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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[676 c]

22. Heft. Preis 10 cents. 17. Oktober 1899.



Max Well & Co., cor. 12 th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.
[676 d]

Inhalt.

Seite
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (3. Fortsetzung) 677
Deutsche Originalcharaktere des achtzehnten Jahrhunderts.
  Graf Gustav Adolf von Gotter. Von R. v. Gottschall
680
Wasserspendende Lianen. Von Dr. Friedrich Knauer 683
Die Marienburg. Von Ernst Wichert. Mit Abbildungen
  nach Photographien von H. Ventzke (Schluß)
684
Kismet. Eine Novelle aus Persien von H. Rosenthal-Bonin 688
Die Papiertüte 700
Die wissenschafliche Erforschung des Bodensees. Von Professor Dr. Kurt Lampert 702
Blätter und Blüten: Illustrierte Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. S. 706. – Dr. Georgi, Oberbürgermeister von Leipzig. (Zu dem Bildnis S. 707.) S. 706. – Ein Hochseefischer aus dem Vogelreiche. Von Matschie. (Zu dem Bilde S. 677.) S. 707. – Vor dem Kurhause in Bad Reichenhall. Von B. Rauchenegger. (Zu dem Bilde S. 689.) S. 707. – Kinderbelustigung im Zoologischen Garten zu Berlin. Von G. Klaußen. (Zu dem Bilde S. 693.) S. 707. – Das Denkmal Friedrichs des Großen in der Berliner Siegesallee. (Mit Abbildung.) S. 708. – Wasserweihe im Kaukasus. Von E. v. Hesse-Wartegg. (Zu dem Bilde S. 696 und 697.) S. 708. – Das neue Rathaus der Stadt Leipzig. (Zu den Abbildungen S. 701 und 705.) S. 708.
Illustrationen: Baßtölpel. Von Paul Neumann. S. 677. – Amor im Nacken. Von Paul Wagner. S. 681. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Marienburg“. Der Kapitelsaal. S. 684. Kreuzgang mit der Thür zum großen Turm. Die Goldene Pforte. S. 685. Der Speiseremter. Die Konventsstube. S. 686. Der Konventsremter oder Rittersaal. Der Sommerremter. S. 687. – Vor dem Kurhause in Bad Reichenhall. Von F. Hlavaty. S. 689. – Kinderbelustigung im Zoologischen Garten zu Berlin. Von Emil Rosenstand. S. 693. – Wasserweihe im Kaukasus. Von R. Mahn.

S. 696 und 697. – Das geplante neue Rathaus zu Leipzig. Nach dem Entwurf von Stadtbaurat Professor Hugo Licht gezeichnet von G. Theuerkauf. S. 701. Das alte Leipziger Rathaus. S. 705. – Dr. Georgi, Oberbürgermeister von Leipzig. S. 707. – Das Denkmal Friedrichs des Großen in der Siegesallee zu Berlin. S. 708.

Hierzu Kunstbeilage XXII: „Der Schönsten!“ Von Oskar Gräf.




Kleine Mitteilungen.

Von der Seelenwanderung. Die Lehre von der Seelenwanderung ist nicht ein müßiges Beiwerk der indischen Religionen, sondern aus dem Kern derselben herausgewachsen, und als der große Reformator Buddha, der keinen Gott und keine Götter kennt, die Grundlagen der Brahmanenweisheit erschütterte, das Kastenwesen verwarf und seine Religion auf Menschenliebe und menschliche Verbrüderung gründete, da nahm er doch die Seelenwanderung in seine Lehre und zwar als eine wichtige Grundlage mit auf. Die Weisheit der Brahmanen verwischte die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren, Menschen und Göttern; sie sah überall nur Seelen, welche sich in gleicher Weise aus größerer oder geringerer Unreinheit zur Reinheit, aus der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit, zum Urquell des Daseins zurückzuarbeiten haben. Dazu bedarf es unzähliger Wiedergeburten. Zuerst wird der Sünder in der Hölle gemartert; dann beginnt er die Stufenleiter der Wanderung, und zwar von der untersten, der schlechtesten Existenz an, von neuem. Wer geringere Fehler begangen, wird je nach dem Maße derselben als Elefant oder Sudra (Mitglied der niedrigsten Kaste), als Vogel oder Tänzer wiedergeboren, wer grausame Thaten vollbracht hat, als Löwe oder Tiger. Wer einen Mordversuch auf einen Brahmanen machte, wird hundert oder tausend Jahre in der Hölle gepeinigt werden, dann aber in einundzwanzig Geburten das Licht der Welt als Abkömmling eines gemeinen Tieres wieder erblicken. Wer einen Brahmanen getötet hat, wird als Hund, als Esel oder als Ziegenbock wiedergeboren werden, wer eine Kuh geraubt hat, als Krokodil oder Eidechse, wer Korn gestohlen, als Ratte; wer Früchte oder Wurzeln stiehlt, wird Affe. Die Zahl dieser Existenzen aber ist unbegrenzt. Die Buddhisten nahmen diese Lehre auf. Unter den tierischen Wiedergeburten gelten den Buddhisten die als Ameisen, Läuse, Wauzen und Würmer für die schlimmsten. Als Mensch wird man auf schlechten oder guten Wegen, in einer niedrigeren oder höheren Kaste, unter leichteren oder schwereren Verhältnissen, je nach früherer Schuld oder früherem Verdienst wiedergeboren. Dem Buddha selbst werden 550 frühere Lebensläufe zugeschrieben, bevor er als Sohn des Suddhodana das Licht der Welt erblickte. Er hat zuvor gelebt als Ratte und als Krähe, als Frosch und als Hase, als Hund und als Schwein, zweimal als Fisch, sechsmal als Schnepfe, fünfmal als Goldadler, viermal als Pfau und ebenso oft als Schlange, zehnmal als Gans, ebenso oft als Hirsch und Löwe, sechsmal als Elefant, viermal als Pferd und Stier, achtzehnmal als Affe, fünfmal als Seelöwe, dreimal als Töpfer, dreizehnmal als Kaufmann, neunundzwanzigmal als Brahmane, ebenso oft als Prinz, achtundfünfzigmal als König. Doch Buddha kannte seine früheren Existenzen, und als er unter dem Bo-Baum saß und die Offenbarung über ihn kam, da wußte er, welche Namen er früher geführt, welchen Kasten, welchen Familien er angehört, welches Glück und Unglück er erlebt hatte. Die Seelenwanderung ist eine Läuterung; wer die Begierden abgestreift, das Verlangen, den Willen zum Leben, der erlangt die Nirwana, den letzten endgültigen Tod, mit dem die Wanderung abschließt. Die Erlösung durch den Tod – das ist auch die Bedeutung der Sage von Ahasver, nur daß dieser nach einer einmaligen Menschwerdung die rastlose Dauer des Lebens als unerträgliche Last empfindet, während die Seele der Hindus sich durch tausend Gestalten mit ihrem qualvollen Leben hindurchwindet. †     

Eine Riesenpumpe. Bisher hielt man die mit gepreßter Luft arbeitenden sogenannten Mammutpumpen allgemein für die leistungsfähigsten und staunte über die gewaltigen Wassermengen, die sie zu liefern imstande waren. Und es ist thatsächlich schon des Staunens wert, wenn man hört, ihre Leistungsfähigkeit beträgt 135 Tausend Liter in der Minute oder gegen 195 Millionen Liter, das sind 195 000 Kubikmeter Wasser für den Tag. Jetzt hat aber, wie die „Berg- und Hüttenmännische Zeitung“ berichtet, die berühmte Calumet-Hekla-Mine am Oberen See in Nordamerika eine Pumpe aufgestellt, die der erwähnten bei weitem überlegen ist. Sie dient dazu, das zum Waschen der gestampften Kupfererze nötige Wasser herbeizuschaffen, und heißt mit Recht die größte Pumpe der Welt. Zu ihrem Betriebe sind 1500 Pferdestärken notwendig. Sie liefert zur Zeit in der Minute 187500 Liter, das sind in 24 Stunden etwa 270 MUlionen Liter; ihre Maximalleistung aber ist bedeutend größer. Diese beträgt nämlich für den Tag 337 Millionen Liter oder in anderen Worten 337 Tausend Kubikmeter Wasser.

Das sind doch gewiß gewaltige Wassermengen, wenn man bedenkt, daß ganz Berlin mit seinen über anderthalb Millionen Einwohnern und seinen Riesenbetrieben täglich nur etwa 117685 Kubikmeter Wasser verbraucht. Eine einzige solche Pumpe genügt also, um zwei solcher Städte wie Berlin mit Wasser vollständig zu versorgen. Und doch, wie klein erscheinen diese riesigen Mengen gegen die, welche in der Natur bewegt werden. So beträgt die Wassermenge des Rheins bei Emmerich in der Sekunde durchschnittlich 1980 Kubikmeter, die des Nils kurz vor der Deltabildung 8477, die des Mississippi 23000 und die des Amazonenstromes gar 35000 Kubikmeter in der Sekunde. Unser verhältnismäßig kleiner Rhein bewegt also in dem kleinen Zeitraum von nur 200 Sekunden eine noch etwas größere Wassermasse als die Riesenpumpe in 24 Stunden.

Und noch an einem anderen Beispiel läßt sich die Unbedeutendheit selbst solcher Riesenleistungen, wie dieser Pumpe, gegenüber den in der Natur bestehenden Verhältnissen, klar machen. Nimmt man nämlich den Wassergehalt des Bodensees bei einer durchschnittlichen Tiefe von 100 Metern und einem Flächeninhalt von 540 Quadratkilometern zu 54000 Millionen Kubikmeter an, so würde eine solche gleichmäßig und ohne Aufhören arbeitende Riesenpumpe doch den gewaltigen Zeitraum von rund 160 Tausend Tagen, das sind über 439 Jahre, gebrauchen, bevor sie das Seebecken leer gepumpt hätte. †     

Der Kohlenbergbau in Preußen. Im Jahre 1898 wurden in Preußen insgesamt 266 Steinkohlenwerke und 374 Braunkohlengruben betrieben. Die Steinkohlenfördernng betrug 89572128 Tonnen, der Absatz (Versandt) belief sich auf 87117301 Tonnen, und 321965 Arbeiter waren in den Betrieben thätig, während die Braunkoblenförderung 26064543 Tonnen, der Absatz 20948560 Tonnen und die Zahl der beschäftigten Arbeiter 34130 betrug.

Der Steinkohlenbergbau ist am hervorragendsten im Oberbergamtsbezirk Dortmund (51 Millionen Tonnen Förderung und ebensoviel Absatz, 191215 Arbeiter), wo sich allein 166 Werke (Zechen) befinden; dann folgt der Bezirk Breslau mit 26853260 Tonnen Förderung, 24515554 Tonnen Absatz und 80648 Arbeitern.

Der Braunkohlenabbau konzentriert sich vornehmlich im Bezirk Halle a. S., wo er mit 274 Werken und 28270 Arbeitern vertreten ist, die 22265628 Tonnen zu Tage förderten, während der Absatz 17575234 Tonnen betrug. Der Bezirk Dortmund hat gar keine Braunkohlengruben: der Rest von 100 Werken verteilt sich mit 38,33 und 29 Werken und entsprechender Förderung und Belegschaft auf die Bezirke Bonn, Breslau und Klausthal.

Die Eisenbahnen der Erde. Die Länge aller Eisenbahnen der Erde beträgt gegenwärtig etwa 735 000 km. Diese Riesenschöpfung der letzten sechs Jahrzehnte, deren Anlagekapital auf 150 Milliarden Mark geschätzt wird, wächst noch immer im Jahresdurchschnitt um 2 Procent, eine Zunahme, die sich im Hinblick auf die großen asiatischen und afrikanischen Eisenbahnprojekte so bald nicht vermindern wird. Rund 130000 Lokomotiven liefern die treibende Kraft, und mehr als 5 Millionen Beamte und Arbeiter stehen im Dienste des geflügelten Rades.

[676 e]


DER SCHÖNSTEN!
Nach dem Gemälde von Oskar Gräf

[677]

Halbheft 22.   1899.


Der König der Bernina.
Roman von J. C. Heer.
(3. Fortsetzung.)


7.

Durch einen wonnigen Augustabend schritt Cilgia mit ihrem Lateinbuch zum Kirchlein Santa Maria empor.

Sie trug einen Brief Konradins von Flugi mit sich. Er schrieb, daß die Freunde nächstens zu einem frohen Nachmittag nach Pontresina kommen werden, sie möge es auch Paltram mitteilen. Es freuen sich alle, den jungen Büchsenmacher kennenzulernen, von dessen neuem, vortrefflichem Gewehr man in den Dörfern rede.

Was thun? Paltram war seit der Begegnung einmal an ihr vorbeigegangen. Da hatte sie den Kopf abgewandt und seinen Gruß nicht erwidert.

O, das Volk hat recht: er ist ein Camogasker – eine abgründige Seele!

Wie es aber den Freunden sagen, daß sie sich in Paltram getäuscht habe, daß er der Jugend des Engadins nicht würdig sei? Sie knirschte vor Verlegenheit mit den Zähnen.

Ob die Freunde sie auch nur verstünden? Das Engadinervolk, jung und alt, hat andere Gedanken über die Jagd als sie, und selbst ein so gebildeter Mann wie der Pfarrer beschönigt die unsägliche Roheit Paltrams.

„Schau um dich,“ hat er gesagt, „und wo du hinblickst in der Natur, ist nicht der sanfte Ausgleich, sondern der Kampf, und jeder, der kann, übt sein Herrenrecht über Mitmenschen und Kreatur.“

Sie aber hat in flammendem Zorn erwidert: „Wohlan, wenn andere das Recht der Grausamkeit für sich in Anspruch nehmen, so wollen doch wir gütiger sein und Barmherzigkeit üben!“ Im Pfarrhaus ist darauf etwas wie eine Verstimmung entstanden, und erst etliche Tage später hatte der Pfarrer gefragt, welche Bewandtnis es denn mit einer Anklage Paltrams gegen einen Dritten habe. Da hat sie ihm wohl oder übel die Geschichte vom Fang der Gemsen mit der Gabel erzählt. Und der sonst milde Jakob Taß hat nicht Ausdrücke, die hart genug sind, die That Grubers zu verurteilen! Der Schuß Paltrams aber sollte ehrenhaft sein. Die Mutter unter den Augen des Kindes töten – ehrenhaft!

So grübelt Cilgia.

Bleiern und leblos ist der Abend! Wie lange erscheint Pia mit den Geißen nicht? Barfüßige Kinder kommen vom Dorf gelaufen und spähen nach ihr. „Es ist doch Melkzeit!“ Auch ein paar Frauen. „Es ist nichts mit Pia,“ zürnen sie. „Ziege um Ziege fällt ihr zu Tod. Sie hat wohl wieder ein schlechtes Gewissen.“

Endlich, schon in sinkender Nacht tritt die bimmelnde Herde aus dem Wald, doch die Hirtin fehlt. Die Frauen und Kinder geleiten ihre Ziegen ins Dorf. Cilgia zögert noch.

Wo bleibt Pia?

Da bringt aus dem Dunkel des Waldes ein bärtiger starker Wildheuer die Hirtin auf seinem Rücken. Das barfüßige, lotterig gekleidete Mädchen hatte den einen braunen


Baßtölpel.
Nach dem Leben gezeichnet von Paul Neumann.

[678] Arm um den Hals des Mannes geschlungen, der andere aber ist mit einem Tuch aufgebunden, und die sonst so wilde Hummel stöhnt.

„Was ist geschehen, arme Pia?“ fragt Cilgia teilnahmsvoll. Die Antwort ist ein Gewimmer.

Der Wildheuer erzählt, auf der Rückkehr habe er unter einem Felskopf ein Weinen gehört, er sei in die Tiefe gestiegen und habe auf einem Gesteinsband Pia mit zerschmetterter Schulter gefunden. Sie habe eine Ziege, die sich verstiegen, von dem Felsenkopf holen wollen und sei, während sich die Geiß selber zurückgefunden habe, gestürzt.

Die Verletzte aber erhebt ein zorniges Geheul. „Es ist niemand als Paltram schuld! Seit er in unserm Hause wohnt, der Camogasker, habe ich Unglück über Unglück. – Ihr seid auch schuld, Fräulein!“ Und der verwundete Waldteufel läßt die Funkelaugen rollen.

Dennoch begleitet Cilgia das seltsame Paar des struppigen Wildheuers und des fast zart gebauten braunen Mädchens, das in einem fort wimmert und heult, zu der Hütte, in deren erstem Stockwerk es mit seiner kindischen Großmutter wohnt.

Der Wildheuer war kaum mit seinem schweren Tritt in die Stube getreten und hatte das stöhnende Kind auf eine Bank gesetzt, als er sagte: „Ich habe schon viel Zeit versäumt – mein Weib ist in Sorge um mich – ich muß heim – Guten Abend!“

In dem muffigen Gemach war es dunkel, die Alte irrte händeringend hin und her. „Mein Schäfchen, mein Rößchen, wer hat dir das gethan?“

Zuletzt gelang es Cilgia einen Kienspan anzuzünden.

Aber was nun? – Sie verstand so wenig von der Behandlung Kranker und der nächste Arzt war in Samaden.

Markus Paltram! schoß es ihr durch den Kopf. Hat man nicht immer erzählt, daß er vor Jahren an Krankenbetten gestanden und sich dabei mancherlei Kenntnisse angeeignet hat? Vielleicht weiß er einen ersten guten Rat!

Sie schrak davor zurück, ihn zu rufen; als aber das Kind stärker weinte, verwand sie mit einem Seufzer ihre Scheu.

Paltram arbeitete, als sie den Kopf durch die Thüre steckte, noch bei einer hellen Lampe an einer Gewehrfeder.

„Kommt schnell, Pia ist gestürzt!“ bat sie.

Da hob er den ausdrucksvollen, von der Lampe hellbeleuchteten Kopf: „Was geht mich der Waldteufel an! – Ich muß das Gewehr für Gruber fertig machen, er läßt es nächstens abholen.“

Cilgia wollte sich schon mit einer Gebärde der Verachtung von ihm wenden, da sagte er rasch: „Ich komme.“

Schnell erhob er sich nun und folgte ihr, seine Lampe mit sich nehmend.

Pia schrie auf, als er in die Stube trat, und die Alte kauerte, die Hände über die Knie geschlagen, in einen Winkel und beobachtete ihn mit entsetzten Augen.

Mit ruhigem Ernst schaute er der Leidenden, die sich bei seinem Anblick krümmte, ins Gesicht. „Ich muß jetzt halt thun wie ein Arzt,“ wandte er sich in entschuldigendem Ton zu Cilgia. „Pia, setze dich auf einen Schemel,“ befahl er streng, und als sie ihm in zitternder Furcht gehorchte, streifte er dem Mädchen das Hemdchen von den noch kindlich schmalen Schultern.

Cilgia trat errötend ins Dunkel zurück, Pia schrie, sperrte sich und wies ihm das weiße Gebiß. Doch sonderbar – er richtete nur sein hartes Gesicht und sein strenges, ruhevolles Auge auf sie und ihr Ingrimm erlahmte in gräßlicher Angst.

Mit eiserner Ruhe stellte er sich vor und hinter das Kind, verglich in angestrengter Aufmerksamkeit die stark gerötete, blutunterlaufene linke Schulter mit der gesunden rechten – besann sich – betastete die zerschlagene Achsel lange und sorgfältig und sagte dann freundlich zu Pia: „Es ist ein Wunder, wie du das erträgst!“

Da ging doch ein Zug der Befriedigung über das schmerzverzerrte Gesichtchen.

Damit Pia es nicht verstehe, wandte er sich deutsch an Cilgia: „Der Fall ist sehr ernst – es hat sich ein ausgerenkter Knochen ins Schulterblatt gebohrt!“

„Soll ich den Mesner zu Doktor Troll in Samaden schicken?“

„Ich fürchte,“ sagte Paltram nach einer Pause und ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit, „der versteht gerade von diesen Verletzungen weniger als ich. Und woher nähme er die Zeit für die lange Behandlung, die nötig ist, wenn Pia nicht ein elender Tropf werden soll?“

Maßlos wuchs das Erstaunen Cilgias über Paltram, über seine sichere Art, zu sprechen.

Er wandte sich wieder zu dem zitternden Mädchen, hob vorsichtig den linken Arm, schwenkte ihn langsam nach innen und außen und beobachtete dabei die Züge ihres Gesichts. „So, das thut weh!“ sagte er einmal, als es sich jäh schmerzlich verzog.

„Fräulein Premont, haltet doch einmal den rechten Arm Pias straff rückwärts! Gut!“

Langsam hob er den linken Arm Pias, schaute ihr mit einem Ausdruck ins Gesicht, daß sie zuckte vor Furcht, zog den Arm mit einem raschen Ruck wagrecht und schnellte ihn so in einer Biegelage aufwärts, daß die Hand der entsetzlich Schreienden die kranke Schulter berührte.

Man hörte deutlich ein Knacken, die Alte fuhr aus dem Winkel: „Mordio – mordio!“

Paltram aber sagte gelassen: „Legt sie zu Bett – für heute ist alles gethan.“

Da führte Cilgia die Blasse in das Nebenstübchen. – Eine Weile später folgte Paltram.

Pia wimmerte immer noch kläglich.

„Ja, schläfst du noch nicht?“ fuhr Paltram sie barsch an, rückte einen Stuhl zu ihr hin, setzte sich, legte die Hand auf ihren Scheitel, sah sie mit seinen blauschwarzen, geheimnisvollen Augen ruhig an und sagte milder: „Schlaf jetzt, Pia!“

Mit unheimlicher Stärke und Kraft ließ er den Blick auf dem schmerzreichen Gesichtchen ruhen.

Eine Weile verstrich in tiefer Stille, leise stöhnte die Kleine noch, aber unter den Augen Paltrams fielen ihre Lider zu und die Züge des kleinen hübschen Gesichts verloren den schmerzlichen Ausdruck und versteiften sich.

„So, die Hornisse schläft!“ sagte Paltram.

„Ich will die Mesnerin schicken, daß sie bei ihr wacht,“ erwiderte Cilgia; „ich muß nun doch wieder ins Pfarrhaus gehen.“

„Eine Wärterin ist kaum nötig,“ antwortete er.

Gemeinsam verließen Cilgia und Paltram die Kammer der Schlummernden, Cilgia gab ihm aber auch an diesem Abend die Hand nicht, ihr Groll über das Jagdbild im Rosegthal war noch zu frisch und lebendig. Mit kühler Zurückhaltung sagte sie: „Ich danke Euch, daß Ihr Euch zu einer That der Barmherzigkeit habt finden lassen.“

Mit tiefer Enttäuschung erwiderte er ihren Gutenachtgruß, sah ihr aber so lange nach, bis sich der letzte Ton ihrer Schritte im Grau der Nacht verlor.

In stürmischer Erregung erreichte Cilgia das Pfarrhaus. Was ist Markus Paltram für ein Mensch? – Sein Blutdurst ist verabscheuenswürdig, aber – – so gewaltig ist kein andrer wie er! Wie hat er Wille und Schmerz Pias bezwungen – was für ein wunderthätiges Auge hat er!

Die geheimnisvolle Kraft, die man ihm nachsagte, sie hatte sie mit eigenen Blicken gesehen, und sie ist ihr wohl wunderbar, aber auch als der natürliche Ausfluß seines machtvollen Wesens und gar nicht so unheimlich erschienen, wie es die Leute schildern.

Wer ist er?

Eine heiße Bewunderung streitet mit dem tiefen Abscheu, den sie gegen ihn gefaßt hat. Und sie spürt, daß ihr Herz ihm gehört. –

Aber obwohl sie beide sich immer wieder am Schmerzenslager Pias begegneten, sie sprachen kein vertrautes oder überflüssiges Wort miteinander und Paltram sehnte sich umsonst nach einem Händedruck Cilgias.

Diese weilte fast den ganzen Tag in der Kammer der ungeduldigen und eigensinnigen Kranken, die es nicht erwarten, konnte, bis die Großmutter am Abend mit ihrer Ziegenherde zurückkam und sie sich nach jeder einzelnen Geiß erkundigen konnte.

[679] „Fräulein, gebt mir doch einen von den Schuhen unter dem Bett, daß ich ihn der Großmutter an den Kopf werfe,“ knirschte sie, wenn die kindische Alte von etwas anderem sprach als sie erwartete.

Und das schmale Ding wütete, bis ihr der wehe Arm mit dem gebieterischen Befehl des Schmerzes Ruhe gebot.

Zuweilen kam Paltram auf einige Augenblicke in das Kämmerlein hinaufgestiegen und sprach beruhigende Worte, so sicher, als ob die Heilung nur eine etwas schwierige Rechnungsaufgabe wäre.

Und Paltrams Zuversicht war für Cilgia ein Sporn. Täglich aber wurde er finsterer, wortkarger.

Da erschien eines Morgens unvermutet der junge, hochmütige Doktor Troll von Samaden mit dem Landjäger im Kämmerlein Pias, rieb die Augengläser aus, untersuchte ohne viele Umstände das Kind und schüttelte den Kopf.

„Die geht an Brand zu Grund!“

In diesem Augenblick kam Paltram die Treppe emporgestiegen und lächelte den Arzt spöttisch an.

„Die geht an Brand nicht zu Grund – dafür laßt mich und Fräulein Premont sorgen!“

„Der Landjäger wird Euch nach Samaden führen!“ versetzte der Doktor scharf, „Ihr werdet Euch wegen unbefugten Arznens vor Gericht zu verantworten haben!“

„Ihr werdet mich nicht nach Samaden führen lassen, Doktor,“ erwiderte Paltram fest und mit ingrimmigem Blick. „Ihr würdet Euch lächerlich machen.“

So tauschten der Doktor und Paltram gereizte Worte.

„Was gilt’s,“ rief Paltram wütend, „daß meine Arzneikunst, mein chirurgisches Wissen von einem höheren Namen unterschrieben ist als Euer Doktortitel. Habt Ihr den Namen des Professors Lagourdet in Paris gehört?“

„Lagourdet,“ stammelte der junge Doktor erblassend, und wie um seine eigene Wissenschaft zu bezeugen, sagte er: „Das ist der Pariser Wundarzt, der keine Glieder mehr abnehmen, sondern mit einem Muskel- und Nervenbelebungsverfahren Amputationen überflüssig machen will.“

„Er will nicht nur,“ grollte Paltram, „er thut’s. Ich war in St. Etienne Schlosserlehrling, der gelegentlich die Messer und Pincetten für das Militärspital schliff. Ein erster Zufall – und drei Jahre lang war ich dort bei allen schweren Fällen sein Gehilfe. Ehe der Professor nach Paris übersiedelte, sagte er: „Markus, in deinen Bergen wirst du, was du gelernt hast, schon brauchen können. Da hast du einen Schein – mein Name darunter ist dir eine Empfehlung in aller Welt!“

„Zeigt das Zeugnis!“ sagte der Arzt.

„Klagt! Vor Gericht will ich es weisen!“ höhnte Paltram.

„Gut. Ich klage!“

Damit zogen der Arzt und der Landjäger ab – jener blaß, weil er den Triumph im Gesichte Paltrams sah.

In höchster Spannung war Cilgia dem Zusammenstoß gefolgt, und die Niederlage des Doktors freute sie königlich, vieles an Paltram war ihr durch das Gespräch der beiden plötzlich klar geworden. „Ja, wenn man alles von ihm wüßte,“ dachte sie, „würde man alles an ihm verstehen.“

Sie begegneten aber einander immer fremder, ihre Gespräche wurden immer kürzer und kühler, und eines Abends, als Cilgia, von Pia kommend, mit ihrem Buch droben beim Thor des Kirchleins Santa Maria saß, wechselten beide nur den knappsten Gruß und Cilgia sah kaum auf von ihrem Buch.

Da stand er plötzlich still und wandte sich um.

Sie that, als sähe sie ihn nicht, aber die Buchstaben tanzten vor ihren Augen.

Er keuchte vernehmlich wie unter einer schweren Last – und stand – und stand.

Sie aber rührte sich nicht.

Da begann er: „Ich halte es nicht mehr aus. dieses elende Leben! Sprecht mit mir, Fräulein! Sonst – – werde ich ein Thor!“

Cilgia hob die schönen Augen mit einer großen innern Genugthuung. Fast drängte es sie zu einem Lächeln; sie erschrak aber, als sie in sein Gesicht blickte, und kühl erwiderte sie: „Ich habe Euch nichts zu sagen, Ihr begreift doch, daß ich keine Gemeinschaft und Freundschaft mit einem Manne haben kann, der die Mutter vom Kinde wegschießt.“

Da wurde er totenblaß, und stoßweiße kamen die Worte von seinen Lippen: „Cilgia Premont, seid barmherzig wie Katharina Dianti barmherzig gewesen ist – gebt mir die Hand – ich verspreche Euch darein, daß ich in meinem Leben nie wieder eine Gemse noch ein andres Tier töte.“

Da stand Cilgia Premont mit flammendem Antlitz auf.

