade entstand im März 1774 und erschien zuerst in der älteren Fassung, die auch der „Urfaust“ aufweist, 1782 unter Seckendorffs „Volksliedern“ mit der Angabe, daß sie aus Goethes „Faust“ herrühre, und seit 1800 unter Goethes Balladen. Ob sie ursprünglich für den „Faust“ bestimmt gewesen, darüber gehen die Ansichten auseinander; einige glauben, es handle sich um eine anfangs selbständige Ballade. Die Frage von Treue und Untreue beschäftigte den jungen Dichter lebhaft nach seinem Sesenheimer Liebeshandel; zu der Sagengestalt des Königs von Thule mochte sein schwankendes Gemüt, das zu solcher Wahrung der Treue sich unfähig fühlte, bisweilen reuevoll aufblicken. Da der Dichter nun aber das Lied in seinen „Faust“ eingefügt hat, so muß man fragen, welche Bedeutung es für den Zusammenhang der großen Dichtung hat; denn wenn solche Bedeutung fehlte, würde es ja als ein ganz willkürliches Einschiebsel erscheinen. Offenbar steht das Lied von der Treue über den Tod hinaus in ergreifendem Gegensatz zu dem Schicksal, welches Gretchen droht; es ist daher ein ahnungsvoller Vorklang der Tragödie, die in Kerkernacht mit des unglücklichen Mädchens Wahnsinn endet.


Burg Lauenstein.

Von A. Trinius.0 Mit Abbildungen nach photographischen Aufnahmen.

Hoch über dem waldumrauschten, felsenzerrissenen Loquitzthale erhebt sich hart an der Grenze von Thüringen und Franken Burg Lauenstein. Seit ihrer 1896 begonnenen Wiederherstellung und inneren Ausschmückung ist Thüringen um ein Juwel deutscher Burgromantik reicher, zu dem man fortan wallfahren wird, um dann den Ruhm dieser neuentdeckten Stätte draußen im Reiche zu verkünden. Geschichte und Sage, Architektur und Landschaft klingen hier zu einem vollen Akkord zusammen.

Obgleich seit 1814 durch Austausch an Bayern gekommen und politisch seitdem zu Oberfranken zählend, ist die ehemalige Grafschaft Lauenstein trotzdem immer thüringer Boden gewesen, gleich dem benachbarten heute ebenfalls bayrischen Städtchen Ludwigstadt, wohin durch Jahrhunderte hindurch die Besitzer von Lauenstein ihren letzten Weg nahmen, wenn es aus war mit Liebe und Haß, Streit und Fehde. Sprache und Sitte, Tracht und protestantischer Glaube, alles ist thüringisch geblieben. –

Erst mit der Eröffnung der Bahnstrecke Saalfeld–Probstzella–Ludwigstadt und hinüber nach Oberfranken ist der Reiz und die Schönheit des Loquitzthales gleichsam entschleiert worden, das nunmehr durch Burg Lauenstein eine erhöhte Zugkraft empfangen hat.

Dicht unter dem Rennstiege, dem uralten Grenzweg und Bergzinnenpfad des Thüringer Waldes, entspringen die Quellen der Loquitz, die nach gut halbstündigem Laufe Lehesten und seine weltberühmten Schieferbrüche grüßt, in denen an 2000 Menschen arbeiten und deren Schieferplatten und -tafeln, Wetzsteine und Griffel weit hinaus über alle Meere gehen. Durch ein einsames Bergthal windet sich die Loquitz nach Ludwigstadt, berührt noch einige kleine Siedelungen und wendet sich dann wie mit einem Ruck scharf rechts nach Osten.

Hier, an der Spitze dieses Rechtecks (die Thalsohle liegt 400 m hoch) erhebt sich auf einem scharf profilierten Bergkegel (600 m hoch) Burg Lauenstein, im Volksmunde auch die Mantelburg genannt.

Nur rückwärts nach dem Gebirge hin ist sie durch einen Sattel mit dem vorüberstreichenden Bergzug verbunden, die übrigen drei Seiten des Bergkegels, jetzt von bequemen Wegen überwebt, fallen jäh hinab zu Thale.

Leuchtend und unnahbar thront wie eine Königin Burg [277] Lauenstein in einsamer Höhe, herrschend über die Hütten des Dorfes. Ihrer Zinnen Zier, Türme, Söller, Erker und die langen Fensterreihen des gewaltigen Baues schauen in die Tiefe und Ferne, über wogende Wälder zu blauumdufteten Höhen, thalauf und -ab, auf träumende Bergmatten und den schäumenden Bach zwischen den Felscoulissen.

Und durchstreift man die Tannenwälder rings, zieht über die freien Höhen: allüberall taucht als ein Wahrzeichen dieser Landschaft Burg Lauenstein auf und lockt uns wieder magnetisch in ihren Bann.

Auf dem Burgwall, hart an der äußeren Burgmauer, steht ein altes Amtshaus, heute traulich ausgestattet. Der neue Schloßherr hat es in ein angenehmes Gasthaus mit Pension umgewandelt und ihm den schönen Namen „Burgfried zum Lauenstein“ gegeben. Ein idealer Aufenthalt ohne Kellnerfracks und Hoteltreiben. Wer hoch über der ruhelos hastenden Welt, umweht von herbfrischer Bergluft, Frieden und Schönheit gleichzeitig genießen will, der sollte hier vor Anker gehen. Leib und Seele müssen hier gesunden. – –

Burg Lauenstein.

Burg Lauenstein schaut in wenigen Jahren auf eine tausendjährige Vergangenheit zurück.

Als die Sorben (Wenden) aus den Niederungen der mittleren Elbe immer kühner und energischer gegen den Thüringer Wald vordrängten und Thüringer wie Franken teilweise sogar bis über den Kamm desselben zur Werra scheuchten, da begann man längs der Saale steinerne Festen aufzurichten, die unholden Gäste zurückzuweisen. So entstand auch an der Loquitz Burg Lauenstein.

Mutmaßlich im Jahre 915 ließ Kaiser Konrad I sie aufbauen. Aus jenen frühen Tagen ist freilich nicht mehr allzuviel vorhanden. Ein nach Süden vorspringendes Thor, starke Mauerreste, sowie der 4 m hohe Stumpf eines gewaltigen Burgfrieds – das ist alles. Sehr charakteristisch für diese frühe Bauzeit ist die schräg aufstrebende Mauerung der unbearbeiteten Feldsteine, die man als ährenformig bezeichnen könnte.

Mit der Burg wurde sehr früh das hochangesehene, besonders in Südthüringen mächtig angesessene Grafengeschlecht der Henneberger belehnt. Das dazu gehörige Gebiet bildete späterhin eine eigene Grafschaft Lauenstein. Alte Chroniken erzählen, daß im Jahre 945 Graf Popo I von Henneberg starb und sein irdisch Teil von der Burg hinab nach Ludwigstadt übergeführt und in der dortigen Marienkapelle beigesetzt wurde. Diese Kapelle, ein Rundbau aus unbehauenen Steinen, steht noch heute völlig erhalten, dient aber seit Jahren einem wackeren Meister als – Hufschmiede.

Allzulange saßen übrigens die Henneberger nicht auf der Mantelburg. Ihnen folgten die Grafen von Orlamünde, die sich in drei Hauptzweige teilten: Orlamünde a. d. Saale, Lauenstein und Plassenburg bei Kulmbach. Unter ihrer Herrschaft scheint die Burg erst den Namen Lauenstein empfangen zu haben. Denn die Orlamünder führten den Löwen als Wappentier, und Lauenstein ist nur eine Umschmelzung des Wortes Löwenstein.

Eingang zur Burg.

Graf Wilhelm von Orlamünde war es, der mit reichem Gefolge im Jahre 1002 dem Kaiser Heinrich II entgegenzog und ihn dann feierlich hinauf zum Lauenstein geleitete. Dort hat der Kaiser einige Zeit anscheinend vergnüglich gewohnt, denn zum Dank überhäufte er den Schloßherrn und seine Nachfolger mit vielen Gnadenbeweisen, vor allem enthob er sie des jährlichen Tributs, den die Henneberger noch hatten entrichten müssen.

Aber die Orlamünder haben im allgemeinen diese kaiserliche Huld nicht schön belohnt. Dem Zuge und Geschmack der Zeit folgend, warfen sie sich auf das einträgliche und amüsante Geschäft der Wegelagerei, überfielen die Kaufleute drunten im Thale und sengten und raubten rings in den Dörfern. Als daher Kaiser Rudolf von Habsburg 1290 auf Wunsch seiner getreuen Erfurter, bei denen er ein Jahr lang geweilt hatte, eine Liste all der Raubfesten aufstellen ließ, welche man zu züchtigen habe, da ward auch Burg Lauenstein draufgesetzt. Kaiserliche und Erfurter rückten im genannten Jahre vor die Burg und legten sie in Trümmer.

Sie ist dann notdürftig wieder ausgeflickt worden, bis endlich 1390 Otto VI sie neu aufführen ließ. Der sogenannte Orlamünder Flügel legt heute noch Zeugnis davon ab. 1400 starb der Wiedererbauer und ward in Ludwigstadt begraben, wo man in der St. Michaeliskirche seinen wohlerhaltenen Grabstein schauen kann, der ihn in voller Lebensgröße darstellt.

Derselbe Orlamünder hatte eine Tochter, Katharina Elisabeth, deren Andenken noch heute im Gemüt des abergläubischen Volkes nicht erloschen ist. Denn sie ist die „weiße Frau“, welche der Sage nach den Hohenzollern den Tod ihrer Regenten vorher anzeigt.[1]

Katharina war jung und schön, als sie ihren Vetter von Orlamünde-Plassenburg heiratete. Dieser Ehe entsprangen zwei Kinder. Leider starb ihr Gemahl bald danach. Katharina, [278] erfüllt von brennender Lebensgier, warf ihre Augen bald auf den jungen Friedrich von Hohenzollern, Burggrafen von Nürnberg. Ihre Leidenschaft fand Erwiderung, und sie wäre wohl auch sein Weib geworden, hätten nicht seine Eltern Einspruch erhoben.

Im Hof der Burg.

Eines Tages eröffnete er dem begehrlichen Weibe, er könne sie nicht heimführen, denn „vier Augen stünden ihm im Wege“. Er hatte die seiner Eltern damit gemeint. Katharina aber, von Leidenschaft bethört, glaubte, dies gelte ihren Kindern. In einer Nacht ermordete sie die unschuldigen Kleinen, damit nichts mehr ihrem Wunsche entgegenstehe. Man sagt, daß sie die Kinder mit einer Stricknadel erstochen habe. Doch die That kam ans Licht.

Katharina ward zum Tode durch den Scheiterhaufen verdammt. Das Urteil wurde aber dahin gemildert, daß man sie hieß, bis an ihr Lebensende als büßende Nonne in das Kloster Himmelskron bei Kulmbach einzutreten. Dort ist die Sünderin gestorben und begraben. Man sagt, daß sie von der Plassenburg bis zum Kloster habe auf den Knien rutschen müssen. Vorher aber habe sie noch einen furchtbaren Fluch auf den vermeintlichen Mörder ihres Glückes ausgestoßen, auch verkündet, daß sie ihm und allen Hohenzollern fortan wolle als Verkünderin ihres Todes kurz vor demselben in gespenstischer Tracht erscheinen.

Sie ist denn auch in den Schlössern Plassenburg, Bayreuth und Berlin des öftern „gesehen“ worden. Auch Napoleon I soll sie erschreckt haben. In Berlin will man sie im Jahre 1850 zum letztenmal nachtwandelnd durch die Korridore des grauen Schlosses haben schreiten sehen.

Aber auch auf Burg Lauenstein – so erzählt sich das ringsum sitzende Volk – soll die „weiße Frau“ zuweilen mitternächtlich umgehen. –

Von den Orlamündern kam die Mantelburg durch Ankauf an die Grafen von Gleichen, 1460 an die Grafen von Schwarzburg und darauf an eine Reihe anderer Besitzer. 1506 gelangte sie endlich in den Besitz der Freiherren Ritter von Thüna. Damit ging ein neuer Stern über der Burg auf.

Friedrich von Thüna stand als Geheimer Rat dem Kurfürsten von Sachsen, Friedrich dem Weisen, sehr nahe. Er soll es gewesen sein, der in Worms auf dem Reichstage seinem fürstlichen Herrn den Rat gab, den kühnen Augustiner Luther unterwegs heimlich aufheben und in gesichertes Versteck bringen zu lassen. Als dann Friedrich von Thüna selbst heimkehrte, führte er sofort die evangelische Lehre in seinem Lande ein.

Sein Bruder und Nachfolger, Christoph von Thüna, war ein echter Sohn der Renaissancezeit. Genußfroh und prachtliebend, begeistert für die Kunst, warmblütig und verschwenderisch, ließ er in den Jahren 1551–54 auf Burg Lauenstein den herrlichen Thünaschen Neubau aufführen und denselben im Innern durch alle vier Stockwerke hindurch mit einer Pracht und Vornehmheit ausstatten, die uns zur Achtung und Bewunderung zwingt. Auch den anstoßenden Orlamünder Flügel unterzog er in seinen Innenräumen einer durchgreifenden künstlerischen Umgestaltung. Ebenso erbaute er ein Stück oberhalb Saalfeld am rechten Saaleufer das reizende Schlößchen Obernitz.

Bis zum Jahre 1622 saßen die Freiherren von Thüna droben auf Lauenstein. Dann verkauften sie den stolzen Besitz um 40 000 Goldgulden an die Markgrafen von Kulmbach-Bayreuth. Da die Markgrafen aber nur zur Jagd auf der Burg weilten, im übrigen sie ihren Verwaltern überließen, so begann der Verfall auf Lauenstein heimlich still einzuziehen. Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges thaten dann noch ein übriges. Als 1791 die Kulmbacher Linie ausstarb, kam Lauenstein an Preußen, dann unter Napoleons Zwingherrschaft und endlich 1804[WS 1] an das Königreich Bayern. Bis auf die eingesetzten Beamten ist aber in der ehemaligen Grafschaft alles thüringisch geblieben. –

Die bayerische Regierung, unbekümmert darum, was an der äußersten Grenzmark für eine interessante und schöne Stätte dem Verfall preisgegeben war, ging nüchtern praktisch vor. Sie verlegte den Sitz des Amtsgerichts auf das ehrwürdige Schloß. Doch die Steilheit des Aufstieges, die Weltabgeschiedenheit der Lage waren nicht nach dem Geschmack der bequemen Beamten. Man erhob Beschwerde auf Beschwerde. München blieb ungerührt. Da packte den damaligen Landrichter Sondinger – man schrieb das Jahr 1806 – ein Heldenmut der Verzweiflung. Eines Tages faßte er seine Akten zusammen, verließ die Mantelburg und wanderte nach Ludwigstadt, wo er sich, ein echter Freibeuter, einfach im Rathause festsetzte. Zwar gab es in München darob verdutzte und lange Gesichter. Schließlich aber machte man gute Miene zum bösen Spiele, erbaute ein Amtsgericht in Ludwigstadt, wo hinein dann der gefeierte Held mit seiner Schreiberschar zog.

Die Burg ward nun seitens der Regierung an einen Privatmann für ein Spottgeld verschleudert. Als dessen Sohn anfangs der siebziger Jahre verarmt war, brachten seine Gläubiger den Lauenstein an sich, bildeten eine Genossenschaft und vermieteten als solche den kostbaren Schloßbau an kleine Leute. An 25 Familien hausten jetzt darinnen: Schieferbrucharbeiter, Tagelöhner und Handwerker, und wo einst Kaiser Heinrich II gebechert und geweilt hatte, da trieb sich in den Bankettsälen allerlei Hausgetier gemütlich herum; auf dem Estrich des Rittersaales loderten die Feuer, an denen man kochte, wusch und hantierte.

Doch noch einmal sollte ein heller Stern des Glückes über Burg Lauenstein aufgehen. Zu ungeahntem Glanze sollte die Feste aufblühen. Dornröschen erwachte! Im Jahre 1896 war es Dr. jur. E. Meßmer aus Halle, welcher die Burg käuflich an sich brachte und durch einen im Burgbau wohlerfahrenen Architekten außen wie innen stilgemäß wieder herstellen ließ. Und dabei zeigte sich, wieviel Wertvolles und Schönes unter all der Vernagelung, Tünche und Vermauerung sich noch erhalten hatte.

Was der jetzige Besitzer, ein begeisterter und kenntnisreicher Sammler altdeutschen Kunstfleißes, bisher all die Jahre unermüdlich und mit bedeutenden Opfern an Gegenständen der Kunst und des Kunsthandwerkes zusammengetragen hatte, das schmückt jetzt einen Teil der imposanten Räume der Feste. Auch noch den übrigen Teil des umfangreichen Schloßbaues allmählich einzurichten, dies hat sich der neue Burgherr als seines Lebens Ziel gesetzt. Er wird damit Thüringen ein Juwel zurückschenken, auf das es stolz sein darf! Was aber den Aufenthalt in der Burg so angenehm macht, so eigenartig erscheinen läßt, das ist, daß ihre Räume kein Museum ziel- und zwecklos zusammengetragener Gegenstände darstellen, vielmehr fast jedes Ding in den täglichen Gebrauch mit hereingezogen ward, soweit es sich eben nicht um dekorative Ausschmückung und Augenweide handelte. Das giebt dem Lauenstein ein so behagliches Gepräge!