„Was sagt Ihr, Paltram? – Ihr wäret das imstand? – – – Ueberlegt noch einen Herzschlag lang,“ bebte ihre Stimme, „ob Ihr halten könnt, was Ihr versprecht; die Toten, die in den Gräbern ringsum ruhen, hören, was Ihr sprecht – und es käme nicht gut, wenn Ihr Euer Wort brächet!“

Paltram hatte sich aufgerafft; sein Atem ging schwer, dann blickte er ihr mit vollem, leuchtendem Auge ins Antlitz.

„Ich halte es, so wahr mir Gott helfe! Gebt mir darauf Eure Hand, Cilgia Premont. Es ist mir hundertmal leichter, die Jagd zu entbehren als Euch!“

Mit klarer und fester Stimme und freudig sagte er es.

Da legte sie ihre schmale feine Rechte in seine schwielige Arbeitshand, und ihre freien, offenen Blicke begegneten sich.

„Ich gebe Euch Frieden!“ sagte sie einfach und ruhig.

„Mehr – mehr müßt Ihr mir geben!“ keuchte er wie enttäuscht.

„Um Eures großen Mannesvorsatzes willen schenke ich Euch meine Achtung wieder, die Ihr eine Weile nicht mehr besessen habt.“

Cilgia sagte es ernst – er schwieg. Erst nach einer Pause sagte er dumpf: „Und sonst nichts?“

Sie biß sich verlegen auf die Lippen und schlug errötend die langen Wimpern nieder, dann machte sie plötzlich eine Bewegung, als wollte sie gehen.

Er aber nahm ihre beiden Hände und zog sie an seine Brust.

„Cilgia Premont, – ich bin noch nicht zufrieden! – Ihr habt am Waldesrand dort oben etwas zu mir geredet – und das brennt wie Feuer in mir. Ihr habt gesagt, daß über die Erde Frauen wie jene Katharina Dianti wandeln – und sie wandeln – sie wandeln – denn Ihr selber seid eine Katharina Dianti! Was muß ich thun, daß Ihr Euch mit einem Wort der Liebe zu mir neigt – o Cilgia Premont, ich kann nicht mehr leben ohne Euch!“

Aus glühender Brust rangen seine Worte und seine eindringlichen Augen flehten sie an.

Sie aber zögerte – ja, sie that, als wollte sie sich flüchten.

„Sagt, daß ich die oberste Flamme vom unersteiglichen Piz Bernina hole, und ich hole sie und bringe sie Euch in meinen Händen! Ich will unserm Engadin, dessen Lampe am Erlöschen ist, ein neues Licht anzünden, daß es ihm leuchte und seine Dörfer nicht in Ruinen stürzen! Das ist mein Vorsatz seit jener Stunde, wo Ihr zu mir geredet habt wie eine Apostelin. Und ich halte das Wort, wie ich das andere halte, daß ich nie wieder zur Jagd gehe. O, ich bin stark, Cilgia Premont, ich bin stark wie ein Berg – aber Eure Augen müssen auf mir ruhen.“

Scham und begeistertes Zutrauen standen im heißen Antlitz Cilgias – ihre Augen leuchteten siegreich auf. Sie that einen Schritt gegen ihn.

Sie stammelte und flüsterte: „Ich liebe Euch ja schon lange, Markus, aber Ihr habt es mir so unendlich schwer gemacht.“

Und sie senkte das stolze, schöne Haupt in hingebender Demut.

„Cilgia Premont!“ Erstarrt im Glück stand Markus Paltram und meinte, Himmel und Erde singen ihren Namen. Und ihre Hände fanden sich, sie wußten nicht wie, sie atmeten wie im Traum, Cilgia den Kopf an die Schulter Paltrams gelehnt.

„Ja, Markus,“ flüsterte sie, „du wirst das blutige Bild aus dem Rosegthal austilgen mit Thaten des Segens!“

„Sprich nicht davon – weil du mit mir geredet hast am Waldbord, bin ich mit schlechtem Gewissen zur Jagd gegangen. Ich meinte, es sollte nur das einzige Mal sein – ich ging, weil ich wußte, daß du nicht in Pontresina warst. Da kamst du wie Gottes Strafe zu dem Schuß, und sonderbar – seit du dort wie [680] eine unirdische Gestalt vor mir standest, graut mir vor den Gemsen – und wenn ich das Gewehr gegen eine erheben müßte, so wär’ mir’s, ich erhöbe es gegen dich!“

„Das höre ich gern, Markus,“ sagte sie weich. „Denn gegen mich wirst du nicht schießen!“

Und mit aufleuchtenden Augen und hellerer Stimme fuhr sie fort: „Nein, nein, Markus, deine Ziele liegen höher. Du sollst mir das Licht von der Spitze der Bernina holen, du sollst das Engadin lösen aus seiner schweren Not. Du bist ja stark wie keiner!“

Sie erzählte ihm voll Eifer von dem Jugendbund, den Lorsa auf der Höhe des Wallfahrtskirchleins zu St. Moritz gegründet.

„Auch du, Markus, gehörst zum Bunde durch mich, und die edelsten Jünglinge des Engadins werden dich als ebenbürtig nehmen und deine Freunde sein!“

„Cilgia!“ Es war ein Freudenruf, und in tiefer Bewegung wollte er sie auf die Stirn küssen.

Vor Scham erzitternd, entzog sie sich ihm. „Nein, Markus, noch nicht,“ bat sie leis. Und ihr Blick ging träumerisch in die Weite.

Da stiegen den Alpweg herab mit Geklingel die Ziegen des Dorfes. Die kindische Alte führte sie. Und Gioja und Gloria sahen Cilgia mit ihren gelben Glasaugen verwundert an und meckerten kläglich.

Es mußte etwas mit ihrer Herrin nicht in Ordnung sein. Sie hatte ihnen den Strauß nicht gerüstet und kraute ihnen nicht hinter den Ohren.

Nein, ihre Hand lag in der eines jungen Mannes und den schaute sie sonnig an. „Auf Wiedersehen, Markus, am Lager Pias!“

Und erst jetzt wandte sie sich zu ihnen, machte einen übermütigen Knix gegen sie und rief fröhlich: „Guten Abend, Gioja, guten Abend, Gloria!“

In freudevollem Lauf eilte sie mit ihnen den Mattenweg gegen das Dörfchen hinab, über dessen steinbeschwerten Schindeldächern ein Bündel roter Sonne ruhte. (Fortsetzung folgt.)     


Deutsche Originalcharaktere des achtzehnten Jahrhunderts.

Graf Gustav Adolf von Gotter.
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Von R. v. Gottschall.

Einer der interessantesten Emporkömmlinge des vorigen Jahrhunderts ist Graf von Gotter, eines jener bevorzugten Glückskinder, denen das, was andere im Schweiße ihres Angesichts zu erringen suchen, von selbst in den Schoß fällt. Er giebt den Beweis dafür, was der Zauber einer Persönlichkeit vermag; selbst seine Mißerfolge in Staatsgeschäften schadeten ihm nicht bei den Fürsten, bei den Höfen, noch weniger natürlich bei den Frauen; er blieb der gesuchte Liebling und Günstling, dem Ehren und Schätze im reichsten Maße zu teil wurden, dem die Kaiser von Oesterreich und die Könige von Preußen ihr Vertrauen schenkten.

Gotter war von bürgerlicher Herkunft und wurde am 26. März 1692 zu Altenburg geboren als Enkel des Generalsuperintendenten Johann Christian Gotter und als Sohn des Kammerdirektors Johann Michael Gotter in Gotha. Er studierte in Jena und Halle und machte dann Reisen in Holland, England und Frankreich. In Begleitung seines Vaters ging er 1715 nach Wien, wo dieser finanzielle Angelegenheiten zu ordnen hatte. Hier legte der Sohn rasch, in noch sehr jungen Jahren, den Grundstein zu seinem Glück; er erwarb sich die Gunst des Prinzen Eugen und anderer hochgestellter Persönlichkeiten, und so gelang es ihm, seinen Vater in Erledigung der Geschäfte des herzoglichen Hofes in Gotha aufs wirksamste zu unterstützen, schwebende Prozesse rasch und glücklich zu Ende zu führen und die Rückzahlung ausständiger Geldforderungen zu bewirken.

Gotter besaß Geist, Schönheit, große Weltgewandtheit und verstand es, von den Boudoirs aus die Entscheidungen der Kabinette zu beeinflussen. Schon im Jahre 1716 ernannte ihn Herzog Friedrich II zu seinem Legationssekretär, dem bald darauf die volle Vertretung aller Interessen des Herzogthums Gotha beim kaiserlichen Hofe anvertraut wurde. In jener Zeit war Wien ein Capua der Geister, und wer den Gelüsten der vornehmen Epikuräer bis hoch hinauf zu schmeicheln verstand, der war der Mann des Tages. Herzog Friedrich II bestärkte seinen Geschäftsträger, den er 1720 zum außerordentlichen Gesandten ernannt hatte, in den Neigungen zu einer glänzenden Repräsentation, die ja dem Ansehen des kleinen Hofes zu gute kam. Gotter besaß eine prächtig ausgestattete Wohnung, pomphafte Wagen, stolze Rassepferde und eine große Zahl von galonnierten Bedienten, Lakaien und Läufern. Seine Mahlzeiten waren reich an den ausgesuchtesten Leckereien und er berücksichtigte sich selbst dabei in der ausgiebigsten Weise. So war er ein großer Freund von jungen grünen Erbsen und es störte ihn weiter nicht, wenn er im Winter für jede Erbse einen Groschen zahlen mußte. Auch war er ein ausgezeichneter Weinkenner; sein Keller war reich an den seltensten Weinen, die niemals auf seiner Tafel fehlen durften; ja, er trieb in der Stille einen ansehnlichen Weinhandel, um die häufige Leere in seinen Kassen einigermaßen zu füllen.

Gotter erinnert lebhaft an einen Diplomaten des 19. Jahrhunderts, der in Wien ebenfalls ein glänzendes Vorbild sinnlichen Lebensgenusses geworden und ebenso wie Gotter sich des Vertrauens der Höchstgestellten erfreute: wir meinen Friedrich von Gentz, Metternichs Vertrauten. Doch springt auch der Unterschied alsbald in die Augen: Gentz war ein Diplomat mit der Feder; seine Schriftstücke waren stilistische Meisterwerke, und solange es den Kampf gegen Napoleon und die französische Uebermacht galt, darf ihm der Ruhm eines einflußreichen und tonangebenden Patrioten nicht abgesprochen werden. Gotter hat nicht mit der Feder gewirkt, sondern nur durch seine Persönlichkeit; er hatte eine unglaubliche Höhe von Einfluß und Bedeutung erreicht, und zwar schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr, ohne daß sein Name bei irgend einer Haupt- und Staatsaktion genannt worden wäre, ja ohne daß man die äußeren Anlässe für die Auszeichnungen, die ihm zu teil geworden, nachweisen konnte. So weiß man nicht, warum im Jahre 1727 der zwölfjährige junge Czar Peter II von Rußland oder vielmehr sein Minister Fürst Mentschikoff ihm den Alexander Newsky-Orden durch eine besondere Stafette überschickte. Der Herzog von Gotha bezahlte inzwischen Gotters Schulden, erhöhte seinen Gehalt, ernannte ihn zum Legationsrat, während Kaiser Karl VI ihn am 6. August 1724 in den Reichsfreiherrnstand erhob.

Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I berief ihn 1728 nach Berlin und ernannte ihn bald darauf zum Wirklichen Geheimen Staatsrate mit Sitz und Stimme und einem jährlichen Gehalt von 1000 Thalern. Auch eine Majorspräbende am Stifte von Halberstadt wandte er ihm zu und erteilte ihm die Insignien des Schwarzen Adlerordens. Eine diplomatische Leistung, durch welche Gotter eine so hohe Stellung verdient hätte, war nicht vorausgegangen und irgend eine Verpflichtung nicht damit verbunden. Man muß sich fragen, weshalb Gotter bei dem gestrengen Monarchen einen solchen Stein im Brette hatte. Denn dieser leichtlebige Don Juan konnte doch nicht nach dessen Geschmacke sein; der König haßte ja die „französischen Windbeutel“. Sicher hatte Gotter ihm durch sein ganzes siegesgewisses und überlegenes Wesen imponiert, nicht am wenigsten wohl durch seine Stentorstimme, welche dem soldatenfreundlichen Fürsten beneidenswerte Mitgift fürs Kommandieren auf dem Exerzierplatz und im Krieg erschien; aber das erklärt noch nicht seine Gunstbeweise. Entscheidend war vielmehr dafür der große Einfluß, den Gotter in Wien besaß; der König brauchte dort für verschiedene Pläne einen Bundesgenossen. Eine Zeit lang war Gotter noch in Gothaischen Diensten geblieben und auch Gesandter seines Herzogs

[681]

Mit Genehmigung der Photographischen Union in München.
Amor im Nacken.
Nach dem Gemälde von Paul Wagner.

[682] in Regensburg geworden; doch Friedrich Wilhelm I wollte den seltenen Mann ausschließlich in seinen Diensten haben, und so erhielt er 1732 seine Entlassung vom Herzog von Gotha mit einer jährlichen Pension von 1000 Thalern und wurde preußischer bevollmächtigter Minister am Wiener Hofe mit einem Gehalt von 15000 Gulden. Doch Gotter war oft der rauschenden Vergnügungen überdrüssig; auch zeigten sich bei ihm die Folgen eines genußsüchtigen und ausschweifenden Lebens; er sehnte sich zur Wiederherstellung seiner Gesundheit nach ländlicher Ruhe. So kaufte er in der Heimat das Rittergut Molsdorf nicht weit von Arnstadt und auch das Ritter- und Lehngut zu Dietendorf, wo er Wollenzeugfabriken gründete und wohin er zahlreiche Arbeiter aus dem Auslande zog. Seine Neubauten erhielten anfangs den Namen Neugottern, später wanderten die Herrnhuter ein und nannten den Ort Gnadenthal; heute heißt er Neudietendorf.

Zu Molsdorf aber schuf Gotter ein Thüringer Versailles; kaum einer der fürstlichen Parks des Landes konnte mit dem seinen wetteifern. Das reiche Rokokoschloß war, wie eine Moschee mit Koransprüchen, mit zahlreichen Inschriften geschmückt, welche alle die Weisheit des Epikur predigten: Hora rapit diem (Die Stunde raubt den Tag), Placida quies (Behagliche Ruhe), Fugaces labuntur anni (Flüchtig enteilen die Jahre), Hic summum bonum libertas (Hier ist das höchste Gut die Freiheit) und Hospes hic bene manet (Hier ist gutes Verweilen für den Gastfreund). Diese beiden letzten Sprüche standen als gastliche Einladungen am südlichen Eingang in den Garten. Doch mit solchen Sprüchen allein wurden die Ankömmlinge nicht abgespeist. Wer das Schloß vom Garten aus betrat, der fand dort einen Weinhahn, den er bloß zu öffnen brauchte, um sich mit einem köstlichen Trunk zu erfrischen, der durch ein Druckwerk herbeigezaubert wurde. Die Zimmer waren mit dem größten Luxus ausgestattet; Oelgemälde schmückten die Wände: Porträts der hervorragendsten Persönlichkeiten der Zeit, des Königs Friedrich Wilhelm I, der Maria Theresia, der Herzogin Louise Dorothea, der berühmten Schauspielerin Adrienne Lecouvreur, der berühmten Tänzerin Barbarini. Wie es scheint, spukte hier die Schönheitsgalerie des Münchener Residenzschlosses vor; denn es gab ein „Damenzimmer“ mit lauter Damenporträts, ein Tänzerinnenzimmer mit reizenden Schauspielerinnen und Sylphiden.

Der Park war ganz im französischen Stil: schnurgerade Alleen, die zu schmiedeeisernen Einfahrtsthoren führten, durchschnitten ihn in seiner ganzen Länge; alle Wege waren mit geschorenen Taxushecken eingefaßt, die Bäume zu allerlei Figuren zurechtgeschnitten. Den Vorplatz am Schloß bildete ein breiter Kiesplatz, auf welchem von Mitte Mai ab die reiche Orangerie des Grafen, 746 ausländische Gewächse, darunter 168 größere Bäume in Kübeln, aufgestellt war; dann folgte ein kreisrundes Rosenparterre mit Prunkbeeten und südlich davon, im Mittelpunkt des Gartens, ein geräumiges Wasserbecken, in welchem sich eine Statue des Herkules erhob. Ueber seine rechte Schulter hing die Haut des nemeischen Löwen den Rücken hinab; die Keule hatte er in seiner Hand erhoben und zu seinen Füßen krümmte sich die vielköpfige Hydra, aus deren einem Haupte ein starker Wasserstrahl emporstieg. Dieser Herkules war offenbar ein Zugeständnis an den Zeitgeschmack; er konnte für den Besitzer des Gartens keine symbolische Bedeutung haben; denn was hatte seine Diplomatie mit der Keule des Herkules zu thun? Da war ein Schlangenbändiger mehr am Platz, der, statt der Hydra den Kopf zu spalten, den Schlangen Lieder vorpfiff, daß sie mit geschmeidigem Gehorsam seinem Willen folgten. Gotter war allerdings von kräftiger imposanter Persönlichkeit, und so mochte er den Herkules vielleicht als eine steinerne Schmeichelei sich selbst zu Ehren in seinem Garten aufgestellt haben. Jedenfalls waren nach seinem persönlichen Geschmack mehr die aus den Nischen der Taxushecken hervorleuchtenden Olympierinnen. Auch die oberen Götter fehlten nicht; nur dem häßlichen Vulkan hatte er keinen Platz eingeräumt; soweit ging seine mythologische Gewissenhaftigkeit nicht, die schöne Venus mit einem so unschönen Ehemann zu belästigen. Dagegen waren neben den oberen Göttinnen auch die unteren cour- und parkfähig: Flora und Pomona leuchteten in blendender Marmorschöne mit Blumen und Früchten aus der gründunkeln Umrahmung hervor.

Auch an Wasserwerken und Wasserkünsten war der Park von Molsdorf so reich wie etwa der Garten der Villa Pallavicini in Pegli bei Genua. Auf einem in den Park hineinragenden Hügel war ein Reservoir angebracht, welches von den Ichtershäuser Teichen gespeist wurde. Von hier aus ergossen sich die Wasser in Kaskaden in einen Teich herab, den sechs wasserspeiende Figuren umgaben und in dessen Mitte ein Schwan einen Wasserstrahl hoch in die Luft schleuderte; auch sonst stiegen durch ein künstliches Wasserwerk aus Muscheln von Wassergöttern, aus Schnäbeln von Adlern und Schwänen, aus den Hälsen von Schildkröten, Eidechsen und Fröschen Wasserstrahlen in die Höhe. Außerdem enthielt der Park nahe der Umfassungsmauer noch vier Teiche und in jedem dieser Teiche hielt Gotter eine besondere Art von Fischen, die nicht bloß eine Augenweide für den Naturfreund bildeten, sondern auch der Küche des Gourmands zu gute kamen.

Das war eine glänzende Scenerie, das waren prunkende Dekorationen; doch wir müssen die Bühne mit den handelnden Personen des vorigen Jahrhunderts beleben. Da versammelte sich der Eremitenorden, dessen Losung Vive la joie! (Es lebe die Freude!) und dessen Priorin die feingebildete lebensfrohe Herzogin von Gotha, Louise Dorothea war. Diese Fürstin und ihre Begleiterin, die Oberhofmeisterin Juliane Franziska von Buchwald, waren oft Gotters Gäste, denen zu Ehren er die prunkvollsten Feste feierte. Louise Dorothea und ihre Freundin waren von makelloser Tugend und es ist charakteristisch für den damaligen Zeitgeist, daß sie mit einem verrufenen Wüstling wie Gotter so freundschaftlich verkehrten. Doch nicht immer waren tugendsame Eremiten und Eremitinnen in dem prachtvollen Schloß und Park versammelt; es gab auch Orgien, wo die Bacchantinnen die erste Rolle spielten; dazu wurden aber jene vornehmen Damen nicht geladen. Auch Volksfeste für die Bewohner des Ortes vevanstaltete er: da lud sie ein Trompeter in den Schloßhof ein, und alle kamen, wie sie gerade waren, ohne ihren Sonntagsstaat anzulegen; sie erhielten hier Trank und Speise. Gotter ordnete Spiele und Tänze an, beteiligte sich selbst daran, indem er die hübschesten Mädchen herumschwenkte. Dies naturwüchsig Ländliche hatte für den Epikuräer einen eigentümlichen Reiz.

Doch die Muße, deren Gotter auf seinem glänzenden Tuskulum genoß, war nicht von langer Dauer; der Thronwechsel in Preußen machte derselben ein Ende. König Friedrich II, dem man von Hause aus mehr Sympathien für den Lebemann und Freigeist Gotter zutrauen durfte als dem gestrengen Friedrich Wilhelm I, und der, ein Freund geistreicher Unterhaltung, die glänzenden Gaben dieses zu früh zur Ruhe gesetzten Diplomaten zu würdigen wußte, berief ihn im Mai 1740 wieder nach Berlin und ernannte ihn zum Oberhofmarschall und geheimem Staats- und Kriegsrat; auch gab er seine Genehmigung dazu, daß Gotter die Reichsgrafenwürde annahm, die Kaiser Karl VI ihm verliehen hatte; ferner wurde Gotter Generaldirektor der Großen Oper. Für seine Befähigung zu dieser Stelle sprach die glänzende Inscenierung seiner Feste in Molsdorf und der prächtige dekorative Hintergrund, den er dort geschaffen hatte. Als ihm das halberstädtische vakant gewordene Kanonikat an der Liebfrauenkirche zufiel, zu welchem ihm schon Friedrich Wilhelm I in einem Dekret die Anwartschaft gegeben hatte, da wandelte Gotter wieder die Lust an, aus dem Staatsdienst auszuscheiden und mit dem Erträgnis dieser Pfründe ein angenehmes Stillleben zu führen; doch Friedrich II lehnte dies Gesuch in einem zwar schmeichelhaften Schreiben, aber mit aller Entschiedenheit ab. Er erklärte, daß Gotter seine Gelder nur in Berlin zu verzehren habe und vor Jahresfrist überhaupt keinen Urlaub erbitten dürfe; sonst habe er von ihm nichts zu erwarten. Friedrich der Große gehörte zu den Selbstherrschern, mit denen, um einen volkstümlichen Ausdruck zu gebrauchen, es nicht gut Kirschen essen war. Das sollte Gotter ebensogut erfahren wie Voltaire und viele andre – auch dem vertrauten Tischgenossen gegenüber kehrte der König plötzlich die rauhe Seite hervor, besonders wenn die Staatsraison dabei mitzusprechen hatte. Als Gotter seidene Stoffe aus Lyon hatte kommen lassen und um Erlassung der Zollabgaben bat, da ließ der König ihm sagen, daß er keine Ausnahme vom Gesetz machen dürfe und daß der Graf besser gethan hätte, diese Stoffe im Inlande zu kaufen. Auch ließ sich der König von Gotter, der, obgleich [683] er zweimal das große Los gewonnen hatte und die Gehälter mehrerer Aemter zusammenhäufte, stets in Geldverlegenheit war, zu keinen Gehaltserhöhungen bewegen. Einmal fand der Graf die für eine Gesandtschaft ausgesetzten Gelder nicht ausreichend; da machte der König kurzen Prozeß; er schrieb ihm, daß er ihn von dieser Gesandtschaft entbinde, da er für dieselbe eine Auswahl von geeigneten Persönlichkeiten habe.

Die Verdienste Gotters in seinen verschiedenen Verwaltungsämtern wie auch bei seinen diplomatischen Sendungen blieben meistens im stillen; anfangs war er nur als Gesandter von Gotha für fürstliche Privatinteressen thätig. Nur einmal tauchte er auf der Bildfläche der Weltgeschichte auf und hatte einen Anteil an den großen Ereignissen derselben, allerdings keinen erfolgreichen; doch er war ein so großes Glückskind, daß selbst der Unstern bei einer der wichtigsten Verhandlungen ihm nichts anhaben konnte und er durch einen offenkundigen Fehlschlag nicht die Gunst seines Fürsten verscherzte.

Es war im Jahre 1741, als König Friedrich II ihn an den Wiener Hof schickte, um dort seine Forderungen auf die Fürstentümer Jägerndorf, Liegnitz, Brieg und Wohlau nach dem Tode des Kaisers Karl VI geltend zu machen; das war in der That eine weltgeschichtliche Sendung. Denn hätte Graf Gotter damals Erfolg gehabt, so wäre es nicht zu den Schlesischen Kriegen gekommen, und auch von dem Siebenjährigen Kriege hätte Klio nichts zu berichten; doch der Kriegsruhm des großen Friedrich sollte nicht im Keime erstickt werden. Gotter kehrte unverrichteter Sache von Wien zurück. Offenbar durch seine früheren Triumphe verwöhnt, vergaß der Diplomat, daß die Lage der Dinge an der Donau sich inzwischen gänzlich geändert hatte. Die früheren Genossen Gotters, die vornehmen Freunde und Gönner hatten nicht mehr das Heft in Händen und Maria Theresia war weit davon entfernt, in einem hochbegabten Don Juan das Ideal einer bewundernswürdigen Männlichkeit zu sehen. Doch Gotter schien in seiner Selbstverblendung von dem Umschwung der Dinge gar nichts zu merken, oder er glaubte, im Vollgefühl seiner diplomatischen Kunst widerstrebende Einflüsse rasch beiseite schieben zu können. Hierzu kam, daß er der Vertreter eines jungen, genialen, hochstrebenden Monarchen war, der im stillen schon die Absicht hegte, sein Schwert in die Wage der Geschicke Europas zu werfen. Das alles bestimmte ihn, einen hochfahrenden gebieterischen Ton anzuschlagen.

Doch die vierundzwanzigjährige Maria Theresia war keine gekrönte Staatspuppe, sondern eine energische junge Frau; sie durfte auf die begeisterte Anhänglichkeit ihres Volkes rechnen, die sich ein Jahr später so glänzend bewährte, als sie in Pest mit ihrem kleinen Sohn in der Mitte der getreuen Magyaren erschien, deren Säbel unter lautem Jubelruf aus der Scheide flogen und die mit Begeisterung ihre Hilfsbereitschaft erklärten. So wurde dem Abgesandten des Preußenkönigs auf seine ungestüme Forderung ein schroff ablehnender Bescheid zu teil, und als er trotzdem die Verhandlungen in die Länge zu ziehen suchte, um dem König Zeit für seine kriegerischen Vorbereitungen zu gewinnen, erhielt er die Weisung, binnen 48 Stunden Wien zu verlassen. Er schied vom Schauplatze seiner früheren Triumphe mit einer diplomatischen Niederlage. Doch fast schien es, als ob der König über diesen Mißerfolg gar nicht ungehalten sei; sein Thatendurst, seine Kampflust konnten ja jetzt volles Genügen finden.

Der Günstling des Glückes hatte aber auch seine bösen Stunden, die indes seine unverwüstliche Heiterkeit nicht trüben konnten. Infolge seines ausschweifenden Lebens stand es schlecht mit seiner Gesundheit; Gicht und Wassersucht hatten sich eingestellt. Der König, der ihn noch 1744 zu einem der vier Kuratoren der königlichen Akademie der Wissenschaften ernannt hatte, konnte doch nicht umhin, seinem Drängen nach Verabschiedung aus dem Staatsdienste endlich nachzugeben, und so wurde er 1745 pensioniert. „Ich beklage,“ schrieb ihm Friedrich, „einen liebenswerten Mann, dessen Verlust ein Bankerott für Berlin ist, und versichere Sie, daß, wenn man jemand an Ihrer Stelle zum Teufel schicken könnte, ich ihm ein halbes Kommando opfern würde, um Ihre schöne und große Seele aus seinen Händen zu retten.“

Seine Geldsorgen ließen Gotter indes nicht zur Ruhe kommen. Er hatte schon 1742 sein Rittergut Neugottern an einen Herrnhuter verkauft, den Grafen Balthasar Friedrich von Promnitz; er verwandte den Ertrag zur Aufbesserung seines Gutes zu Molsdorf, kaufte einige Acker vom Kammergute Ichtershausen dazu und hob gegen eine Abgabe die Fronen auf. Gleichwohl konnte er auch Molsdorf nicht behaupten und verkaufte diese Besitzung an den württembergischen Geheimrat und Erboberstallmeister Heinrich Reinhold Freiherrn Roeder von Schwende, wobei er sich indes das Recht vorbehielt, unter gewissen Bedingungen und Beschränkungen Schloß und Park benutzen zu dürfen. Erst einige Jahre später, 1757, nahm er für immer Abschied von dem schönen Besitztum. Unbemerkt und still ritt er an einem nebelgrauen Morgen durch den Weidgarten von dannen; beim Abschied hatte er ausgerufen: „Liebes Molsdorf, lebe wohl! Du hast mir Geld genug gekostet!“

Inzwischen hatte sich im Jahre 1752 in Montpellier, wo Gotter eine längere Kur durchmachte, seine Gesundheit wieder gänzlich gebessert, seine kräftige gesunde Natur abermals den Sieg davongetragen über die Leiden, die er sich durch allzugroße Zumutungen an dieselbe zugezogen, und als er mit vollständig wiedergewonnener Frische des Körpers und Geistes zurückkehrte, da zögerte er nicht, nochmals in den preußischen Staatsdienst zu treten. Als Oberhofmarschall, Kurator der Akademie und als Generalpostmeister blieb er in diesem thätig bis zu seinem Tode, der am 28. Mai 1762 in Berlin erfolgte.