Vom Bahnhofe Lauenstein führt außer dem breiten, fahrbaren Burgweg noch ein bequemer, an entzückenden Niederblicken reicher Zickzackpfad hinan. Ruhesitze, zum Genießen, sind hier wie über die ganze Berggegend ringsum ausgestreut. Nähert man sich westlich vom Oberdorfe her der Burg, so berührt man nach Durchschreitung des Thores das hart an der [279] Außenmaner sich erhebende Gast- und Pensionshaus „Burgfried zum Lauenstein“.

Ein Rundgang von hier aus über den breiten Burgwall, am Burggärtlein, Mauergetrümmer vorbei, entrollt ein herrliches Rundbild landschaftlicher Schönheiten.

Dann stehen wir vor der den tiefen Wallgraben überwölbenden Brücke und dem großen Eingangsthor zur Innenburg. Ein mächtiger rotbrandenburgischer Adler schmückt die Thorflügel, darüber leuchtet uns der Spruch entgegen:

Dies Schloß – einst eine feste Burg,
Erbaut in Kriegsgefahren –
Fortan als Denkmal deutscher Kunst
Mag Gott es uns bewahren.

Der Glockenturm, des Thorwarts malerische Wohnung, sowie die aus dem Felsgestein gleichsam herauswachsenden Mauerreste der allerersten Burganlage Kaiser Konrads begrenzen den Eingang. Inmitten des geräumigen Schloßhofes plätschert ein Springbrunnen aus altertümlichem Steinbecken. Zur Rechten liegt der Orlamünder Flügel, charakteristisch in seinem Erdgeschoß durch eine säulengetragene Wandelhalle, darüber eine offene Loggia. Seine innere Einrichtung bleibt noch der Arbeit und Sorge des Schloßherrn vorbehalten. Von den bemerkenswerten Räumen sei hier nur das sogenannte Tafelzimmer hervorgehoben.


 Erker im Kirchensaal.  Rittersaal im Thünaschen Flügel.


In den herrlichen Thünaschen Bau tritt man durch ein reich im Sandsteinschmuck der Frührenaissance ausgeführtes Portal.

Man steht im Treppenhause, einem Turm, durch den sich vier Stockwerke hindurch eine gewundene Sandsteintreppe schlängelt, die als ein Meisterwerk bezeichnet werden muß. Reichtum und Vornehmheit charakterisieren alle Räume dieses Baues. Kräftig profilierte Rundbogenthüren, Wandtäfelungen, fort und fort wechselnde, seltene und kunstvolle Plafonds in Stein und Holz, die reizvollsten Rippenwölbungen in den Erkern – dies alles setzt sich fort bis hinauf ins vierte Geschoß. Hier sei nur von den oberen Räumen der Hirschensaal mit seinem reich in Holz geschnitzten Jagdfries und dem überaus malerischen Erker, sowie der Kapellenraum erwähnt, dessen Wände mit bunten Freskengemälden eines unbekannten, wahrscheinlich italienischen Meisters bedeckt sind.

Die kostbar ausgestatteten Wohnräume der Schloßherrschaft befinden sich im Erdgeschoß des Thünaschen Baues. Ein verschwenderischer Reichtum des Schönen und Kostbaren ist darinnen ausgestreut.

In dem imposanten Rittersaale, dessen vier Gewölbe von einem mächtigen Rundpfeiler getragen werden, spielt sich zumeist das tägliche Leben der Schloßbewohner ab. Mit seinen tiefen Fensternischen, den gotischen Rippengewölben, dem weit hineingebauten Kamin, all den Truhen und Schränken, Malereien und Webereien, Gewaff und Gehörn, den Eisenbandkronen, all der Fülle altertümlichen Hausrats, Krügen, Tellern, Humpen und Kannen – übt der Rittersaal die meiste Anziehungskraft auf alle Besucher.

Unweit des Kamins öffnet sich auch eine kleine Rundbogenthür zu dem geheimen Treppengang, der im obersten Geschoß beginnt, in der starken, ausgesparten Mauer durch alle Stockwerke schneidet, um schließlich in den ganz gewaltigen Kellern zu enden, von wo er sich in einer Ecke soll durch den Berg fortgesetzt haben. Angefangene Nachgrabungen scheinen auch das Gerücht zu bewahrheiten. – – –

Wer als Gast auf Burg Lauenstein ein- und ausgehen durfte, der hat noch einmal volle Burgromantik genossen. Wenn im Kamin die Flammen aus den prasselnden Holzscheiten züngelnd emporleckten und ihre Purpurglut sich mit dem milderen Lichte der Kronen und Lichter verband, wenn es aus den dämmernden Nischen geheimnisvoll zu raunen und zu grüßen schien, wie Mär verklungener Tage – dann empfand man den vollen Stimmungszauber von Burg Lauenstein.

Dann ergriff wohl der Burgherr sein Horn und schmetterte, weich anhebend, sein Lied empor zu den Wölbungen des Saales, oder vom offenen Altan hinaus in die aufhorchenden Bergwälder, das schlafende Thal.

Zurück zum Kamin! Die Römer aufs neue gefüllt! Warm und lebendig geht die Rede. Fremdes und Selbsterlebtes fließt durcheinander. Nebenan kündet eine alte Uhr mit dünner, bebender Stimme Mitternacht. Zerrissener Harfenton klingt dazwischen. Wir horchen unwillkürlich auf. Will sich die weiße Frau von Orlamünde zeigen?!

Der Burgherr lächelt still.

Dann hebt er den Römer hoch, daß das Licht sich in des Weines goldener Flut bricht. Und wir stoßen an!

Möge das Glück zu Lauenstein wie seine Mauern auf Felsengrund erbaut sein!


[280]

Krystallvisionen.

Zu dem Handwerkszeug, dessen sich die Zauberer alter Zeiten bedienten, um abergläubischen Mitmenschen verborgene, aber wissenswerte Geheimnisse zu entschleiern, gehörten unter anderm auch verschiedene glänzende Gegenstände. Sie wurden besonders gern benutzt, wenn es galt, in die Zukunft zu schauen. In alten Büchern über magische Künste wurde eine ganze Reihe solcher Mittel genau beschrieben. Man konnte übernatürliche Auskünfte über allerlei Fragen, die einem am Herzen lagen, dadurch erhalten, daß man Ringe, in welchen geschliffene Edelsteine gefaßt waren, lange betrachtete. Diese Kunst der Wahrsagung nannte man Daktylomantie. Andere Meister ließen ihre Kunden in Metallbecher blicken, auf deren Grunde nach geraumer Zeit allerlei „Gesichte“ sich zu zeigen pflegten. Zu demselben Zwecke wurden auch glatt polierte Metallkugeln, Pfeile, Schwerter und Messer benutzt. Bediente man sich zum Anstarren blanker Metallspiegel, dann hieß die Wahrsagerei Katoptromantie. Es war auch eine „Beckindeitelei“, d. h. Beckendeutung, oder nach gelehrtem Ausdruck Lecanomantie, im Schwange, wobei man in Becken schaute, die mit Wasser gefüllt waren und auf dem Grunde glänzende Gold- und Silberplättchen enthielten. Anderen wieder genügte blankes Wasser, um bei dessen Anschauen Orakel zu treiben; gelehrt hieß diese Wahrsagungsart Hydromantie. Goß man aber das Wasser in bauchige Flaschen, wodurch besondere Lichtspiegelungen und Lichtbrechungen leicht erzeugt werden konnten, dann gab man dem auf solchem Hilfsmittel sich aufbauenden Zweig der Wahrsagerei den Namen Gastromantie. Eine andere Abart der Hydromantie bestand darin, daß man auf die Oberfläche des Wassers in einem Becher einen Tropfen Oel fallen ließ und das schimmernde Häutchen ausdauernd betrachtete. Oel, mit Ruß gemengt, bildete ferner die Grundlage der Onimantie oder Onychomantie; mit der Mischung bestrich man den Daumennagel, um ihn dann angelegentlich zu betrachten. Sehr beliebt war endlich zu gewissen Zeiten – denn auch die Wahrsagekünste haben ihre Modeschwankungen – die Krystallomantie, die mit dem Anschauen eines Krystalls verbunden war.

Diese letztere Geheimkunst wurde von Faust gern und häufig geübt, wie davon in den Faustbüchern zu lesen ist. Sie erfreute sich auch im 16. Jahrhundert eines gewaltigen Ansehens und zwei Alchimisten jener Zeit, die Engländer John Dee und Edward Kelley, trieben mit ihr Unfug an den Höfen der Königin Elisabeth von England, des Königs Stephan Bathory von Polen und des Kaisers Rudolph II. Der Magier Lucas Gauricus soll dagegen der Katharina de’ Medici die Geschichte ihres Hauses, wie sie sich später erfüllte, in einem Zauberspiegel gezeigt haben. Die „Beckindeitelei“ war schon den Assyrern und Aegyptern bekannt und wurde zur Fragestellung an die Zukunft mit Vorliebe von den byzantinischen Kaisern benutzt.

Nicht jedem war es vergönnt, beim Anstarren der glänzenden Gegenstände „Gesichte“ zu erschauen; die alten Magier wählten zu diesen Zwecken vor allem unerfahrene und unschuldige Wesen, Knaben und Mädchen; aber der kluge Paracelsus hat schon mit Recht darauf hingewiesen, daß es bei derartigen Künsten nicht auf Unschuld und Jungfräulichkeit, sondern auf das „Donum“ (die natürliche Anlage und Begabung) ankomme.

Die Wissenschaft der Gegenwart ist wohl in der Lage, das Zustandekommen der „Gesichte“ bei Anwendung obenerwähnter Zaubermittel zu erklären. Durch festes Ansehen glänzender Gegenstände werden Menschen je nach ihrer Empfänglichkeit in einen mehr oder weniger tiefen hypnotischen Zustand versetzt. In diesem können nun Visionen leicht entstehen. Es ist ja bekannt, daß der Hypnotiseur den Hypnotisierten allerlei sehen lassen kann, was in dem betreffenden Zimmer nicht vorhanden ist. So suggerierte auch der Zauberer alter Zeit seinem durch den Anblick des Krystalls oder des Spiegels hypnotisierten Kunden verschiedenes, was jener erfahren wollte. Tausende solcher Wahrsagungen gingen nicht in Erfüllung, aber einige wenige, die eintrafen, begründeten den Ruf des Zauberers und seines Mittels. Es war aber nicht einmal das Eingreifen des Zauberers nötig: in der Hypnose kommen auch Selbstsuggestionen zustande; der Hypnotisierte sieht manches, was er zu sehen erwartete.

In der jüngsten Vergangenheit hat nun die Krystallomantie, allerdings in veränderter Form, ihre Auferstehung gefeiert. Zahlreiche Personen widmeten sich dem Krystallschauen, um auf Grund vorurteilsloser Selbstbeobachtung das Wesen der Visionen, die dabei entstehen, zu erforschen. Man wählte dazu einen geschliffenen Krystall, der von schwarzem Tuchstoff umgeben war und so gestellt wurde, daß keine scharfen Reflexe, weder von den Fenstern noch von den Gegenständen in der Stube her, von ihm aufgefangen werden konnten. Es hat sich herausgestellt, daß nicht jeder beim Krystallschauen Visionen bekommt; am empfänglichsten dafür zeigten sich Damen.

Dr. Alfred Lehmann, Direktor des psychophysischen Laboratoriums an der Universität Kopenhagen, hat in seinem sehr empfehlenswerten Werke „Aberglaube und Zauberei“ (Stuttgart, Ferdinand Enke) eine zusammenfassende Würdigung jener Versuche veröffentlicht.

Der Charakter der Visionen ist demnach verschieden. Bisweilen sind die Bilder so lebhaft, daß sie das Gepräge von Sinneswahrnehmungen haben. Da ihre Größe aber durch den Krystall bestimmt wird, in dem sie sich zeigen, so wird man sie selten mit der Wirklichkeit verwechseln. Bisweilen fehlen die Farben, so daß die Gesichte mehr Zeichnungen oder Photographien als Malereien gleichen.

Schaut man auf den Krystall, ohne den Wunsch, etwas Bestimmtes zu sehen, so treibt die Phantasie ihr Spiel; Geschichten, die man vorher in Büchern gelesen hat, spielen sich vor den Augen des Visionärs in dramatischer Form ab. Bemerkenswert ist es nun, daß bei solchen Versuchen völlig vergessene Vorstellungen auftauchen oder unwesentliche Erlebnisse, die gar nicht oder nicht klar zum Bewußtsein gekommen sind, in den Visionen erscheinen.

Eine sehr fleißige und geübte Krystallvisionärin ist Miß Goodrich, welche als „Miß X“ ihre Wahrnehmungen beschrieben hat. Unter anderem berichtet sie über folgenden Vorfall:

„Ich sehe im Krystalle ein Stück einer dunklen Mauer, von einem weißen Jasminstrauch bedeckt, und frage mich: ‚Wo kannst du dies gesehen haben?‘ Ich entsinne mich nicht, an einem solchen Platze, der doch in den Straßen Londons nicht gerade häufig zu finden ist, gewesen zu sein, und nehme mir vor, morgen denselben Weg zu gehen, den ich heute ging, und auf solche Mauer achtzugeben. Der nächste Tag bringt die Lösung des Rätsels. Ich finde wirklich die Stelle und erinnere mich nun auch, daß ich von einem Gespräche mit einem Begleiter ganz in Anspruch genommen war, als ich am vorhergehenden Tage an der Mauer vorbeiging.“

Miß X ist auch in der Lage, mit Hilfe ihres Krystalls Dinge, die sie vergessen hat, sich wieder zu vergegenwärtigen. Hier sei nur ein Beispiel dieser Art erwähnt:

„Aus Nachlässigkeit hatte ich einen Brief fortgeworfen, ohne mir die Adresse des Absenders zu merken. Ich erinnerte mich, in welcher Gegend des Landes er wohnte, und beim Nachsehen auf einer Landkarte fand ich auch den Namen der Stadt, den ich freilich vergessen hatte, der mir aber wieder einfiel, als ich ihn auf der Karte erblickte. Aber für den Namen der Straße oder des Hauses hatte ich absolut keinen Anhaltspunkt. Da bekam ich die Idee, meinen Krystall auf die Probe zu stellen, und richtig, nach kurzer Zeit zeigte sich mir in grauen Buchstaben auf weißem Grunde das Wort ‚Hibbs House‘. In Ermangelung einer besseren Auskunft wagte ich, meinen Brief mit dieser Adresse, zu der ich auf etwas ungewöhnliche Weise gelangt war, zu versehen. Wenige Tage nachher bekam ich Antwort; oben auf dem Bogen stand mit grauen Buchstaben auf weißem Papier ‚Hibbs House‘.“

Wir wissen nun aus anderen Versuchen, daß Erlebnisse, die jemand vergessen hat, oder ganz flüchtige Eindrücke, die gar nicht zum Bewußtsein gekommen sind, mitunter im gewöhnlichen oder häufiger noch im hypnotischen Schlaf wieder auftauchen. Man hat aber auch gefunden, daß die Krystallomantiker der Gegenwart beim Anstarren der blanken Flächen in einen der Hypnose ähnlichen Zustand verfallen; Miß X zeigte oft während ihrer Visionen einen starren Blick und war unempfänglich für äußere Reize.

Irgend einen Wert für das praktische Leben hat das Krystallschauen nicht. Als Mittel, sich vergessener Dinge wieder zu erinnern, ist es nicht immer zuverlässig und dabei so zeitraubend, daß es nur von Leuten geübt werden kann, die viel Muße haben. Unter der Leitung sachverständiger Leute bieten aber diese Versuche die Möglichkeit, ungewöhnliche Seelenzustände zu erforschen. Bei scharfer, vorurteilsloser Prüfung erweisen sich alle jene Visionen als durchaus natürliche Vorgänge, als Erinnerungs- oder Phantasiebilder, die der Krystallbeschauer mehr oder weniger bewußt selbst hervorruft. Nichts ereignet sich dabei, was den Forscher zu der Annahme zwingen könnte, daß bei Anwendung von Zauberbechern, magischen Spiegeln oder Krystallen übersinnliche oder übernatürliche Kräfte sich geltend machen. C. Richter.     


Das Schweigen im Walde.

Roman von Ludwig Ganghofer.
(8. Fortsetzung.
14.

Warm und goldig leuchtete die Mittagssonne in das weiße Zimmer. Mit glühendem Gesichtchen lag der kleine Patient in den Kissen, nachdenklich und verträumt. So viel auch die beiden anderen plauderten, die an seinem Bette saßen – der Knabe sprach kein Wort, er lauschte nur. Und wenn ihn die Schwester fragte: „Warum bist du so still, Bubi? Hast du Schmerzen?“ … dann schüttelte er den Kopf und sah sie mit glänzenden Augen an.

„Nein, Lo’! Mir ist so gut … ich kann dir gar nicht sagen, wie gut mir ist!“

Nebenan, im Wohnzimmer des Fürsten, deckte Martin den Tisch für das Dejeuner – das hatte Ettingen so angeordnet, damit Lo’ in der Nähe des Bruders bleiben konnte. Lautlos verrichtete der Lakai seine Arbeit und lauschte dabei mit seinen geübten Fuchsohren auf jedes Wort, das im anstoßenden Zimmer gesprochen wurde. Doch er hörte nichts, was er sich für seine

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Hans Joachim von Zieten.
Nach der Zeichnung von Adolph Menzel, Verlag von R. Wagner in Berlin.