Die hohe Anerkennung, die Friedrich der Große ihm zollte, ist ein bleibender Rechtstitel für seinen guten Ruf bei der Nachwelt; denn dieser Sausewind des Gothaschen Eremitenordens, dieser „blitzeschleudernde Jupiter“ in den Kabinetten der Wiener Diplomaten muß doch auch eine große geschäftliche Tüchtigkeit besessen haben, wenn ein Herrscher wie Friedrich der Große, der sich in Staatsangelegenheiten nicht mit dem Schaum des Esprits begnügte, sondern auf den Kern der Sache ging, ihm so viele hohe Staatsämter anvertrauen konnte. Ebenso bewies Gotter, daß das Glück nicht immer nur den Dummen hold ist, sondern auch den Klugen; denn er war eine der klügsten, gewandtesten, geistreichsten Persönlichkeiten, welche das Deutschland des 18. Jahrhunderts besaß.


Wasserspendende Lianen.
Von Dr. Friedrich Knauer.

Welch’ merkwürdige Wirkung doch ein einziges Wort zu erzeugen vermag! Lianen – wem taucht da nicht sofort die Erinnerung an die herrlichen Urwaldschilderungen von A. v. Humboldt, von Grisebach oder aus diesem oder jenem Reiseberichte berühmter Tropenwanderer auf! Wem zaubert das Wort nicht augenblicklich den tropischen Urwald mit seiner Pflanzenüberfülle, seiner üppigen Vegetation vor Augen, die mächtigen, hochaufragenden Baumriesen über und über von Aroideen mit ihren riesigen Blättern, von Farnen mit ihren gefiederten Wedeln oder hängenden Bändern, von bizarr gestalteten farbenbunten Orchideen umklammert und überwuchert – den mit unzähligen Kräutern und riesigen Moderpflanzen überzogenen Waldboden und über all dem das dichte grüne Laubdach der Bäume, das dem Sonnenlichte den Eingang wehrt und das üppige Wuchern und Blühen mit grünem Dämmerlichte umfangen hält! Das ist die Heimat der Lianen, welche, dem Takelwerk eines Riesenschiffes vergleichbar, wie lebende Taue von Zweig zu Zweig sich winden, sich ineinander verschlingen und verflechten, in langen Strähnen zur Erde herabhängen, eine vielerwünschte und vielbenutzte Turnstätte für die Kletterlust des behenden Affenvolkes.

Daß aber diese Kletterer der Pflanzenwelt lebende Wasserbehälter sind, die Urwaldliane zur „Hebe“ werden kann, die dem durstenden Reisenden labendes Naß kredenzt, das war wohl dem einen und anderen Urwaldforscher bekannt, wird aber erst jetzt wissenschaftlich bestätigt und näher erforscht.

In neuester Zeit ist viel von dem Botanischen Garten zu Buitenzorg auf Java die Rede, der außer seinem Herbarium, botanischen Museum, pharmakologischen Laboratorium, den botanischen Laboratorien, [684] der Abteilung für Untersuchung der Forstgewächse Javas, der Versuchsstation für Kaffeekultur, dem Laboratorium für Untersuchungen über Deli-Tabak, der Abteilung für landwirtschaftlich-zoologische Untersuchungen, der Bibliothek und dem photographischen Atelier einen Kulturgarten mit einer Ausdehnung von über 70 Hektaren und einen botanischen Garten und Gebirgsgarten mit Urwald von über 300 Hektaren umfaßt. 27 größtenteils promovierte Europäer und über 200 Inländer sind in den verschiedenen Abteilungen angestellt, und Jahr für Jahr treffen Gelehrte aus aller Welt hier ein, botanische Studien zu machen. Es ist dieser Garten für den Laien und für den Botaniker ein „botanisches Paradies“, das nirgends seinesgleichen hat.

Hier hat der Botaniker H. Molisch seine Versuche über das Ausfließen des Saftes aus Stammstücken von Lianen gemacht, die er durch weitere Versuche im Urwalde bei Tjibodas ergänzte.

Zunächst sei der Begriff „Liane“ festgestellt. Als Liane bezeichnet man nicht etwa eine bestimmte Gattung oder Familie. Es ist dies vielmehr eine Kollektivbezelchnung für verschiedenste Schling- und Kletterpflanzen, ob sie nun ausdauernde, verholzende Stämme haben oder krautartig wachsen, insofern sie auf fremde Stützen angewiesen sind, um emporzuklimmen. So giebt es Lianen unter den Feigen, Wachsblumen, Winden, Gurkengewächsen, Bignonien, Schlingfarnen, solche unter den purpurblütigen Passifloren und den Aristolochien Amerikas mit ihren Riesenblumen; ja selbst Palmen – die indischen Rotangs – schießen über 150 m in die Höhe empor und ranken sich von Baum zu Baum, und auch unter den Pandanen, Baumgräsern, Schachtelhalmen giebt es klimmende Pflanzen. Lianen sind aber auch unsere wilde Weinrebe, unsere Clematisarten, das Geißblatt, die Brombeere, die Kletterrosen, die blauglockige Alpenrebe unserer Voralpen.

Schneidet man einen nicht allzu dünnen Stamm einer dieser Lianen rasch durch und dann über der oberen Schnittfläche, etwa einen Meter höher, nochmals und hält das abgetrennte Stammstück senkrecht, so strömt Wasser, oft in überraschend großer Menge, aus der unteren Schnittfläche hervor. Das dauert etwa fünf Minuten. Wird dann das Stammstück zerschnitten, so kommt wieder Wasser, aber wieder nur aus der unteren Schnittfläche, hervor. Will man auch aus der oberen Schnittfläche Wasser austreten sehen, so muß man auch oben ein längeres Stück abtragen. So erhielt Molisch aus einem 5,5 cm dicken, 310 cm langen Stammstück der Liane Uncaria acida zuerst 235 kcm Saft, dann, zuerst unten, darauf oben ein Stück abschneidend, endlich das Reststück halbierend, noch 45 + 105 + 140 + 65 kcm Wasser, im ganzen also 590 kcm, was einer Flüssigkeitsmenge von etwas mehr als 1/2 l entspricht. Solche Versuche wurden an 24 Lianengattungen angestellt.

Weshalb gerade Lianen solche Wasserergiebigkeit zeigen, das liegt vor allem in der außerordentlichen Weite ihrer Gefäße, die wieder als Anpassung an die Lebensweise dieser Klimmpflanzen erscheint. Im Vergleiche zur Länge ist ja die Breite des Lianenstengels eine geringe; da ist eine rasche Leitung von Luft und Wasser nötig. Bedenkt man, daß die Höhe, bis zu der sich in Kapillarröhren Flüssigkeiten erheben können, im verkehrten Verhältnisse zum Dickendurchmesser steht, so leuchtet ein, daß das Wasser in so weiten Gefäßen nur bis zu einem gewissen Grade festgehalten wird und aus den plötzlich auf beiden Seiten geöffneten Gefäßen der größere Teil des Wassers ausströmt. Außer der Weite dieser Gefäße wird auch die Luftfeuchtigkeit und die Menge des Wasservorrates in der Liane auf die Menge des ausströmenden Wassers Einfluß haben.

Der ganze Vorgang dieses Wasserausströmens ist eine rein physikalische Erscheinung, eine Konsequenz des plötzlichen Luftdruckes auf die jäh aufgeschnittenen, mehr oder weniger wassererfüllten Gefäße der Liane. Die Kapillarität spielt sowohl bei dem Wasserheben als bei dem Wasserhalten in den Lianengefäßen eine nebensächliche Rolle.

Und auch unsere europäischen Lianen sind solche Wasserspenderinnen. Ein 108 cm langes, 1,5 cm dickes Zweigstück unserer Weinrebe lieferte 7,5 kcm Saft.

So haben sich denn die Mitteilungen Tropenreisender bewahrheitet, daß der aus den Stammstücken abtropfende klare Saft ein hochwillkommenes Mittel biete, den Durst zu löschen, worüber bisher nur vereinzelte wissenschaftliche Untersuchungen vorlagen. Frühere Reisende konnten sich solchen Saftabfluß in zweierlei Weise zu Nutzen gemacht haben, entweder indem sie das Bluten tropischer Gewächse ausnutzten oder verschiedene Urwaldpflanzen anbohrten. Haben ja kürzliche Versuche im Botanischen Garten zu Buitenzorg ergeben, daß ein angebohrter 10 cm dicker Stamm von Conocephalus azureus in den ersten 11 Nachtstunden 7820 kcm oder über 73/4 l klaren Saftes lieferte. Vor einigen Jahren hat Lecomtes von Musanga Smithii, einer Verwandten von Conocephalus, in 13 Stunden der ersten Nacht 9250 kcm oder 91/4 l Saft erhalten. Von einer 12jährigen Birke bekam man in 24 Stunden 5 l Saft. Noch weniger kann Urwaldreisenden die Wasserfülle der Lianen entgangen sein. Mußten sie sich doch oft genug mit dem Beil Schritt für Schritt den Weg durch das Lianengewirre bahnen.


Die Marienburg.

Von Ernst Wichert.0 Mit Abbildungen nach Photographien von H. Ventzke in Rathenow.

 (Schluß.)

Uns vom Portal des Hochschlosses rechts wendend, gelangen wir zu der Steintreppe, die ins Obergeschoß der Arkaden hinaufführt. Wir treten in den herrlichen Kreuzgang ein, der die Eingänge zum Kapitelsaal und zur Kirche enthält. Die beiden Räume füllen diesen Flügel ganz aus. Das Sterngewölbe des Kapitelsaals ruht auf drei schlanken achteckigen Granitpfeilern und kunstvoll gestalteten, nur wenig ausladenden, pfeilerartigen Kapitälen, an den Wänden aber auf halbachteckigen Pfeilerstücken aus dunklem Kalkstein, die selbst wieder auf verzierten Kragsteinen von hellerem Stein aufstehen. Er erhält sein Licht durch vier hohe Spitzbogenfenster nach der Außenseite hin. Die jetzt noch kahlen Wände waren früher mit den Bildern der Hochmeister bemalt und mit sinnigen Sprüchen beschrieben. Man muß sich rund um den schönen Saal Bänke oder Stühle gestellt denken, auf welchen um den Hochmeister her die Würdenträger des Ordens, der Großkomtur, der Ordensmarschall, der Oberst-Trappier (der für die Bekleidung der Ritter sorgte), der Oberst-Spittler(der die Krankenpflege unter sich hatte) und der Oberst-Tressler (Schatzmeister), ferner die Komture der andern Landesburgen, bei wichtigen Gelegenheiten auch der zugereiste Deutschmeister und der Meister der livländischen Schwertbrüder Platz nahmen, wenn sie bei verschlossenen Thüren des Ordens Heimlichkeit berieten. Hier wurden die Hochmeister gewählt und abgesetzt oder ihres Amtes entlassen, wenn sie seiner schweren Bürde müde geworden. Das Kapitel war in allen Ordensangelegenheiten die oberste Instanz.

Der Kapitelsaal.

Der Kapitelsaal wird von der Kirche nur durch eine Wand getrennt. In derselben findet sich eine einfache Thür, durch welche, wie man annimmt, der Hochmeister nach den Beratungen zum Gottesdienst gleich in die Kirche treten konnte, wo er unter einem von Säulen getragenen, künstlerisch verzierten Vorbau an der andern Seite der Wand vor den versammelten Rittern erschien. Den eigentlichen Eingang zur Kirche bildet die prächtige „Goldene Pforte“. Man sieht sie nicht von dem auf Seite 685 oben dargestellten Kreuzgang dieses Flügels aus; die Thür [685] am Ende desselben führt in ein Vorgemach des großen Turmes, das freilich ebenfalls mit der Kirche Verbindung hat. Von dem anstoßenden Kreuzgang des Ostflügels aber blickt man gerade auf sie hin.

Kreuzgang mit der Thür zum großen Turm.

Diese Goldene Pforte, in der Mitte des 14. Jahrhunderts eingefügt, ist das Entzücken aller Kunstkenner und Laien. Herr von Quast sagt – und ich kann nichts Besseres thun, als ihn hier sprechen lassen: „Das vielgegliederte Portal selbst mit dem Reliefschmuck seiner Säulenkapitäle, und den noch reicheren Figuren und dem Laubwerke, beides von edelster Bildung, an den konzentrischen Leibungen des Spitzbogens, ebenso die so edel wie reich geschmückten Nischen in der Mauerdicke zu beiden Seiten des Portals, wo über Eck- und Mittelsäulchen von trefflichster Profilierung sich phantastische Bogen verschiedenster spitzbogigen und anderer Formbildungen ineinander einlegen und wieder Platz gewähren, um Reliefgruppen einzufassen, gehören schlechthin zu dem Edelsten, was im Ziegelbau geschaffen worden ist. Ja, ich stehe nicht an, es auszusprechen, daß, was zierliche, bis in die einzelnen Formen durchgeführte Detailbildung anbetrifft, mir im gesamten deutschen Ziegelbau nichts vorgekommen ist, was dieser ihren Namen im edelsten Sinne des Wortes mit Recht führenden Goldenen Pforte gleichkäme.“

Die Kirche selbst ist ein im Chor von acht hohen Spitzbogenfenstern von farbigem Glas erleuchteter Raum von etwa 130 Fuß Länge, 30 Fuß Breite und 45 Fuß Höhe. Die Decke zeigt vier quadratische Gewölbsysteme mit Polygonschluß. Vor den Fries, welcher in 13 Fuß Höhe vom Fußboden unter den Fenstern hinläuft, treten 18 Konsolen vor, auf welchen ebenso viele Heilige stehen. Sie haben über sich steinerne Baldachine, auf denen sich Konsolenpfeiler von halbachteckiger Grundform, wie im Kapitelsaal, erheben, mit Kapitälen von Laubwerk abschließend, von denen die Rippen des die ganze Breite des Raumes überspannenden Sterngewölbes aufsteigen. Rundum zieht sich eine Reihe von Spitzbogen mit bemalten Wandfeldern. Die alte Malerei ist unter der Tünche vorgefunden und wird wieder hergestellt. Im Chor stehen die mit Holzschnitzerei verzierten Stühle der Ordensbrüder. An drei Altären konnte gebetet werden. Dazu verpflichtete die Ordensregel die Ritter zu bestimmten Gezeiten des Tages und der Nacht. Ob beim Austritt aus dieser Kirche von der oben erwähnten, auf unserem nebenstehenden Bilde sichtbaren Turmthür, oder aus der Hauskapelle im Mittelschloß der Hochmeister Werner von Orseln am 18. November 1330 von einem Bruder ermordet ist, mag dahingestellt bleiben.

Die Goldene Pforte.

An die Kirche schlossen sich im Ost- und Südflügel die großen Schlafsäle der Ritter. Wie viel Konvente zu zwölf Brüdern die Marienburg hatte, steht nicht fest; man nimmt drei bis vier an. Der Bestand war sicher wechselnd, und die Konvente brauchten nicht immer vollzählig zu sein. Nach den Ordensstatuten schliefen die Ritter gemeinsam in einem des Nachts erleuchteten Raum. Sie hatten nur je einen Bettsack, ein Kissen, ein Betttuch und eine wollene Decke zum Zudecken. Federbetten waren nur den Kranken gestattet, die Brüder schliefen in ihren Unterkleidern. Von der Abend- bis zur Morgenandacht durfte nicht gesprochen werden. War dies in dringenden Notfällen doch erforderlich, so war die Uebertretung des Gebots durch eine geistliche Uebung zu sühnen. Die Thüren des Schlafsaals standen offen. Da die Ritter kein Eigentum besaßen – selbst Kleider und Waffen galten nur als ihnen geliehen –, so gab es für sie auch nicht verschließbare Behältnisse. Zur Kirche gingen sie in ihren weißen Mänteln mit schwarzem Kreuz und auf Schuhen. Besondere Wohnungen hatten nur im Nogatflügel zwei höhere Beamte: der Hauskomtur und der Tressler. Sie bestanden in Stube und Kammer. Der Tressler verfügte daneben über ein Gemach, in welchem er den Tressel, die Kasse, aufbewahrte.

Wie die Brüder gemeinsam schliefen, so speisten sie auch gemeinsam, und zwar eine Treppe höher im Südflügel in einem großen Saal, dem Speiseremter, dessen Gewölbe von sieben Säulen getragen wurden, an langen Tischen. Es gab gut zubereitete Hausmannskost und dazu Bier, mitunter an Festtagen auch Met. Die Speisen wurden in einem Aufzug von der Küche im Erdgeschoß hinaufbefördert. Auch während der Mahlzeit durfte nicht gesprochen werden, doch hielt ein Vorleser eine Lektion ab. Neben diesem großen Saal befand sich ein kleinerer, die von drei Säulen getragene Konventsstube; hier durften die Brüder sich nach aufgehobener Tafel über ernste Dinge unterhalten und am Schachspiel, jedoch nicht Würfelspiel um Geld, vergnügen. Um das Auftragen der Speisen zu erleichtern, waren die Arkaden auf dieser Seite um ein Stockwerk erhöht, wodurch ein bequemer Verbindungsgang außerhalb der Säle geschaffen wurde.

[686] Gehen wir nun wieder zurück über die Brücke, um den Hochmeisterpalast zu besichtigen, der viel des Interessanten bietet. Es sollten hier Räume hergestellt werden, welche einer fürstlichen Haus- und Hofhaltung genügten. Denn der Verkehr in der Marienburg war in der Blütezeit des Ordens sehr rege. Nicht nur fanden sich hier oft die auswärtigen Gebietiger zu Beratungen und Entgegennahme von Befehlen ein, auch an Gesandtschaften fremder Staaten fehlte es nicht, und fast jährlich langten auswärtige Fürsten und große Herren an, sich bei den Kriegsreisen nach Litauen zu beteiligen und sich den Ehrentisch decken zu lassen. Sie brachten oft ein großes Gefolge mit und ließen sich von den Hochmeistern längere oder kürzere Zeit bewirten. So war jedenfalls ein großer Festsaal unentbehrlich. Er zeigt sich uns in dem großen Konventsremter (Rittersaal), der nebst der dazu gehörigen Küche den ganzen Nogatflügel des mittleren Hauses einnimmt. Er liegt zu ebener Erde und hat den Eingang vom Hofe. Das wunderbar schöne Sterngewölbe strahlt auch hier von drei schlanken Pfeilern aus, welche durch Kapitäle mit Figurenschmuck erhöht sind. Acht Spitzbogenfenster nach dem Flusse zu und sechs in der Hofwand spenden ihm reichliches Licht.

Der Speiseremter.

Der Fußboden ist mit bunten Fliesen ausgelegt. „Die gesamte gotische Baukunst hat,“ so sagt der schon erwähnte Sachverständige, „unter ihren tausenden edelster Bildungen kein Gewölbe hervorgebracht, welches an Leichtigkeit der Bildung, an Eleganz der Form, an schönem Verhältnis der Stützen zum Gestützten diesem Meisterwerke der Baukunst gleichkäme.“ Die jetzt weißen Wände muß man sich bemalt denken.

Eine Treppe in der starken Mauer führte zur Hinterkammer der Hochmeisterwohnung hinauf, so daß der hohe Wirt den Festsaal betreten konnte, ohne über den Hof gehen zu müssen. Hier schlossen sich die zum persönlichsten Gebrauch des Hochmeisters bestimmten, verhältnismäßig einfachen Räume an: ein schmales Schlafzimmer dicht neben der mit einem kleinen Vorraum versehenen Hauskapelle und andererseits neben den Kammern, welche für den zu seiner Gesellschaft bestimmten Bruder eingerichtet waren, der (man war nach der Ermordung Werners von Orseln vorsichtig geworden) Tag und Nacht in seiner Nähe sein mußte; ferner, schon auf der anderen Seite vom Palastflur, ein zweisäuliges Wohnzimmer und des Meisters Stübchen. Dieser Flur mit schmälerem Korridor, auf ein buntglasiges Fenster nach der Nogat zu auslaufend, das schwere Kreuzgewölbe von drei gekuppelten Granitsäulen und einigen freistehenden Säulen von ungleicher Höhe getragen, ist eine höchst originelle Schöpfung des unbekannten Baumeisters. In einer seitlichen Fensternische befindet sich der tiefe Brunnen mit „Handfaß“ zum Waschen. Sechs Knechte waren angestellt, stets das erforderliche Wasser aufzuwinden. An den Wänden hängen Rüstungen aus der Ordenszeit.

Die Konventstube.

Von diesem Flur, aber auch aus des Meisters Stübchen gelangt man in des Meisters Winterremter, ein größeres quadratisches, ebenso schön als einfach über einer Säule gewölbtes Gemach mit vier Fenstern auf den trockenen Graben hin, welches man sich als den Salon der Wohnung zu denken hat. Es war, wie auch einige der anderen Wohnräume und der Konventsremter, durch Luftheizung im Winter zu erwärmen. Die Vorrichtung dazu befand sich im unteren Geschoß oder Keller, wo die Feuerung in einem engen Herdraum eingeschlossen war, über welchem sich ein mit Feldsteinen vollgepacktes Zwischenlager ausstreckte, die nun die Wärme längere Zeit festhielten und gleichmäßig durch schließbare Oeffnungen im Fußboden in [687] die Gemächer abgaben. Auch für Erleuchtung am Abend war, im Flur durch bunte Glaslaternen, gesorgt. In diesem Winterremter muß man sich die Zusammenkünfte denken, bei welchen die Gäste durch Musikanten und Liedsprecher angenehm unterhalten wurden. „Des Meisters Spielleute mit ihren Jungen“ waren stets zur Verfügung. Aber auch fremde, böhmische und andere Musikanten, einmal sogar „des Herzogs von Mailand Spielleute“, ließen sich hören. Selbst Lustigmacher, Narren, Gaukler und andere „Fahrende“ kehrten in der Burg ein und wurden zugelassen.

Der Konventsremter oder Rittersaal.

Es bleibt uns noch des Meisters großer oder Sommerremter zu bewundern. Er nimmt die ganze Breite des Palastes nach der Nogatseite hin ein und war wohl zu Repräsentationszwecken bei besonders ernsten und feierlichen Gelegenheiten bestimmt, nicht aber zum gewöhnlichen Gebrauch, zu dem er schon deshalb nicht geeignet war, weil er sich nicht heizen ließ. Niemand wird hier eintreten ohne ein Gefühl ehrfürchtigen Staunens und zugleich sonnigen Behagens. In der Mitte des Quadrats steht eine sich im Fundament verjüngende achteckige Säule von poliertem Granit; über einem schmalen Kapitäl steigen, sich langsam wie aus einem Kelch erweiternd, die Rippen des luftigen Sterngewölbes auf. Die Wände zwischen den Gewölbebogen sind fast nur Fenster nach drei Seiten hin. Es stehen immer zwei übereinander, das untere in der Vollwand meist dreiteilig und mit Querbalken, das obere im Gewölbeabschnitt schmäler und zweiteilig, übrigens sämtlich viereckig, woraus – doch nicht ganz überzeugend – geschlossen ist, daß dieser Teil des mittleren Schlosses zuletzt erbaut wurde. An eins dieser Fenster soll von dem verräterischen Polen die rote Mütze gehängt sein, auf welche der Büchsenmeister jenseit des Flusses zielen sollte, um den Pfeiler zu treffen. Eine Kugel steckt jedenfalls, wie erwähnt, noch heut’ in der jenseitigen Wand. Rundum laufen Bänke mit roten Polstern. Bei Sonnenschein schwimmt der schöne Raum förmlich in farbigem Licht. Es ist wahrscheinlich, daß auch hier in alter Zeit die Wände bemalt gewesen sind, aber es fragt sich doch, ob die Herstellung solchen Schmuckes nicht den ungemein feierlichen Eindruck, den das reine Weiß der Wölbung verursacht, schwächen würde.

Wir verlassen den großen Remter durch den Ausgang nach dem Flur und mögen nun noch aufs Dach hinaufsteigen, um uns bei einem Rundgang hinter dem Zinnenkranz an der weiten Ausschau über Fluß und Land zu erfreuen. Dann haben wir das Wesentlichste gesehen. Beim Rückwege durch die Stadt werden wir nicht unbemerkt lassen, daß die Häuser der langen Marktstraße im Erdgeschoß „Lauben“ haben, die gegeneinander offen sind. Schwerlich wird das Städtchen je wieder zu dem Wohlstand zurückgelangen, der es auszeichnete, als das Schloß hochmeisterliche Residenz war. Beim Aufhören der polnischen Herrschaft wurde festgestellt, daß mehr als die Hälfte seiner Häuser wüst lag. Jetzt hatte es bis vor kurzem ein recht freundliches Aussehen, als, wie schon erwähnt, ein furchtbarer Brand einen großen Teil der Stadt und leider auch viele alte Laubenhäuser nebst dem Rathause zerstörte, welches letztere aus der Bauzeit des Hochschlosses stammte.

Der Sommerremter.

Die Renovation des Schlosses ist noch nicht in allen seinen Teilen beendet. Es werden dazu noch erhebliche Geldmittel aufgewendet werden müssen. Auch für die würdige Ausschmückung und Ausstattung im Innern bleibt noch viel zu thun. Zwar wird es wohl niemals gelingen, uns die Ordenszeit ganz zurückzutäuschen. Es würde keinen Zweck haben, die sämtlichen zur besseren Verteidigung der Festung errichtet gewesenen Außenwerke, Gräben, Mauern und Türme wieder herzustellen, und es sind uns von der beweglichen Habe der Ordensritter zu wenig Stücke aufbewahrt, um damit auch nur einzelne Räume des großen Schlosses so einzurichten, daß sich daraus die Lebensweise ihrer damaligen Bewohner würde wiedererkennen lassen. Aber es ist doch höchst erfreulich, daß unserer Zeit herzustellen gelingen konnte, was vor hundert Jahren nicht einmal als eine Möglichkeit geträumt wurde. Der Kunstwert des alten Baues kam damals überhaupt kaum in Frage. Man hatte auch schon lange vorher nur noch darauf gedacht, wie man die großen [688] Räumlichkeiten, die für ihren ursprünglichen Zweck völlig unbrauchbar geworden waren, wirtschaftlich den neueren Bedürfnissen gemäß ausnutzen könnte. Es ist sicher nicht so sehr, als es geschehen, über Barbarei zu schelten, wenn man die sehr knappen Geldmittel nicht auf die Restauration eines Herrenschlosses verwendete, dessen historische Bedeutung nach der Verjagung des Deutschen Ordens aus dem Weichsellande, nach seiner Aufhebung auch im östlichen Preußen, nach 300jähriger Polenherrschaft in Vergessenheit gekommen war und auch durch die Besitznahme Friedrichs des Großen keine Erneuerung fand; das überdies an einem Orte stand, der nicht einmal mehr als Centralpunkt für eine in der traurigsten Verfassung befindliche Provinz gelten konnte und von Fremden kaum besucht wurde. Stellte man aber lediglich die praktische Frage, wie an dieser Stelle die vorhandenen kräftigen Mauern nach Ausräumung des darin befindlichen Schutthaufens wirtschaftlich nutzbar gemacht werden könnten, so blieb nur übrig, vieles von dem zu vernichten, was früher ein besonderer Schmuck gewesen war, jetzt aber einer rationellen Ausnutzung im Wege stand. Es gab ganz wenige Menschen, die, wie der Dichter Eichendorff, ein Erbarmen mit der Ruine aus großer Zeit hatten und die Zerstörung als eine Schmach empfanden.