„getreuen“ Zwecke hätte ad notam nehmen können. Da wurde, bald mit ruhigem Ernst, bald wieder mit heiterem Geplauder, in das sich oft ein helles, klingendes Lachen mischte, von Natur und Kunst gesprochen, von Leben und Menschen, von Dorf und Stadt, vom Sebensee und dem schönen Leutascher Thal, von einem sonnigen Morgen und einer stürmischen Nacht. Aber so unverfänglich auch für Martins Ohren all diese Gespräche waren – er zog doch immer wieder die Brauen hoch und lächelte so sonderbar, so wissend. Der Ton machte für ihn die Musik. Denn wovon diese beiden Stimmen auch immer sprechen mochten, immer hatten sie einen so seltsam innerlichen Klang, als läge in jedem gesprochenen Wort noch etwas Unausgesprochenes und heimlich Verborgenes. Und solch eine trauliche Wärme konnte nur in den Stimmen zweier Menschen atmen, von denen der eine die Nähe des anderen wie blühendes Glück empfindet und wie reine Freude genießt. –

Als der Tisch bereit stand, wartete Martin mit der Uhr in der Hand. Punkt ein Uhr trat er mit Würde einen Schritt über die Schwelle des anstoßenden Zimmers und meldete, daß angerichtet wäre.

Ohne das Geplauder zu unterbrechen, erhob sich Ettingen [282] und reichte Lo’ den Arm. Bei der Thür nickte er dem Knaben lächelnd zu. „Adieu, Bubi, für ein halbes Stündchen! Laß dir die Zeit nicht lang werden … ich sorge schon für dich!“

Als sie ins Wohnzimmer traten, sah Ettingen den Tisch an und fragte erstaunt: „Aber Martin? Da sind ja nur drei Gedecke? Und wo ist der Förster?“

Keine Miene zuckte in dem ernsten Gesicht des Lakaien. „Ich dachte … doch wenn Durchlaucht befehlen …“

„Natürlich! Lege noch ein Gedeck auf und dann rufe den Förster!“ Ettingen ging mit Lo’ zum Tisch. Da sah er auf dem Gesims des Waffenschrankes ein Bild stehen, in olivgrünem, von matten Goldfäden durchzogenem Rahmen – die mit zarten Farben überhauchte Radierung nach dem Böcklinschen Gemälde.

„Ach, mein ‚Schweigen‘! Wahrhaftig! Da hab’ ich es!“ rief er mit erregter Freude. „Martin? Wann ist das Bild gekommen?“

„Gestern, Durchlaucht. Ich hab’ es ausgepackt … aber da ich nicht wußte, welchen Platz Durchlaucht für das Bild befehlen, hab’ ich es einstweilen hierher gestellt.“

„Gut! Ja! Ich danke dir, Martin!“

Der Lakai verließ das Zimmer.

Ettingen rückte das Bild ein wenig gegen das Fenster, damit es in besserem Lichte stünde. Dabei sah er nicht, daß es über Lolos Züge wie ein Schatten von Wehmut ging, als hätte der Anblick dieses Bildes eine schmerzliche Erinnerung in ihr geweckt.

„Sehen Sie, Fräulein … ein Bild, das ich liebe! Das Schweigen im Walde, von Meister Böcklin.“

Lo’ nickte.

Eine Weile standen sie beide wortlos in die Betrachtung des Bildes versunken. Dann sagte Ettingen: „Nicht wahr, ein herrliches Bild? Wie das redet in seiner Ruhe, in der Fülle seiner stummen Gedanken!“

„Ja! Das Kunstwerk eines Meisters, der nicht nur zeigen will, der auch viel zu sagen hat!“

„Und wie wenig er braucht, um viel zu sagen! Dieses karge Waldfragment – man sieht nur einige Baumstämme, fast ohne Aeste, und dennoch glaubt man den ganzen, tiefen, vielhundertjährigen Wald zu sehen. Und dieser Gegensatz der Beleuchtung: hier im Walde das Dunkel des Abends, fast schon die Nacht, und draußen in der Ferne noch der leuchtende Himmel – und sehen Sie nur, hier, diese paar kleinen und scheuen Lichter, die von draußen hereinschleichen durch die dichten Zweige … sind die nicht wie sehnsüchtige Gedanken? Wie die heißen Wünsche eines Menschen, der das grelle Licht und den wirren, schmerzenden Lärm des Tages satt bekam und nach Frieden verlangt, nach Ruhe, nach stiller Schönheit! Und wie reich der Wald das alles giebt! Ich hab’ es ja doch erlebt, an mir selbst! Dieses Schweigen im Walde, wenn draußen der schwüle Tag versinkt … wie das heilt! Wie das beruhigt! Wie schön das ist! Man hört keinen Laut, man sieht nur … und dennoch fühlt man, als hätte dieses Schweigen hundert Stimmen – jede redet zu uns und sagt uns ein neues Wort! Wie muß der Künstler allen Zauber der Waldesstille empfunden haben, um ihn so überzeugend zu verkörpern: in der ernsten Schönheit dieser Waldfee, die auf dem Einhorn reitet … gerade auf dem Einhorn! Hat dieses Tier nicht etwas Urweltliches an sich … gerade so, wie der Wald, wie alles Werden und Wandern in der Natur? Und sehen Sie nur: wie dieses Horchen auf das Ewige, das aus dem Schweigen des Waldes flüstert, wie dieses träumende Märchenlauschen aus den schönen Augen der Waldfrau redet …“

„Das? Eine Waldfrau? Eine Verkörperung aller Schönheit des von Ruhe erfüllten Waldes? Meinen Sie?“ fragte Lo’ mit beklommener Stimme. „Das kann ich nicht glauben! Nein! Ich habe das Gefühl, daß Sie in dieses Bild etwas hineinlegen, das aus Ihnen kommt … und das ist milder und freundlicher als der Gedanke dieser Gestalt. Der ist viel strenger. Ich meine, daß sich der Künstler dachte: das ist die Natur, die Natur selbst! Jetzt ruht sie und hat die Hände im Schoß … und betrachtet, was sie in den hundert Jahren, die bei ihr eine Minute heißen, geschaffen hat. In solcher Ruhe kann ihr Auge so schön blicken, so träumerisch und sinnend. Aber …“

„Ein Aber?“ fiel ihr Ettingen mit lächelndem Schreck ins Wort. „Fräulein Lo’ … ich warne Sie! Ueber diese Augen dürfen Sie mir nichts Böses sagen. Ich habe dieses Bild da immer bewundert … aber um dieser Augen willen hab’ ich es liebgewonnen. Den Blick solcher Augen … den hab’ ich gesehen, in Wirklichkeit! Den hab’ ich erlebt! Ich selbst! An diese Augen glaub’ ich ... sie sind so schön! … Aber nein! Schweigen sollen Sie deshalb nicht! Sprechen Sie, ich bitte … was wollten Sie sagen?“

Sie war befangen und vermochte nicht gleich zu sprechen. „Ich meine … gewiß, diese Augen sind schön, jetzt in der Ruhe, in dem Wohlgefallen, das die Natur an ihrer eigenen Schöpfung empfinden muß! Aber sehen Sie den Körper dieses Weibes an! Dieses Uebermenschliche an ihm! Diese ruhende Kraft! Und dieses Gesicht – es hat fast männliche Züge. Und um diesen herrischen Mund liegt etwas Gewaltthätiges und unerbittlich Grausames … es ist nur jetzt in der Ruhe gemildert … aber man fühlt es doch! Und das mußte der Künstler so zeigen … denn die Natur ist grausam, wenigstens im Sinne von uns Menschen, die wir den Schmerz so schwer ertragen, die wir leiden, wenn wir ein Herz brechen und ein Leben erlöschen sehen. Aber an der Natur ist das eine Eigenschaft wie die Schönheit, wie die Kraft, wie jede andere. Die Natur muß grausam sein, wenn sie das Verbrauchte beseitigen und das Neue schaffen, wenn sie bestehen und nicht altern will. So schön die Natur auch in der Ruhe sein kann … es redet doch immer etwas aus ihrem Gesichte zu uns wie eine unheimliche Drohung! Und so wirkt auch dieses Bild auf mich … es erweckt ein Gefühl in mir, wie Angst … wie das Bangen vor einer Gefahr, an die ich nicht glauben kann, weil ich so viel Schönheit sehe, und die mir doch schon nah’ ist!“

Sinnend betrachtete Ettingen das Bild. „Ja, Sie haben recht … jetzt, da Sie es gesagt haben, fühl’ ich es auch … Ihre Auffassung ist die richtige! Dieser harte, herb geschlossene Mund … wie der redet! Als ob er sagen möchte: sieh her, wie viel Schönheit dich umgiebt, in der Ruhe des Waldes, aber dieses lächelnde Träumen, das wird nicht mehr lange dauern … Komme nur morgen wieder, und was du heute noch siehst, das alles wird morgen verschwunden sein, gefallen im Sturm, versunken in Asche … Ja, sehen Sie nur, dieser Baum hier … der hat schon eine Wunde wie von einem Steinschlag … der Baum muß sterben! Und das Eichhörnchen, das über den Stamm hinaufklettert, wie in Schreck und Angst … ich habe nie recht begriffen, was der Künstler mit diesem Tierchen eigentlich wollte … aber jetzt versteh’ ich es! Das kleine Ding empfindet die Gefahr, die aus dem schweigenden Gesicht der Natur zu ihm redet, und weiß in seiner dunklen Angst nicht, wohin es sein winziges Leben flüchten soll! … Armes Geschöpf!“ Er schwieg eine Weile, dann sagte er plötzlich: „Schade! Da Sie den Gedanken dieses Bildes so tief erfassen … wie müßte erst das Original auf Sie wirken, mit der Kraft seiner Farbe …“

„Das hab’ ich gesehen!“

„Fräulein! Wirklich? Wo haben Sie das Bild gesehen? Und wann?“

„Vor vier Jahren, im Sommer, als Papa mich mit nach München nahm, um die Ausstellung im Glaspalast zu sehen. Da war auch dieses Bild dort … und noch drei andere Werke Böcklins, das ‚Schloß am Meer‘, die ‚Toteninsel‘ und das ‚Spiel der Wellen‘.“

„Welchen Eindruck müssen diese Bilder auf Sie gemacht haben!“

„Ja! Ich habe jenen Tag noch heute so in Erinnerung, als hätt’ ich ihn erst gestern erlebt.“ Lo’ strich mit der Hand über die Augen, und ihre Stimme wurde leiser. „Und … ich denke nicht gerne an jenen Tag … es knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir wehthut.“

„Fräulein?“

„Als Papa diese Bilder sah, wurde er so seltsam still … und dann nahm er meine Hand, drückte sie, daß es mich schmerzte, und sagte: ‚Sieh her, Lo’ … was ich immer willder da, der kann es! Das ist ein Großer! Das ist Kunst!‘ Dabei hatte er Thränen in den Augen, und sein Gesicht war so vergrämt, so trostlos … er hat lang’ gebraucht, um das zu überwinden.“ Erregt und mit feuchtem Blick sah Lo’ zu Ettingen auf. „Aber nicht wahr … daß er so gering von seiner eigenen Kraft und so groß von dem Können des anderen denken konnte … das spricht doch für ihn selbst? Hochmütig ist nur der Stümper, und nur der Unfähige kann Neid empfinden. Nur wer selbst in sich das [283] rechte, heilige Feuer brennen fühlt … nur der kann mit neidloser Bewunderung zu der reicheren Kraft eines Größeren aufblicken!“

Ettingen hörte nur halb, was sie sagte. Er sah nur ihre Augen, und dieser feuchte Blick, dieses Erregte und Beklommene ihres ganzen Wesens, das machte ihn verwirrt und schmerzte ihn, so daß er nach einem Worte suchte, das sie beruhigen könnte: „Ihr Vater hatte unrecht, sich so klein zu fühlen! Und ich bin überzeugt … ein Bild wie dieses hier, das hätte auch Ihr Vater schaffen können, der die Natur so sehr verstand … gerade Ihr Vater … wenn auch in anderer Form, aber doch mit dem gleichen, künstlerischen Wert, mit der gleichen Fülle der Gedanken!“

„Mit dem gleichen Gedanken?“ Sie schüttelte den Kopf und sagte nachdenklich: „Mein Vater! Nein! Er war doch in all seinem Wesen ein so ganz anderer! In allen Bildern Böcklins liegt etwas Herbes und Unerbittliches – bei aller Schönheit, die er schuf. In ihm ist ein Stück Natur, die das Schöne nur erschafft mit dem Gedanken an die Zerstörung, der es verfallen muß. Sehen Sie nur dieses Bild an … kommt es Ihnen nicht vor, als ob dieses Weib uns sagen möchte: ‚Sieh her, kleiner Mensch, wie groß und stark ich bin! Ich zwinge das wilde Tier, das mich tragen soll, wohin es mir beliebt. Willst du herrschen und ein König deines Lebens werden, dann mußt du sein wie die Natur ist, stark und rücksichtslos!‘ … Nein! Das ist ein Gedanke, den mein Vater als Künstler nicht aussprechen konnte.“

„Auch nicht als Mensch!“ fiel Ettingen ein, mit einer Wärme, die nicht nur aus seiner Stimme, auch aus seinen Angen redete. „Sie haben recht! Was ich vorhin sagte, das war ein thörichtes Wort … und vielleicht auch ein wenig unehrlich! Ich wollte Ihnen über eine schmerzliche Stimmung hinweghelfen und sehe nun ein, daß Sie so überflüssiger Hilfe nicht bedürfen. Ihr Vater, ja … der war ein so ganz anderer als der Große, der dieses Bild da schuf. Aber deshalb ist er nicht der Kleinere und Schwächere gewesen. Und dieses Wort, liebes Fräulein, das ist ehrlich! Das ist mein Glaube, den ich von Ihrem Vater habe. Ich unterschätze den Wert der Kraft nicht, weder im Leben noch in der Kunst … es ist etwas Schönes um die Kraft, die sich den Sieg erzwingt, und die Herrschaft über die kleinen Geister! Aber Sieg, das ist auch Glück … und Glück hat nicht jeder, der es verdient. Und solche Mißgunst der launischen Göttin mit einem stolzen Lächeln zu verwinden, wie das Ihr Vater konnte … alle Enttäuschung des Lebens zu erfahren und doch dem Leben so gut zu sein, für allen Schmerz die Versöhnung zu finden ... als Künstler die Anerkennung der Welt entbehren zu müssen und doch sich selbst getreu zu bleiben … wer das vermochte, in dem war Kraft, die noch höher wiegt als aller Erfolg einer starken, rücksichtslosen Faust, aller Ruhm eines Sieges!“

Wie freudig und dankbar sie zu ihm aufblickte! „Ja! Getreu! Sich und denen, die er liebte … das ist er geblieben! Immer!“

„Jetzt lächeln Sie wieder!“ Er atmete auf und nahm ihre beiden Hände. „Aber das Bild dort ... das wollen wir gegen die Wand drehen …“

„Weshalb?“

„Es hat in Ihnen die Erinnerung an einen Kummer Ihres Vaters geweckt … und ich weiß nicht, was ich dafür gäbe, wenn Sie das Bild nicht bei mir gesehen hätten! Aber … wissen Sie, weshalb ich es kommen ließ?“

„Weil es schön ist! Weil Sie es lieben!“

„Falsch geraten! Nein! Weil meine erste Begegnung mit Ihnen mich an dieses Bild erinnerte … Da draußen, im Tillfußer Forst! Wissen Sie noch? Jener stille, wundervolle Abend im Schweigen des Waldes ... wie Sie damals so geritten kamen ... und ihre Augen, die so tief und ruhig blickten … wie schön das war! Und weil ich das wiedersehen wollte, nur deshalb hab’ ich das Bild da kommen lassen, an das mich unsere Begegnung erinnerte. Aber dieses Bild? Nein, das ist etwas anderes, als was ich gesehen habe! Sie hatten recht … ich habe in die Auffassung dieses Bildes etwas hineingetragen, das in mir ist … das ist freundlicher und milder, ja … das ist so, wie Sie sind … und diese Erinnerung, die in mir ist, die tausch’ ich nicht um alle Schönheit und künstlerische Größe dieses Bildes da!“

Wortlos stand sie vor ihm, von dunkler Glut übergossen.