Den Luxus, zunächst einmal von dem ökonomischen Gebrauch ganz abzusehen und sehr bedeutende Summen lediglich zu dem schönen Zweck aufzuwenden, ein höchst würdiges Baudenkmal als solches für die Anschauung wieder herzustellen, konnte erst unsere Zeit sich erlauben. Dabei mag dann bedauert werden, daß schon so viel des Sehenswerten zu Grunde gegangen, ein großer Teil des inneren Baues fast bis zur Unkenntlichkeit vernichtet war; aber um so größer muß das Lob des Baumeisters sein, der aus Andeutungen in alten Schriften, aus Zeichnungen und Aufrissen, aus Spuren im Mauerwerk, aus erhaltenen Resten von Steinen und Formziegeln eine so lebendige Anschauung des einst Gewesenen gewann, daß er es überzeugend nachzubilden vermochte; um so größer die Freude, heut’ ein ganzes Werk vor Augen zu haben, das an den früheren schmachvollen Zustand nicht mehr erinnert. Nun mag auch die Erwägung am Platze sein, was über die „künstlerisch-archäologischen Aufgaben“ hinaus zu thun wäre, um die herrlichen Räume in den Dienst der Landeskunde zu stellen und als Museum zu verwerten. Schon ist die große Blellsche Waffensammlung angekauft, um vermehrt und aufgestellt zu werden; schon hat der Geheime Sanitätsrat Dr. Jaquet eine auf das Ordensland bezügliche Münzsammlung geschenkt, die für die Tresslerwohnung bestimmt ist; schon plant man die Zuführung von Abgüssen alter Bildwerke, Grabsteine und Inschriften aus der Ordenszeit. Es ist bereits so viel gethan, daß das Mehr nur noch eine Frage der Zeit sein kann. Das lebhafte und verständnisvolle Interesse, welches der Kaiser an der Bauarbeit nimmt, die er in jedem Jahre zu besichtigen pflegt, bürgt dafür, daß das Werk, zur freudigsten Bewunderung und reichsten Belehrung vieler Generationen nach uns, vollendet werden wird.


Kismet.

Eine Novelle aus Persien von H. Rosenthal-Bonin.

Wenn der Monat Juni beginnt, dann flüchtet alles, was nur irgendwie die Mittel dazu aufbringen kann, aus dem baumlosen, staubigen, erstickend heißen Teheran, der von wüstenartigen Steinhalden und Salzebenen umgebenen Hauptstadt des persischen Reiches, hinauf zu den Höhen der Schemiraner Berge, zu den Hügelterrassen, die, von Bächen durchrauscht, schöne Thalgründe bergen, in denen üppige Gärten gedeihen und schlanke Platanen ihre grünen schattenspendenden Kronen ausbreiten. Hier weht eine frischere Luft und die Nächte sind kühler als in der von einer unbarmherzigen Glutsonne ausgedörrten Hauptstadt. Auf diesen Bergterrassen entstehen dann Zeltansiedelungen, in denen die vornehmeren und begüterten Einwohner Teherans die Sommermonate zubringen; hier haben die Gesandtschaften ihre umfangreichen Sommerzelte, so der russische, österreichische, englische, türkische Gesandte, hier besitzt auch der Schah schöne Lustschlösser mit herrlichen Gartenanlagen und künstlichen Seen zum Aufenthalt für die heiße Jahreszeit, und in zahlreichen Dörfern, umgeben von grünen Feldern und schönen Fruchtbäumen, wohnt eine arbeitsame friedliche Bevölkerung.

Nicht weit von der Sommerresidenz des Schah, Niaveran, liegt das Dorf Kassim, dessen grüne Wiesen ein halbes Hundert Kühe ernähren und dessen Bewohner als Kirschenzüchter sowie als Korbflechter weithin eines besonderen Rufs sich erfreuen.

Als der angesehenste Bauer Kassims galt Ghulam Hussein. Ihm gehörten von den fünfzig Kühen der Ansiedelung dreißig; er lieferte die Milch in das Hoflager des Schah, und von seiner Mühle bezog die Sommerresidenz das feine Weizenmehl. Jedoch diese Besitztümer hielt man nicht für den größten Reichtum Ghulams, für kostbarer als all dies erachtete man des reichen Bauern Tochter Anymeh, ein schlank gewachsenes Mädchen, dessen mandelförmige glänzend schwarze Augen, blonde Haare und zart gelbliches Gesicht jeden Kenner der Schönheit entzückten.

Anymeh war größer als die Perserinnen gemeinhin sind, ernst und arbeitsam, ihre dunklen Augen blickten scharf und klug, und die kühn geschwungenen Lippen ihres kleinen Mundes verliehen dem Mädchen etwas seltsam Anziehendes. Alle jungen Leute viele Stunden im Umkreis waren in Anymeh vernarrt, und Ghulam wurde schon seit drei Jahren mit Heiratsanträgen, die um Anymehs Hand warben, und mit Anerbietungen reicher Morgengaben – denn in Persien erhält der Vater solche, wenn er eine Tochter verheiratet – förmlich überschüttet.

Ghulam hätte es auch ganz gern gesehen, wenn seine Tochter den einen oder den anderen der begüterten Freier erhört hätte; Anymeh hatte jedoch entgegen dem persischen Gebrauch, nach welchem die Töchter stillschweigend dem Willen der Eltern sich fügen, hinsichtlich ihrer Verheiratung ihren eigenen Kopf. Mit vierzehn Jahren heiraten in diesem Lande der heißen Sonne die wohlhabenden Mädchen gewöhnlich. Anymeh zählte jetzt schon sechzehn Jahre, aber bei jedem neuen Freier, der sich einstellte, schüttelte sie den Kopf, und schließlich erklärte sie dem Vater: „Gott möge dir noch hundert Jahre Leben schenken – du bist gesund und stark und wirst mich nicht so bald allein lassen! Wir haben es ja nicht nötig, daß du auf eine schnelle Versorgung für mich bedacht sein mußt, also gewähre mir, Vater, zu warten, bis einer kommt, der mir völlig gefällt!“ Der alte Ghulam hatte großen Respekt vor der Klugheit seiner Tochter; that sie doch nie etwas, ohne gründlich darüber nachzudenken, auch verstand sie zu lesen und zu schreiben – Dinge, die ihm weltenfern lagen und welche er als hohe Weisheit bewunderte. So ließ er denn der schönen Anymeh ihren Willen. Sie wird schon Ernst machen, wenn sie es für recht hält, meinte er bei sich.

So lagen die Dinge im Hause Ghulams, als der Sommer wieder nahte.

Der alte Schah Mahumed war gestorben, sein Sohn Nassr-Eddin hatte den Thron bestiegen und sollte jetzt zum erstenmal als Herrscher des Landes die Sommerresidenz beziehen. Schon trafen lange Züge mit hochbepackten Kamelen ein, die Dienerschaft auf Pferden und Eseln und in dichtverschlossenen Sänften, von Maultieren getragen die Damen des Harems. Endlich kam auch der Schah auf einem weißen Rosse, das durch Hennah rötlich gefärbt war, umgeben von den Würdenträgern seines Hofes, die alle auf kostbar geschirrten schwarzen Pferden ritten. Zweihundert mit Panzerhemden bekleidete Lanzenreiter gaben dem Zug das Geleite. Und nun entwickelte sich ein buntfarbiges Leben innerhalb der stundenweiten Ummauerung des königlichen Landsitzes und in den umliegenden Zeltanlagen.

Anymeh war die alljährliche Wiederkehr dieses Treibens gewohnt, es brachte ihr nichts Neues; sie ging dieses Jahr wie jedes andere vorher mit ihrem Vater auf die Landstraße, wo der Zug vorbeikommen mußte, und begrüßte den Monarchen mit tiefgeneigtem Kopfe, die Hände kreuzweis auf der Brust, das blonde Haupt mit der hohen weißen, kegelförmigen Steifgazemütze geschmückt, den blauen Wollenschleier zurückgeschlagen. Die Augen aufzuheben, war verboten, und Anymeh hatte bisher stets

[689]

Vor dem Kurhause in Bad Reichenhall.
Nach dem Leben gezeichnet von F. Hlavaty.

[690] die Vorschrift eingehalten. Da – wer kann der Macht des Kismet, der Fügung, entgehen – that sie es plötzlich doch und sah vor sich den letzten unter den Beamten, einen jungen Mann, bei dessen Anblick es sie wie ein heftiger Schreck durchfuhr. Es war aber ein seltsam freudiger Schreck. Wie ein Feuerstrom flutete es ihr zum Herzen; sie wankte fast unter der Macht dieses Eindruckes und mußte sich gewaltsam aufrecht erhalten. Wohl senkte sie sogleich den Blick wieder zur Erde, aber eine Macht, die stärker war als ihr Wille, zwang sie, die Augen wieder zu erheben und noch einmal auf den jungen Mann zu schauen. Jetzt trafen sie auch die Blicke des Reiters – ihr Herz erbebte, der Atem stockte ihr in der Brust. Welch tiefer Ernst beseelte diese Augen, und dennoch entströmte ihnen ein flammend Leuchten, das sie bezauberte, berückte, sie fast von Sinnen brachte. Es war Anymeh zu Mute, als ob sie vor Schmerz vergehen müßte, und zugleich hätte sie vor Glückseligkeit laut hinausschreien mögen. War das die Liebe – ist das die Liebe? sann das Mädchen. Sie taumelte, indes sie in der glühenden Sonnenhitze neben ihrem Vater dem Dorfe wieder zuschritt, sie wandelte wie berauscht. Der alte Ghulam ergriff seine Tochter bei der Hand und führte sie. „Das ist die Sonne, sie ist schon stark, du hättest nicht so lange in der Hitze stehen sollen,“ murmelte er.

„Ja, es war die Sonne,“ flüsterte mit seltsam traumhaftem Gesichtsausdruck Anymeh. Dann aber richtete sie sich plötzlich in die Höhe, hielt den Kopf wie gewaltsam aufrecht und schritt ruhig und fest neben ihrem Vater ihrer Behausung zu.

Ghulam Husseins Anwesen unterschied sich durch Größe und Stattlichkeit von den übrigen Häusern des Dorfes, die meistens Hütten aus Lehmziegeln waren. Der reiche Landmann wohnte in der Ruine einer Feste, von welcher noch die Umwallung aus einer Steinmauer und ein Turm aus luftgedörrten Backsteinen übrig waren; an den Turm waren schiefgedeckte Ställe für langhaarige Ziegen angebaut, ebenso ein großes Wintersteinhaus für die Kühe. Der runde Turm mit je einem Fenster nach Nord und Süd auf seinen drei Stockwerken, die allerdings keine Glasscheiben, sondern nur ausziehbare Schilfmatten als Verschluß hatten, diente zur Wohnung und gewährte Vorratskammern.

Jetzt befand sich nun Anymeh unten im Wohnzimmer ihrem Vater gegenüber. Vater und Tochter hatten jedes ein niedriges buntbemaltes Eßtischchen vor sich und saßen mit untergeschlagenen Beinen nach orientalischer Art auf einer Binsenmatte auf dem Boden, indessen eine kurdische Magd mit bronzefarbenem Gesicht, Schlitzaugen und platter Nase die Herrschaft bediente; sie verzehrten ihr einfaches Mahl, bestehend aus Kirschenreis, Thee und Salzoliven. Solange die Magd zugegen war, wurde kein Wort gewechselt. Jetzt war das Mahl beendet und die Kurdin saß draußen vor der Thür, die Schüssel auf dem Schoße, nunmehr selbst ihre Mahlzeit verzehrend; Ghulam Hussein hatte von seiner Tochter die angezündete Wasserpfeife gereicht bekommen und entlockte behaglich dieser duftende Rauchwolken. Da brach Anymeh das Schweigen und begann: „Der neue König hat ein zahlreiches Gefolge.“

„Das hat er,“ antwortete Ghulam, „weil er neben manchen alten Dienern, die er von seinem Vater übernommen, noch junge Beamte ganz nach seinem Willen sich gewählt hat. Der junge König – Gott möge ihm hundert Jahre Leben schenken! – soll klug sein und die Absicht haben, viele Uebelstände abzustellen – Gott möge hierzu ihm seine Hilfe verleihen!“

„Ich sah einen Mann unter den Dienern, der noch nie hier war,“ fuhr Anymeh, die Augen starr vor sich auf die Theeschale geheftet, fort, „einen großgewachsenen Mann mit schwarzem Barte und gerader Nase, er ritt als letzter.“

„Ich kenne den Mann nicht, aber Gamber Ali, unser Nachbar, der ihn kannte, sagte, er sei der Sohn des Küchenmeisters und Oberkochs Thagi, ein Gelehrter, der die Dichter lesen könne und sogar die Sprachen der Jnglis (Engländer) und Franken verstände. Er sei schon, als der König – Gott möge ihm Segen und Gesundheit verleihen! – noch ein Kind war, dessen Spielkamerad und Lehrer gewesen und jetzt unterrichte er den Schah in der Frankensprache.“ Bei der Erwähnung, daß der junge Mann ein Sohn des Oberkochs sei, hatte ein freudig aufleuchtender Strahl aus den Augen Anymehs den erzählenden Vater getroffen, doch der Blick verdüsterte sich wieder, als ihr Vater auch das andere berichtete.

Anymeh sah darauf wieder starr vor sich nieder, der alte Ghulam rauchte.

„Ob die Sprache der Franken wohl schwer zu erlernen ist,“ spann jetzt Anymeh, wie in Gedanken vor sich hinsprechend, die Unterhaltung wieder fort.

„Gewiß, sehr schwer,“ antwortete Ghulam, „denn es lernt sie fast niemand, und Leute, die in Frankistan gewesen sind, haben sie – das weiß ich – auch nicht gelernt.“

„Aber jener Thagi versteht die Sprache,“ versetzte Anymeh, gedankenvoll aufschauend.

„Ja, er muß ein großer Gelehrter sein.“

„Ich möchte die Sprache auch verstehen,“ meinte darauf Anymeh.

„Eh, wer wird solche Dummheiten sprechen,“ antwortete, eine gewaltige Rauchwolke ausstoßend, der Bauer. „Eine Frau und die Sprache von Frankistan! Willst du Minister werden und mit den Gesandten dich streiten?“ spottete er; „besorge die Kühe und die Schafe, koche deinem Manne seine Lieblingsgerichte und du wirst glücklich sein. Ich glaube gar, du würdest den Sohn des Kochs heiraten um der Sprache der Franken willen,“ lachte Ghulam von neuem.

„Ja – das möchte ich,“ antwortete da Anymeh, mit ihren dunklen Augen voll, groß und ernst den Vater ansehend, so daß dieser unter diesem Blick, den er kannte, stutzig wurde und die Pfeife aus dem Munde nahm.

„Ich würde alle Schätze, die ich besitze, hingeben, wenn dieser Mann mich zu seinem Weibe wählen wollte,“ fuhr Anymeh in der gleichen Weise nachdrücklich fort.

Ghulam legte das biegsame Pfeifenrohr auf den Tisch und schlug die Hände zusammen. „Die Sonne hat dir den Kopf verwirrt, Töchterchen,“ sprach er. „Du hast ja den Mann heute zum erstenmal in deinem Leben gesehen und kein Wort mit ihm gesprochen,“ warf er weiter ein.

„Und doch kenne ich ihn. Er ist ein großer Mann und ein guter Mann,“ versetzte das seltsame schöne Mädchen, immer noch als ob es in Gedanken vor sich hinspräche.

„Und du – eine Bauerntochter und er – ein Genosse und Lehrer des Königs!“

„Haben doch Fürsten Bauerntöchter geheiratet!“

„Ja, in den Versen der Märchenerzähler und vor tausend Jahren, als die Kühe noch singen konnten,“ versetzte Ghulam.

„Wenn er mich lieben könnte, würde er mich auch heute heiraten können. Weshalb denn nicht?“ wandte Anymeh ein.

„Du bist nicht gescheit,“ meinte darauf der Bauer, sich vom Tische erhebend, „du träumst und sprichst wie im Fieber. Der Anblick des Zuges, der Weg und die Hitze haben dich krank gemacht, sonst könntest du, mein vernünftiges, kluges, gescheites Mädchen, solchen Unsinn nicht sprechen. Lasse dir einen kalten Trunk bereiten und lege dich nieder. Einer aus der Umgebung des Königs und die Tochter Ghulam Husseins – wie sollten die zusammen kommen! Begieb dich zur Ruhe oben in dem luftigsten Zimmer, Töchterchen,“ mahnte der Bauer sorgenvoll und verließ den Raum, um nach der Bewässerung seiner Obstgärten zu sehen.

Wenn es für die Tochter des Bauern Ghulam „Kismet“ war, den jungen Thagi zu erblicken, so schien es nicht minder Bestimmung für Mirza Thagi gewesen zu sein, daß ihm Anymeh gerade vor der Sommerresidenz begegnete und die Blicke der beiden sich trafen. Der Sohn des Kochs war kein großer Frauenverehrer, ja man hatte ihn an dem sehr leichtfertigen Hofe des Schah Mahumed als einen Weiberhasser verspottet. Das war jedoch der junge Mann nicht. Er hatte sich ein großes Ziel gesteckt: obwohl nur der Sohn eines Kochs, hatte er alles drangesetzt, in die Kreise der Gelehrten zu kommen, und getrieben von einem wahren Feuereifer für alles, was Wissenschaft hieß, arbeitete er mit rastlosem Fleiß auf allen Gebieten, wo er sich nur Hilfsmittel verschaffen konnte, seine Bildung zu vollenden und sich auch eingehende Kenntnisse von dem Leben und Treiben, den Wünschen und Bedürfnissen der Völker zu verschaffen. Selbst ein Sohn jener südlichen Landschaft, deren Hauptstadt Schiras ist, war er an den Hof des Thronfolgers gekommen, welcher damals in einer Art Verbannung als Statthalter einer entlegenen Provinz am persischen Meerbusen lebte und dessen Gesellschafter und Lehrmeister er wurde. Völlig in Anspruch genommen von diesem Wissensdurst, [691] lockte ihn keinerlei Zerstreuung, und so kam es, daß all die freundlichen Blicke, welche dem zum auffallend schönen Manne Herangewachsenen auch von seiten der Damen des Hofes zu teil wurden, an seinem ernsten gehaltenen Wesen wirkungslos abglitten. Jedoch sein Kismet sollte es sein, daß er Anymeh sah; die echt persische und doch besondere Schönheit des Mädchens fesselte seine Aufmerksamkeit und das blitzartige Wirken seiner Erscheinung auf dies ungewöhnliche Landmädchen, welches sich in dessen Blick, in ihrer ganzen Haltung ihm gegenüber offenbarte, traf sein Herz und prägte das Bild ihrer Schönheit seiner Phantasie tief ein. Von dem Augenblick an, da Mirza Thagi Anymeh erschaute, beschäftigte sie seinen Geist und erwachten in ihm Gefühle, die ihm bisher völlig fremd waren. Er empfand Sehnsucht, dies Mädchen wiederzusehen, er wünschte, mit ihm zu sprechen, seine Stimme zu hören, zu vernehmen, wie es dachte und fühlte, überhaupt in seiner Nähe zu sein, und die Wissenschaften dünkten ihm mit einem Male viel weniger wichtig. Unruhe hatte sich seiner bemächtigt und es drängte ihn, zu erfahren, wer dies schöne Mädchen war und wem sie angehörte.

Währenddessen saß Anymeh oben in dem luftigsten Zimmer des Turmes, der das väterliche Wohnhaus bildete, und hatte die Rohrjalousie heruntergelassen, daß es dämmrig finster in dem kahlen Raum war – aber in der Dunkelheit sah sie im Geiste nur noch heller die Gestalt dieses Mannes, der ihr wie ein überirdisches Wesen erschienen war. Er ist mein Kismet – sagte sie sich – ich habe so lange warten müssen, bis ich ihn sah, und jetzt ist mein Schicksal erfüllt – ich soll ihm angehören – ob er mir –? Das werden die Heiligen wissen – das wird die nächste Zeit entscheiden – er wird zu mir kommen, wenn das so bestimmt ist. Wird er kommen …? Diese Frage wogte unablässig in Anymehs Brust und das schöne Persermädchen litt vor Sehnsucht und Bangen, was die Zukunft bringen würde.

Mirza Thagi stand nicht im Verhältnis der regulären Hofbeamten zum Schah, er hatte sich keiner der tausend Vorschriften des am Hoflager herrschenden Ceremoniells zu fügen, seine Stellung war freier: wenn der Schah ihn nicht zu sich entbot oder seine Begleitung zu einem der vielen kostbar und prunkvoll ausgestatteten Theesalons des weitläufigen Parks der Sommerresidenz wünschte, konnte der junge Gelehrte thun, was er wollte. Nun hatte Thagi stets einen besonderen Eifer, die Verhältnisse aller Berufsklassen eingehend kennenzulernen, an den Tag gelegt, und somit fiel es nicht auf, daß sofort nach der Ankunft in Niaveran der absonderliche Mirza Thagi seine gesamte freie Zeit darauf verwandte, die Gehöfte der Bauern in der Umgebung des Sommerschlosses zu besichtigen und sich speciell von den Zuständen des Ackerbaues und der Weiden- und Obstkultur in der Nähe von Kassim zu unterrichten. Er hatte mit den Bauern und Korbflechtern Gespräche angeknüpft, viele Fragen an die Leute gestellt, war in ihre Güter getreten und jetzt, nachdem eine Woche seit dem Einzuge in Niaveran verflossen war, stattete er auch dem Hofe des reichsten und angesehensten Ackerbauers der ganzen Umgegend, Ghulam Hussein, einen Besuch ab.

Als er mit dem Eisenschlägel an das wohlverwahrte Hofthor der kreisförmigen Ummauerung pochte, öffnete Ghulam Hussein selbst.

„Ich bin Mirza Thagi vom königlichen Hoflager und möchte deine Obstgärten, welche ich als die besteingerichteten weit und breit habe preisen hören, kennenlernen.“

Ueber Ghulams braunes, faltiges Gesicht lief ein unmerkliches Lächeln; der Bauer verneigte sich tief und machte Mirza das Zeichen, einzutreten. „Sie werden nicht viel Neues sehen, hoher Herr,“ erwiderte er, „die Gärten von Niaveran haben viel prächtigere Anlagen. Indessen, Herr, Ihr Besuch ist mir eine Ehre, belieben der hohe Herr mir zu folgen.“ Und überaus höflich machte jetzt Ghulam den Führer Thagis durch die Aprikosen-, Pflaumen- und Kirschengärten, er zeigte auch dem wissenseifrigen jungen Mann die Dörrhäuser für die Früchte, in welchen entweder durch die Sonnenhitze oder vermittelst Feuerung die Aprikosen und Pflaumen getrocknet wurden. Hierbei entfernte sich jedoch der Landmann mit seinem Gaste naturgemäß immer weiter von dem Wohnhause, für welches Mirza Thagi auch ein großes Interesse zu haben schien, da er unter den Erklärungen seines Führers öfter aufmerksame Blicke dorthin sandte; endlich äußerte der junge Mann den Wunsch, noch die Ställe Ghulams, die ihm ihres schönen Viehstandes wegen so sehr gerühmt worden wären, zu besichtigen. Ghulams Gesicht wurde bei der Aeußerung dieser Wißbegierde noch um einen Schatten dunkler und ein Zug von Mißvergnügen lag in seinen kleinen, sonst so hell und heiter blickenden Augen; er verneigte sich aber höflich und kehrte mit seinem Besucher zum Hofe zurück.

Im zweiten Stock des Turmes, an dem Fenster nach dem Garten zu, öffnete sich in diesem Augenblick die Rohrjalousie ein wenig und ein weißes Gewand schimmerte und ein mit vielen Goldreifen geschmückter heller Arm ward sichtbar. Der Vorhang ging ganz in die Höhe und Anymeh erschien am Fenster, sie verneigte sich vor dem Fremden unverschleiert – das war ungebräuchlich, jedoch Anymeh that überhaupt manches, was gegen die althergebrachten Vorschriften für ihr Geschlecht verstieß. Mirza Thagi erwiderte die Begrüßung durch eine ehrerbietige Neigung, dann trat er mit Ghulam in die Ställe und schenkte diesen viel Aufmerksamkeit.

Nun waren auch diese besehen, und Ghulam hätte als ein so höflicher Mann, wie er sich zeigte, und dem allgemein geübten Herkommen gemäß, den Besucher einladen müssen, in das Haus zu treten und eine Tasse Thee mit ihm zu trinken. Ghulam Hussein unterließ auffallenderweise diese selbstverständliche Ehrung eines Gastes, was einen scharfen, prüfenden Blick des Mirza auf ihn hervorrief. Der Bauer öffnete stumm die Stallthür und der junge Mann schritt hinaus auf den Hof, dann schritt Ghulam ihm voran, dem großen Thore zu.

Langsam, wie zögernd, folgte Thagi; als er am Turm unter dem Fenster, an welchem er die Frauenerscheinung erblickt hatte, vorüberwandelte, fielen von oben drei zusammengebundene Nelken vor seine Füße nieder. Schnell bückte sich der Mirza, hob die Blumen auf und verbarg sie in der Brustfalte seines kaftanähnlichen blauen Rockes. Er warf einen Blick nach dem Fenster hinauf. Die Jalousie war heruntergelassen und niemand mehr dort zu sehen. Währenddessen hatte Ghulam das Hofthor geöffnet und verabschiedete sich, ehrerbietig und ausgesucht höflich sich verneigend, von seinem Gaste.

Als Ghulam den schweren Verschlußbalken an das Thor gelegt hatte, zeigte sein Gesicht einen sehr verdrießlichen Ausdruck. „Was will der hier,“ murmelte er, „er stört mir nur die Ruhe meines Kindes! Heiraten wird er sie doch nie, wenn er auch nur der Sohn eines Kochs ist – er sieht aus, als ob er noch zu höheren Stellungen bei Hofe gelangen würde … Gleich zu gleich – das bringt Segen … Ich werde dem Mädchen aufpassen.“

Am hohen Bogen des Einganges zu dem Turme trat ihm Anymeh mit strahlendem Antlitz entgegen. „Er war hier,“ sprach sie mit glückseligen Augen. „Er wird kommen und um mich freien.“

„Unsinn! Er kann gar nicht um dich freien, denn er ist schon jetzt nicht mehr von deinem Stande,“ antwortete der Bauer unwirsch.

„Es ist unser Kismet, Vater, sonst hätte ich ihn nicht gesehen und er wäre nicht hergekommen.“

„Schlage dir solche Gedanken aus dem Kopf, sonst wirst du eine schwere Täuschung erleben. Es giebt zweierlei Kismet, eines, das man sich einbildet, ein anderes, das Gott verhängt,“ versetzte Ghulam, „seine Nebenfrau wirst du doch nicht werden wollen.“

„Nein, niemals!“ meinte das Mädchen, mit Stolz sich aufrichtend. „Nur seine Gemahlin, und das werde ich.“

„Ich kenne dich gar nicht wieder,“ entgegnete darauf der Bauer. „Du denkst sonst so vernünftig und klüger und schärfer als die andern Frauen und läßt dich jetzt von solch einem Wahn ganz verblenden.“

„Kein Wahn, Vater – mein Schicksal!“ antwortete das Mädchen überzeugt.

„Narrheit!“ rief der Landmann. „Mädchentollheit, Schäume und Träume, die vergehen,“ setzte Ghulam Hussein mürrisch hinzu und ging an seine Arbeit.

„Wir werden sehen, wer recht behält,“ sprach Anymeh und begab sich wieder in ihr Zimmer an den Webstuhl, um in den neuen wollenen Schleier, den sie sich nach Landesgebrauch selbst verfertigte, goldene Glücks- und Zukunftsträume einzuweben.

Unterdessen wanderte Mirza Thagi nachdenklich den Weg [692] zur Sommerresidenz zurück. Als er die Weiden des Flüßchens hintet sich hatte, wo er vom Hofe nicht mehr beobachtet werden konnte, nahm er das Nelkensträußchen, welches vor ihm niedergefallen und unzweifelhaft von dem schönen Mädchen für ihn bestimmt war, hervor und betrachtete es. – Die drei mit einem blauseidenen Faden zusammengebundenen Nelken hatten hierdurch Herzform, sie waren purpurrot, und dies bedeutete ein Herz voll Liebe. – Es war also ein Liebesgruß, den die schöne Tochter des reichen Bauern ihm hatte zukommen lassen. Wie entzückend sie ausgesehen hatte! Und dies Mädchen liebte ihn: Liebe war es gewesen, was sie damals so seltsam erbeben ließ, als er ihrem Blick beim Einritt in das Dorf begegnet war, jene Liebe auf den ersten Blick, welche die Dichter so oft geschildert haben, die den ganzen Menschen gefangen nimmt und die auch ihn damals mit süßem Schrecken ergriffen hatte. Ein beseligendes Glücksgefühl schwellte seine Brust. Und doch wurde ihm das Herz schwer, als er seine Lage weiter überdachte. Heiraten konnte er noch nicht. Er hatte bis jetzt noch keine sichere Stellung, er bezog keinen festen Sold. Er selbst war arm und besaß gar nichts. Sein Gönner, der junge Schah, machte ihm von Zeit zu Zeit Geschenke. Aber die Gunst der Könige ist wandelbar, und bei dem Intriguenkampf, der am Hoflager herrschte, der niemand verschonte und alle Verhältnisse bestimmte, konnte er über Nacht ohne Beruf und ohne jedes Einkommen sein. Wie hätte er es wagen dürfen, in einer derartig unsicheren Lage vor diesen reichen Bauern zu treten und um seine Tochter anzuhalten. Was konnte er dem Manne als Morgengabe bieten? Nichts als schöne Aussichten, die in ungewisser nebelhafter Ferne lagen. Dem Bauern schien zudem seine Person nicht angenehm zu sein, und der schlaue Alte mußte irgend etwas gemerkt haben, was ihm nicht gefiel, sonst hätte er ihn nicht so entschieden von seinem Hause ferngehalten. Das erwog Mirza Thagi, die Blumen in der Hand, langsam am Bache wandelnd, und er kam zu dem Entschluß, das schöne Mädchen zu meiden und dies entstehende Feuer zu dämpfen, bevor es zu spät war und die Flammen über sie beide zusammenschlugen.

Aber trotz dieses Vorsatzes und ungeachtet der sorgfältigen Beobachtung, mit welcher Ghulam Hussein seine Tochter umgab, geschah es dennoch, daß die beiden jungen Leute an einem kühlen Morgen, zu ungewöhnlich früher Stunde für Spaziergänge, in dem Weidenthal zwischen Niaveran und Kassim sich trafen.

Mirza Thagi grüßte Anymeh und Anymeh zog den Schleier etwas über ihr Gesicht und grüßte tief den Sohn des Küchenmeisters. Und Mirza Thagi blieb trotz der großen Vorsätze vor der schönen interessanten Bauerntochter stehen, ließ sein Buch, in welchem er dem Anschein nach eifrig gelesen hatte, sinken und begann ein Gespräch mit Anymeh. Mirza Thagi war gewiß ein geistreicher, tiefdenkender, außerordentlich gelehrter Mann, und trotzdem fing er, als wäre er der gewöhnlichste Sterbliche, von dem Wetter zu sprechen an. Er sagte nämlich: „Der schöne, liebliche Morgen hat wahrscheinlich dich, ehrsame Jungfrau, zu dem Bächlein herausgelockt, um die Kühle zu genießen.“

„So ist es, hochedler Herr,“ antwortete Anymeh.

„Der Ort hier ist so schön, als hätten ihn die Dichter erfunden zur Begegnung für Liebende,“ fuhr der junge Mann fort.

„Ihr sagt das Richtige, hoher Herr,“ erwiderte Anymeh, den Kopf senkend und den Schleier tiefer über ihr Gesicht ziehend.

„Du kennst solche Gedichte, edle Jungfrau?“ frug der Mirza erfreut.

„Ja, ich lese manchmal und verstehe etwas zu schreiben,“ versetzte darauf mit einigem Stolz Anymeh.

„Du –?“

„Ja, edler Herr, mein Vater hat auf mein Drängen mir einen Mullah aus Teheran kommen lassen, der mich unterwies.“

„Das ist erstaunlich,“ meinte Thagi.

„Wir können es, denn wir sind reich.“

„Das weiß ich.“

„Und ich habe keine Geschwister. – Mir fällt einst, wenn mein Vater aus dieser Welt geht – was Gott noch hundert Jahre verhüten möge! – der Hof und die Mühle zu,“ fuhr Anymeh fort.

„So wirst du es einmal gut haben,“ äußerte der junge Gelehrte nachdenklich.

„Und der, welcher mich zur Gattin wählt, gleichfalls,“ kam es leise von Anymehs Munde.

„Der Glückliche!“ ließ Mirza Thagi fallen.

Beide gingen jetzt schweigsam nebeneinander. Es war eine lange, schwüle Pause.

„Es haben schon viele um mich angehalten,“ nahm jetzt Anymeh das Gespräch wieder auf. „Die besten Söhne unserer Landschaft! Ich habe mich zu keinem entschließen können, weil für mich Bildung höher steht als Besitz und – ich auf die Sprache des Herzens höre – und dies hatte bisher immer geschwiegen,“ fügte Anymeh leise hinzu.

„Und schweigt es immer weiter?“ konnte der grundsatzfeste junge Mann nicht umhin, darauf einzuwerfen.

„Nein,“ antwortete das Mädchen kaum hörbar.

„Es hat für mich gesprochen, ich weiß es, edle Jungfrau!“ sagte der Mirza mit leuchtenden Augen.

„Es ist so, hoher Herr.“

Und Mirza Thagi ergriff die Hand Anymehs, führte sie zum Munde und küßte sie feurig.

„Hoher Herr, mein Vater ist gegen Euch!“ sprach jetzt Anymeh. „Er glaubt, daß wir der Verschiedenheit unseres Standes wegen nicht füreinander passen. Das glaubt er, er will mein Bestes und liebt mich sehr, aber er ist ein einfacher Mann, er weiß nicht, daß ich über den Stand eines gewöhnlichen Bauernmädchens weit hinaus bin, und er kennt die Macht der Liebe nicht, die stark wie der Tod ist und alle Unterschiede aufhebt. Aber wenn Ihr zu ihm kommt, hoher Herr, und mich als Gattin begehrt, wird er Euch nicht abweisen.“

„Ich bin arm, teures Mädchen, und kann ihm keine Morgengabe bieten – ich mag nicht wie ein Bettler erscheinen,“ versetzte darauf Mirza Thagi trübe.

„Wenn er über Eure Wahrhaftigkeit und Eure edlen Absichten im klaren ist, macht ihm das nichts. Ihr habt eine glänzende Zukunft, hoher Herr, das weiß ich so sicher, als die Sonne jetzt am Himmel steht, und wir können warten: es wird nicht lange währen, und Ihr steht auf der Höhe des Lebens, und Euch strömen Schätze zu. Das ist felsenfest!“

„Du hast ein großes Zutrauen auf meinen Glücksstern,“ meinte Mirza Thagi lächelnd.

„Das größte von der Welt, Herr,“ versetzte Anymeh mit ruhigem Gesichtsausdruck und leuchtenden Augen.

„Möge es so werden, wie du sagst! Als ich dich erblickk, fühlte ich, daß ich dich lieben müsse. Es sollte so sein, daß wir uns fanden, um einander anzugehören. Ich werde morgen zu deinem Vater kommen, um mit ihm zu sprechen.“

Anymeh schlug den Schleier zurück, der Mirza schloß die schlanke Gestalt in seine Arme und küßte Anymeh auf den Mund und auf die Augen. Dann schieden die Liebenden schnell, da die Morgenstunde schon vorgerückt war und es gegen alle gute Sitte und jedes Herkommen gewesen wäre, hätte man sie hier allein bei einander gesehen.

Am nächsten Morgen ließ der Schah dem Mirza Thagi sagen, daß er seine Gesellschaft für einen Spaziergang durch den „großen Garten“ – das war ein ziemlich entlegener Teil der Parkanlagen hinter dem Schlosse, wo diese in Platanenwäldchen und Wiesenhänge übergingen – wünsche und ihn bei dem letzten Theekioske erwarte. Die Stunde war sehr früh für das Leben am Hofe angesetzt.

Mirza Thagi fand sich an dem bezeichneten Platze ein, und bald sah er den jungen Schah durch den schnurgeraden, langen, im Gold der Früchte schimmernden Mittelgang der Orangenbäume herankommen. Zu seiner Verwunderung verabschiedete Nassr-Eddin jetzt mit einer Handbewegung gänzlich das Gefolge seiner obersten Hofchargen, die den Monarchen immer umgaben, die auch, wenn er allein gehen wollte, dem Ceremoniell nach stets in einer gewissen Entfernung ihm zu folgen hatten, und schritt langsam, den scharfgeschnittenen Kopf gesenkt, auf Mirza Thagi zu.

So ernst hatte der Mirza den jungen Herrscher noch nie gesehen – das mußte etwas zu bedeuten haben.

Nassr-Eddin erwiderte die tiefe Verneigung des Mirza mit einem freundlichen Winken der Hand; er wandte sich und schien sich überzeugen zu wollen, ob das Gefolge auch wirklich nicht in

[693]

Kinderbelustigung im Zoologischen Garten zu Berlin.
Nach einer Originalzeichnung von Emil Rosenstand.

[694] der Nähe sei – dann begann er lebhaft: „Mirza – ich habe mit dir etwas Wichtiges zu reden.“

„Ich bin Ohr, Herr,“ erwiderte Thagi, dem Schah sich anschließend und neben ihm herschreitend.

„Ich habe jetzt genug gesehen und erfahren,“ nahm der Schah, schwer seufzend und düster vor sich hin blickend, das Wort. „Unsere Finanzen sind zerrüttet, unser Heer ist verlottert, unsere Landwirtschaft liegt danieder, unsere Hilfsquellen versiegen immer mehr. – Wir haben keine eigene Politik – wir sind die gehorsamen Sklaven bald Englands, bald Rußlands geworden. – Ein Spott, ein Schemen von Staat! – Was hat man aus dem einst so blühenden und großen Lande gemacht! Alles ist in Schwäche, Genußsucht, Ehrlosigkeit versunken. Alles stiehlt und betrügt und will sich maßlos bereichern; der Höhere immer auf Kosten der Niederen und alle zum Schaden des Staates. Wir stehen am völligen Zusammenbrach, wenn das so weiter geht. – Sage ich die Wahrheit?“

„Du sagst die traurige Wahrheit, o König!“

„Es muß hier Abhilfe geschaffen werden, schleunige, energische. Wir müssen einschneiden in das kranke Fleisch mit scharfen Messern und mit starker Hand. Ich will, ich muß! Ich schäme mich vor mir selbst, der Herrscher eines solchen Landes zu sein. – Sage ich zu viel, Mirza? Sprich!“

„Du sagst nicht zu viel, o König – aber du übernahmst das Reich in einem solchen Zustande – du bist an den sehr, sehr alten Uebeln nicht schuld.“

„Jedoch schon monatelang bin ich jetzt König, und ich habe keinen Stein in den Sumpf geworfen und keine Erde hineingethan, um ihn auszutrocknen,“ schloß der junge Schah in bitterem Tone.

„Es ist noch nicht zu spät, o König,“ warf Mirza Thagi hierauf ernst ein.

„Ich muß jemand zur Seite haben, der mir treu hilft,“ fuhr jetzt Nassr-Eddin fort. „Einen ehrlichen Mann, einen ernsten, strengen, thatkräftigen Mann, der allein steht, ohne Anhang in der verrotteten Beamtenschaft – und dieser Mann bist du, Mirza – du ganz allein.“

„O Herr, das ist ein Amt, ein Unternehmen, zu schwer für einen Menschen,“ erwiderte fast finster Mirza Thagi.

„Ich werde dir zur Seite stehen, mutig, fest und stark, und bald werden alle Vaterlandsfreunde uns zur Seite stehen; du sollst stets eine Stütze an mir haben, immer direkt mit mir allein verkehren, du kannst die Männer zur Hilfe wählen, welche du willst. – – Sag’, wirst du deinen König allein lassen?“

„Aber die Königin, Eure Mutter?“ warf Mirza Thagi besorgt ein.

„Ich weiß, worauf du deutest. Sie ist meine Mutter, aber – Gott mag ihr’s verzeihen! – sie ist der Schutzgeist aller der Gebrechen, die auf uns lasten und die unter meinem schwachen, kranken Vater so tief sich einfraßen. Will sie uns hindern, werde ich ihr – Gott wird mir’s verzeihen! – entgegentreten,“ sprach entschlossen Nassr-Eddin. „Es werden alle unbrauchbaren und ungetreuen Beamten entfernt. Du trittst an die Spitze der Regierung. Ich ernenne dich zum Vezier des Reichs, verleihe dir den Titel Amire-nizam – du wirst mir der große Arzt unseres kranken Landes sein.“

„Ich, der Sohn eines Koches!“ hielt Mirza dagegen. „Ein armer Mann, aus einer der niedersten Familien des Reiches!“

„Gerade deswegen. – Ich zeige dadurch merklich und eindringlich, in einer unverkennbaren Sprache, daß ich mit dem Alten gebrochen habe, daß eine neue, andere, bessere Zeit beginnt, in welcher Arbeit, Ehrlichkeit, Kenntnisse, Klugheit und wirkliches Verdienst gelten sollen.“

„Man wird mich, den Sohn des Küchenmeisters, verlachen,“ warf der Mirza ernst ein.

„Der Tod dem, der dich verlacht!“ rief der junge Schah. „Und bist du, Mirza Thagi, der Mann, der sich verlachen läßt? Das wäre mir ganz neu an dir. Ich weiß, was ich thue, Mirza! Du bist der Mann, der Hilfe bringen kann. Du kennst das Volk. Du kennst alle Gebrechen, an welchen mein Reich krankt. Du hast einen tapferen Geist, scharf wie Stahl, alles durchleuchtend wie die Sonne, und eine eiserne Hand. Du verstehst mit den Fremden zu verkehren, das habe ich gesehen: ich täusche mich nicht in dir. Wenn dein Freund dich bittet und dein König befiehlt, was wirst du thun?“

„Dem Befehle folgen, o König!“

„Nur dem Befehle, Mirza?“

„Nein, auch dem Wunsche meines erhabenen Gebieters.“

„So sei es, Amire-nizam!“ sprach darauf der Schah. „Wir dürfen nicht zögern, nicht eine Stunde soll verloren gehen – noch heute werde ich meinen Entschluß verkündigen und dich in alle Würden einsetzen, dir die höchste Macht neben der meinen geben, und dann wollen wir gemeinsam an das ernste Werk gehen. Reformen heißt dies, Reformen an allen Gliedern des Reichs, von den Wurzeln bis hinauf zum Wipfel.“ Nassr-Eddin ergriff beide Hände seines neuen Veziers und drückte sie herzlich.

So endete diese merkwürdige für die Entwicklung des neuen Persiens so wichtige Unterredung in den Gärten der Sommerresidenz zu Niaveran, sechs Monate nach der Thronbesteigung des neuen Schah.

Nassr-Eddin hatte nicht in einer Aufwallung des Augenblicks gesprochen – es war ihm bitterer Ernst um die Sache, er war vom heftigsten Zorn erfüllt gegen die herrschende Korruption, Schlaffheit und Beutelschneiderei. Er verkündete, daß von heute an Mirza Thagi Vezier des Reichs sei, mit den höchsten Machtbefugnissen, und daß er, der Schah, alles billige, was der neue erste Minister anordnen und ausführen werde.

Dies Ereignis hatte eine Wirkung gleich einem Blitz aus heiterem Himmel und machte zuerst am Hofe ein ganz ungeheuerliches Aufsehen, und dann lief die Nachricht durch das Land, wo die unerhörte Maßregel unheimliche Gefühle, namentlich in den Kreisen der Beamten erweckte, während das niedergedrückte Volk nur neue Uebel befürchtete.

Auch bei Anymeh hatte die Kunde, welche ihr natürlich noch am selben Tage zu Ohren kam, keine rechte Freude erweckt, namentlich weil der Tag, dessen Verlauf sie nach Minuten zählte, vorüberging, ohne daß ihr Geliebter sich zu dem entscheidenden Schritt, von dem ihre ganze Zukunft, ihr Lebensglück abhing, einstellte. Aber die kluge Perserin entschuldigte den Mann ihres Herzens mit der Fülle der durch einen solchen Umschwung der Verhältnisse herandrängenden Geschäfte, die es ihm sicher unmöglich machten, zu ihrem Vater zu kommen. Der alte Ghulam schüttelte bei der Nachricht den Kopf und äußerte: „Ist er ein ehrlicher Mann und ein tüchtiger, gerechter Vezier, so werden sie ihm bald den Kopf abschneiden, und ist er wie die andern, so haben wir durch diesen Wechsel nichts gewonnen. Deine Einbildungen aber Anymeh kannst du ruhig zu Grabe tragen. Wie wird ein solcher Mann, ein Vezier, die Tochter Ghulam Husseins zum Weibe nehmen!“

„Das muß die Zukunft erst erweisen, Vater,“ antwortete darauf Anymeh fest und zuversichtlich, jedoch der Blick ihrer Augen war dabei nicht heiter.

Das Staunen am Hofe über die Erhebung des Sohnes des Küchenmeisters zum ersten Minister des Reiches ging bald in Entsetzen über, als der neue Vezier eine ganze Reihe von Hofbeamten fortschickte, weil ihre Aemter nicht nötig seien und der Stand der Staatseinkünfte diese Belastung verbiete. Im Hoflager trieben sich zu Hunderten Diener und Klienten der höheren Beamten herum, welche diese auf Kosten des Hofes ernährten, und deren von der Staatskasse ihnen ausgezahlten Sold diese Nichtsthuer zum größten Teil ihren Herren geben mußten. Der neue Vezier schaffte hier gründlich Wandel. Er ordnete an, daß diese Hofchargen ihre Diener auf eigene Kosten zu erhalten und zu besolden hatten, worauf der ganze ungeheuere Schwärm wie weggeblasen verschwand. Dann ging Amire-nizam gegen die Gouverneure der Provinzen vor: schamlose Erpresser und Aussauger des Landes, die kaum den zehnten Teil der von ihnen aufs unbarmherzigste eingetriebenen Steuern der Staatskasse zuführten. Er setzte diese ab, ließ ihnen durch neuerrichtete ordentliche Gerichtshöfe den Prozeß machen und einige der ärgsten Schufte einkerkern. Er führte ein geordnetes Steuerwesen ein. Amire-nizam gab dem Lande eine geregelte Militäraushebung. Bisher hatten die Viertelsmeister der Städte und die Machthaber in den Dörfern die bestimmte Anzahl von Rekruten einfach aufgegriffen und mit Gewalt, halbtot geprügelt und gefesselt, wenn sie nicht willig waren, in die [695] sogenannten Militärstationen bringen lassen, aus welchen sie nur durch Bestechung wieder herauskamen, während sie sonst ihr ganzes Leben Soldat bleiben mußten. Jetzt herrschte hier Losziehung und freiwillige Stellvertretung.

Alle diese tiefeinschneidenden Aenderungen setzte der neue Vezier mit eiserner Energie und rücksichtsloser Strenge durch. Das mißhandelte Volk atmete auf, es empfand das Walten des neuen Premierministers als eine Wohlthat. Aber zu vielen Tausenden erwuchsen in den durch die Neuerungen bei ihrem Thun geschädigten Kreisen Amire-nizam tödliche Feinde. Der Gouverneur von Chorasan erregte einen gefährlichen Aufstand gegen die neue Regierung, auch die fanatisch am Alten hängende sehr mächtige Priesterschaft Jspahans entzündete einen wilden Aufruhr gegen den furchtlosen Neuerer. Amire-nizam schlug mit gewaltiger Hand die Bewegungen nieder und übte unerbittlich streng gerechte, aber blutige Vergeltung.

Und Anymeh? Tag für Tag wartete sie auf das Erscheinen ihres Freiers, dem sie sich ja verlobt, der ihr den Verlobungskuß gegeben und ihr die Ehe versprochen hatte. Der Auserwählte ihres Herzens kam nicht. Es vergingen Wochen, Monate, eine schreckliche Zeit vergeblichen Harrens und Hoffens, beleidigten Stolzes, verzweiflungsvoller Pein für Anymeh. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, schon kamen regnerische und kühle Tage, und es hieß, daß das Hoflager zur Uebersiedelung nach Teheran sich rüstete – da entschloß sich Anymeh, ein Letztes zu wagen. Sie schrieb einen Brief an den Ungetreuen, der lautete: „Hältst Du so Dein Wort Deiner unglücklichen Anymeh?“ Und das Mädchen verstand es, dies Schreiben an den neuen Vezier gelangen zu lassen.

An seinem mit Schriften hochbeladenen Arbeitstisch empfing Thagi den kunstvoll zusammengelegten, mit Wachs verschlossenen Streifen; er las die Zeilen und seine Augenbrauen zogen sich düster zusammen; er stützte einen Augenblick den Kopf in die Hand und dann sprach er zu sich: Wie weit liegt das hinter mir zurück, obwohl es ja nur eine kleine Spanne Zeit ist, seit ich von einem Bund fürs Leben mit Anymeh träumte! Ja, eine Welt liegt dazwischen. Das Mädchen ist schön, liebreizend – aber wie dürfte ich jetzt mich dem süßen Glück der Liebe hingeben? An mich sind andere Forderungen getreten, von mir hängt das Wohl und Wehe von Millionen Menschen ab, ich kann mich nicht ablenken, zerstreuen lassen durch ein Leben im Hause, als Ehemann und Familienvater, ich habe eine höhere Bestimmung und größere Ziele als das beschränkte Glück der Häuslichkeit. Das Glück eines Einzelnen, was besagt das dem Wohle der Allgemeinheit gegenüber? Mag auch sie etwas opfern, den Traum eines Mädchenkopfes. Sie wird sich trösten und der Vezier verbrannte den Brief an dem Siegellicht auf seinem Tisch. Dann ging er wieder an seine Arbeit.

Der Schah verließ Niaveran, das Hoflager siedelte in die Hauptstadt über, und mit diesem der Amire-nizam.

*  *  *

Ein Jahr verging und auch ein zweites, Anymeh hatte nie mehr ein Wort oder eine Botschaft von ihrem einstigen Verlobten erhalten, ihn nie mehr erblickt, da der Schah seine Sommerresidenz nach Manzure, einem Schloß höher in den Bergen, verlegt hatte. Anymehs Wesen war finster geworden, ihre Augen schärfer, es glühte in ihnen ein düsteres Feuer. Das Mädchen sprach nie ein Wort, und wenn die Rede auf Amire-nizam, den neuen Vezier, kam, den so viele im Land segneten, murmelten Anymehs schmal und blaß gewordene Lippen Verwünschungen, blickte ihr finsteres Auge starr. Ihre Liebe zu dem Manne war in Haß umgeschlagen, in bitteren, unversöhnlichen, wilden Haß, der sich noch vertiefte und verschärfte, als das Gerücht zu ihr gelangte, der Vezier werde demnächst auf den Wunsch des Schah eine Prinzessin des königlichen Hauses als Gattin in sein Haus nehmen. Er hatte sie tödlich beleidigt, ihre Liebe verschmäht, sie so gedemütigt, daß sie kaum noch leben konnte vor Schmach. Jeden Verkehr vermeidend, von allem abgeschlossen, lebte Anymeh dahin, mechanisch ihre Arbeiten verrichtend, Wollstoffe für sich und ihren Vater webend und den Gemüsegarten nahe beim Haus besorgend. Verdrossen und schmerzlich besorgt sah der stark alternde Ghulam dem unheimlichen Walten seiner Tochter zu, die nach wie vor den Freiern, welche er ihr zuführte, sich ablehnend zeigte.

In dem letzten Jahre hatte sich jedoch ein Bewerber um die Hand Anymehs eingefunden, der hartnäckiger als alle übrigen um das noch immer schöne Mädchen warb: es war dies ein Beamtensohn aus Jmmamzade-Kassim, einem höhergelegenen Dorfe bei Niaveran, und dieser Freier, Abdul Kerim, war ein starkgewachsener Mann mit großem, eckigem Gesicht, von beschränktem Ausdruck, doch mit seltsam flimmernden, unruhig blickenden Augen. Sein sehr vermögender Vater hatte ihm ein Landgut in der Nähe Niaverans gekauft, welches er fleißig und geschickt bewirtschaftete.

Zuerst hatte Anymeh auch diesen Freier schroff zurückgewiesen; als er jedoch nach einem Jahre wiederkam, schien er mehr Gnade vor ihren Augen zu finden, sie ließ bei den Besuchen, welche er ihrem Vater machte, sich sehen und ging sogar hin und wieder mit dem jungen Mann in den Obstgärten spazieren.

„Ihr werbt um mich,“ sprach eines Tages bei einer solchen Unterredung Anymeh zu Abdul Kerim, „gut, ich bin nicht abgeneigt, Euch als Weib zu folgen, aber ich verlange vorher einen großen, schweren Dienst von Euch.“

„Welchen?“ frug Kerim.

„Amire-nizam zu töten!“

Kerim fuhr erbleichend zurück. „Was hat Euch der Mann gethan, den so viele im Lande segnen?“

„Ich hasse ihn, er ist mein Todfeind.“

„Das sagt mein Vater auch, aber den hat er beleidigt, geschädigt, Eurem Vater jedoch, Jungfrau, ist der Mann, so viel mir bekannt, nicht zu nahe getreten.“

„Ich verabscheue ihn wie eine Schlange, ich kann nie froh werden, so lange er lebt. Wie kann ich heiraten mit diesem Haß im Herzen, der auf mir liegt wie eine finstere Macht und nicht von mir weichen wird, so lange jener lebt?“ Wild und hart stieß Anymeh diese Worte hervor. „Ich fluche ihm! werde ihn verfluchen mein Leben lang!“

„Warum, Jungfrau? Was hat Euch solchen Haß gegen diesen Mann eingegeben?“

„Liebt Ihr mich?“ frug, anstatt auf diese Frage zu antworten, Anymeh.

„Ihr wißt, Jungfrau, daß Ihr mir das höchste Gut auf Erden dünkt, ich glaube nicht weiter leben zu können ohne Euch.“

„Wenn Ihr wollt, daß ich Euren Wunsch erfülle, so erfüllt auch den meinen,“ erwiderte Anymeh kalt.

„Und wenn sie mich fangen, werden sie mich töten,“ fiel Kerim finster ein. „Was habe ich dann und was habt Ihr dann, Jungfrau?“

Ueber Anymehs Gesicht flog bei diesen letzten Worten Kerims ein seltsam herbes Lächeln. „Mich erwirbt kein Mann so lange der Amire lebt,“ antwortete sie fest.

Kerim schloß die Hände zusammen, sein zuerst hilfloses Gesicht nahm jetzt den Ausdruck der Verzweiflung an. „Ich kann nicht, ich vermag das nicht über mich,“ stöhnte er.

„So geht und kommt mir nie wieder vor Augen!“ herrschte die Perserin ihn finster an, wandte sich ab und schritt zum Hause zurück. – –

Den Kopf gesenkt, den Körper schlaff, als ob er jeden Augenblick zusammensinken werde, verließ Abdul Kerim den Garten.

*  *  *

Amire-nizams Wirken für Persien war überaus segensreich – aber mit Milde, Sanftmut und Nachsichtigkeit kann man derartige gewaltige Umgestaltungen nicht vollbringen. Mit eisernem Besen kehrte der neue Vezier den Schutt des Verfalls aus dem Lande; rücksichtslos und streng verfuhr er hierbei, nichts vor Augen als sein hohes Ziel, jedes Hindernis auf seiner Bahn unerbittlich wegräumend.

Es war natürlich, daß diesem Reformator Tausende von Feinden erwuchsen, daß alle diejenigen, welche aus den früheren Zuständen Nutzen gezogen, gegen ihn waren, ihn haßten und heimlich bekämpften, im Dunklen an seinem Sturze arbeiteten. An der Spitze dieser großen Gegenpartei stand die Mutter des Schah, deren Verschwendungssucht der neue Vezier in durchaus ungalanter Weise Einhalt gethan hatte. Diese stolze, rachsüchtige Frau suchte dem neuen Minister, dem Sohn des

[696]

Wasserweihe im Kaukasus.
Nach einer Originalzeichnung von R. Mahn.

[697] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [698] Kochs, dem gemeinen Plebejer, wie sie ihn nannte, der eine solche Gewalt sich anmaßte und ihren Sohn verzaubert hatte, zu schaden, wo sie nur konnte; sie organisierte den Widerstand gegen Amire-nizam am Hofe, spann Intriguen, deren üble Folgen auf fein angelegten Schleichwegen zu dem Schah gelangten, den Vezier als unheilvolle Person erscheinen ließen, Nassr-Eddin beunruhigten, ihm Unannehmlichkeiten bereiteten. Das Bestreben Amire-nizams, Persien von dem hemmenden Einfluß der ausländischen Mächte frei zu machen und eine selbständige Politik anzubahnen, benutzte die Königin-Mutter, die europäischen Gesandtschaften gegen den Vezier aufzubringen.