Da tappte der Förster ins Zimmer mit seinen schwer genagelten Schuhen, und als er sah, daß Ettingen die Hände des Mädchens in der seinen hielt, sagte er lachend: „No also, da kann ich ja gleich auch gratalieren, daß die G’schicht da draußen im Griesfeld heut’ so glimpflich ab’gangen is!“ Während die beiden anderen schwiegen, schwatzte er unverdrossen weiter, pries den „guten Schutzengel“, den der „kleine Herr Petri“ haben müsse, und rief dem Knaben von der Schwelle des Schlafzimmers ein paar lustige Worte zu. Aber bei all seiner Freude, die er über den glücklichen Ausfall der „G’schicht“ zum besten gab, fuhr ihm doch immer wieder der Gedanke an die „ausg’rutschte“ Treibjagd durch den Kopf, die ein Ende genommen hatte „wie das Hornberger Schießen“. Als man sich zu Tisch setzte, sang er noch immer dieses lange Lied seines Jägerschmerzes: „Drei Hirsch’! Sakra, sakra! Drei Hirsch’ hätten wir heut haben können! Und was für Hirsch’! Drunt’ in der Hütten hockt der Pepperl … der arme Kerl macht ein’ Kopf hin … so hab’ ich ihn meiner Lebtag’ noch net g’sehen! Wie der sich kränken muß um die drei Hirschen … das muß schon schauderhaft sein! Aber Ihnen, Duhrlaucht, Ihnen merkt man gar nix an! Sie müssen die drei Hirschen leicht verschmerzt haben!“ Er fuhr sich mit der Serviette über den Schnauzbart und lachte. „G’wiß wahr, Duhrlaucht, wenn man Ihnen so anschaut … gleich juchezen möcht’ man! Ausschaun thun S’ wie’s Leben auf der Kirchweih, und die helllichte g’sunde Freud’ lacht Ihnen aus’m G’sicht und aus die Augen ’raus! Gelten S’, Duhrlaucht, das müssen S’ einb’stehn: unser Lüftl daheraußen, das schlagt Ihnen an!“

„Ja, lieber Förster! Hier bin ich gesund geworden an Leib und Seele! Glücklich und froh! Ich habe keinen Wunsch mehr, als nur den einen, daß dieser Sommer kein Ende nehmen möchte! Erinnern Sie sich noch … neulich, als wir zusammen nach Leutasch gingen … wie Sie mir da die Heilkraft des Bergwaldes gepriesen haben? Das hat sich erfüllt an mir! Der Wald hat mich geheilt!“

„Gelten S’! Gelten S’! Hab’ ich’s net g’sagt! Unser Wald! Ui jögerl, unser Wald! Was der alles kann! Duhrlaucht … den müssen wir leben lassen! Unser Wald soll leben! Unser Wald!“ Lachend hob Kluibenschädl das Glas und stieß mit dem Fürsten an. „Aber was is denn, Fräul’n Lo’? Haben S’ denn net g’hört? Der Wald soll leben! Der is ja doch eh’ Ihr ganze Freud’! Wär net ohne, wenn Sie da net mitthäten! Was is denn? Was haben S’ denn? Warum sind S’ denn so mäuserlstad? Und heiß muß Ihnen sein! Sakra, sakra! Sie brennen ja wie’s Kerzl vor der Muttergottes! Soooo! Schön ’s Glaserl nehmen! Schön anstößen! Derrrr Wald soll leben!“ Die Gläser klangen hell zusammen, und das heitere Lachen wandelte sich zu einem froh belebten Geplauder, das die ganze Mahlzeit begleitete. Der Förster, in seiner vergnügten Laune, die der Wein noch steigerte, begann allerlei drollige Schnurren auszukramen, und dazu schmauste er mit so gesundem Appetit, daß die Platten leer wurden, obwohl ihn seine beiden Tafelgenossen bei diesem „Schönwettermachen“ recht mangelhaft unterstützten. Sie tranken auch kaum einen Tropfen, diese beiden, und dennoch waren sie in einer Stimmung, als wäre ihnen das Feuer eines köstlichen Trankes ins Blut gedrungen.

Immer wieder erhob sich Ettingen, um nach dem kleinen Patienten zu sehen und jeden Teller zu begleiten, den Martin ins weiße Zimmer trug. Kam Ettingen von solch einem Besuch zurück, so gab er lachend das Bulletin aus: „Fortschreitende Besserung; der hohe Kranke erfreut sich eines gesegneten Appetits.“

Als das Dessert genommen war, verabschiedete sich der Förster mit einem großen Kompliment und einem kleinen Schwips. Martin brachte die Post, aber Ettingen sagte: „Das hat Zeit, lege nur alles auf den Schreibtisch hinüber!“

„Es ist eine Depesche dabei, Durchlaucht!“

„So gieb sie her!“ Ettingen nam das Couvert und fragte Lo’: „Wenn Sie erlauben?“

„Aber ich bitte!“

Als er die Depesche öffnete und die vier eng beschriebenen Blätter sah, meinte er lachend: „Das? Eine Depesche? Nein, das ist ja ein Brief!“ Kaum hatte er zu lesen begonnen, als er in freudiger Erregung zu dem Mädchen aufblickte: „Und das muß heute kommen! Gerade heute!“

„Sie haben eine gute Nachricht erhalten?“

„Eine gute nur? Mehr als das! Eine Nachricht, die mir [284] Freude macht … doppelte Freude, weil sie gerade heute kam! Jetzt, während Sie bei mir sind! Denn diese Nachricht, Fräulein …“ er war so bewegt, daß er kaum zu sprechen vermochte, „das ist eine Freude für Sie! Eine große, große Freude! Hören Sie!“ In heißem Eifer schob er alles beiseite, was vor ihm auf dem Tische war, und faßte Lolos Hand. „Hören Sie nur! Eine Nachricht über Ihren Vater! Aber bevor ich lese … ich muß Ihnen doch sagen, wie ich zu dieser Nachricht komme! Damals, als ich Sie kennenlernte … an jenem Morgen, draußen beim Sebensee, unter seinem klingenden Baum und bei seinen Blumen … damals sprachen wir doch so viel von Ihrem Vater. Das alles weckte in mir solche Teilnahme für sein Schicksal und seine Kunst, daß ich noch mehr von ihm hören wollte … und als ich heimkam, depeschierte ich an einen Freund in Wien, mir alles mitzuteilen, was er über Emmerich Petri erfahren könnte. Und das ist die Antwort!“

Zitternd saß sie vor ihm, mit den Augen in banger Spannung an seinen Lippen hängend.

Ohne ihre Hand zu lassen, begann er zu lesen: „‚Mein lieber Heinz ...‘“

„Heinz? Das ist Ihr Name?“

„Ja! … ‚Mein lieber Heinz! Der Kunstaugur, dem ich die Nachforschungen nach Deinem Emmerich Petri übertrug, war soeben bei mir. Da Deine Anfrage etwas so merkwürdig Dringendes hatte, nehme ich in meiner Freundschaft für Dich einen Anlauf zur Verschwendung und depeschiere Dir ein ganzes Kapitel moderner Kunstgeschichte. Dein Petri stammt aus einer Algäuer Bauernfamilie, verlor als Knabe die Eltern und bekam zum Vormund einen Pfarrer, der den Erlös des kleinen Bauerngutes auf den Acker der Kirche säen wollte und den begabten Jungen in eine geistliche Präparandenschule steckte. Mit 19 Jahren, kurz vor der Ausweihung, lief Petri der frommen Gesellschaft davon. Er wollte Künstler werden und besuchte zwei Jahre die Münchener Akademie. Seine Professoren sprachen ihm alles Talent ab und meinten, er hätte klüger gethan, Kaplan zu werden. Mit zähem Ehrgeiz stellte er sich auf freie Füße, ging seine eigenen Wege, arbeitete mit eisernem Fleiß und begann ein paar Jahre später im Münchener Kunstverein auszustellen, ganz merkwürdige Bilder, seltsam in Technik und Farbe, befremdend durch ihre Gedanken, kindlich und kühn zugleich, mit einer Vorliebe für fabulöse und didaktische Stoffe, in denen sich Hellenismus und freidenkendes Christentum eigenartig verschmolzen. Man verstand ihn nicht, schüttelte den Kopf und lachte. Ueber ein Jahrzehnt lang kämpfte der Mann erbittert um Anerkennung, ohne sie zu finden. Schließlich scheint ihn die Geduld verlassen zu haben. Vor etwa vierzehn Jahren wanderte er mit seiner Familie aus München davon, niemand weiß wohin. An seiner Kunst verzweifelnd, scheint er sie aufgegeben zu haben, denn man hat seit jener Zeit kein Bild mehr von ihm gesehen. Und das ist schade, denn seine Zeit wäre jetzt gekommen!‘“

Ettingen unterbrach sich, drückte Lolos Hand und stammelte in Erregung: „Seine Zeit! Hören Sie, Lo’ … hören Sie!“

Ein Lächeln irrte um ihren Mund; sie konnte nicht sprechen und nickte nur.

Mit fliegender Stimme las er weiter: „‚Seine Zeit wäre jetzt gekommen! Das ganze Unglück dieses Mannes war, daß er um zwanzig Jahre zu früh geboren wurde, und daß er mit den Anfängen seiner eigenartigen Kunst in eine Zeit der ausgetretenen Geleise kam. Aber diese Zeit hat sich geändert, gründlich, und heute verlangt man von der Kunst vor allem Persönlichkeit. Da kommt nun gerade jener zur stärksten Geltung, der mit ernstem Schaffen seine eigenen Wege geht und sich vom Gesicht der Durchschnittsmacher unterscheidet. So hat sich das Verständnis der ganzen Welt für Böcklin erschlossen, und der Meistertitel wird vor Namen gesetzt, zu denen vor einem Jahrzehnt noch alle Welt den Kopf schüttelte. Einer von diesen spät Erkannten ist Hans Thoma, der auch die Spießrutengasse des Münchener Kunstvereins kennenlernte, und den sie heute mit Ehrsucht den ‚tiefen Träumer‘ nennen. Vor zwei Jahren, in einer kritischen Beleuchtung Thomas, erinnerte sich zum erstenmal ein Münchener Kritikus an einen ‚Vorläufer des Meisters‘ – an Emmerich Petri. Immer häufiger wurde in der letzten Zeit dieser Name genannt. Von Kunsthändlern wurde das eine und andere seiner Werke ausgegraben und wanderte von Stadt zu Stadt. Im vorigen Sommer erfuhr man, daß ein Frankfurter Mäcen, dessen Spezialität das Sammeln künstlerischer Originalitäten ist, im Besitze einer aus 27 Bildern bestehenden Kollektion des neuerkannten Meisters wäre, und im Herbst, Ende September, wurden diese Bilder zu einer ‚Separatausstellung von Werken Emmerich Petris‘ nach Berlin gebracht, um die ganze Berliner Kunstwelt in Aufruhr und Begeisterung zu versetzen.‘“ Ettingen vermochte nicht weiter zu lesen.

Regungslos, wie versteinert saß das Mädchen. Nur in ihren Augen war Leben, und mit tonloser Stimme flüsterte sie vor sich hin: „Im Herbst … Ende September …“

Um diese gleiche Zeit war jener Wolkenbruch in der Leutasch niedergegangen, zwei Tage und Nächte hatte Emmerich Petri gearbeitet „wie ein Holzknecht“ und hatte die Rettung von ein paar armseligen Hütten mit seinem Leben bezahlt.

„Im Herbst! Ende September!“

Ettingen empfand die Tragik dieses Wortes, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt, so daß er mit Gewalt seine Stimme zwingen mußte, um lesen zu können.

„‚Diese Ausstellung war ein Erfolg, so einstimmig, wie er noch selten einem Künstler zu teil wurde. Dem Frankfurter Sammler, der diese Bilder vor fünfzehn und zwanzig Jahren um eine Bagatelle erworben hatte, wurden hohe Summen geboten, aber der Mann war stolz auf seinen Besitz und verkaufte nicht ein einziges Bild. Alle Journale brachten ausführliche Besprechungen des Meisters, man bezeichnete ihn als eine an Gedankentiefe mit Böcklin verwandte Natur, als dessen milderen Bruder – Böcklin wäre die strenge Kraft, Petri die träumende Liebe. Und überall die Frage: Wo ist dieser Mann? Wer weiß von ihm? Wo lebt er?‘“ – Erschrocken legte Ettingen die Blätter nieder. „Fräulein!“

Blaß und an allen Gliedern zitternd hatte sich Lo’ erhoben, als wär’ es über ihre Kraft gegangen, dieses letzte Wort zu hören. Ein Sturz von Thränen brach ihr aus den Augen, mit einem Schluchzen, das ihren Körper schüttelte wie Frost.

„Fräulein! Ach du allmächtiger Gott! Ich bitte Sie, liebes Fräulein …“ Ettingen trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern wie ein Bruder, der die Schwester beruhigen will. Sie schien in diesem Sturm von Erregung nichts anderes zu denken als nur das eine: er fühlt mit mir, er will mich trösten – und da überließ sie sich willenlos seinem Arm, und weinend barg sie das Gesicht an seiner Brust.

Aus dem anstoßenden Zimmer klang mit erschrockenem Ton die Stimme des Knaben: „Lo’! Ach Gott, Lo’! Was hast du? Warum weinst du denn? … Aber ich bitt’ dich, so sag mir doch ... Lo’! Was hast du denn?“

„Sorg’ dich nicht, Bubi!“ rief Ettingen. „Was deine Schwester weinen macht … das ist Freude!“ Er streichelte mit scheuer Hand ihr schimmerndes Haar, richtete sie auf und sagte leis: „Ja, Lo’ … das muß Freude sein! Freude über die Anerkennung, die Ihr Vater gefunden. Aber ich verstehe Ihr schönes, kindliches Gefühl so gut … Ihre Freude mischt sich in dieser Stunde mit dem schmerzvollen Gedanken, daß Ihr Vater den Lohn seines Schaffens nicht mehr erleben konnte, daß er sterben mußte, bevor ihm die Welt den verdienten Lorbeer reichte. Aber denken Sie doch, wie er starb! Das muß Ihrem Herzen sagen, daß er die Augen nicht geschlossen hat, ohne tief in seinem Innersten zu glauben: ich habe nicht umsonst gewirkt, ich kann nicht sterben, ich werde weiterleben! Sonst hätte er die Welt nicht so verlassen können, mit dieser Ruhe, mit diesem Lächeln, mit diesem letzten Wort: ‚Meine Blumen!‘ Das galt nicht nur den Blumen da draußen am See … dieses Wort hat allem gegolten, was aus der Tiefe seiner Seele heraufblühte und reines, köstliches Leben wurde. Das wird seinen Namen tragen, das wird dauern als eine Freude für die Menschen! Ihr Vater ist nicht gestorben: er lebt! … Nein, Lo’, Sie dürfen nicht weinen! Sie müssen sich aufrichten und stolz sein auf Ihren Vater, stolz auf den Namen, den er Ihnen gab und dessen Sie würdig sind … dieser Name ist Adel, wie ich besseren nicht kenne!“

Aus Thränen blickte sie zu ihm auf. Wie schön sie war – mit diesen flammenden Wangen, im Schmuck dieser leuchtenden Perlen, in diesem Lächeln, mit dem sie den ersten erschütternden Schmerz überwand und schon die Versöhnung fühlte, den Stolz

[285]

Fahrschäfer auf der Schwäbischen Alb.
Nach dem Gemälde von H. Zügel.

[286] und die Freude! Lange sah sie ihn schweigend an, als müßte sie erst ihre Gedanken sammeln, bevor sie sprechen konnte.

„Wie gut Sie mit mir sind! … Und ich stehe so arm vor Ihnen, so schwach … in meinem Schmerz zuerst … und jetzt in meiner Freude! Fast versteh ich das nicht! Diese Nachricht hätte mich ruhiger finden sollen … stark und stolz! Was mein Vater war, das hab’ ich doch immer schon gewußt! Das hat mir doch nicht die Welt erst sagen müssen! Liegt denn der Wert eines Menschen im Erfolg bei der Welt? Und ich glaube, zu jeder anderen Zeit, wann und wie diese Nachricht auch gekommen wäre … ich hätte nur lächeln können und sagen: ‚Wißt ihr es nun auch – ich hab’s schon immer gewußt!‘ Und nun hat es mich doch so überwältigt … als wär’ ich eine ganz andere geworden, ich weiß nicht, seit wann … als wäre etwas in mir, über das ich keinen Willen und keine Macht mehr habe … und das versteh’ ich nicht … das macht mich so schwach …“

Ihre Hände zitterten, sie hielt seinen Blick nicht aus, und verwirrte Unruh’ stammelte aus ihren Worten.

„Sehen Sie nur … ich weiß ja kaum, was ich rede … weiß nicht einmal, wie ich dafür danken soll, daß Sie es waren, gerade Sie, von dem ich diese Nachricht hören durfte. Und wenn ich Ihnen sagen könnte …“ ihre Stimme erlosch.

„Mir sagen, was Sie fühlen? Die Freude, die Sie empfinden, könnten Sie mir mit hundert Worten nicht besser sagen als mit diesem Schweigen jetzt!“

„Freude! Ja! Das ist Freude … die sich nicht sagen läßt! Und …“ tief atmend hob sie die Augen zu ihm, „darf ich noch eine Bitte haben?“

„Ob Sie dürfen?“ Er lächelte und drückte ihre Hände.

„Schenken Sie mir diese Blätter!“ Nun kamen ihr die Worte, immer hastiger, in glühender Erregung. „Ich möchte sie meiner Mutter bringen … und möchte heim … zu meiner Mutter! Jede Stunde, um die ich ihr diese Nachricht später bringe, ist eine Sünde an ihr! Ich darf nicht bleiben … schenken Sie mir diese Blätter und lassen Sie mich gehen! Ich bitte …“

„Ja, Fräulein, ja! Nehmen Sie …“ Er reichte ihr die Blätter. „Ich seh’ es doch ein, daß Sie nicht bleiben dürfen … jetzt nicht! Und Ihr Bruder … ich will selbst hinunter und werde sorgen dafür, daß Sie ihn gut und sicher nach Hause bringen … und daß Sie auf dem Heimweg alle Hilfe haben! Bleiben Sie nur bei ihm … ich komme dann schon und hol’ ihn!“ Er drückte noch einmal ihre Hand und eilte davon.

Sie stand und lauschte auf seinen Schritt – und lächelte und preßte die Blätter an ihre Brust.

„Lo’? Soll ich aufstehen? Ich kann schon!“ klang aus dem anderen Zimmer die erregte Stimme des Knaben.

Da flog sie zu ihm, umschlang ihn mit beiden Armen, und wieder kamen ihr die Thränen.

„Ach, Lo’! Um Gotteswillen! Ich bitt’ dich … was hast du denn?“

„Freude hab’ ich! Freude! Nur Freude … daß jetzt die Menschen wissen, was unser Vater war!“

Gustl sah die Schwester mit großen Augen an. „Haben denn das die Menschen nicht schon immer gewußt? Er hat doch die schönen Bilder gemalt! Und ein Bild, das sieht man ja doch! Da muß man doch wissen, daß ein Künstler das gemacht hat!“

„Ja, Kind, wer die rechten Augen hat, der sieht es! Aber weißt du, es giebt auch Menschen, die sehen können und dennoch blind sind! Aber komm, wir müssen heim … zur Mutter heim!“ – –

Als Gustl angekleidet war – am verbundenen Fuß nur den Strumpf, ohne Schuh – versuchte er ein paar Schritte zu gehen. Aber das gelang nicht recht. Da kam auch Ettingen schon zurück, hob den Knaben auf und trug ihn hinunter.

Vor der Thüre, im Hof, stand „Hansi“ schon bereit, gesattelt und mit hochgeschnallten Bügeln. Die Treiber hatten das Gepäck der Geschwister in ihre Rucksäcke genommen und die Almrosen darüber gebunden. Einer trug das Fischnetz mit den sorgfältig in grünes Reis gehüllten Forellen. Auch die zwei Leutascher Jäger waren zum Abmarsch bereit, Kluibenschädl schwatzte und kommandierte mit weinrotem Gesicht, und seitwärts an der Mauer stand Pepperl, schweigsam, die Hände hinter dem Rücken, die gerunzelte Stirn umhangen von aufgedröselten „Kreuzerschneckerln“.

Nur Mazegger fehlte. Drunten in seiner Hütte stand er am Fenster, das aschfahle Gesicht an die Scheibe gedrückt. Als er seinen Herrn, der den Knaben trug, und das Mädchen aus der Thüre kommen sah, trat er mit geballten Fäusten tiefer in die Stube zurück.

Ettingen hob den Knaben in den Sattel und schob ihm die Bügel an die Füße. „Na also, Bubi, jetzt mach’ uns keine Sorgen mehr, und schau, daß du gut heimkommst!“ Er reichte ihm die Hand.

„Ich dank’ schön, Herr Fürst! Sie waren so lieb zu mir! Ich dank’ schön!“

Lachend streichelte ihm Ettingen die Hand. „Dank? Was dir einfällt! Sieh nur, daß du bald wieder springen kannst – das ist mir der liebste Dank! Und wenn es deine Mutter dann erlaubt, dann komm ein paar Tage zu mir auf Besuch ins Jagdhaus! Willst du?“

Gustl wurde rot übers ganze Gesicht. „Wenn Sie erlauben, bin ich schon so frei!“

„Also, auf Wiedersehen!“

Ettingen wandte sich zu Lo’. Inmitten der vielen Leute, die um sie herstanden, schieden die beiden mit einem Händedruck, mit einem stummen Blick.

Ein Jäger sollte den Grauen führen. Aber Lo’ überließ diese Sorge keinem anderen, sie nahm die Zügel selbst.

Während „Hansi“ den Knaben über das Almfeld hinuntertrug, umringt von den schwatzenden Treibern und Jägern, stand Ettingen mit den Armen über den Zaun gelehnt und blickte lächelnd dem kleinen Reiter und seiner Schwester nach.

Den beiden folgten noch zwei andere Augen – aus Mazeggers Hütte – mit einem Blick, in dem die Eifersucht mit drohendem Feuer brannte.

Wo der Pfad vom Almfeld einbog in den Wald, bat Lo’ die Männer, vorauszugehen, damit der Graue in ruhigen Schritt käme. Sie verhielt das Tier eine Weile und blickte mit leuchtenden Augen zum Fürstenhaus hinauf. Da hörte sie den Bruder flüstern: „Du, Lo’? Weißt du, warum er so lieb war zu mir?“

„Weil er gut ist!“

„Ja, schon … aber noch wegen was! Weißt du warum?“

Sie sah zu ihm auf.

„Weil er dich lieb hat!“

Wie eine Flamme schlug es über ihre Wangen, doch heftig schüttelte sie den Kopf.

„Aber ja!“ behauptete Gustl in heißem Eifer. „Hast du denn das nicht gemerkt?“

„Nein, nein, nein …“ stammelte sie erschrocken und zog den Grauen in den Wald.

„Nicht? Das hast du nicht gemerkt? Hör’, Lo’, dann bist du aber auch eine von denen, die sehen können und doch blind sind! Ja! … Sieh nur, Lo’, er schaut dir noch immer nach!“

Längst schon waren sie im dunklen Schatten des Waldes verschwunden – und immer noch stand Ettingen über den Zaun gelehnt. Eine Weile hörte er noch die Stimmen der Männer aus dem Thal herauf. Dann verstummten auch die. Nur der Wildbach rauschte dort unten, sanft und heimlich, durch den Wald gedämpft. Helle, stille Sonne über dem Almfeld, über den Hüttendächern und allen Bäumen. Ein paar silberne Fäden flogen, und schwärmende Insekten huschten gleich winzigen Funken durch die blaue Luft.

Plötzlich ging ein Dröhnen durch das stille Thal hin, wie von einem mächtigen Donnerschlag mit rollendem Echo.

Erstaunt sah Ettingen zum wolkenlosen, sonnigen Himmel auf und über das leuchtende Thal hinaus. Da gewahrte er, daß über dem Wildbach drüben, am Fuß der steilen Hochwand, brauner Staub in dichten Wolken aufwirbelte. Ein Stück der Felswand hatte sich gelöst und hatte eine Zunge des sonnigen Waldes unter Schutt begraben.

„Wie das so kommen kann? Die Zerstörung … so mitten in der Stille, in friedlicher Sonne?“ Mit ernstem Sinnen nickte er vor sich hin, während da drüben der Staub verdampfte. „Das Schweigen im Walde! … Ja! So redet dieses Bild! Sie hat recht gesehen!“

Die Küchenmagd, der Lakai und die Köchin kamen aus dem Haus gerannt, um zu sehen, was es gegeben hätte.

Aber drunten bei der Sennhütte und bei dem Jägerhäuschen, da rührte sich niemand, da trieb die Neugier oder die Sorge [287] keinen vor die Thür – die waren es gewöhnt, daß das so kommt, so plötzlich. Drum hörten sie es kaum.

Kluibenschädl, der sich auf die Matratze gestreckt hatte, um den Wein zu verschlafen, fragte gähnend: „So? Hat’s schon wieder ’kracht?“

„’s wird halt wieder ein Trümml abig’rissen haben!“ meinte Pepperl in seinem Trauerwinkel und fügte mit philosophischem Seufzer bei: „No ja … auf d’ Letzt’ muß alles ’runter!“




15.

Praxmaler machte sich, als der Abend kam, zu einem Birschgang fertig. Dabei erwachte der Förster, gut ausgeschlafen, und er selbst hatte das Gefühl, daß seine zufriedene Laune recht auffällig abstach gegen die trübe Kummermiene des Jägers. Wer frohen Herzens ist, möchte auch gern die anderen vergnügt und munter sehen, deshalb sagte er: „Machst noch allweil ein G’sicht wie die Katz’, wenn’s dunnert? Geh, Pepperl, sei doch g’scheid und thu dich wegen die drei Hirschen net gar so abikränken! Es is ja schön, wenn sich ein Jager über ’s Jagdpech von sei’m Herrn betrübt. Aber Maß und Ziel muß der Mensch in allem halten! Sei g’scheid, Pepperl! Der Herr Fürst schießt schon wieder ein’ guten Hirsch!“

„Ja, wollen wir’s hoffen,“ seufzte Pepperl und trollte sich zur Thür hinaus. Mit abgewandtem Gesicht, die Augen steif ins Blau des Himmels bohrend, ging er an der Sennhütte vorüber.

Drinnen in der Almstube nahm Burgi gerade Abschied von ihrem Vater. Sie hatte die Kleider des Alten leidlich wieder in stand gesetzt, in dem mürben Zeug alle Löcher geflickt und gab nun dem Vater ein „Binkerl“ guter Lehren mit auf den Weg, wie die Mutter einem Kind, das zum erstenmal wallfahrten geht.

„Sei mir z’frieden, Vaterl! Dein Essen und alles hast ja, schau! Und thu mir d’ Fremdenleut’ net anbetteln auf der Straß’ … da hat ja kein Mensch mehr ein’ Rischpeckt vor deiner! Und schenkt dir wer ein’ Kreuzer aus Gutigkeit, den muß man doch net stantipeh in d’ Wirtsstuben einitragen! Schau, halt’ dir die paar Nedscherln lieber z’samm’ aufs G’wand! Ja? Thust mir’s versprechen, Vater?“

„Ja, ja, ja … versprich, ja, versprich schon ... ja, ja, ja!“

Der Alte schnaufte, als er die Predigt überstanden hatte und sich endlich trollen konnte. Doch während er über das Almfeld hinunterwackelte, schielte er zu den Fenstern des Jagdhauses hinauf und murmelte kauend vor sich hin: „Mit ’n, ja, mit ’n Herrn Fürsten … so ein Nobliger, der … dem hätt’ ich, ja, hätt’ ich gern was verexpliziert … dem!“

Burgi blieb auf der Schwelle stehen, bis sie den Vater im Wald verschwinden sah. Dann kehrte sie müden Schrittes in die Stube zurück und machte sich an die Arbeit, still und verdrossen. Es schien ihr wie ein Stein auf der Brust zu liegen, so mühsam atmete sie manchmal – und immer wieder drückte sie den Arm über die Augen.

Als es Abend wurde und die Kühe gemolken waren, mußte Burgi von der frischen Milch eine Kanne voll hinauftragen in die Küche des Fürstenhauses. Droben war sie kaum um die Ecke verschwunden, als Martin mit dem Förster kam, den er zum Abendtisch gerufen hatte. Kluibenschädl trat ins Haus, Martin aber blieb vor der Thüre stehen und lauschte gegen den Hof. Sein Blick huschte über alle Fenster, und schmunzelnd schlich er auf den Zehen an der Mauer hin.

Da kam die Sennerin mit der leeren Kanne zurück.

„Mein schönes Kind …“

Das war so leis geflüstert, daß sie es fast überhörte. Aber da hatte er sie schon um die Hüfte genommen und wollte sie küssen. Erschrocken gab sie ihm einen Stoß vor die Brust, und dann kam noch was anderes nach – das klatschte, daß es an der Mauer ein Echo gab, wie von einem Peitschenknall.

Sie lassen mich in Ruh’! Gelten S’! Und wenn S’ Jagdverwalter werden, können S’ Ihnere Küh’ selber melchen! Sie!“

Ruhig wischte sich Burgi am Rock die Hand ab und ging ihrer Wege. – Martin kühlte sich in seiner Stube das Gesicht mit kaltem Wasser; aber die Wange brannte ihm noch feuerrot, als er droben bei der Tafel die Bouillon servierte.

„Martin?“ fragte der Fürst. „Was hast du im Gesicht?“

„Ich … es scheint, Durchlaucht, daß ich mir eine Verkühlung zuzog. Ich habe Zahnweh.“

„Sie, gegen Zähntweh weiß ich ein Mittel, das hilft! Und sicher!“ fiel der Förster ein. „Da machen S’ aus Baumwoll ein Kügerl, das spießen S’ an ein’ Hölzl auf und nachher zünden Sie ’s an. Wenn’s halb verbrennt is, löschen Sie ’s aus, und den Rauchen, der aufgeht, den schnupfen S’ ins rechte Nasenloch auffi … weil Ihnen der Zahn auf der linken Seit’ wehthut, wissen S’! Ja, das hilft!“

Ettingen lachte. „Versuchen kannst du es ja! Aber ich meine, es wird besser sein, du gehst an die Hausapotheke und legst dir etwas Chloroform auf den kranken Zahn.“ –

Ob Martin nun das eine oder das andere Mittel versuchte – geholfen hat keines. Denn bis spät in die Nacht ging er noch immer mit der geschwollenen Backe herum. –

Funkelnd standen am tiefblauen Himmel schon die Sterne, als Pepperl nach Hause kam. Die Glieder waren ihm wie zerschlagen, und ohne ans Nachtmahl zu denken, streckte er sich auf die Matratze nieder, auf welcher Kluibenschädl in seinem sorglosen Bärenschlummer schon fleißig die Säge zog. Rücken an Rücken lagen die beiden – und schlaflos seufzte der Jäger nach links herum in die finstere Stube, während der Förster nach rechts herum gegen die Holzwand schnarchte, daß die Bretter tönten wie ein Geigenboden, wenn die tiefste Saite gestrichen wird.

Am anderen Morgen brachen sie zusammen auf, um bei den Steigarbeiten Nachschau zu halten. As sie gegen Mittag heimkehrten, hörte der Förster von Martin, daß die Durchlaucht ganz allein einen Ausflug zum Sebenwald unternommen hätte und vor Abend nicht heimkommen würde. Zu dieser Nachricht schüttelte der Förster verwundert den Kopf. „Ja, sagen S’ mir nur … auf was will er denn da birschen? Jetzt in der Sonn’? Er wird doch net denken, daß ihm einer von die drei Hirschen ums Mittagläuten übern Weg lauft?“ Sein Staunen wuchs aber noch, als er horte, daß der Fürst die Büchse gar nicht mitgenommen hätte. „Ja was thut er denn nachher draußen?“

Martin lächelte. „Träumen … denk ich mir!“ Aber das Lächeln gelang ihm nicht so leicht – seine Wange war noch immer ein wenig gespannt, vom Zahnweh.

Träumen? Dazu hätte man doch Zeit genug in der Nacht, meinte der Förster, und einen schönen Traum könnte man doch leichter auf dem „Kanapee“ finden als bei einem dreistündigen Marsche bis nach Seben hinaus.

Um sich den schönen Hunger, den er heimgebracht hatte, für den guten Abendtisch im Fürstenhaus zu sparen, ging er in die Sennhütte hinunter und ließ sich, nur für den Durst, eine Schüssel Milch reichen. Er that ein paar lange Züge, wobei er an Burgi die Mahnung richtete: „Jetzt könntst aber schon endlich einmal ein anders G’sicht auch wieder dahermachen! Oder hast leicht so ein mitleidigs Herzl? Thut’s dich kränken, daß der Herr Kammerdiener Zähntweh hat? Da plauscht er halt net gern? Oder?“

Burgi runzelte die Stirn und machte finstere Augen. „Was hat er?“

„Zähntweh.“

„’leicht auf der linken Seit’?“

„Ja, ich glaub!“

„So? … No ja, das is ihm g’sund! So ein Zähntweh, das treibt die ung’sunden Hitzen aus!“ Und mit trockenem Lachen trat sie in die Kammer, während der Förster die Büchse nahm und davonwanderte.

Schwüle Mittagsstille lag über dem Almfeld. Kein Laut – nur das Gemurmel der Brunnen; keine Bewegung – nur über den Dächern das blaue Gekräusel des Rauches.

Auch Pepperl hatte in seinem Herd schon Feuer gemacht, hatte aber dann aufs Kochen vergessen. Mit aufgezogenen Knien saß er neben dem Schürloch auf den Dielen. Und so „sinnierte“ er eine Stunde lang vor sich hin. Da hörte er Peitschenknall, das Rollen eines Wagens und Pferdegewieher.

Mißmutig erhob er sich und trat unter die Thüre.

Eine vierspännige Equipage fuhr an ihm vorüber, und im Wagen saß eine junge Dame – „Herrgott, das muß was Fürnehms sein!“ dachte sich Pepperl, denn sie hatte auf dem Hut einen Vogel, wie er seiner Lebtag’ noch keinen gesehen hatte – einen Vogel, der in allen Farben schillerte. Neben der Dame saß ein Herr mit einem Jägerhut, wie Pepperl auch noch keinen gesehen hatte – es war ein Spitzhut mit handbreitem, [288] grasgrünem Seidenband und mit einem wahren Ungetüm von Gemsbart. Aber dieser Gemsbart war echt, ohne Zweifel – darauf verstand sich Pepperl … „ja, der hat seine hundert Gulden ’kost’t, ehnder noch mehr!“

Jetzt kam ein Zweispänner. Drin saß ein Diener in Jägerlivree, deren reiche Verschnürung in Pepperl die Vermutung weckte: „Das muß der Oberlandesschützenmeister von Tirol sein!“ An der Seite dieses hohen Würdenträgers saß ein zierliches, bildhübsches Persönchen mit verschmitztem Gesicht und koketten Feueraugen – der Mustertypus einer französischen Kammerjungfer aus einem Hause von Welt. Beim Anblick des Jägers mit seiner offenen Brust und seinen nackten Knien geriet das kleine Dämchen in einen Aufruhr von Entzücken, kniff ihren Reisegefährten in den Arm und zwitscherte in perlendem Französisch: Ah, Jean! Sehen Sie nur, das muß einer von den Jägern des Fürsten sein! Ah! Un superbe colosse! Ah! Ah! Nicht wahr, das ist ein wirklicher Tiroler! Ein echter! Welch ein famoser Typus der Rasse! Und wie hübsch! Die richtige Staffage für diese Landschaft! Wie reizend das alles ist, wie drollig! Ah! Ah! C’est drôle, tout ça!“ Sie guckte nach allen Seiten, klatschte wie ein Kind in die Hände, blitzte mit ihren Schwarzaugen wieder den Jäger an und versetzte ihrem Reisegefährten unter hellem Gekicher einen scherzenden Puff. „Ah! Ah! Wie mir das alles gefällt! Das ist Land! Das richtige Land! Jean! Das soll lustig werden … ich freue mich närrisch!“ Und während der Wagen am Försterhäuschen vorüberfuhr, grüßte sie den Jäger lachend mit dem Handschuh. „Bon jour, monsieur! Bon jour!“ Pepperl riß die Augen auf und wurde rot. Französisch hatte er freilich in der Leutascher Dorfschule nicht gelernt, nicht einmal ordentlich Deutsch – aber so viel hatte er doch verstanden, um zu wissen, was von dieser „Ausländischen“ zu denken war.