Nassr-Eddin glaubte nicht an die Verdächtigungen des Charakters seines Großveziers, aber er hielt nicht stand vor den fortgesetzten Einwänden und Drohungen der Gesandten; er war durchaus nicht willens, den Mann fallen zu lassen, aber er beschloß, durch ein Scheinmanöver die Gesandten zu beruhigen und die tausend Ränke der Unzufriedenen am Hofe und im Lande niederzudrücken. Auch ein ganz persönliches Gefühl beeinflußte ihn bei diesem Entschluß: der junge ehrgeizige Schah sah sich durch seinen gewaltigen Berater in Schatten gestellt und wollte nunmehr für eine Weile sein eigenes Licht leuchten lassen. Er ließ den Vezier zu sich entbieten.

„Amire!“ begann er, „es sieht augenblicklich übel aus bei unseren Gegnern, sie haben das Haupt mächtig erhoben, ihre Stellung ist drohend. Wir sind noch nicht so weit, daß wir ihren Groll ruhig ansehen könnten. Ich muß, so beschämend und widerwärtig das mir ist, für einige Zeit lavieren, und du mußt hierbei helfen. Ich baue auf deinen Patriotismus, der ja alles für mich und das Reich auf sich nimmt. Ich muß dich für einige Zeit verbannen, jedoch nur, um dann im Triumph dich wiederzuholen und mit noch größerem Glanz dich, den Freund meines Herzens, den Erretter Persiens aus tiefem Verfall, in deine Aemter und deine alten Würden wieder einzusetzen!“

Amire-nizam schaute seinen Monarchen einen Augenblick mit seinen mächtigen dunklen klaren Augen durchdringend an, dann antwortete er, trüb zur Erde sehend: „Diese Maßregel scheint mir gefährlich, hoher Herr; in dieser Zwischenzeit, deren Dauer kaum zu berechnen ist, werden unsere Gegner wieder die alte Macht gewinnen! Ohne Zweifel werden wir in unseren Arbeiten um ein großes Stück zurückgeschleudert werden.“

„Du siehst zu schwarz, Amire,“ entgegnete der Schah. „Hältst du mich für so schwach, daß ich nicht die Kraft und Gewalt hätte, das zu verhindern und dich, wenn es Zeit ist, wieder heranzuziehen?“

„Das nicht, Herr; jedoch giebt man unseren Gegnern nur einen Finger, reißen sie nicht bloß die ganze Hand, sondern auch den ganzen Körper an sich; der scheinbare Triumph wird ihren Mut stärken, ihre Kräfte verdoppeln, und sie werden wie hungrige Wölfe über alle unsere Einrichtungen herfallen und sie zu vernichten suchen; sie lauern nur auf den Augenblick, der ihnen das möglich macht, und dann, o König, können die Umstände, welche aus dieser Wandlung entspringen werden, sich stärker erweisen als dein edler Sinn, dein hoher Mut und deine große Thatkraft.“

„Es muß sein, Amire, füge dich!“ sprach der Schah. „Ich habe mir diese Möglichkeiten auch vorgestellt, und es ist auch viel Wahres in dem, was du sagst. Aber du siehst sicher zu schwarz, wir haben der Macht des Alten einen zu schweren Stoß versetzt, als daß sie sich davon erholen könnte; ich habe all das wochenlang erwogen und einen anderen Ausweg gesucht – es giebt keinen als diesen.“

„Den Gegnern kühn und offen, wenn es nötig, mit Eisen und Feuer, mit Schwert und Henker entgegentreten“ – versetzte der Vezier.

„Es ist das unmöglich, Amire,“ erwiderte Nassr-Eddin darauf. „England und Rußland, denen die Türkei, in gewisser Beziehung auch vielleicht Oesterreich sich anschließen werden, bedrohen meinen Thron, wenn ich die Vorstellungen der Gesandten nicht berücksichtige, ihre Unzufriedenheit nicht beschwichtige! Bring’ dies Opfer aus Liebe zu mir und zum Vorteil unseres Reiches!“

Der Amire-nizam hörte aus der Art, wie der Schah die Sache drehte und wand, aus dem Ton des Monarchen, daß dieser fest entschlossen war, zu thun, was er bei sich erwogen hatte. Er kannte den eigenwilligen Starrsinn, der manchmal den sonst feinklugen und edel veranlagten jungen Herrscher ergriff, und gegen welchen es vergeblich war, anzukämpfen; so gab es denn für ihn hier keinen anderen Ausweg, als sich vorläufig zu fügen. Er neigte resigniert das Haupt und sprach dumpf: „Thue, Herr, wie du es für gut findest, ich werde dem folgen, was du anordnest!“

Jetzt gab Nassr-Eddin dem Vezier einen Wink, er werde sich verstellen, worauf er laut und schreiend auf ihn einzureden begann, als sei er im höchsten Zorn. Dann zog er die Glocke und befahl der eintretenden Wache, den Amire festzunehmen, zu fesseln und in den Gefängnisturm zu führen.

Alles geschah, wie der Monarch befahl, der Amire-nizam wurde in das Staatsgefängnis gebracht, in Ketten gelegt und nach einigen Tagen in die Verbannung nach Kaschan geführt, wo er einen Teil der Gemächer des Staatspalastes angewiesen erhielt. Gleichzeitig erfolgte eine Verkündigung des Schah, welche besagte, daß Amire-nizam, wegen seines widerspenstigen Verhaltens ihm gegenüber, eine Strafzeit verbüßen solle und sein eigenmächtiges Handeln in verschiedenen wichtigen Dingen, welches die Sicherheit des Staates gefährdete, untersucht werden würde.

Obgleich man in Persien an derartig plötzliche Wandlungen und an ein derartig summarisches Verfahren der Herrscher gegen mißliebig gewordene Personen gewöhnt war, machte die Verbannung des großen Ministers ein ungeheures Aufsehen, und eine schwere, dumpfe Trauer legte sich ersichtlich über das ganze Land. Nur am Hofe, bei den Gesandtschaften und in den Kreisen der abgesetzten Gouverneure und Beamten triumphierte man.

*  *  *

An demselben Tage, da in Teheran der Vezier ins Gefängnis abgeführt wurde, fand die Unterredung Anymehs mit ihrem getreuen Freier Abdul Kerim im Obstgarten statt. Abends gelangte die Nachricht von dem unerhörten Ereignis am königlichen Hofe auch zu Anymehs Kenntnis. Auf sie übte die Kunde von dem jähen Wandel im Geschick des von ihr einst so heißgeliebten Mannes eine ganz eigentümliche Wirkung aus. Ihr Haß schmolz dahin und neue Hoffnung regte sich in ihrem Herzen. Entsetzt aller Würden, aller Macht entkleidet, verbannt, aus der Bahn seines wilden Ehrgeizes geworfen, würde er jetzt nicht wieder zärtlicheren Gefühlen zugänglich werden, würde er jetzt nicht des Mädchens gedenken müssen, das er selbst so unschuldig hatte leiden lassen?! Nach dieser Erniedrigung, so dachte Anymeh weiter, kann von seiner Verheiratung mit einer der Prinzessinnen keine Rede mehr sein; ich kann noch seine Frau werden, wenn er es will.

Plötzlich fuhr sie, als hätte sie einen bösen Geist erblickt, mit jähem Erschrecken auf. „Kerim!“ stieß sie angstvoll hervor. „Kerim! Er ist verzweifelt, unberechenbar; getrieben von seiner unsinnigen Leidenschaft, ist er imstande, auch an dem Verbannten zu thun, was ich ihm geheißen. Ich muß zu ihm, gleich, obwohl es schon Nacht wird, ich muß, ich muß!“ – So flüsterte Anymeh außer sich, rief einen Knecht, befahl ihm, ihr Pferd zu bringen, schwang sich hinauf und sprengte wild aus dem Hof, dem Ort Jmmamzade Kassim zu.

Der Weg war weit, es ging stets bergauf, und als die Perserin nach zwei Stunden scharfen Rittes das Gehöft des Beamten erreichte und den Vater Abdul Kerims nach seinem Sohne frug, erhielt sie die Auskunft, daß dieser gegen Mittag ganz unvermutet nach Teheran geritten und von dort noch nicht heimgekehrt sei. Es war Nacht geworden, und nach Teheran konnte das Mädchen jetzt ihm nicht folgen. Wie sollte sie ihn auch in der großen Stadt finden? Anymeh ritt im Sturme nach Hause zurück, wie eine Wahnsinnige, ruhelos irrte sie durch alle Gemächer des Hauses die ganze Nacht hindurch, sie rang die Hände, stöhnte, schrie auf, stand still, warf sich auf die Erde, sprang wieder empor und wanderte von neuem umher, von furchtbaren Phantasien verfolgt, rasend vor Verzweiflung.

Es vergingen Tage und Kerim war noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Immer wieder sandte Anymeh Boten nach Immamzade Kassim und ließ nach dem Sohne des Hauses fragen. Dort konnte man sich das Thun des sonst so stolzen, zurückhaltenden Mädchens nicht erklären; daß Abdul Kerim in Geschäften nach Teheran reiste, war doch nichts ungewöhnliches. Dagegen erweckte [699] die rätselhafte Erregung Anymehs, die sich bald in aufflammender Heftigkeit, bald in dumpfem Hinbrüten äußerte, die größte Besorgnis ihres Vaters. Da sie hartnäckig über die Ursache ihres Kummers schwieg, begann er schon zu fürchten, sein einst so helläugiges geistesklares Kind sei geistiger Umnachtung verfallen. Er begrüßte es daher fast wie eine Erlösung, als Anymeh eines Tages mit gefaßterem Wesen auf ihn zutrat und ihm die Bitte aussprach, mit ihm nach Kaschan zum Besuch der dortigen Verwandten zu reisen. Die Nachricht, daß der gestürzte Vezier nach Kaschan verbannt worden sei, war jetzt nach Kassim gedrungen. Es lag jedoch Ghulam fern, den Wunsch seiner Tochter in Zusammenhang mit dieser Nachricht zu bringen. Kannte er doch den Haß, in den Anymehs Liebe zu Mirza Thagi umgeschlagen war, hatte Anymeh doch gerade in den letzten Tagen nur zu offen gezeigt, daß ihr Herz sich Abdul Kerim zugewendet habe. Er ließ Pferde satteln, Maultiere bepacken und reiste mit Anymeh nach Kaschan.

Aber schon auf der Reise verfiel sie wieder in die Ruhelosigkeit, unter der sie zu Hause gelitten hatte. Immer trieb sie zur Eile, und als die guten alten Leute aus ihres Vaters Verwandtschaft, der Teppichweber Abdallah und seine Frau Fatme, ihre Gäste auf der Schwelle ihres Hauses empfingen, erschraken sie über das verstörte Aussehen des sonst so holden Mädchens. Sie thaten alles, was nach ihrer Meinung dazu beitragen konnte, Anymeh zu zerstreuen und zu erheitern. Ihrem Verlangen, sie in der Stadt spazieren zu führen, that Abdallah gern Genüge; nach dem Aufenthalt und dem Ergehen des nach Kaschan verbannten Veziers zu fragen, wurde ihr erspart durch den Eifer, mit welchem der Alte seinen Gästen von allem erzählte, was den Amire betraf, dessen Verdiensten um das Vaterland er die höchste Bewunderung zollte.

Noch am Tage ihrer Ankunft wurde Anymeh vor den am Rande der Stadt gelegenen Staatspalast geführt, dessen prächtige Gärten von einer hohen Mauer umgeben waren. Als Abdallah auf die bewaffneten Soldaten der königlichen Leibwache wies, welche das Thor zum Vorhof besetzt hielten, und sich darüber beschwerte, daß man den Verbannten gleich einem Gefangenen behandelte, atmete Anymeh erleichtert auf, und mit einem seltsam bewegten Klang in der Stimme unterbrach sie den Oheim: „Die Wachen dienen zu seinem Schutze.“ Dabei färbte ein lichtes Rot ihre Wangen. Sie dachte an Abdul Kerim. Abdallah aber bewunderte die Klugheit des Mädchens – erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, wie wahrscheinlich es sei, daß die Rachsucht der Feinde des gestürzten Veziers diesem nach dem Leben trachten werde.

Eine wunderbare Beruhigung überkam seitdem das verängstigte Gemüt Anymehs. Der geliebte Mann lebte, er war vor Nachstellungen geschützt. So lange Thagi von Bewaffneten beschirmt war, würde Abdul Kerim – das hatte der Feige deutlich gezeigt – sich nicht an ihn heranwagen. Und Abdallah hatte erzählt, daß der Vezier auch bei seinen Ausgängen von einer Schutzwache begleitet werde. Dennoch trachtete sie mit Eifer danach, den Aufenthalt Abdul Kerims zu erkunden; vergeblich aber spähte sie nach ihm aus, wenn sie in Begleitung Abdallahs die Bazare und Karawanseraien besuchte oder allein durch die Platanenalleen schritt, welche sich an der Ummauerung der Gärten des Staatspalastes hinzogen. Vergeblich hoffte sie auch im stillen, den Geliebten ihrer Seele zu begegnen, aber sie verriet keine Unruhe. Sie trug sich jetzt ganz wie damals bei der ersten Begegnung mit Mirza Thagi, das Haupt mit der hohen weißen kegelförmigen Steifgazemütze geschmückt, vom blauen Schleier umflossen. Mit Freuden bemerkte Ghulam die günstige Veränderung im Wesen seiner Tochter. Und da ihr der Aufenthalt in Kaschan so auffallend gut that, ihn aber die Erntearbeiten dringend nach Hause riefen, so ließ er Anymeh auf deren Bitten bei den Verwandten, die sich nicht wenig drauf zu gute thaten, daß das schöne Mädchen bei ihnen so schnell wieder zur Genesung gelangt war, und begab sich allein auf die Heimreise.

Daß aber Anymeh den verbannten Vezier nie in den Straßen zu sehen bekam, war kein Zufall. Er hielt sich zurückgezogen. Es geschah auf besonderen Wunsch des Schah, der an Thagi durch einen Geheimboten die Weisung hatte gelangen lassen, seine Ausgänge bis auf weiteres einzustellen. Man war einer Verschwörung auf die Spur gekommen, die gegen das Leben des von so vielen gehaßten, im Volk so beliebten Staatsmanns gerichtet war.

Schon zweimal hatten die Wachen bewaffnete Mordgesellen festgenommen, die in der Nacht über die Mauer in den Palast einzudringen versucht hatten. In aller Heimlichkeit hatte man sie in Haft gebracht. Der Schah Nassr-Eddin wollte die Verschwörung ohne jeden Lärm unterdrückt sehen; er fürchtete, die vielen Anhänger und Verehrer seines bisherigen Beraters könnten sich zu einer Gegenbewegung hinreißen lassen, sobald die Sache ruchbar werde. Durch dieses Verhalten seines königlichen Herrn aber sah Mirza Thagi seine Voraussicht bestätigt, daß dieser der von ihm geschaffenen Lage in keiner Weise gewachsen war. Und er war nicht gesonnen, sich ganz gegen die Verabredung zum Gefangenen machen zu lassen. In seiner Einsamkeit überkam ihn bittere Reue, daß er der verführerischen Sprache des jungen Herrschers damals gefolgt war, als er noch im Studium der Wissenschaften ein reines Glück gefunden hatte. In den herrlichen Gärten, die den Staatspalast umgaben, weckte der Duft der Rosen die Erinnerung an die Lehren des großen Sängers von Schiras, Hafis, der in seinen Liedern die Thoren verspottet, die da vermeinen, die menschlichen Zustände durch Machtsprüche verbessern zu können, und statt dessen zum Genuß aller Schönheit dieser Welt einladet. Auch der sehnsüchtige Gedanke an Anymeh beschlich ihn und die Vorstellung von dem Glück, das ihm an der Seite des seltenen Mädchens gewinkt hatte. Zu spät, denn jetzt erkannte er sein Heil nur noch in dem Entschluß, den Boden des Vaterlandes zu verlassen, auf dem ihn überall der Meuchelmord bedrohte. Tiflis, jenseit der Grenze, wo die persische Geisteskultur ein Asyl besaß und ihm der Weg zu seinen alten Lieblingsstudien offen stand, sollte ihm Zuflucht gewähren. Der Schah, in seiner Verlegenheit, billigte den Wunsch, und der Hauptmann der Leibwache, der für die sichere Hut des Amire verantwortlich war, wurde beauftragt, dessen Flucht in aller Heimlichkeit nach seinen Weisungen vorzubereiten.

Auch Abdul Kerim hatte von der Verschwörung gegen das Leben des abgesetzten Veziers Kenntnis erhalten. Von Freunden seines Vaters, der ja auch unter der Strenge des Amire zu leiden gehabt hatte, war er in Teheran in die Pläne eingeweiht worden. Der Feigling war hocherfreut, das Wagnis, dessen Ausführung Anymeh von ihm verlangt hatte, von Meuchelmördern ausführen lassen zu können. Er hielt sich in Kaschan ängstlich verborgen, in entlegenen Spelunken beriet er sich mit den gedungenen Banditen; auch von den Soldaten der Leibwache hatte er einige durch Bestechung gewonnen. Auf diesem Wege erfuhr er von dem Fluchtplane des Veziers.

An dem Abend, der für die Ausführung desselben festgesetzt war, befand sich auf Abdul Kerims Anstiften bereits eine Schar unterwegs, die den Flüchtling an einer bestimmten Stelle überfallen sollte. Mirza Thagi hatte sich jedes militärische Geleite verbeten. Er hatte, selbst gut bewaffnet, die Reise in einem Boot angetreten. Auf dem Fluß, der dicht hinter den Schloßgärten vorbeifloß, wollte er sich ein paar Stunden abwärts rudern lassen, zu einer Stelle, wo ein paar alterprobte Diener mit Pferden seiner harrten. Im Geäst eines Baumes hatte Abdul Kerim die Abreise belauscht. Mit einem Gefühl des Triumphs an Anymeh denkend, schlich er jetzt an der Mauer des Palastes hin, als er sich plötzlich angerufen hörte: „Kerim!“

Ein unheimliches Angstgefühl hatte Anymeh hierher getrieben. Abdallah hatte bei der Heimkunft am Abend von Gerüchten erzählt: des Veziers Leben sei durch eine Verschwörung bedroht. In einen Mantel ihres Oheims gehüllt, die Kapuze über ihr Haupt geschlagen, war sie heimlich zum Palaste geeilt.

„Ihr hier?“ stammelte aufs höchste verwirrt und erstaunt Abdul Kerim, der die Tracht eines Derwischs trug. „Was bringt Euch hierher?“

„Die Ungeduld über Eure Saumseligkeit. Ich bin zu Gast bei meinem Oheim Abdallah, dem Teppichweber!“

Da reckte sich Abdul Kerim mit Stolz empor. „Heute nacht noch wird der Verhaßte den letzten Atemzug thun. Anymeh – dann hab’ ich mein Wort gelöst! Fällt auch dein Todfeind nicht von meiner Hand – es ist mein Verdienst, daß [700] ihn endlich doch, noch ehe er entflieht, die Waffe des Rächers trifft.“

Mit übermenschlicher Anstrengung bewahrte Anymeh auch jetzt ihre erkünstelte Ruhe. Ohne durch eine Miene zu verraten, was in ihr vorging, forschte sie Kerim aus nach jeder Einzelheit des geplanten Ueberfalles. Mit gleicher Selbstbeherrschung wies sie ihn dann von sich, indem sie ihn glauben machte, ihr Onkel Abdallah sei beim Hauptmann der Schloßwache und müsse mit diesem sogleich erscheinen. Das wirkte. Kaum aber war sie allein, so eilte sie selbst zum Eingang des Palastes und verlangte, daß sie dem Hauptmann vorgeführt werde. Mit fliegendem Atem berichtete sie alles, was sie von Abdul Kerim gehört hatte; der Hauptmann beschloß, an der Spitze einer Schar Auserwählter dem Mordanschlag zu begegnen. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, erfolgte der Aufbruch vom Garten aus auf der Flußseite. Anymeh begleitete den Zug, gleich den anderen auf feurigem Roß, sie trieb zu äußerster Eile. Auf dem kürzesten Weg gelangten sie zu der von Thagi gewählten Landungsstelle.

Als Anymeh mit ihrer Schar dort eintraf, fielen gerade die ersten Schüsse der Wegelagerer. Noch im Reiten erwiderten die Palastsoldaten das Feuer. Anymehs Blick suchte den Geliebten: beim unsicheren Licht des hinter Wolken hervortretenden Mondes erkannte sie, wie gerade einer der Verschworenen mit erhobener Klinge auf ihn zustürztet Sie warf sich dazwischen. Aber der Hieb, der ihr galt, durchschnitt nur ihre Kapuze, dann kreuzte ihn Thagis gutes Schwert, das nun den Gegner zu Boden streckte. Die anderen Angreifer waren inzwischen gefallen oder geflohen. Mirza Thagi sah erstaunt, wie aus der Kapuze des Mantels, der Anymehs Gestalt umschloß, ihr tieferregtes Gesicht sich ihm zuwandte.

„Anymeh?“

„Dem edlen Fräulein verdankt Ihr Eure Rettung, Amire!“ sagte, den Säbel senkend, der herzutretende Hauptmann der Palastwache.

Anymeh aber sank fassungslos vor dem Geretteten nieder, umfaßte seine Knie und stammelte unter Thränen: „Vergebt mir, Amire!“

Dieser jedoch hob sie empor und zog sie in überströmender Zärtlichkeit an sich: „Ich dir vergeben? Anymeh! Daß du mir vergiebst, das schenkt mir das Leben doppelt!“

„Amire, ich trachtete Euch nach dem Leben!“

„Und wurdest meine Retterin!“ –

Auf der weiteren Flucht war Anymeh Thagis Begleiterin. Ihr Kismet, die Schicksalsstimme in ihrer Brust, ging nun doch herrlich in Erfüllung. Vor der Abreise vom heimischen Gestade ward sie Thagis eheliches Gemahl.

In Tiflis wurde Mirza Thagi ein hochangesehener Gelehrter, der in Begleitung seiner Frau große Reisen durch die Länder Europas unternahm, über die er an Nassr-Eddin in lebendigen Schilderungen berichtete. Dieser fand nie den Mut, seinen großen Reformminister zurückzuberufen. Aber Thagis Reiseberichte sollen es vornehmlich gewesen sein, was den Schah später zu seinen eigenen Reisen nach Europa bestimmte.

In Persien hatte sich nach des Amire Verschwinden der Glaube verbreitet, der einst so allmächtige Vezier sei durch eine Rotte Verschworener umgebracht worden, und dieser Glaube erhielt sich bis auf den heutigen Tag.


Die Papiertüte.

Man hat wohl heutzutage an keiner Ware einen solchen Ueberfluß wie an Papier, wenigstens an bedrucktem. Wenn man etwas einwickeln will, so papiert man’s ein; und da Papier genug da ist, so wird alles einpapiert. Das Papier bildet eine Art zweiter Haut und eine neue Schale um alle Dinge: man trägt kein Buch, keinen Blumenstrauß, namentlich aber keine Frucht, überhaupt nichts Eßbares ohne diese schützende Hülle über die Straße. Auch was in den Schrank oder in den Koffer kommen soll, pflegt vorher noch einpapiert zu werden; bei den sizilianischen Bauern giebt es Mädchen, die gar nichts weiter zu thun haben, als die Citronen und die Apfelsinen, bevor sie in Kisten und Körbe verpackt werden, einzeln in Seidenpapier einzuschlagen. Makulatur wird schon gar nicht mehr geachtet: das Gesetz verbietet sogar dem Delikatessenhändler oder Fleischer, Schinken, Schweizerkäse und andere Eßwaren direkt in bedrucktes Papier zu wickeln. Papier scheint nichts zu kosten, ausgenommen etwa im Plural, wie an der Börse.

Es ist schwer, sich eine Vorstellung von einer papierlosen Zeit zu machen, wo man die Sachen noch einfach in die Hand nahm oder ein Gefäß mitbringen oder sich sonst helfen mußte, wenn man etwas zu essen kaufte. Das klassische Altertum ist freilich längst nicht mehr ohne diese Bequemlichkeit gewesen. Die Alten haben zwar noch kein Hadernpapier gehabt, dessen Erfindung den Chinesen zugeschrieben wird. Es ist lange Zeit ein Geheimnis der Araber gewesen und im Abendlande erst durch die Kreuzzüge bekannt geworden. Wohl aber hatte man eine andere Gattung Papier, das echte, das eigentliche Papier, von dem alles Papier nur eine Abart ist, das Papyrus-Papier. In Griechenland nannte man es Bibel (Biblos), im Römischen Reiche: Karte (Charta); es war in Aegypten schon anderthalb Jahrtausende vor Christus üblich und schon vor Herodot, im 6. Jahrhundert vor Christus, ein Handelsartikel. Zur Kaiserzeit gab es auch in Rom eigene Papierfabriken, unter denen die des Fannius obenan stand; man hatte wohl ein ganzes Dutzend verschiedener Papiersorten, auch schon Packpapier und Löschpapier, ja, sogar satiniertes Papier. Der Rohstoff scheint allerdings immerfort aus Aegypten bezogen worden zu sein; nur die Steuer auf den importierten Papyrus wurde im 6. Jahrhundert unter Theodorich dem Großen aufgehoben, wofür Cassiodor dem Ostgotenkönig im Namen der ganzen gebildeten Menschheit in einem Anschreiben dankte. Denn billig war die Charta gerade nicht, ebensowenig wie Pergament; die Alten gingen haushälterisch damit um und benutzten selbst zum Schreiben vielfach bereits beschriebenes Papier, indem sie die alte Schrift ausradierten. Aber im großen und ganzen waren sie doch so gut daran wie wir.

Der einzige Ort, wo heute noch Papier aus der Papyrusstaude hergestellt wird, ist Syrakus; der Custode des dortigen Archäologischen Museums betreibt diese Industrie und verkauft einzelne Blätter an die Fremden. Es schreibt sich sehr schlecht darauf.

Bereits im Altertum gab es also auch Tütchenkrämer. Allerdings wurden vielfach grüne Blätter zum Einwickeln genommen, zum Beispiel Feigenblätter. „Geh, hole mir ein Feigenblatt eingelegte Oliven, ein Feigenblatt Rindstalg“, heißt es in der attischen Komödie, gleichsam als sei das Feigenblatt ein Gefäß. Aber daraus folgt nicht, daß kein Papier dagewesen wäre; noch in unserem papiernen Zeitalter wird Laub nicht selten als Hülle oder Unterlage für Eßwaren benutzt. Die Butterfrau legt Weinblätter über ihre Butter; in Rom entsinne ich mich, die frische Butter jeden Morgen auf einem Salatblatt bekommen zu haben. In Ostindien dienen die Blätter des Pisang, von Musa Paradisiaca allgemein als Tischtuch und als Teller. Die Blätter sind eine Art Vorstufe des Papiers, wie das weiße Taschentuch, das der Italiener gern benutzt, wenn er ein Mäßchen Kirschen mit nach Hause nehmen will. Von Zeit zu Zeit wird immer wieder auf die Anfänge der Kultur zurückgegriffen.

Aber wenn es galt, kleine, leicht verlierbare und leicht verduftende Stoffe zu verschließen, so hielt man sich schon damals an das nützliche, geschmeidige Papier. Man pflegte dann das Blatt kegelförmig zusammenzudrehen und die Spitze umzubiegen, damit nichts herausfalle. Nun, so einen Kegel, wie ihn am schönsten die bekannte Zuckertüte darstellt, drehte man schon im alten Rom und verglich ihn mit einer spitzen Kapuze oder einem Cucullus. Mache, daß du einen guten Verleger bekommst, mein Buch, sagt Martial zu seinem Manuskripte, sonst mußt du in die Küche wandern, um Salzfische zu bedecken, oder eine Kapuze für Weihrauch und Pfeffer werden. Die heutigen Italiener haben das Bild fallen lassen, sie nennen die Papiertüte einfach ein Stück Papier oder ein Cartoccio. Eine Tüte Pfeffer ist un Cartoccio di Pepe. Das Cartoccio entspricht einer Kartusche, in welcher die Pulverladung steckt.

In Frankreich und England wird die Papiertüte mit einem Horn verglichen; sie heißt Cornet. Die französischen Kinder bekommen keine Zuckertüte, sondern un Cornet de Dragées. Hörner sind gleichsam natürliche Tüten, jedes Horn ist ein Füllhorn; die Jäger hatten sonst ihr Pulver in einem Pulverhorn. Aber auch mit dem deutschen Worte „Tüte“ ist weiter nichts als ein Horn gemeint, auf dem man blasen und tuten kann; Tüte oder Düte ist nur eine Nebenform von Tute. Wenn Goethe in „Hermann und Dorothea“ von schön vergoldeten Deuten spricht, so ist das auch nichts anderes; statt Düte sagt er Deute, wie man jetzt Leute für Lüte sagt. Natürlich denkt kein Mensch daran, auf einer Papiertüte zu blasen; sie hat nur die Form eines Blasinstrumentes, wie die Butterglocke die einer Glocke, die Kaffeetrommel die einer Trommel hat, wo auch niemand ans Läuten, niemand ans Trommeln denkt. Die antike Tuba sah genau so aus wie eine Tüte; Kindertrompeten in dieser Form werden noch bei Volksfesten verkauft.