„Das is aber eine! Teufi, Teufi, Teufi! Die geht scharf ins Zeug!“ Mit dieser Erkenntnis war die Sache für ihn erledigt. Er sah noch den dritten, mit großen Koffern beladenen Wagen an sich vorüberfahren, dann kehrte er seufzend in die Stube zurück, um wieder Feuer zu machen und die Pfanne auf den Herd zu stellen. Aber er brachte es mit seiner Kocherei nicht weit, denn die Wagen kamen vom Jagdhaus zurück, die Kutscher fragten nach der Stallung, und Pepperl mußte sie führen, mußte ihnen helfen, die Pferde ausspannen und Wasser vom Brunnen holen. Während er wortkarg das Geschwätz der Kutscher anhörte, kam Mazegger über die Lichtung herauf, mit raschem Gang alle Windungen des Weges abkürzend. Vor der Remise blieb er stehen, erregt, und musterte die Wagen.

Pepperl, der gerade mit dem Eimer zum Brunnen wollte, sah ihn an und fragte: „Toni! Was hast denn? Bist denn krank? Du schaust ja aus wie ein G’spenst!“

„So? … Ja, ein bißl ungut ist mir!“ Mazegger atmete schwer. „Und … und die Wagen da? Sind die Damen, die ich gesehen hab’, zum Fürsten gekommen?“

„Natürlich, zu wem denn sonst?“

„Und die schöne Frau, die im Vierspänner war … wer ist denn die?“

„Was weiß denn ich?“ brummte Pepperl und wanderte zum Brunnen. „Wenn dich d’ Neugier plagt, geh ’nauf und frag’!“

Mazegger stand noch eine Weile und lauschte auf das Gespräch, das die Kutscher im Stall miteinander führten. Sie sprachen von einer „lustigen Französin“, von einem „Kasperl mit Haxen“ und von einer „Frau Baronin“, über die der Postillon des Vierspänners das Urteil fällte: „Ein säuberers Frauenzimmer hab’ ich meiner Lebtag’ noch net g’sehen … und ich hab’ schon viel noble Leut’ in mei’m Wagen g’habt! Was die für Augen hat! Kruzitürken! Und … du! Die is dir barfamiert ... da mußt einmal ’nausgehn und hinschmecken an’ Wagen … was das für ein nobligs Düftl is! Den ganzen Weg her hab’ ich allweil g’meint, ich fahr’ durch ein’ Apotheken durch!“

„Aber hörst,“ meinte der andere Kutscher, „daß so ein bildschönes Frauenzimmer kein’ andern Mann net g’funden hat als wie den narrischen Gischpel mit sein’ unsinnigen Gamsbart!“

„Der is ja gar net der ihrig’! Hat ja allweil g’sagt zu ihr: Baronin! Und g’redt haben s’ miteinander … ah na! So reden d’ Eh’leut’ net! Weißt, Eh’leut’ hab’ ich auch schon viel g’fahren … die reden anders.“

Mazegger lächelte und spähte mit funkelnden Augen durch den Wald gegen das Fürstenhaus hinauf. Wortlos ging er an Praxmaler vorüber, der mit dem triefenden Eimer vom Brunnen kam, und immer rascher wurde sein Schritt. Als er in die Stube seiner Hütte trat, warf er die Büchse und den Hut auf das Bett, verriegelte die Thür und riß mit zitternden Händen das kleine Fenster auf. In der dunklen Stubenecke setzte er sich rittlings auf einen Sessel und legte neben sich das Fernrohr auf den Herd. Durch das offene Fenster konnte er das Fürstenhaus und den ganzen Weg überblicken, der von droben herunterführte zum Fremdenhaus.

Er sah, wie Martin in erregter Eile gelaufen kam und mit Praxmaler und einem Kutscher zurückkehrte. Die beiden mußten drei große rotlederne Koffer, die droben im Hof standen, ins Fremdenhaus hinuntertragen. Martin, der ins Jagdhaus getreten war, erschien nach einer Weile mit jenem Herrn, dem der „unsinnige Gamsbart“ wie ein Generalsbusch auf dem Spitzhut schwankte. Um die Schultern hatte er einen leichten Staubmantel hängen, offen, so daß man den eleganten, grün- und rehbraunkarrierten Jagdanzug sehen konnte, dessen Kniehosen sich mit handbreiten Hirschlederborten um die moosgrünen Strümpfe schlossen. In der Hand trug er ein Lederetui, das sich ansah wie eine plattgedrückte Pfanne. Er war von mittelgroßer Gestalt, rund genährt und dennoch von unruhiger Beweglichkeit, mit eigentümlich wiegendem Gang, bei dem er manchmal ein Bein schlenkerte, als läge ihm noch prickelnd die Ermüdung der langen Wagenfahrt in den Knien.

Mazegger richtete das Fernrohr und sah durch das Glas ein nicht mehr junges, aber rosiges, vergnügt zufriedenes Gesicht mit großen wasserblauen Augen. Das aschblonde Haar war wellig in die Schläfen gekämmt, eine dicke Locke stahl sich an der Stirne etwas absichtlich unter dem Hutrand hervor, und auf den vollen roten Lippen saß ein kunstvoll dressiertes Schnurrbärtchen, das sich schlang und kräuselte wie eine zierliche Arabeske.

Die beiden standen eine Weile im Hof, Martin schien die Gegend zu erklären, und über alles, was er sagte, mußte der Fremde ein ganz besonderes Vergnügen empfinden, denn deutlich konnte Mazegger sein Lachen hören. Es war ein merkwürdiges Lachen, hoch und kichernd, wie das Hämmern eines Spechtes.

Nun kamen sie über den Weg herunter.

„Ah ja, die Gegend, ja, die ist wirklich großoatig! So was von Berg’! Was? Und schaugn S’ den Wald an, Moatin … so was von Grrrünitätt! Hehehehe!“ sagte der Fremde zwischen Lachen und Getänzel in einer Sprache, die an den Jargon der Wiener Fiaker anklang und manchmal auch an den Ton der Börse erinnerte. „Aber Aufenthalt und Verpflegsqualitätt? Schlechte Censur? Was? Ainigermaaasen prrrimitifff, scheint mir? Nuuuhr für Natuuuhr … fescher Walzer mit Variationen in Moll für Gaisthaler Jagdhausgebrauch. Nna, die Jagd, hoff’ ich, rrreißt alles heraus! Prima? Was?“

„Ja, Herr von Sensburg, die Jagd soll ganz vorzüglich sein. Durchlaucht haben zwar die Birsche noch wenig frequentiert, aber es ist Durchlaucht doch gelungen, gleich auf dem ersten Birschgang einen schönen Hirsch ...“

Guten Hirsch!“

„… einen guten Hirsch und bei der nächsten Birsche zwei kapitale Gemsböcke zur Strecke zu bringen.“

„Aber! Moatin! Sie sind ja ein schröcklicher Keal! Gamsböck haaßt’s! Schenieren Sie sich! Ainigermaasen mangelhafte Weidmannsbüldung? Was? Hehehehe!“

„Verzeihen Sie, Herr von Sensburg, aber … ich bitte, wollen Sie mir nicht das Racket zu tragen geben?“

„Sssss! Zucker! Nicht anrühren! So was will getragen sein! Hehehehe! Nna alsdann … zwaa Gamsböck’? A la bonheur! Da sind ja die Aussichten großoatig! Sie, Moatin, da mach’ ich gleich muagen in der Früh die easte Biasch! Aber einen feschen Jaager bitt’ ich mir aus. Bei mir wird scharf gestiegen! Schoarrfff! Und bis ich am Abend den Gams hambring’ … Sie, Moatin, da bitt’ ich mir aus, daß ein bißl aufg’mischt wird in diesem sterilen k. k. Landeswinkel! Hehehehe! Wissen S’, was ich haben möcht’ … so eine zwanglose fête champêtre! Stilvoll mit Erdgeruch! Jaager, Holzknecht’, Sennerinnen, stramm g’waxene Diandln, Ziederng’spüll und Natuajodler … kuaz, was man sagt: eine Hetz’! Aber ächt, das bitt’ [289] ich mir aus! Aecht! Kan’ Salontiroler! Den Wein zahl’ ich! Wenn’s nur eine Hetz’ wird! Die Baronin soll sich amüsieren! Hehehehe! Und ich hab’ eine volkstümliche Ader, ich mische mich gean unter die haiteren Oellemente derer, die dort unten wohnen! … Aber Sie, Moatin, sagen S’ mir … ich hab’ schon immer da beim Herauffahren diese bucklige Gegend beaugenwinkelt … wo wird sich denn da für ein civilisiertes Menschenkind ein nur ainigermaßen brauchbarer lawn fürs Tennis finden?“

„Ich glaube, dort unten auf der Lichtung, Herr von Sensburg, da ist eine ziemlich ebene Stelle …“

„Anschauen!“

Die beiden Stimmen verhallten hinter der Jägerhütte.

Mazegger legte das Fernrohr auf den Herd, und ein verächtliches Lächeln glitt über seine schmalen Lippen. Eine Weile saß er regungslos und starrte zum Jagdhaus hinauf. Dann lehnte er sich müd atmend an die Wand zurück und preßte die Handballen in die Augenhöhlen – wie einer, der seit Nächten keinen Schlaf gefunden und den die Augen schmerzen.

Eine Stunde verging. Martin, die Kutscher, der grün verschnürte Leibjäger und Praxmaler – das eilte nur immer so hin und her zwischen der Fürstenvilla und dem Fremdenhaus. Droben in der Hausthür erschien ein paarmal die kleine Französin, guckte neugierig nach den Jägerhütten oder schwatzte eine Minute mit den beiden Dienern.

Eben standen die Drei wieder beisammen, als der Förster über das Almfeld heraufgestiegen kam. Er gewahrte die fremden Leute, schlug ein flinkeres Tempo an und trat an das offene Fenster der Jägerhütte. „He! Toni!“

Mazegger, der den Schritt des Försters gehört hatte, stand am Tisch und polierte mit einem Lappen den Lauf seiner Büchse.

„Was is denn, Toni? Was sind denn das für Leut’ da droben? Is ’leicht wer ’kommen? Ein B’such zum Herrn Fürsten?“

„Ja, mir scheint.“

„Wer denn?“

„Ein Herr, Sensburg heißt er. Und eine Baronin …“ Mazegger wandte langsam das Gesicht und lächelte.

Die „Pretoria“ im Riesenschwimmdock von Blohm und Voss in Hamburg.
Nach einer photographischen Aufnahme von H. Breuer in Hamburg.

Der Förster blickte zum Jagdhaus hinauf, kraute sich hinter den Ohren und stotterte vor sich hin: „So is’ schön! Jetzt is d’ Ueberraschung da … und der Herr Fürst is net daheim!“

Er ging zu seiner Hütte und traf mit Pepperl zusammen, der vom Stall heraufkam, in gereizter Stimmung.

„Grüß Gott, Herr Förstner! Und gut, daß S’ da sind! Ich bitt’ Ihnen, schauen S’ ’nunter in’ Stall … die Kutscher streiten und spettakalieren, daß ’s nimmer schön is! Ein G’schäftl ums ander’ hätten s’ für mich …“ Pepperl trat in die Hütte und griff nach der Büchse, „und ich bin doch kein Wasserer für d’ Ross’! Ich bin ein fürstlicher Jager … und überhaupts, jetzt muß ich ’naus auf d’ Abendbirsch’!“

„No, no, no! Ja, Pepperl! Was hast denn?“

„Nix … als schwarze Mucken im Schädel, die muß ich ausfliegen lassen draußten. Mich leidt’s net daheim! B’hüt’ Ihnen Gott!“

Kopfschüttelnd sah ihm der Förster nach, dann ging er zum Stall hinunter. Noch hatte er den Platz nicht erreicht, wo die Wagen standen, als er auf dem Weg, der von der Ache über die Lichtung heraufführte, zwei Reiter auf abgehetzten Pferden kommen sah.

Den einen der beiden Reiter, den kannte Kluibenschädl auf den ersten Blick, das war Graf Goni Sternfeldt. Den Hut schwingend, in Heller Freude, lief ihm der Förster entgegen.

„Herr Graf! Herr Graf! Ja, grüß Ihnen Gott, Herr Graf! Ja, wie kommen denn Sie daher?“

Sternfeldt winkte mit der Reitpeitsche und versetzte dem Pferd einen Hieb. Aber das Tier war ausgepumpt und konnte nicht mehr – es machte nur ein paar kurze Galoppsprünge und fiel wieder in müden Schritt. Doch der Reiter saß fest und ohne Spur von Ermüdung im Sattel, trotz des schweren siebenstündigen Rittes und trotz seiner fünfzig Jahre. Er trug einen flachen Strohhut, einen lichtbraunen Sommeranzug von modischem Schnitt und Lackschuhe, alles grau verstaubt – ein Anzug, der eher für einen behaglichen Bummel auf dem Trottoir der Großstadt passen mochte als für einen Ritt, welcher dem Pferde den weißen Schaum aus Hals und Flanken getrieben hatte.

Der agilen und kräftigen Gestalt nach hätte man den Grafen für einen Dreißiger nehmen können. Aber Haar und Bart – ein glattgeschnittener Spitzbart, der das schmale Gesicht verlängerte – waren schon völlig ergraut, beinahe weiß. Die klugen grauen Augen waren von wulstigen Brauen überschattet – [290] das einzig Derbe in diesem vornehm gezeichneten Rassegesicht. Die Anstrengung des Rittes hatte das Gesicht gerötet, doch all die ernste Erregung, die aus seinen Zügen sprach, konnte die sarkastischen Linien nicht verwischen, welche tief um den feingeschnittenen Spöttermund und um die Augenwinkel gezogen waren.

Ehe das Pferd noch anhielt, sprang er aus dem Sattel und warf die Zügel dem Reitknecht zu, der ihm folgte.

„Grüß Sie Gott, lieber Förster!“

„Grüß Gott, Herr Graf!“

Kluibenschädl quetschte die Hand, die ihm Sternfeldt gereicht hatte. „Grüß Gott gleich tausendmal! Weil S’ nur wieder da sind, Herr Graf! Und die Freud’, die der Herr Fürst haben wird! Und Sie … wann S’ sehen, wie er ausschaut! Ein’ Zwölfender hat er auch schon! Und zwei sakrische Gamsböck!“

Aber dieser weidmännische Erfolg schien den Grafen nicht sonderlich zu interessieren, denn er fragte hastig und erregt: „Der Fürst hat heute Besuch bekommen? Natürlich, da stehen ja die Wagen. Aber sagen Sie mir …“ Sternfeldt zog den Förster aus der Hörweite des Reitknechtes. „Wie hat der Fürst diesen Besuch empfangen?“

„Der Herr Fürst? Der weiß ja noch gar nix von der Ueberraschung, die heut’ eintroffen is! Der is ja seit in der Fruh net daheim!“

„Nicht daheim? Und daß sie heute kommt – das wußte er gar nicht?“

„Net mit ein’ Wörtl! Na!“

„Gott sei Dank! Und wo ist er?“

„Draußen im Sebenwald. Aber jeden Augenblick kann er heimkommen … weil er hinterlassen hat, daß er z’ruck sein will bis zum Dineh.“

„Kommen Sie! Wir gehen ihm entgegen. Ich muß ihn sprechen, bevor er nach Hause kommt. Welchen Weg müssen wir nehmen?“

„Da über d’ Lichtung ’naus, durch’n Tillfußer Wald.“

„Und er hat keinen anderen Heimweg? Wir müssen ihn treffen? Sicher?“

„Aber g’wiß! Vom Sebenwald ’rein, da giebt’s kein’ andern Weg.“

„So kommen Sie!“ Der Graf wandte sich an den Reitknecht. „Führen Sie die Pferde in den Stall! Und hier …“ Er reichte ihm eine Banknote, „das gehört Ihnen, für die halbe Stunde, die wir gewonnen haben. Aber jetzt sorgen Sie für die Tiere so gut wie möglich … Sie sollen frottiert werden, bis sie völlig trocken sind, und sollen kein Futter und keinen Trunk bekommen, bevor sie nicht ruhige Lungen haben! – Kommen Sie, Herr Förster!“

Während Graf Sternfeldt über die Lichtung hinausschritt gegen den Wald, klopfte er sich mit der Reitpeitsche den Staub von den Beinkleidern.