Diese Form hat das Ding noch immer behalten, obgleich es jetzt nicht mehr gedreht, sondern geleimt und fabrikmäßig hergestellt wird; niemals wird man einen Papiersack eine Tüte nennen. Und so mahnt das moderne Füllhorn, das Symbol des Kleinhandels, immer noch an die Zeit, wo Zeus einer Ziege das eine Horn abbrach und es mit Ueberfluß begabte. R. K.     


[701]

Das geplante neue Rathaus zu Leipzig.
Nach dem Entwurf von Stadtbaurat Professor Hugo Licht gezeichnet von G. Theuerkauf.

[702]

Die wissenschaftliche Erforschung des Bodensees.

Von Professor Dr. Kurt Lampert.

Eine wundervolle Frühlingssonne leuchtete über dem Bodensee; glitzernd lag die weite Wasserfläche da, hier und da gefurcht von den großen Salondampfern, deren Rauchfahne in aufgelösten Fetzen über den See hinflatterte; zahlreiche Fischerboote belebten die Fläche, die Netze einziehend, in deren Maschen das Silberkleid des köstlichen Felchen glänzte, hier und da blinkte das weiße Segel eines hübschen Segelbootes. Das eigenartigste Thun aber entfaltete ein kleines etwa 10 Meter langes Boot. Kaum war es unter kräftigen Ruderschlägen ein paar hundert Meter gefahren, so lag es wieder mehrere Minuten still. Rasch sich folgende Flaggensignale wurden von dem etliche hundert Meter entfernten Ufer prompt erwidert; auf dem Schiff machte sich eine eifrige Thätigkeit bemerkbar, dann wurde wieder weitergefahren, aber in Kürze begann das Spiel von neuem.

Näherten wir uns dem Schiff, so sahen wir mit Erstaunen seinen 8 m hohen Mast in Meter und Decimeter eingeteilt, und an Bord fiel eine große mit mancherlei Rädern und Kurbeln versehene Maschine auf, deren Hauptbestandteil eine große Trommel bildete, auf welche Stahldraht aufgewickelt war. Der Name des merkwürdigen Schiffes lautete „Sondeur“. Es war das Vermessungsschiff der „Vollzugskommission für die Herstellung einer Bodenseekarte“.

In seiner Nähe kreuzten einige Boote. Die Insassen des einen sahen dem wechselnden Spiel der Sondiermaschine zu, wie am dünnen Draht die 6 kg schwere Kugel in die Tiefe sank, bis das Aufstoßen auf Grund durch sinnreiche Einrichtungen an der Sondiermaschine den automatisch wirkenden Zählapparat bremste; in einem andern Boot wurde ein Netz hereingezogen und zwei Köpfe beugten sich erwartungsvoll über den Bordrand: wieder in einem anderen erzählte der geschichtskundige Graf Eberhard Zeppelin, dessen Schloß am Ufer des Schwäbischen Meeres steht, dem Gast von der Vorgeschichte und Geschichte des Bodensees, von den Pfahlbaufunden und den Heidelöchern bei Sipplingen, von dem kupfernen Kessel in Bodman, in dem der Ahnherr des heute blühenden Geschlechts als einjähriges Kind gerettet wurde, als der Blitz 1307 das Stammschloß zerstörte und alle Glieder der Familie umkamen, oder von den Glanztagen der schönen Mainau, als Kaiser Wilhelm I so gern hier weilte.

Führte in jener Zeit der Zufall einen Besucher des Bodensees nach dem genannten Bodman, jenem idyllischen Ort am äußersten Ende des Ueberlingersees, so begegnete er auch hier der Thätigkeit der Bodenseekommission. Im Badehaus war ein Apparat aufgestellt mit Zählwerk und automatischer Schreibvorrichtung; mit südlicher Lebhaftigkeit bemühte sich ein Herr, ihn in Gang zu bringen, und bald waren in schönen Kurven auf endlosem Papier vom See selbst geschrieben die geheimnisvollen Atemzüge verzeichnet, welche das mächtige Wasserbecken in regelmäßigen Zwischenräumen sich leise heben und senken lassen.

Neun Jahre sind jetzt vergangen seit jenen sonnigen Maitagen und der Abschluß der großen langjährigen Forschungsarbeit, von der wir einige Momente zu skizzieren versuchten, steht bevor. Wenn auch noch nicht alle Resultate publiziert sind, so gilt dies doch von der Mehrzahl, und wir können es versuchen, einen Ueberblick über das ganze Unternehmen und seine Resultate zu geben.

Die von den fünf Uferstaaten des Bodensees durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung des größten deutschen Sees bedeutet einen Merkstein in der Geschichte der wissenschaftlichen Seeforschung. Seenkunde, Limnologie nennt sich dieser jüngste Sproß an dem sich stetig mehr verzweigenden Baum der biologischen Wissenschaften.

Als ihren Vater dürfen wir Professor Forel in Morges am Genfer See nennen; er hat die Wege gezeigt, in denen die Seenkunde zu wandeln hat, und in der Erforschung des Genfer Sees ein Muster gegeben. Zum erstenmal aber fand die Seenforschung staatliche Anerkennung, wenn wir so sagen dürfen, in der Vereinigung der Bodenseestaaten zur Erforschung dieses Seebeckens.

Die erste Veranlassung dazu war praktischer Art; auf Einladung Württembergs wurde eine Kommission eingesetzt, um Beratung zu pflegen über „Umfang und Methode von Bodenseetiefenmessungen und -Untersuchungen, sowie Herstellung einer Bodenseekarte.“ Bald aber erweiterte sich das Programm, und neben der „Kartenkommission“ entstand eine „wissenschaftliche Kommission“, welcher die Lösung der rein wissenschaftlichen Aufgaben zufiel. Nicht nur die für Herstellung einer Karte nötigen Vermessungen und Lotungen sollten vorgenommen werden, sondern auch die Physik des Bodensees, seine Wärme- und Lichtverhältnisse studiert werden, seine Pflanzen- und Tierwelt eingehende Untersuchung finden. Aus der ursprünglichen Kommission entwickelte sich durch Neuwahlen und Beiwahlen ein stattlicher Stab von Gelehrten; die ganze Leitung lag in der Hand des württembergischen Bevollmächtigten, als welcher zunächst der Vorstand des Statistischen Landesamts aufgestellt war, dem sodann Graf Eberhard von Zeppelin folgte, jüngst durch Verleihung des Doktortitels von der Universität Tübingen ausgezeichnet, ein Bruder des Grafen Ferdinand Zeppelin, der seine Theorie von der Lenkbarkeit der Luftschiffe nach der Erbauung eines Luftschiffes auf einem Floß im Bodensee in die Praxis umzusetzen im Begriff ist. Dem Ersteren verdankt die Wissenschaft auch die Redaktion der „Bodenseeforschungen“, in denen die Resultate dieses großen Unternehmens festgelegt sind; sie sind in den Schriften des „Vereins für Geschichte des Bodensees und seine Umgebung“ publiziert und auch als Sonderabdruck erschienen. Die Geschichte des Bodensees, seine topographischen und hydrographischen Verhältnisse sind vom Grafen E. Zeppelin selbst eingehend geschildert, die Temperatur-, Farben- und Lichtverhältnisse haben in Forel ihren Bearbeiter gefunden, dessen Aufsätze von Graf E. Zeppelin übersetzt sind, die Pflanzenwelt des Bodensees hat in lichtvoller Weise Kirchner geschildert, von Hofer stammt die Bearbeitung der Tierwelt, und in kleinen Mitteilungen hat noch der eine oder andere der Mitarbeiter im Gesamtwerk das Wort ergriffen. Zu diesem stattlichen Band der wissenschaftlichen Ergebnisse kommt noch als Hauptresultat die neue, aufs genaueste ausgearbeitete Bodenseekarte.

Es ist nicht leicht, aus der Fülle des Stoffes das Wichtigste herauszugreifen und ein gedrängtes Gesamtbild der in jahrelanger Arbeit gewonnenen Resultate zu geben. – Werfen wir zuerst einen Blick auf die geographische Lage des gewaltigen Beckens am Fuße der Alpen; im Norden schließt sich die charakteristische Moränelandschaft mit ihren schönen buchenbestandenen ovalen Hügelkuppen, ihren Rieden, Mooren, Weihern und kleinen Seen an; am Ostende des Sees erheben sich die Nagelfluhwände des Pfänders bei Bregenz; südöstlich öffnet sich in einer Breite von 8 bis 10 Kilometer die weite Ebene des oberen Rheinthales, im Süden schiebt sich zwischen dem Seeufer und dem Thurthal ein aus der Tertiärzeit stammender Rücken ein, der zum Teil sanftere Abdachungen, wie zwischen Romanshorn und Konstanz, zeigt, am Untersee aber in steilen Hängen unmittelbar aus den grün-blauen Fluten aufsteigt. Im Westen schließen die vulkanischen Höhen des Hegaus, der durch Scheffel unsterblich gewordene Hohentwiel mit seinen Genossen das nähere Landschaftsbild ab. In weiter Ferne aber grüßen von Süden und Osten die Alpen herein, Säntis und Scesaplana, die Höhen Vorarlbergs und die Allgäuer Alpen.

Es ist ein ungemein abwechslungsreiches Landschaftsbild, welches der Bodensee bietet, und früh schon mögen seine Ufer zur Besiedelung gelockt haben. Die Pfahlbaufunde, die bei Konstanz, bei Ueberlingen und an anderen Punkten des Bodensees gemacht wurden, lassen auch seine Geschichte im Dunkel der Prähistorie verschwinden.

Seine erste Erwähnung verdankt er den Römern; um das Jahr 40 n. Chr. spricht Pomponius Mela von zwei durch den Rhein unweit seines Ursprungs gebildeten Seen, dem lacus Venetus und lacus Acronius, womit jedenfalls die beiden Teile des Bodensees gemeint sind. In höherem Grade bürgerte sich nach Plinius’ Vorgang der Name lacus Brigantinus ein, gewählt nach der römischen Niederlassung Brigantium (Bregenz). Mit dem Sturz der Römerherrschaft wurde Brigantium in Schatten gestellt durch Konstanz, die Bischofsstadt, und durch die fränkische [703] Königspfalz Bodoma, das heutige Bodman. Beide standen nun Pate bei der Benennung des Sees. Die romanischen Sprachen führten den Namen lac de Constance, lago di Constanza ein, die deutschen Völker sprachen vom Bodmên-See, Bodemsee, woraus endlich Bodensee wurde. Gegenwärtig vollzieht sich wieder eine kleine Umtaufung, indem man besonders in wissenschaftlichen Publikationen sich angewöhnt, vom Bodan zu sprechen, wie man schon länger für den Genfer See, den lac de Leman, die Bezeichnung Leman gebraucht. Daß die einzelnen Teile des großen Seebeckens noch besondere Bezeichnungen haben, ist selbstverständlich; die wichtigste Unterscheidung ist die Trennung des Sees in Ober- und Untersee, welch letztere Bezeichnung bekanntlich dem südwestlichen Ausläufer des Sees zukommt, den der Rhein von Konstanz aus durchströmt und in dem die Insel Reichenau liegt. Sehr häufig wird der Untersee gar nicht mehr zum Bodensee gerechnet und unter Bodensee nur der sogenannte Obersee verstanden, der in seinem westlichsten Ende in den sogenannten Ueberlingersee, an dessen Ende Bodman liegt, ausläuft.

Es ist eine gewaltige Wassermasse, welche dieses Becken erfüllt; bei Mittelwasser mißt die Oberfläche des gesamten Sees nach den neuesten Berechnungen 538,46 Quadratkilometer, wovon auf den Obersee 475,48 entfallen. Wie bedeutend aber da die normalen jährlichen Schwankungen sind, besonders Hochwasser diese Zahlen ändern können, beweist z. B. das Hochwasser vom 17. Juni 1876, welches weitere 38,86 Quadratkilometer unter Wasser setzte. Sehr schwankend sind auch natürlich die Wassermengen, die dem See durch seine Zuflüsse, besonders den Rhein, zugeführt werden. Bei niederem Wasserstande ergießt der Rhein in den See nur 50 Kubikmeter Wasser in der Sekunde; wie anders aber, wenn der Föhn über die Alpen braust, den letzten Winterschnee mitsamt dem spätgefallenen Neuschnee schmelzt und zugleich endlose Regengüsse bringt: dann kann die sekundliche Wassermasse des Rheins bis 2100 Kubikmeter steigen, ja sie ist sogar auf 3000 berechnet worden. Diese bedeutenden Differenzen äußern sich im Niveauunterschied des Sees in beträchtlicher Weise. Nach einer 60jährigen Beobachtungsweite betrug die durchschnittliche Jahresschwankung 2,12 m. Bei Mittelstand beträgt die Meereshöhe 395 m über Berliner Normalnull.

Abweichend von diesen durch die verschiedene Menge der Zuflüsse bedingten Schwankungen sind die eigenartigen periodischen Niveauveränderungen des Bodensees, deren Spiel wir schon eingangs in Bodman gelauscht haben. Die Anwohner des Genfer Sees kennen die Erscheinung seit Jahrhunderten unter dem Namen „seiches“ und verstehen hierunter gewisse eigentümliche Aenderungen im Stande des Seespiegels. Sie sehen, wie das Seewasser ohne erkennbare Ursache am Ufer um mehrere Centimeter, ja um mehrere Decimeter in langsamer Bewegung, die vielleicht fünf Minuten, eine viertel oder eine halbe Stunde währt, sich hebt und sodann mit derselben Langsamkeit unter seinen ursprünglichen Stand zurückfällt, um in gleicher Weise neuerdings zu steigen und wieder zu fallen. Auch am Bodan lassen sich dergleichen Erscheinungen nachweisen, ja nach Forel würde jeder See, jeder Weiher dieses Ebbe und Flut vergleichbare Spiel zeigen; allein im Bodensee vermögen nur empfindliche Apparate uns das geheimnisvolle Leben der Wassermasse zu verraten, da die Niveauveränderungen nur ganz unbedeutende sind. So erklärt es sich auch, daß den Fischern des Bodensees, denen ihr Element so vertraut ist, die für alle Erscheinungen ihre eignen Bezeichnungen haben, dieses Phänomen entgangen ist und ein den „seiches“ entsprechender charakteristischer und volksgebräuchlicher Ausdruck für diese „Seeschwankungen“ fehlt.

Die Ursache dieser Schwankungen liegt nach Forel wahrscheinlich in einem dem Seespiegel gegebenen äußeren Anstoß hauptsächlich durch rasche Störung des atmosphärischen Drucks, so daß der ganze Wasserspiegel längere Zeit horizontal schwingt, bis er wieder seine Gleichgewichtslage erlangt. Doch bedarf die ganze Erscheinung noch sehr einer weiteren Erklärung.

Nicht zu verwechseln mit diesen „seiches“ sind andere Erscheinungen der Wasserfläche des Bodan, wofür die Anwohner ihre eigenen Bezeichnungen haben. So sprechen sie von „Rus“, oder „Ruuß“, wenn ein leichter Wind, eine Brise den ruhigen Seespiegel eben nur kräuselt, ohne daß die eigentliche schwingende Wellenbewegung eintritt; „Grund-Gewell“ ist, wie wir Graf Zeppelins treffender Definition entnehmen, die Fortpflanzung eines auf einem bestimmten Teile des Sees durch das Einfallen eines Sturmes erzeugten Gewells auf andere entferntere Seegebiete, an welchen die Ursache des Gewells, der Sturm, sich nicht oder höchstens in ganz untergeordnetem Maße geltend gemacht hatte. Oft auch bemerken wir an der Oberfläche des Sees Strömungen, die, ohne irgendwie durch Wind getrieben zu sein, flußähnlich mit ziemlicher Geschwindigkeit dahinziehen. Es ist das „Rinnen“ des Sees. Von all diesen oberflächlichen Bewegungen des Sees unterscheiden sich die „seiches“ durch das Rhythmische des Vorganges und durch dessen Ausdehnung auf die gesamte Wassermasse des Sees bis auf den tiefsten Grund. –

Wie tief ist das Schwäbische Meer? Fast ausnahmslos werden die Tiefen der Seen bedeutend überschätzt; wie gern und häufig spricht man besonders bei Gebirgsseen von unergründlicher Tiefe, und es ist fast wie eine Enttäuschung zu hören, daß das Senkblei vielleicht nur 50 m abläuft, bis es auf den Grund stößt; auch die Tiefe des Bodensees ist immerhin bescheiden. Auf der Kreuzung der Linien Utwyl-Immenstaad und Keßwyl-Fischbach liegt die tiefste Stelle des Obersees mit 252 m, während die größte Tiefe des Untersees gar nur 46,4 m beträgt. Die Spitze des Pfänders ist, wie Graf Zeppelin als anschauliches Beispiel erwähnt, nahezu dreimal so hoch über dem Spiegel des Sees, als dessen tiefste Stelle unter ihm.

Die Gestaltung des Seebodens mit eigenen Augen zu sehen, ist uns verwehrt; wir können uns trotzdem ein Bild von ihm machen; die Sonde, das Lot, muß uns zu Hilfe kommen. Aus Tausenden von Lotungen entwirft der Hydrograph ein Bild von den Unebenheiten des Bodens, den Untiefen, wo der Seeboden beinahe an die Oberfläche des Wassers reicht, oder den großen Einsenkungen, über welchen eine viele Meter hohe Wassersäule steht.

Am Bodensee ist eine Reihe von Lokalbezeichnungen für die einzelnen Teile des Seebodens gebräuchlich, die nun auch in die wissenschaftliche Fachlitteratur übergegangen sind. Im allgemeinen kann man bei jedem See zwei Hauptteile unterscheiden, die Uferzone und den Kessel des Sees. Die Uferzone kann wieder verschiedenartig eingeteilt werden. Ihr oberster Streifen ist der „Strand“; von ihm aus zieht sich etwa bis 2 m unter dem Wasserspiegel in Form einer leicht geneigten schiefen Ebene der mit gröberem oder feinerem Geröll bedeckte „Hang“ hin, der entweder ständig von Wasser bedeckt ist („untergetauchter Hang“) oder nur bei Hochwasser unter Wasser steht („überschwemmbarer Hang“) oder als „auftauchender Hang“ nur von den größten Sturmwellen erreicht wird.

Der Hang ist der Tummelplatz der Wellen; leise, träumerisch plätschern sie zu unseren Füßen, wenn kaum ein Hauch den blanken Spiegel rührt; brausend stürmen sie mit weißer Sturmhaube einher, wenn der Föhn die Fluten aufwühlt, und schlagen donnernd auf den Hang. Dieser ist fortwährendem Wechsel unterworfen. In rückläufiger Bewegung nehmen die Wellen Material mit in den See, um es bald wieder abzulagern. So bildet sich an den Hang anschließend eine nahezu horizontale Ebene, die der Sprachgebrauch des Bodensees die „Wyße“ heißt und die von wechselnder Breite ist. Immer mehr nähern wir uns dem Seekessel. Sein Beginn ist an das Ende der Wyße zu setzen; mehr oder weniger steil fällt hier der Rand des eigentlichen Seebeckens ab; der oberste Teil dieser Böschung wird noch überlagert von der Wyße, deren Abfall treffend als „Halde“ bezeichnet wird.

Auch für die Sohle des Seekessels hat der Volksmund einen Ausdruck geschaffen, der ebenfalls in die wissenschaftliche Sprache aufgenommen wurde, nämlich der „Schweb“. Daß die Bodenfläche des großen Kessels keine einfache Ebene ist, sondern ihre Erhöhungen und Vertiefungen hat, haben wir schon angedeutet.

In der Gestaltung der Sohle des Bodensees ist die auffallendste Erscheinung die von Ingenieur Hörnlimann bei den Sondierungsarbeiten gemachte Entdeckung, daß der Rhein auch in der Tiefe des Sees noch längere Zeit sein Bett beibehält; in ähnlichen Windungen wie ein oberirdischer Flußlauf läßt es sich in Form einer 400 bis 600 m breiten Rinne nicht weniger als 11,75 km lang verfolgen; die Sohle des Rinnsals ist bis 75 m tief zwischen die sie begleitenden Seitendämme eingeschnitten.

Eine Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinung findet Forel darin, daß die während des größten Teils des Jahres kälteren [704] und sowohl deshalb, als auch wegen Belastung mit Sinkstoffen schwereren Gewässer des Rheins unter die wärmeren und leichteren des Sees untertauchen müssen. Thatsächlich sieht man an der Rheinmündung die trüben Wasser des Stromes unter Wirbelbildung unter die ruhenden Fluten des Sees tauchen, ein Phänomen, welches schon Ammianus Marcellinus im 4. Jahrhundert n. Chr. auffiel und heute beim Volk als „Brech“ bekannt ist.

Leider sind noch keine näheren Berechnungen über die Geschiebe und Schlammmassen vorhanden, welche dem See jährlich durch seine sämtlichen Zuflüsse zugeführt werden. Nach Angabe von Graf Zeppelin mögen dieselben aber immerhin 4 Millionen Kubikmeter betragen. Trotz dieser gewaltigen Masse dürfen immerhin noch etliche tausend Jahre vergehen, ehe die Trümmer, welche die Flüsse von den Bergen herabwälzen, die Tiefe des Seebeckens ausgefüllt haben und unser größter deutscher See einer geologischen Vergangenheit angehört. –

Früher begnügte sich die Erforschung der Seen im großen und ganzen mit der Feststellung der Lage, der Tiefe und des Wechsels des Wasserstandes. Die heutige Limnologie stellt andere Aufgaben und sucht eine Reihe weiterer physikalischer Fragen zu beantworten. Wärme und Licht, welche Rolle spielen sie im See? Wir wissen, daß sowohl die Wärme- wie die Lichtstrahlen nur wenig tief in das Wasser eindringen.

Es ergiebt sich also hieraus, wenn wir zunächst von der Wärme sprechen, daß wir eine Oberflächentemperatur und eine Tiefentemperatur zu unterscheiden haben. Die Messungen haben gezeigt, daß die Temperaturschwankungen, wie sie sich im Laufe des Jahres ergeben, normal nur bis 100 m abwärts eindringen; von da an zeigt der See ständig die Temperatur von etwa 4° C, bei welcher das Wasser die größte Dichtigkeit besitzt. In erheblichem Maß dringt aber die Erwärmung nur bis zur Tiefe von 20 m vor, indem die Temperaturabnahme von der erwärmten Oberfläche nach unten zu bis dorthin sehr langsam ererfolgt, so daß bis zu dieser Tiefe die Erwärmung sich sehr fühlbar macht, von da aber sehr rasch, eine allgemeine Erscheinung, welche man mit dem Namen „Sprungschicht“ belegt hat. Im Winter, zu welcher Zeit die Oberflächentemperatur sich stark abkühlt, haben wir demgemäß von oben nach unten die umgekehrte Temperaturfolge wie im Sommer. Die Zeit, während welcher das Wasser in den oberen Schichten unter 4° C besitzt, umfaßt 85 Tage, während die Zahl der wärmeren Tage, an welchen die Temperatur über 4° C steigt, 280 beträgt. Der Bodensee gehört demgemäß zum Typus der „gemäßigten warmen Seen“. Als Mitteltemperatur des Bodenseewassers an der Oberfläche im Verlauf eines Jahres wurden 10,11° C gefunden. Verglichen mit dem Jahresmittel der Lufttemperatur, welches nach 30jährigen Beobachtungen an verschiedenen Bodenseeorten auf 8,4° C zu berechnen ist, ist der See im Durchschnitt 1,71° C wärmer als die umgebende Lufttemperatur; im Winter ist natürlich die Differenz viel größer und betrug z. B. im Winter 1889/90 5,03° C; in der Mitte des Sees ist der Wärmeüberschuß stärker als am Ufer.

Es ist natürlich, daß hierdurch der See im Winter sich als gewaltiges Wärmereservoir geltend macht: die Masse der im Winter 1889/90 an die Luft abgegebenen Wärme berechnet Forel auf die ungeheure Summe von 180000000 Millionen oder 180 Billionen Wärmeeinheiten. Es würde dies einer Wärme entsprechen, die wir durch Verbrennen von 23000 Millionen Kilogramm = 23 Millionen Tonnen Kohlen erzeugen können.

Diesen großen Wärmemassen, die der See im Winter abgiebt, verdankt die Umgebung des Sees ihr angenehmes Klima, dessen Genuß nur öfters durch die starken Nebel gestört wird, die freilich auch wieder im See ihren Entstehungsort haben.

Wie die Wärmestrahlen, so dringen, wie schon gesagt, auch die Lichtstrahlen nur bis zu einer gewissen Tiefe in das Wasser ein, die aber von verschiedenen Faktoren abhängig ist und deswegen dem Wechsel unterliegt. Bei jeder Kahnfahrt machen wir ohne nähere Untersuchungen die Beobachtung, daß heute unser Auge den Fisch zu erspähen vermag, der mehrere Meter unter unserem Boot hinschwimmt, während wir morgen kaum einige Fuß tief zu blicken vermögen.

Stellen wir exaktere Forschungen über das Eindringen der Lichtstrahlen an, so bedienen wir uns verschiedener Methoden. Die einfachste, schon von alten Seefahrern seit alters angewandte, durch P. Scechi auch in die wissenschaftliche Forschung eingeführte Methode ist das Versenken einer weißen Scheibe, bis sie dem Auge entschwindet. Da die Lichtstrahlen, die das Bild der Scheibe im Wasser unserem Auge übermitteln, sowohl den Weg vom Auge bis zur Scheibe, wie wieder zurück zum Auge zurücklegen müssen, so ist das Doppelte der Sichtbarkeitsgrenze die Grenze, bis zu welcher die Lichtstrahlen in das Wasser eindringen, denn wie von der Scheibe zurück zum Auge, so machen sie auch noch den gleichen Weg von der Scheibe hinab in tiefere Wasserschichten. Als äußerste Sichtbarkeitsgrenze wurden im April 1890 bei Konstanz 111/2 m gemessen, so daß hier die für unsere Augen sichtbaren Strahlen bis 23 m eindrangen. Meist jedoch ist das Wasser lange nicht so klar und durchsichtig, und es hatten auch die verschiedenen Orte des Sees, Bregenz, Lindau, Friedrichshafen, Romanshorn, Konstanz, sehr verschiedene Beobachtungsresultate aufzuweisen. Im Jahresmittel ergab sich eine Sichtbarkeitsgrenze von 5,36 m, so daß das Erlöschen der Lichtstrahlen schon bei 10,72 m liegt.

Woher kommen die beobachteten Differenzen? Wir wissen aus hundertfacher Erfahrung, daß ein Wasser, welches verunreinigt ist, dadurch getrübt wird und weniger durchsichtig erscheint. Damit ist zugleich die Erklärung für die verschiedenartige Durchsichtigkeit des Wassers im Bodensee gegeben; stets schwebt in dem Wasser feines, stäubchenförmiges Schlammmaterial und stets lebt in ihm eine reiche schwimmende Tier- und Pflanzenwelt, die an mikroskopischer Kleinheit mit den Schlammteilchen wetteifert. Je dichter diese unorganischen und organischen Massen sich häufen, desto undurchsichtiger wird das Wasser. So muß die Sichtbarkeitsgrenze herabsinken im Frühling und Sommer, wenn die Erwärmung des Wassers eine lebhafte Vermehrung der schwimmenden Lebewesen mit sich bringt, während die Armut an Organismen im Winter das Wasser zu dieser Jahreszeit klar erscheinen läßt, und ebenso wird die Klarheit des Wassers zunehmen, je weiter man sich von der Mündung des Rheines entfernt, der stets unorganische Massen in Menge mit sich führt. Die zahlreichen Beobachtungen haben dies völlig bestätigt.

Für unser Sehvermögen erlischt das Tageslicht also schon in ziemlich geringer Tiefe des Wassers.