Kluibenschädl folgte ihm, und seinem Gesicht mit den studierenden Augen war es anzusehen, daß er sich dachte: „Sakra! Da muß was los sein! Mir scheint, die G’schicht’ mit der Ueberraschung … die stimmt net ganz!“

(Fortsetzung folgt.)     



Blätter und Blüten –



Die Feuersbrunst in Kranichfeld. (Mit Abbildung.) In dem anmutigen Ilmthale, etwa 8 km oberhalb des Luftkurortes Berka, liegt die gegen 1800 Einwohner zählende thüringer Stadt Kranichfeld, die halb zu Sachsen-Meiningen, halb zu Sachsen-Weimar-Eisenach gehört. Am 26. März dieses Jahres, dem Palmsonntag, wurde die Stadt von einem schweren Brandunglück betroffen. Mittags um 12 Uhr brach in einem Schuppen des Elektricitätswerkes Feuer aus, das sich sofort einer in der Nähe stehenden Scheune mitteilte. Unglücklicherweise blies an jenem Tage ein heftiger Wind durch das Ilmthal, und er trieb Flugfunken gegen die Stadt.

Während die Feuerwehren von Kranichfeld und den benachbarten Ortschaften, später auch von Weimar, mit dem Aufgebot aller Kraft dem Brande Einhalt zu gebieten suchten, erzeugten Flugfeuer hinter ihrem Rücken immer neue Brandherde und die Befürchtung wuchs von Stunde zu Stunde, daß Kranichfeld gleich Brotterode völlig ein Raub der Flammen werden könnte. Gegen 1 Uhr in der Nacht vom Sonntag zum Montag gelang es aber dennoch, des Brandes Herr zu werden. Die Verwüstung, welche die Feuersbrunst inzwischen angerichtet hatte, war aber entsetzlich. Mehr als 50 Wohnhäuser mit etwa 135 Nebengebäuden sind niedergebrannt und 72 Familien obdachlos geworden.

Ansicht der Brandstelle in Kranichfeld.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph Louis Held in Weimar.

Der Schaden wird auf 1½ Millionen Mark geschätzt. Unser Bild zeigt nach einer photographischen Aufnahme einen Teil der in Asche und Trümmer gelegten Wohnstätten.

Ein Hilferuf ist ergangen, der sicher in weitesten Kreisen Wiederhall finden wird. Die erbetenen Gaben sind an „das Hilfskomitee, Kranichfeld, Thüringen,“ zu richten.

Arabische Schule in Algier. (Zu dem Bilde S. 261.) Die Araber sind nicht nur durch ihre Waffenthaten berühmt geworden; die Namen ihrer Weisen sind ehrenvoll auch in der Geschichte der Wissenschaften verzeichnet, und die arabischen Hochschulen oder Medressen standen jahrhundertelang in Westasien und Nordafrika in nicht geringem Ansehen. Aber in den Moscheen, die den Sitz dieser Hochschulen noch heute bilden, versammelten sich seit jeher nur begabte, zum Denken [291] und Sinnen über den Koran besonders veranlagte Jünger. Mit den Volksschulen war es, wo der Araber herrschte, immer schlecht bestellt. Der Wüstennomade kannte sie überhaupt nicht, und die Araber in den Städten ließen ihre Knaben durch irgend einen gelehrten Mann im Lesen des Koran unterrichten; dieses Lesenlernen bestand jedoch vielfach nur im Auswendiglernen der heiligen Bücher und nur wenige Lehrer brachten ihrem Schüler außer wirklichem Lesen noch gar die Kunst zu schreiben bei. – Heute, wo die Araber mehr und mehr mit der europäischen Kultur in Berührung gekommen sind, ist in dieser Hinsicht allmählich eine Wandlung eingetreten. Arabische Elementarschulen werden immer zahlreicher und der Unterricht in ihnen besser. Eine solche Elementarschule in Algier führt uns unser Bild vor. Auf Palmenmatten sitzen in der geräumigen Halle der Lehrer und seine Schüler. Der Koran bildet auch hier den wichtigsten Unterrichtsgegenstand. Manche Dinge in dieser Schule, wie die Wandtafel, der Gasleuchter und auch die Anzüge einiger Knaben, gemahnen an die Fortschritte der Neuzeit. *     

Der Ziegenrücken im Riesengebirge. (Zu dem Bilde S. 265.) In eine der schönsten Gegenden des Riesengebirgs versetzt uns das naturgetreue Bild Paul Linkes. Der Maler hat seinen Standpunkt auf dem sanften Abhang des Brunnberges gewählt, auf dem südwestlichen Zipfel des in der Nähe der Schneekoppe sich ausbreitenden Hochplateaus. Der schmale gewölbte Sattel, der den Vordergrund bildet und der mit langem gelbbraunen harten Grase und Knieholzbüschen bewachsen ist, ist ein alter Gebirgsübergang von Schlesien nach Böhmen. Wir sehen, wie dieser Sattel sofort sich verschmälernd in den scharfen Grat des Ziegenrückens übergeht, wie dieser selbst zu beiden Seiten so schroff abfällt, daß die Bodenkrume nicht mehr an ihm haftet, sondern der nackte Fels zu Tage tritt, wir sehen im zerklüfteten Gestein noch einzelne Schneeflecke kleben, wir verfolgen den Grat, auf dem der menschliche Fuß kaum Platz hat, wie er sich krümmt, wie er sich in der Mitte noch einmal erhebt und dann mit einem breiten, pyramidenförmigen, dem Elbstrom zugewendeten Giebelabsturz endet.

Gerade in der Mitte unseres Bildes sehen wir vier spitze Gipfel übereinander; die zwei untersten gehören dem Ziegenrücken an, dann kommt der von vorn gesehene Krkonoschkamm und dieser wird noch überragt von der Spitze der Kesselkoppe. Die Berge rechts von diesem sind die einander überschneidenden Erhebungen des Schlesischen oder Hauptkammes; die beiden hohen Gipfel rechts oben im Bilde gehören der Sturmhaube und dem Hohen Rade an. Das verdeckte Thal zur Rechten ist das Weißwasserthal, das dann weiterhin in das Elbthal übergeht. Zwischen Kesselkoppe und Hohem Rade spannt sich der Elbgrund aus, über dessen abschließende, hier deutlich sichtbare Felsenwand der Elbseiffen und die Pantsche in schäumenden Kaskaden herabstürzen. Durch das tief eingeschnittene Thal an der linken Flanke des Ziegenrückens steigt man nach der bekannten Sommerfrische Spindelmühl hinab. Im linken oberen Teil des Bildes zeigt sich noch ein fernes, wellenförmiges Berggelände, der mittlere Teil des Isergebirges. Die aus ihm hervortretende Kuppe ist der Siechhübel, den man seiner Lage nach als den eigentlichen Centralpunkt jenes Gebirgsstockes bezeichnen kann. Alles aber, was wir überschauen, gehört zur Krone Oesterreich.

Es liegt über dem Ganzen eine Stimmung, wie sie die Größe, die Ruhe, die Einsamkeit der Natur erzeugt. Da senkt sich der Friede in unsere Brust. B.     

Ein Gedicht. (Zu dem Bilde S. 269.) Abschiednehmen im Frühling, wo rings die Hoffnung in Blüten steht, ist schwer; doppelt schwer, wenn einer ein verschwiegenes Herzenssehnen mit fort nehmen muß, weil er nicht weiß, ob es verstanden und erwidert wird. Die schönen sanften Augen haben nichts verraten, bald hoffte, bald zweifelte er, und nun ist die Abschiedsstunde da! Aber Liebe macht erfinderisch: nach der Sitte der Zeit hatte ihm die Holde ihr Stammbuch zur Einzeichnung gegeben und er erwartete sie hier an dem stillen Gartenende, um es in ihre Hand zurückzulegen. Lebhaft griff sie danach, sah beim Aufschlagen zwei Seiten frisch geschriebener Verse, ohne Autornamen – und trat errötend ein paar Schritte vor, um den Blicken des stillen Beobachters beim Lesen auszuweichen. Aber diese haften trotzdem fest an ihrer lieblichen Gestalt, und es dürfte ihr schwer werden, ihnen unbefangen zu begegnen, sobald sie das Buch sinken läßt. Im Gefühl davon hält sie es fest und zögert, obwohl das Gedicht längst gelesen ist. Was wird der nächste Augenblick bringen? . . Ringsum duftet und blüht der Frühling, das Plätzchen im grünen Laubschatten ist verschwiegen, und die Nachtigallen und Amseln werden sich nicht wundern, wenn jetzt ein erlebtes Gedicht dem geschriebenen auf dem Fuße folgt! Bn.     

Chinesische Brautsänfte.
Nach einer Photographie.

Chinesische Brautsänfte. (Mit Abbildung.) In China ist das Los der Frauen beklagenswert. Sie seufzen unter dem schweren Joch althergebrachter Vorurteile und Gewohnheiten. Das Glück der Liebe, das unsere europäischen Bräute am Hochzeitstage verklärt, ist den meisten von ihnen fremd, denn in dem Reiche der Mitte werden nur Konvenienzheiraten geschlossen und dabei wird nach den Herzensneigungen und Wünschen der Braut nicht gefragt. Die Eltern suchen für sie den künftigen Ehemann aus, und mit ungewissen Ahnungen sieht sie dem Hochzeitstage entgegen. Dieser wird je nach dem Vermögen des Brautpaares recht festlich begangen. Der Bräutigam schickt einen Freund mit einer Sänfte, damit er seine Braut aus dem Elternhause abhole und in ihr neues Heim bringe. Diese Sänfte ist zumeist reich mit Vergoldungen und dem Schmelz von Königsfischerfedern verziert und bei hochstehenden Leuten mit rotem Tuch ausgeschlagen. Auch trägt sie auf rotem Papier einige symbolische Inschriften. Der Sänfte pflegen rotgekleidete Männer mit allerlei symbolischen Abbildungen voranzugehen. Im Hause des Bräutigams findet nun die eigentliche Hochzeit statt, die in einer Menge weitschweifiger, echt chinesischer Zeremonien besteht und mit einem Mahle beschlossen wird. *     

Hans Joachim von Zieten. (Zu dem Bilde S. 281.) Am 14. Mai werden zweihundert Jahre verflossen sein, da zu Wustrau in der Grafschaft Ruppin Hans Joachim von Zieten das Licht der Welt erblickte. Als Führer preußischer Reiterscharen in den glorreichen Feldzügen Friedrichs des Großen erwarb er sich unsterblichen Ruhm und in zahllosen Liedern pries und preist das Volk den kühnen Husarengeneral. Der „Zietenritt“ nach Jagerndorf, sein Eingreifen in die Schlachten bei Prag und Kolin, bei Leuthen, Liegnitz und Torgau werden für immer in der Kriegsgeschichte unvergessen bleiben. Unter den vielen bildlichen Darstellungen Zietens ist die von Adolph Menzel, die wir im Holzschnitt wiedergeben, eine der hervorragendsten. Kein Meister war auch so berufen, den berühmten Helden so lebenswahr und geschichtlich treu darzustellen wie der große Maler der fridericianischen Zeit. Nicht nur in kühnen Reiterangriffen that sich Zieten hervor, er war auch groß und unübertroffen in Kundschafterdiensten. Friedrich der Große rühmte diese Eigenschaft seines Generals besonders, indem er die Charakteristik Zietens mit den Worten einleitete: „Ich habe meinen wachsamen Zieten.“ Unser Bild zeigt uns den Reiterführer, wie er auf einem Kundschafterritt mit scharfen Augen die Stellungen des Feindes erspäht.

Fahrschäfer auf der Schwäbischen Alb. (Zu dem Bilde S. 285.) Das lebenswahre Bild H. Zügels versetzt uns auf die Höhen der Schwäbischen Alb. Der vor sich hinträumende Schäfer ist ein württembergischer „Fahrschäfer“, wie sie alljährlich zu Hunderten die kahlen Berggipfel und Hochplateaus jenes Bergzuges „befahren“. Sein charakteristischer Anzug, Schlapphut und Lederhose, wie auch sein Wagen – „des Schäfers sein Haus und das steht auf zwei Rad“, singt der Schwabe Mörike – lassen hierauf schließen. Ja sogar die über der Wagenthür angenagelte Eule bestärkt uns in unserer Vermutung, denn es ist ein im württembergischen Landvolk von alters her verbreiteter Aberglaube, daß hierdurch Geister und Hexen ferngehalten würden. Es ist offenbar Mittagszeit, denn während die Schafe Siesta halten, hat der Schäfer gerade sein frugales Mahl, Milch und Brot, zu sich genommen, und auch für seinen treuen Phylax ist ein gehöriger Anteil abgefallen, denn dieser sieht mit philosophischer Miene zu, wie die jungen Lämmchen im Vordergrunde gierig die Schüssel auslecken, was er, wenn er nicht gesättigt wäre, sicher für einen Eingriff in seine Privatrechte halten und nicht dulden würde.

Die „Pretoria“ im Riesenschwimmdock von Blohm und Voss in Hamburg. (Mit dem Bilde S. 289.) Zu schier unheimlichem Umfange ist das vom Handel und Verkehr der Gegenwart gebrauchte Werkzeug angewachsen. Noch vor wenig Jahrzehnten galt so ein Riese des Meeres, der 1000 Fahrgäste aufnahm, um sie binnen einer Woche [292] nach „drüben“ zu bringen, als Wunder der Welt. Wie beträchtlich die Giganten jener Gattung von den modernen Ocean-Kolossen überragt werden, das erhellt schon daraus, daß die „Pretoria“ der Hamburg Amerika-Linie 3500 Personen zu beherbergen imstande ist, außer den 160 Schiffsleuten. Noch dazu darf diese ihre Bestimmung als „schwimmendes Hotel“ für nebensächlich gelten insofern, als die „Pretoria“ zugleich der größte Frachtdampfer der Welt ist; ihre Ladefähigkeit beträgt 14 000 Tonnen (ü, 2000 Pfund), die mittels 28 Ladebäumen, 14 Daurpfwinden und 8 Dampfkrähnen ebenso rasch verladen wie „gelöscht“ (ausgeschifft) werden können; „Zeit ist Geld“. – Dieser geschäftliche Wahlspruch der Neuzeit darf aber keineswegs hindern, daß von Zeit zu Zeit auch eine so schmucke Dame wie die „Pretoria“ sich von gewohnter Thätigkeit ein Weilchen zurückzieht, um ihren äußeren Aufputz frisch in stand zu setzen. Die hohe Frau (sie würde, wenn sie aus der wagerechten Lage in senkrechte Stellung versetzt werden könnte, die 156 Meter der Kölner Domtürme noch um 22,5 Meter überragen) bedarf natürlich eines entsprechend großen Toilettenkabinetts. Ein solches bietet ihr das von unsermBilde vorgeführte Schwiimndock von Blohm und Voss in Hamburg, ebenfalls das größte seiner Art. Am leichtesten kann sich der „Binnenländer“ die Einrichtungeines solchen Docks vorstellen, wenn er sich ein Cigarrenkistchen ohne Deckel denkt, dessen beide Schmalseiten fortgenommen sind, so daß nur Längswände und Boden bleiben. Ein Bauwerk von solcher Gestalt, aus doppelten Eisenplatten zusammengefegt, also hohl, besitzt so viel Schwimmkrast, daß fast das ganze Dock, die obere Fläche seines Bodens noch mit eingeschlossen, über Wasser gehalten wird. Soll nun ein Schiff „gedockt werden“, so läßt man Wasser in die Hohlräume des Docks einströmen, bis es sich soweit gesenkt hat, daß die obere Bodenfläche noch etwas tiefer unter Wasser liegt, als der Tiefgang des auszubessernden, selbstverständlich unbeladenen Schiffes beträgt. Dies wird dann ins Schwimmdock bugsiert, an beiden Seiten fest gegen die Dockwände abgestützt, und nunmehr entfernen die Dampfpumpen wiederum das Wasser aus den Hohlräumen des Docks, so daß es sich erhebt und die Bodenfläche, auf der das Schiff ruht, sich wieder über dem Wasserspiegel befindet. – Das scheint für den, der verniinmt, daß die „Pretoria“ 23 500 Tonnen Wasserverdrängung hat und, bei einer Breite von 18,9 Metern, vom Kiel bis zum Deck 12,8 Meter mißt, ein ansehnlich Stück Arbeit. Doch der urkräftige Knecht der Menschheit, der Dampf, schafft so wacker, daß beispielsweise zur Hebung der „Pretoria“ nur s/z Stunoen erforderlich sind. Hunderte von Händen machen sich jetzt ans Werk, um den Schiffsrumpf gründlich zu „überholen“, wie der Hamburger sagt, also etwa gelockerte Nieten oder schaohafte Platten durch neue zu ersetzen etc., bis schließlich ein hübscher neuer Anstrich „füget zum Guten den Glanz und den Schimmer“. Dann senkt sich abermals das Dock, bis das Schiff Schwimmkraft gewonnen zu neuer Fahrt. Vielleicht bedient sich die „Pretoria“ hierbei zum Einnehmen besonders schwerer Stücke der Ladung des im Hintergrund unseres Bildes fichtbaren großen Krahns; das ist gleichfalls ein Enaksfohn ersten Ranges, der 150 Tonnen, also 300000 Pfund, zu heben die Freundlichkeit hat. – Das Dock hat, wie noch erwähnt sein möge, eine Hebekraft von 17 500 Tonnen; die Breite beträgt 36 Meter, die Länge 190 Meter, d. h. die 7 einzelnen Pontons sind durch Seitenverbindung zu diesem großen Ganzen vereinigt worden. – Zweierlei Gesichtspunkte dürften schließlich bemerkenswert erscheinen, zunächst der, daß das Dock nach der Unterelbe, in die Nähe des Kaiser Wilhelm-Kanals, geschleppt werden kann, um erforderlichenfalls auch der deutschen Kriegsmarine Dienste zu leisten, was namentlich zu Kriegszeiten schätzbar ist. Und zum letzten, nichtzum wenigsten: mit stolzer Freude darf der Deutsche auf die drei Riesen unseres Bildes blicken. Sie legen Zeugnis dafür ab, daß das, wofür wir ehemals den Briten zinsbar werden mußten, jetzt im neuen Reiche ebenso tüchtig wie großartig beschafft wird durch eigene Kraft! G. K.     


Das „Haus im Busch“ im Haag, der Sitz der Friedenskonferenz.
Von der Gartenseite aus gesehen.

Das „Haus im Busch“. (Mit Abbildung.) Am 18. Mai soll die vom Kaiser Nikolaus II angeregte Friedenskonferenz im Haag zusammentreten. Als Stätte für die Zusammenkünfte der Diplomaten ist das Schloß „Het Huis ten Bosch“ („Das Haus im Busch“) bestimmt worden. Es ist ein herrlicher Fürstensitz, der abseits von dem Getriebe der Großstadt im Haagschen Wald in friedlicher Stille liegt. Vor mehr als 250 Jahren, noch zur Zeit der Freibeitskämpfe des niederländischen Volkes, ist er gegründet worden. Er sollte der Fürstin Amalia von Solms, der Gattin des großen Oraniers Frederik Hendrik, als Witwensitz dienen. Am 2. September 1645 wurde der Grundstein zu dem Lustschloß gelegt, das von dem berühmten Baumeister J. van Campen und seinem Kollegen Pieter Post ausgeführt wurde. Als jedoch Prinz Frederik Hendrik frühzeitig starb, beschloß die Fürstin Amalia, das Lustschloß zu einem Mausoleum zu gestalten, das „seinen Ruhm“ und „ihren Schmerz“ verewigen sollte. So entstand der prächtige „Oranjesaal“, der die Mitte des Gebäudes einnimmt und bei einem Durchmesser von 50 Fuß eine Höhe von 60 Fuß aufweist. Herrliche Gemälde niederländischer Meister, wie de Grebber, Jordaens, Honthorst, Everdingen u. a., schmücken die Decke und die Wände. In erster Linie gelten sie der Verherrlichung Frederik Hendriks. Im Jahre 1748 ließ Prinz Wilhelm IV das Schloß durch den Anbau zweier Seitenflügel erweitern, und in einem Teil der damals neu geschaffenen Räume wird die Friedenskonferenz ihre Sitzungen abhalten. Napoleon I verwandelte das Schloß zu einem Staatsgefängnis, aber der erste niederländische König, Wilhelm I, stellte es in der alten Pracht wieder her.


Unsere Abonnenten machen wir hierdurch darauf aufmerksam, daß wir für den Jahrgang 1898 der „Gartenlaube“ eine den Anforderungen des heutigen Geschmacks entsprechende

neue Original-Einbanddecke
in olivengrüner Leinwand nit reichem Gold- und Schwarzdruck
anfertigen ließen, welche zu dem billigen Preise von Mark 1,25 durch jede Buchhandlung bezogen werden kann. Mit Benutzung dieser Decke ist jeder Buchbinder imstande, zu verhältnismäßig billigem Preise einen soliden und eleganten Einband herzustellen. manicula Neben dieser neuen Decke führen wir die frühere Decke, in brauner Leinwand zum Preise von Mark 1,25 für den Jahrgang 1898 noch weiter. Auch für die älteren Jahrgänge der „Gartenlaube“ ist diese braune wie auch die neue olivengrüne Original-Einbanddecke noch erhältlich.

Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich unter Beifügung des Betrags zuzüglich 50 Pf. für Porto direkt an die

Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[292 a] ----

Allerlei Winke für jung und alt.

Bluse mit Quersäumchen. Der Blusenmode ist schon mehrfach der Untergang prophezeit worden, statt dessen bildet sie sich in immer neuen Gestalten aus und denkt nicht ans Verschwinden: sie ist zu praktisch. Eine sehr fein wirkende Verzierung ist die durch schmale Quersäumchen, immer vier übereinander angeordnet, dazwischen wieder ein glatter Streifen. Der Schnitt ist der denkbar einfachste, die vordere Länge ziemlich reichlich zu bemessen, um die Vorderteile etwas überfallend zu bekommen. Ein schmales Börtchen ziert den Rand, vorn in der Mitte wird ganz schmal eine helle Weste sichtbar, kurze dunkle Spangen halten die Bluse darüber zusammen. Der Kragen ist ziemlich hoch und in Ecken geschnitten; am Oberteil der Aermel sind auch noch zwei bis drei Gruppen von Säumchen anzubringen, welche scheinbar die des Vorderteils fortsetzen. In Seide wirkt diese Art der Verzierung am besten, doch eignen sich auch leichte Waschstoffe etc. sehr gut dazu. Natürlich müssen die Säumchen genau geheftet und mit der Maschine gesteppt sein, ehe man die Blusenteile zuschneidet.

Bluse mit Quersäumchen.

Die Buchbinder- und Galanteriearbeit. Unter den mancherlei Arbeiten, die von Dilettanten zur Ausfüllung ihrer häuslichen Mußezeit gepflegt werden, sollte die Buchbinder- und Galanteriearbeit jedenfalls eine erste Stelle einnehmen, denn ihr Gebiet ist ebenso vielseitig wie interessant. Hier möchte man eine Landkarte auf Leinwand ziehen, dort einen Buchumschlag neu bekleben; hier möchte man Briefe oder Musikalien einbinden, dort eine mit Brandmalerei verzierte Schatulle innen schön polstern; hier möchte man eine Schreibmappe in Lederschnitt mit Atlasfutter, Ziernägeln, Glassteinen etc. versehen, dort für Mutters silberne Bestecke ein großes Etui anfertigen, mit Sammet ausschlagen, mit gepreßten Goldlinien, Metallbeschlägen etc. verschönern – nichts ist dem Dilettanten unzugänglich. Freilich will alles möglichst fachmännisch gelernt sein, und daher ist es erforderlich, eine Vorübung in Form einfacher Papparbeiten vorzunehmen, um die Behandlung der Materialien und Werkzeuge kennen zu lernen und sich stufenweise dasjenige fachliche Geschick anzueignen, welches zur Anfertigung größerer Arbeiten unerläßlich ist.

Den Papparbeiten wird bereits im Handfertigkeitsunterricht unserer Jugend eine besondere Sorgfalt zugewendet; man würdigt dort den großen erziehlichen und praktischen Wert solcher Art Beschäftigungen, und es erfüllt stets mit Freude, wenn man die allerlei Kästen, Taschen, Mappen, Schachteln etc. sieht, welche so sachverständig angefertigt wurden. Wer etwas gelernt hat, kann auch etwas leisten, und wer die Hand geübt hat, dem ist auch der Blick geschärft. So vieles läßt sich mit einfachen Mitteln für ihn anfertigen oder ausschmücken, was ein anderer gar nicht des Beachtens für wert hält. Welch schöne Kästchen für Briefbogen, Couverts, Karten, Schmucksachen, Bilder, Tabak, Schlipse etc. kann man nicht zum Beispiel aus kleinen und großen Cigarrenkisten herstellen! Man umklebt sie mit irgend einem schönen Kalikostoff, klebt auch das Innere fein aus mit Glanz- oder Moirépapier oder polstert das Innere mit Seidenstoff, bringt ein Schloß und zwei Scharniere an, sticht ein paar Ziernägel als Füßchen ein, und fertig ist das Werk. Kunstgeübte Hände können noch weiter gehen. Sie verzieren das Kästchen mit Stiftvergoldung, mit Nagelarbeit, mit Metalllaubsägereien oder selbstbossierten Metallbeschlägen, oder sie nehmen statt des Kalikoüberzuges einen solchen von Leder und verzieren es dann mit aufgelegten Ledermosaiken, mit Lederritzarbeit, Lederätzarbeit etc. – Kurz, die Mannigfaltigkeit kennt kaum eine Grenze, und bei guter Ausführung wird niemand vermuten, daß Vaters Cigarrenkiste die Idee dazu hergegeben. Aehnlich verhält es sich mit den heutzutage oft so prunkvollen Pappkartons für Briefbogen, die nach Verbrauch einfach wegzuwerfen wohl jedem leid thut. Sie dienen zur Aufnahme von Nadeln, Zwirnen, Stickfäden, unerledigter Korrespondenz, Rechnungen und Quittungen, Schreibutensilien etc. Durch Pappeinlagen mache man sie steifer und fester, steche ebenfalls einige Füßchen ein, füttere das Innere mit Seide oder teile es in Fächer; die äußeren bunten Blumen gestalte man durch Reliefschnitzerei lebendiger und plastischer oder male sie nach oder ergänze sie durch aufgeklebte Ansichten, Photographien etc. Viele Winke ließen sich noch erteilen für solche Anfangs- und Uebungsarbeiten. Wer sie fleißig betreibt, wird sehr bald die Lust zu weiterem Schaffen verspüren und nach Jahresfrist stolz sein auf die Fortschritte, die er gemacht hat.

Werkzeugschrank.

Werkzeugschrank. Der Kern dieses netten Vorplatzmöbels ist eine flache, gut gearbeitete Bilderkiste, die man vom Schreiner mit zwei Querbrettern und einem einfachen Aufsatz aus Fichtenholz versehen läßt. Diesen letzteren verziert man durch irgend eine Füllung von einfachen Formen und breiten Konturen. Die Blätter unseres gotischen Ornaments (s. Abb.) stehen in kräftigem Grün dunkel umrandet auf dem hellen Holzgrund, die Blume ist braunrot, die Samenkapsel inmitten derselben gelblich, mit hellroten Beeren darin. Das ganze Kästchen ist mit Nußbeize nicht zu dunkel zu beizen und mit Parkettwachs einzureihen. Die Werkzeuge und was z. B. zum Packen gehört, wird teils hineingehängt, teils gestellt, und wer den Anblick dieser prosaischen Gegenstände nicht für passend findet, kann einen kleinen Vorhang aus rotbraunem Molton etc. leicht an der oberen Kante der Kiste anbringen.



Für die Kinderstube.

Kinderschühchen von Gobelinwolle zu stricken. Man schlägt 60 Maschen auf, auf 4 Nadeln je 15, und strickt immer zwei rechts, zwei links 40 Reihen. Nun kommt der Durchzug für das Bündchen: 2 Reihen werden links gestrickt, dann bildet man die Löchelchen, indem man immer 2 Maschen zusammenstrickt und einmal den Faden um die Nadel schlingt; hierauf werden wieder 2 Reihen glatt links gestrickt. –

Kinderschühchen.

Jetzt beginnt der Füßling, der durch abwechselnd rechts und links gestrickte fünfreihige Rippchen gebildet wird. Mit dem rechts gestrickten Rippchen fängt man an, strickt also 5 Reihen rechter Maschen, dann 5 Reihen links etc. etc.

Hat man 2 rechts und 2 links gestrickte Rippchen, so zählt man für das Vorderteilchen 20 Maschen ao und strickt diese in fünfreihigen Rippchen weiter. Bei der letzten Nadel jedes rechts gestrickten Rippchens aber wird zu Anfang und zu Ende abgenommen, so daß im ganzen 8 Maschen abgenommen werden und nur noch 12 auf der Nadel bleiben. Der Schluß wird durch ein links gestricktes Rippchen gebildet, man strickt noch eine Reihe rechts, nimmt seitwärts die Schlingen auf, strickt weiter, nimmt auch die anderen Schlingen auf und teilt die Maschen gleich auf die 4 Nadeln. Nun hat man die ganze Rundung des Schühchens und strickt weiter, bis 2 rechts und 2 links gestrickte Rippchen vollendet sind.

Zur Sohle nimmt man genau in der Mitte, hinten und vorne 12 Maschen ab, immer bei jeder Reihe 4 Maschen; auf jeder Nadel eine. Sind die letzten 2 der 12 Maschen zusammengestrickt, und hat man im ganzen 6 glatte Reihen, so wendet man das Schühchen und strickt es zusammen. Zuletzt zieht man noch ein farbiges Bändchen durch, bindet vorne ein Schleifchen und das Kunstwerk ist vollendet.

Leine zum „Pferdchenspielen“. Aus dicker, roter Baumwolle mit starken Nadeln immer rechts gestrickt, wird diese Leine bei Söhnen und Neffen unter sechs Jahren dankbare Aufnahme finden; sie ist höchst einfach folgendermaßen herzustellen: 10 Maschen schlägt man an; zunächst wird das Leitseil, das um den Gürtel und nach rückwärts weitergeht, etwa 3 m lang gestrickt und an den Enden zusammengenäht; dann kommt ein ebenso breites Band um die Taille, je nach dem Format des „Pferdchens“, hinten in der Mitte mit einer Schelle, wie man sie von der Narrenkappe her kennt, zugeknöpft. Durch zwei weitere Schellen sind Gürtelband und Leitseil vorn aufeinander genäht. Hierauf fertigt man die Träger, die etwa 50 cm lang, oberhalb der beiden Schellen angesetzt, über die Schultern gelegt und hinten am Gürtel kreuzweise befestigt werden; ein kurzes Zwischenstück, mit Schellen besetzt, verbindet beide Träger. Das dunkelrote, türkische Garn und die goldenen, klingenden Schellchen machen den kleinen Leuten viel Spaß.

Leine zum „Pferdchenspielen“.

[292 b]

Allerlei Kurzweil.

Bilderrätsel „Mondlandschaft“.
Von Al. Weixelbaum.


Dominopatience.

Aus den 28 Steinen eines gewöhnlichen Dominospiels bilde man die hier gegebene Figur, so daß sowohl in jeder senkrechten und wagerechten Reihe als auch in jeder der beiden Eckenlinien die Summe der Augen 21 beträgt. Die Felder ohne Augen und die mit einem Auge giebt die Zeichnung an; von den übrigen Feldern sind die mit gleich viel Augen durch gleiche Schraffierung angedeutet. A. Stabenow.     


Verwandlungsrätsel.
Regen | ....* | *.... | ..*.. | .... | *... | ..*. | ..+.. | ...*. | Traufe.

Mit Hilfe von neun substantivischen Zwischenstufen soll man aus dem Regen in die Traufe gelangen. Dabei muß jedes Wort aus dem vorangehenden durch Aenderung nur eines Buchstabens entstehen, der entweder weggelassen oder hinzugefügt (+) oder mit einem andern vertauscht (*) wird. Umstellen der Buchstaben ist nicht gestattet.


Rösselsprung.0 Von Oscar Leede.



Scherzrätsel.

Lenz zeigt in unserm Land sich jetzt;
In welcher Stadt am Rhein zuletzt?   E. S.




Rätsel.

Ich herrsche in der ganzen Welt,
Bereits seit Adams Zeiten,
Ob Mann, ob Weib, ob Greis, ob Kind,
Von mir kann niemand scheiden.
Und dennoch ist mir keiner hold,
Es flieht mich, wer mich kennet,
Und kehret doch zu mir zurück,
Den seinen Feind er nennet!
Doch änderst du ein Zeichen nur,
So leitet’s dich auf rechte Spur,
Auch schützt es dich in Kampfes Wut,
Und stärket in Gefahr den Mut.   Th. Biedermann.



Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 8.

1. S c 5 – d 7 e 4 – f 3 :
2. D c 1 – d 2 + beliebig
3. S g 3, g 7, e 7:, D d 4 ≠.

  A.
1. . . . f 2 – f 1 D
2. D c 1 – c 6 + K d 5 – c 6:
3. L f 3 – e 4 : ≠.

  B.
1. . . . K d 5 – e 6 :
2. D c 1 – c 6 + K e 6 – f 5:
3. D c 6 – e 4: ≠.

  C.
1. . . . T h 5 – f 5:
2. D c 1 – c 5 + K d 5 – e 6:
3. D c 5 – c 6 ≠.

Auf 1. … T e 1 (T h 4:, S c 3, S e 3) folgt 2. D d 2 + nebst 3. S g 7, e 7, D d 4 ≠; alle andern Gegenzüge von Schwarz erledigt die Drohung 2. D c 6 + K c 6: 3. L e 4:≠.


Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 8.   Zimmer (Z – immer).

Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 8.   Gicht, Sicht.

Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 8.

Man nehme zuerst jene Buchstaben, an welche Teile der Zeichnung heranreichen, indem man bei dem D oberhalb des Starhäuschens beginnt und nach rechts abliest. Hierauf in derselben Folge die andern Schriftzeichen. Man erhält:

Der Frühling kommt mit seiner Pracht
Trotz Schnee und Sturm oft über Nacht.
  Drum hoffe!




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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Nach anderen Ueberlieferungen soll die „weiße Frau“ Agnes, eine geborene Herzogin von Meran, gewesen sein, die einen Grafen von Orlamünde heiratete und nach seinem Tode mit ihren Kindern auf die Plassenburg zog. Vgl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1896, S. 505.[WS: Nummern-Ausgabe: S. 491]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Das Fürstentum Bayreuth kam nicht 1804, sondern erst 1810 von Frankreich an Bayern.