Herrscht nun thatsächlich undurchdringliche Finsternis von der durch unsere Versuche mit der weißen Scheibe ermittelten Tiefe ab? Die Antwort lautet: Nein! Es sind nur die optisch wirksamen Strahlen, die, soweit das unser Auge zu beurteilen vermag, in geringe Tiefen eindringen; das Licht aber ist zusammengesetzt aus einer Fülle von verschiedenen Strahlen; die Erkenntnis, daß die violetten Strahlen des Spektrums die chemisch wirksamen sind, hat zu dem genialen Gedanken Veranlassung gegeben, auch die Photographie in den Dienst der Limnologie zu stellen. Durch Versenkung von Platten mit einer lichtempfindlichen Substanz – im Bodensee wurde Chlorsilber angewendet – konnte ermittelt werden, bis zu welcher Grenze die chemisch wirksamen Strahlen eindrangen. Sie liegt tiefer als die Grenze des Eindringens der optisch wirksamen Strahlen. Die Umständlichkeit der Untersuchungen ließ nur wenige Versuche in dieser Richtung zu, allein dieselben ergaben, daß man die Grenze der Lichteinwirkung auf Chlorsilber auf ungefähr 30 m setzen darf. –

Eine besondere Aufmerksamkeit widmete die wissenschaftliche Kommission der Erforschung der Lebewelt des Bodensees. Auch dieser Zweig der Limnologie ist jüngeren Datums. Erst verhältnismäßig spät wandten sich Zoologie und Botanik dem planmäßigen Studium unserer Süßwassertiere und -Pflanzen zu, um fast mit Erstaunen zu bemerken, welch’ großes weites Feld hier noch brach lag.

Welche Fülle von Lebewesen pflanzlicher und tierischer Natur birgt nicht schon ein kleines oder mittelgroßes Wasserbecken! In breitem Kranz umsäumt das Ufer hohes Schilf mit seinen charakteristischen braunen Kolben. Hornkraut und Tausendblatt bilden unterseeische Wiesen und senden ihre Zweige bis zur Oberfläche, auf welcher sie in langen Ranken treiben. Laichkraut treibt seine blaßroten Blütenrispen zur Oberfläche empor, und wie weiße Flecken glänzen Hunderte der kleinen weißen Blüten des Hahnenfußes: etwas tiefer im See wachsen die Armleuchtergewächse, Algen, deren vielfach aneinandergereihte Zellen in wirbelförmigen Bildungen von Scheinzweigen uns höhere Pflanzen vortäuschen und deren gelblichrote Fruktifikationskörper bei durchsichtigem Wasser aus der Tiefe heraufleuchten. Stellenweise schwimmen auf dem See [705] filzige Massen von schmutziggrüner Farbe, ein unauflösbares Gewirr von Algenfäden, in stilleren Buchten aber glänzt inmitten die Königin aller Wasserpflanzen, die weiße Seerose, die jedem deutschen See ebenso zur Zierde gereicht wie ihre stolze Schwester, die Victoria regia den tropischen Sümpfen.

Wer im Kahn über die ruhende Flut hingleitet, dem kommt kaum zum Bewußtsein, welche Fülle von tierischen Organismen sich zwischen diesem Pflanzengewirr findet. Da tummeln sich räuberische Wasserkäfer und Wasserwanzen; Wasserschnecken kriechen an den Pflanzen umher, im Schlamm des Bodens steckt die Teichmuschel, die Steine sind besetzt mit langsam kriechenden Würmern, zwischen den Stengeln der Pflanzen spielen Hunderte von kleinen Fischchen, die in ganzen Scharen enteilen, wenn unser Kahn sich nähert, in größerer Entfernung steht ruhig im Wasser ein stattlicher Hecht, der gewaltige Räuber. Auf dem Boden erheben sich zwischen dem Schilf hier und da korallenartig verzweigte Gebilde; es sind Süßwasserschwämme, die wir freilich dem Aeußeren nach ebensowenig für Tiere halten würden wie die Moostiere, die knollenartig die Schilfstengel umgeben.

Zu diesen ständig im Wasser lebenden Tieren, die wir alle mit leichter Mühe vom Kahn aus beobachten und mit dem Netz fangen können, kommt noch die ganze Schar der Insektenlarven, die sich ebenfalls hier aufhalten. Die glitzernde Libelle, die mit schwirrendem Flug durch die Luft rast, verlebt ihre Jugend ebenso im Wasser wie die harmlose Eintagsfliege und die blutgierige Schnake; zahllos finden sich, kleinen Würmchen ähnlich, die Larven vieler Fliegen im Schlamm, und auf dem Schlamm kriecht in ihrem selbstgefertigten kunstvollen Gehäuse die Larve der mottenähnlichen Frühlingsfliege.

All dies reiche Leben ist an die pflanzenbewachsene Uferzone gebunden. Lenken wir unseren Kahn hinaus auf die freie Wasserfläche, so vermag unser Auge kein Leben im Wasser zu entdecken; nur hier und da verrät sich ein springender Fisch. Wenn wir das Netz zum Kahn hinauswerfen, werden wir vom Schiffer mit überlegenem Lächeln belehrt, daß wir hier nichts fangen werden.

Das alte Leipziger Rathaus.
Nach einer Photographie im Verlag von Hermann Vogel in Leipzig.

Wir können ihn leicht eines Besseren belehren. Die Forschungen des letzten Jahrzehntes besonders haben gezeigt, daß auch das freie Wasser keineswegs des organischen Lebens entbehrt, ja daß eine Fülle tierischer und pflanzlicher Geschöpfe das Wasserbecken fernab vom Ufer bevölkert, von deren schier zahllosen Scharen und deren Bedeutung man früher keine Ahnung hatte. Stülpen wir das Netz um, welches einige Zeit hinter dem Kahn hergezogen wurde, und leeren seinen Inhalt in ein Glas mit Wasser, so wimmelt es darin von winzigen, halbmikroskopischen Tieren. Meist sind es kleine Kruster, die sogenannten Hüpferlinge und die Wasserflöhe, die in lebhaften Bewegungen hier durcheinander fahren. Nehmen wir das Mikroskop zur Hand, so sehen wir, daß außer diesen mit bloßem Auge gerade noch zu erkennenden Tieren noch weitere Lebewesen sich in unserem Fang befinden. Teils gehören sie zu den sogenannten Rädertieren, teils aber sind es pflanzliche Organismen, welche die Botanik zu den Algen rechnet; hauptsächlich sind die durch ihren wunderbar gezeichneten Kieselpanzer bekannten Diatomeen vertreten.

Diese ganze schier unsichtbare Schar von Pflanzen und Tieren des freien Wassers schwimmt ständig und kommt nie zur Rast und Ruh’. Wenn auch mit eigenem Schwimmvermögen begabt, so sind diese zarten winzigen Lebewesen doch ein leichtes Spiel des Windes und der Wellen, sie werden in der weiten Wasserfläche umhergetrieben. Die heutige Wissenschaft faßt daher alle diese kleinen Bewohner des freien Wassers unter dem Namen „Plankton“ (griechisch, das Umhergetriebene) zusammen, und dieser Name ist längst über die fachwissenschaftlichen Kreise hinausgedrungen, er ist dem einfachen Fischer bekannt und geläufig geworden, denn immer mehr hat sich die große Bedeutung des Plankton herausgestellt.

Einer der interessantesten Kruster dieses Plankton wurde von seinem Entdecker, Leydig, im Magen des Felchen, des köstlichen Bodenseefisches, aufgefunden, und spätere Forschungen haben erwiesen, daß der Felchen, der ebenfalls nur im freien Wasser sich findet und nicht zu den am Ufer sich aufhaltenden Fischen gehört, sich ausschließlich von diesem Kruster nährt. In markanter Weise zeigt dieser eine Fall die Bedeutung des Plankton für die Fischzucht; wir wissen heute, daß die pflanzlichen Teile des Plankton die Urnahrung für alle Tiere des Wassers darstellen und daß ohne Plankton die Fische nicht existieren könnten, denn auch die großen Räuber, die später von andern Fischen sich nähren, sind in ihrer zartesten Jugend auf die mikroskopisch kleinen Kruster des Plankton angewiesen.

Von der Fülle, in welcher diese winzigen, dem bloßen Auge kaum sichtbaren Wesen im Wasser vorhanden sind, bekommen wir gelegentlich einen Begriff; hier und da erscheint das Wasser mißfarbig und beinahe breiig; sehen wir näher zu, so finden wir, daß eine Tier- oder Pflanzenart die Ursache hiervon ist. Milliarden winziger Wesen bedingen in ihrer ungeheuren Zahl diese Erscheinung, die dann auch dem Laien die Existenz solcher winzigen Organismen verrät. Meist aber bedarf es eigener mühsamen Forschungen, um einen Ueberblick über die Menge zu erhalten, in welcher das Plankton vorhanden ist. Wir können hier nicht näher darauf eingehen und begnügen uns mit dem Hinweis auf eine von Br. Hofer auf dem Fischereitag in Friedrichshafen gemachte Angabe. Nach den Untersuchungen dieses Forschers ist die im Bodensee vorhandene Masse kleiner schwimmender Lebewesen auf nicht weniger als 2000 Doppelcentner zu berechnen.

Die wissenschaftliche Kommission des Bodensees hat sich das gründliche Studium aller Lebewesen des Schwäbischen Meeres, soweit es möglich war, angelegen sein lassen. Leider sind die betreffenden Arbeiten noch nicht völlig publiziert, indem noch die zweite Hälfte der Berichte über die „Vegetation des Bodensees“ aussteht.

Für die Verteilung der Pflanzen nach der Tiefe hin kommt ganz besonders die schon erwähnte Frage nach der Belichtung der tieferen Wasserschichten in Betracht. Am günstigsten sind die Bedingungen für die Bodenflora in dieser Beziehung am Ufer; hier [706] sehen wir sie auch am reichsten entwickelt, gegen die Tiefe zu nimmt sie allmählich ab. Wie O. Kirchner und C. Schröter, deren trefflichem Buch „Die Vegetation des Bodensees“ (Der Bodenseeforschungen neunter Abschnitt) wir alle diese Angaben entnehmen, mitteilen, hören die Blütenpflanzen im Bodensee bei 6 m Tiefe, die Armleuchtergewächse bei 30 m auf; von da an sind nur noch niedere Algen und Pilze konstatiert. Die chlorophyllhaltigen Algen, welche zum Assimilieren, zum Leben, des Lichtes bedürfen, können nicht weiter hinabgehen, als Lichtstrahlen eindringen. Wenn nun im Bodensee in einzelnen Fällen auch noch in größeren Tiefen assimilierende Algen gefunden worden sind, so steht die Erklärung hierüber einstweilen noch aus; entweder sind sie imstande, auch noch das äußerst schwache Licht, welches nur noch von den empfindlichsten chemischen Substanzen nachgewiesen wird, zu benutzen, oder sie leben, wie Kirchner vermutet, nicht dauernd in der Tiefe, sondern sind mit einem Steigvermögen ausgerüstet.

Die Vegetation der chlorophylllosen Pilze und Bakterien ist nicht an das Licht gebunden und erträgt zugleich sehr tiefe Temperaturen, so daß dem Vorkommen dieser Pflanzen in großen Tiefen nichts entgegensteht. In der That fand Professor Roth im Bodensee in der Tiefe von 60 bis 65 m, etwa 5 m über dem Grund, an Mikroben 31 bis 146 Stück im Kubikcentimeter.

Ueber das Resultat der zoologischen Erforschung des Bodensees ist erst kürzlich eine Publikation „Die Verbreitung der Tierwelt im Bodensee“ (der Bodenseeforschungen zehnter Abschnitt) von Prof. Dr. Bruno Hofer erschienen, die sich speziell mit der interessanten Frage der Verteilung des Plankton beschäftigt. Die größte Entwicklung sowohl der Art nach als auch der Masse nach fand Hofer im Beginn des Herbstes, zu welcher Zeit der See die größte Wärmemenge absorbiert hat. Sehr bemerkenswert ist der Nachweis Hofers, daß die oberste Schicht in der Tiefe bis zu 1 m, bei sehr hellem Wetter sogar bis 2 m nur ganz spärlich von Planktontieren belebt war; nur bei trübem Wetter fand sich die Oberfläche des Sees am stärksten belebt. Von der Oberfläche fand Hofer die Masse des Plankton nach der Tiefe zu ständig zunehmend, bis bei 20 m das Maximum erreicht wurde; von hier war wieder eine Abnahme zu konstatieren, bis bei 30 m, vielleicht auch etwas tiefer, die untere Verbreitungsgrenze des tierischen Plankton erreicht war.

Innerhalb dieser Verbreitung des Plankton konnte Hofer ferner eine genaue Verteilung der einzelnen Arten nachweisen. Während einige Arten sich ziemlich gleichmäßig im ganzen Plankton verteilt fanden, hielten sich andere fast ausschließlich in den oberen Schichten auf, und andere wiederum konnten fast nur in den tieferen Schichten nachgewiesen werden. Auch in anderen subalpinen Seen machte Hofer die gleiche Beobachtung, so daß es sich hier jedenfalls um eine Erscheinung von allgemeiner Bedeutung handelt.

Bei einigen Untersuchungen des Plankton im Winter fiel im Vergleich zu den im Frühherbst gewonnenen Resultaten zunächst die große Formenarmut der winterlichen Fauna auf; manche Arten fehlten ganz, andere traten sehr zurück. Die Tiefenverbreitung konnte zwar nicht völlig genau nachgewiesen werden, doch konnte Hofer konstatieren, daß das Plankton mit seinen letzten Ausläufern im Winter tiefer hinabreicht als im Sommer, was völlig mit dem Nachweis Forels stimmt, daß das Licht im Winter tiefer eindringt als im Sommer.

Besonders in der Erforschung der Pflanzen- und Tierwelt des Bodensees können die erlangten Resultate trotz ihrer Bedeutung noch nicht als völlig abschließend betrachtet werden; um einen völlig genauen Einblick zu erhalten in den Wechsel, dem die Lebewelt dieses gewaltigen Wasserbeckens in ihrer Verteilung und ihrer Masse im Lauf eines Jahres unterliegt, und in die Ursachen dieser Schwankungen würde eine ein ganzes Jahr und länger täglich fortgesetzte Untersuchung nötig sein; dies könnte natürlich nur geschehen, wenn einmal auch an den Ufern des Schwäbischen Meeres sich eine biologische Station erheben würde, wie sie seit einer Reihe von Jahren am Plöner See in Holstein besteht und seit dieser Zeit schon mehrfach Nachahmung gefunden hat.

Allein es wäre ungerecht, nicht mit großem Dank anzuerkennen, wie erstaunlich viel schon jetzt, dank der opferfreudigen Hingebung aller beteiligten Forscher, geleistet worden ist!

Die Erforschung des Bodensees, deren Bedeutung wir zu skizzieren versuchten und zu welcher sich fünf Staaten vereinigen mußten, deren Gebiete an dieses Wasserbecken stoßen, ist eine wissenschaftliche Großthat, welche in der Geschichte der Seenforschung einen ersten Platz einnimmt und allen Beteiligten zur größten Ehre gereicht.



Blätter und Blüten.

Illustrierte Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Das Jahrhundert geht zur Rüste – immer näher rückt der bedeutsame Augenblick, in welchem die Sylvesterglocken das Jahr einläuten, das der Kalender als erstes dem zwanzigsten Jahrhundert zuzählt. Veranlaßt schon der jedesmalige Abschluß eines Jahres jeden Denkenden zu einem Rückblick auf die abgelaufene Zeitspanne, so thut dies in noch ganz anderem Maße der Uebergang in ein neues Jahrhundert, und das Bedürfnis, sich der gewaltigen Hinterlassenschaft des vergangenen für das neue in aller Klarheit bewußt zu werden, wird überall empfunden. Eine Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, die diesem Bedürfnisse in einer wahrhaft volkstümlichen, dabei eingehenden und gediegenen Darstellung entgegenkommt, muß daher von jedermann willkommen geheißen werden. Wir freuen uns, in der „Illustrierten Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“, welche die Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart herausgiebt und deren erste Lieferungen uns vorliegen, ein solches Werk begrüßen zu dürfen. Die ganze Anlage dieses illustrierten Geschichtswerks läßt erkennen, daß die Herausgeber es mit großem Geschick verstanden haben, die unendliche Fülle des Stoffs, der hier zu bewältigen war, nach großen Gesichtspunkten zu ordnen, übersichtlich zu gruppieren und die Illustrationen dem Text so anzupassen, daß das Bild durch unmittelbare Anschauung aufs lebensvollste vergegenwärtigt, was sonst nur durch breite Auseinandersetzung in Worten dem Leser hätte gesagt werden müssen. Diese lichtvolle, durch Illustrationen stets belebte Gruppierung des Stoffs kommt zunächst darin zum Ausdruck, daß neben der fortlaufenden Darstellung der politischen Geschichte des Jahrhunderts in kurzen Kapiteln, wie sie der Erscheinungsform in Heften entspricht, die „Fortschritte von Kultur und Wissenschaft“, die „Entwicklung von Industrie und Technik, Handel und Verkehr“ in abgesonderten Kapitelfolgen behandelt sind, und daß diese zusammenfassenden Berichte wiederum ergänzt werden durch eine „Galerie der hervorragendsten Persönlichkeiten“ in Wort und Bild, und eine Folge selbständiger „Bilder aus der Geschichte“, welche an einzelnen Beispielen des näheren ausführen, was im engen Zusammenhang der eigentlichen Geschichtschronik nur angedeutet werden konnte. Die Lektüre des Textes wirkt daher nie ermüdend, stets anregend, zumal er auch frisch, anschaulich und klar geschrieben ist. Naturgemäß beginnt die Darstellung mit der großen Revolution in Frankreich, deren positive Errungenschaften im ablaufenden Jahrhundert grundlegend wurden für die politische Entwicklung aller Staaten. Gleich hier zeigt sich’s, mit welch außerordentlicher Fülle von Abbildungen jeder Art das Unternehmen ausgestattet wird. Historische Scenen nach den Gemälden berühmter Maler, wie das große farbige Bild „Die Rückkehr des französischen Königspaares von Versailles nach Paris am 6. Oktober 1789“ nach Squindo, der doppelseitige Holzschnitt „Das letzte Gastmahl der Girondisten“ nach Flameng, vergegenwärtigen uns die erhebenden Momente und die Greuel jener welterschütternden Epoche. Aber wir sehen auch beispielsweise James Watt, wie er als Knabe in der Küche seiner Mutter am Theekessel die Wirkungen des Dampfes beobachtet, Fultons Dampfbootprobefahrt auf der Seine zu Paris, Schillers Heimkehr nach Stuttgart 1794 in historisch getreuer genrebildlichen Darstellung. Zahlreiche Porträts von Erfindern, Denkern, Künstlern wechseln ab mit solchen von Fürsten und Fürstinnen, Feldherren und Staatsmännern. Daneben finden sich technische Abbildungen in Menge. Dies echte Volksbuch, das sich auch durch wohlfeilen Preis auszeichnet und in 30 Heften vollständig sein wird, ist selbst als eine schöne Errungenschaft der Kulturfortschritte zu bezeichnen, von denen es so vielumfassende Kunde giebt. Unzähligen wird es eine segenspendende Quelle der Bildung und Aufklärung werden.

Dr. Georgi, Oberbürgermeister von Leipzig. (Zu dem Bildnis S. 707.) Am 1. Oktober d. J. trat nach fünfundzwanzigjähriger segensreicher Thätigkeit an der Spitze der Verwaltung Leipzigs Dr. Otto Robert Georgi aus Gesundheitsrücksichten von seinem Amt als Oberbürgermeister der Stadt zurück. Georgis Verdienste um Leipzig sind aufs innigste mit dem gewaltigen Aufschwunge verknüpft, den die altberühmte Universitäts- und Handelsstadt in den Jahren seit Gründung des Deutschen Reiches auf allen Gebieten genommen hat, auf denen sie schon früher ihre hervorragende Stellung unter den deutschen Städten gewann. Unter Georgis Amtsführung ward das Reichsgericht in Leipzig errichtet und fand eine würdige Stätte für sein Haus; der glänzenden Blüte der Universität, welche in diesem Zeitraum großartige Neubauten ins Leben rief, wurde auch städtischerseits eifrig Rechnung getragen; die neu sich festigende Bedeutung Leipzigs als Hauptsitz des [707] deutschen Buchhandels kam in dem prächtigen neuen Buchhändlerhaus zum Ausdruck, für welches das Areal von der Stadt Leipzig geschenkt ward. Den Bemühungen des Oberbürgermeisters Georgi gelang es, die alte Einrichtung der Messen neu zu beleben; ihm ist die Einverleibung von siebzehn Vororten in die Stadtgemeinde zu danken, die sich in den Jahren 1889 bis 1892 vollzog und welche es Leipzig ermöglichte, sich nach allen Seiten unbehindert auszubreiten. Besondere Aufmerksamkeit widmete Georgi den Einrichtungen für das Armenwesen, der Hebung der Gesundheitsverhältnisse, dem Schul- und Unterrichtswesen und der Verbesserung der Verkehrsmittel. Herrliche Parkanlagen und Volkshaine entstanden zur Verschönerung der Stadt und Erholung der Bürger. Leipzigs Wasserwerke, Schlachthofanlage und Markthalle gelten als vorbildlich für andere Gemeinden. Die Förderung von Kunst und Wissenschaft ließ er sich nicht minder angelegen sein. Die Erweiterung des Museums der bildenden Künste, die Erbauung des Grassimuseums für Völkerkunde und Kunstgewerbe, des neuen Gewandhauses u. a. fiel in die letzten Jahrzehnte.

Georgi ist am 22. November 1831 zu Mylau im Vogtlande als Sohn des dortigen Großindustriellen und ehemaligen sächsischen Ministers Georgi geboren. Er besuchte das Gymnasium zu Plauen i. V. und studierte in Leipzig, Göttingen und Heidelberg. Im Jahre 1858 ließ er sich in Leipzig als Rechtsanwalt nieder, und 1867 ward er ins Stadtverordnetenkollegium gewählt. Hier erkannte man sehr bald die Bedeutung Georgis und berief ihn schon im Jahre darauf zum Vicevorsteher des Kollegiums, dem 1870 die Wahl zum Vorsteher folgte. Im Jahre 1874 ward ihm das Amt des Vicebürgermeisters und zwei Jahre später das des Bürgermeisters oder – wie es seit 1877 heißt – Oberbürgermeisters übertragen. Auch außerhalb des städtischen Gemeinwesens hat Georgi segensreich gewirkt. In den Jahren 1871 bis 1876 ist er als Mitglied des Deutschen Reichstags thätig gewesen, und in seiner Eigenschaft als Oberbürgermeister von Leipzig gehörte er der Ersten Sächsischen Kammer an, deren Vicepräsident er war. Kurz vor seinem Abgang, am 19. September, hat er noch den Grundstein zu dem neuen Rathause gelegt.

Aus Anlaß seines Rücktritts vom Amte sind ihm mannigfache Beweise der Verehrung aus der Mitte der Bürgerschaft gegeben worden, und der König von Sachsen hat ihm den Titel eines Geheimrats verliehen. Sein Nachfolger ist der bisherige zweite Bürgermeister Leipzigs, Dr. Tröndlin.

Dr. Georgi.
Oberbürgermeister von Leipzig.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph N. Perscheid
in Leipzig.

Ein Hochseefischer aus dem Vogelreiche. (Zu dem Bilde S. 677.) Wenn man von den besten Fliegern unter den Vögeln spricht, so pflegt man den Albatros, einen Bewohner der südlichen Meere, als den hervorragendsten Flugkünstler zu feiern. Kein anderes Tier im Federkleide vermag wie er tagelang dem fahrenden Schiffe zu folgen, ohne ein einziges Mal auf den Wogen zur Ruhe sich niederzulassen, kein anderer Vogel ist imstande, so gewaltige Strecken im Fluge zu durchmessen wie dieser. Wir kennen aber auch aus der nördlichen Erdhälfte einen fluggewandten Beherrscher der Lüfte, der wohl genannt zu werden verdient unter den Vögeln, bei denen das Flugvermögen eine besonders hohe Entwicklung erreicht hat. Das ist der sogenannte Tölpel, Sula bassana, der in diesem Heft der „Gartenlaube“ in einem von dem bekannten Tiermaler Paul Neumann nach dem Leben entworfenen Bilde vorgeführt wird. Das Original zu dieser Zeichnung ist augenblicklich im Berliner Zoologischen Garten. Dort befindet sich der Vogel in einer hohen Voliere, zusammen mit zahlreichen Vertretern der Sumpf- und Wasservögel, er hat dort Felsen und Wasser, aber leider keine Möglichkeit, seine Schwingen zu gebrauchen. Der Flugraum genügt trotz seiner Größe nicht, um dem Vogel eine freie Bahn zum Abfliegen zu gewähren. So sieht man ihn denn in plumpem, watschelndem Gange mühsam sich fortbewegen, und wer ihn betrachtet, ist wohl geneigt, zu verstehen, weshalb man ihm den Namen „Tölpel“ gegeben haben könnte. Und doch würde jeder andere Seevogel ebenso unbehilflich sein, wenn er seinem gewohnten Elemente entrissen wäre.

Der Tölpel lebt an den Rändern des Oceans, von dort aus macht er seine Jagdzüge weit hinaus auf das Meer. In Europa hat er an den Küsten von England, Schottland und Irland, auf den Färöerinseln und Island seine Brutstätten, und man hat auch in der Nähe des Lawrencegolfes an der amerikanischen Seite des Atlantischen Oceans einige Kolonien dieses Vogels gefunden. Er rottet sich gegen Ende des März oder im Anfang des April zu vielen Hunderten zusammen, um auf wilden, zerklüfteten Klippen gewöhnlich in Gemeinschaft mit Kormoranen, Alken und Lummen das Brutgeschäft zu besorgen. Der nordatlantische Tölpel, mit dem wir es hier zu thun haben, heißt auch Baßtölpel, und dieser Name rührt nicht etwa von seiner tiefen Stimme her, sondern bezeichnet einen Vogelfelsen am Eingange des Firth of Forth in Schottland, auf welchem unsere Art in großen Mengen brütet. Jedes Weibchen legt jährlich nur ein Ei, welches schmutzigweiß ist und eine fast glanzlose Schale hat wie ein Kormoranei. Das Nest, welches diesem Ei als Unterlage dient, besteht gewöhnlich nur aus einem zusammengescharrten Haufen von Seegras. Zuweilen liegt das Ei auf der bloßen Erde in einer Vertiefung. Die Jungen kommen blind und nackt zur Welt, aber sehr bald wird ihr schwarzgrauer Körper von weißen Dunen bedeckt, die später durch ein tiefbraunes Gefieder ersetzt werden, in welchem jede Feder einen weißen dreieckigen Fleck trägt. Erst nach drei Jahren ist der Tölpel vollständig ausgefärbt. Er ist dann so groß wie eine Gans, schneeweiß, sein Kopf und Hals ölbraun überflogen, die Ränder der großen Schwingen sind schwarz. Um das Auge herum und an der Kehle bleibt je ein dunkelbrauner Fleck unbefiedert. Im Herbst, wenn die Jungen fliegen können, verlassen die Tölpel ihre Felsenburg und zerstreuen sich weithin über das Meer. Während sie im Sommer gelegentlich bis zur Ostsee und häufiger an die norwegische Küste kommen, also immerhin recht weit von ihren Brutplätzen sich auf der Jagd nach Fischen entfernen, findet man sie im Winter nach Süden bis Madeira und bis zu den Kanarischen Inseln auf der afrikanischen Seite des Atlantischen Oceans, bis zum Golf von Mexiko in Amerika verbreitet. Sie folgen im Herbst den Zügen der Heringe. Den Fischern sind sie darum willkommene Erscheinungen, weil man mit Sicherheit da, wo sie sich in größeren Flügen zeigen, auf einen guten Fang rechnen darf.

Dem Naturforscher ist der Tölpel wegen einiger merkwürdiger Eigenschaften besonders interessant. Wer nämlich nicht genau genug zu untersuchen versteht, wird vergeblich bei ihm nach den Nasenlöchern und nach der Zunge suchen. Die Nasenlöcher sind bis auf einen sehr schmalen Spalt durch Horn bedeckt und die Zunge ist ganz verkümmert. Eigentümlich ist auch der Bau der Füße, weil alle vier Zehen durch eine Schwimmhaut miteinander verbunden sind, und nicht minder bemerkenswert sind die zahlreichen unter der Haut liegenden Luftsäcke, welche miteinander und mit der Lunge in Verbindung stehen, willkürlich aufgeblasen werden können und so durch Verringerung des Körpergewichtes dem Vogel wesentlich das Fliegen erleichtern.

Nach einem schweren Sturm verfliegt sich der Tölpel wohl einmal bis in das Innere von Deutschland; so hat man im Münsterlande und in der Mark diese Art nachgewiesen. Matschie.     

Vor dem Kurhause in Bad Reichenhall. (Zu dem Bilde S. 689.) Reichenhall, eine der bedeutendsten Heilstationen des Kontinents, ist nicht nur ein vielbegehrter Zufluchtsort derer, welche dort Genesung von mancherlei Leiden erhoffen, sondern auch ein beliebtes Wanderziel solcher, die für kürzere oder längere Zeit die Naturschönheiten dieser Gegend nützen wollen. Dem Freunde der Alpenwelt, wenn er nicht gerade zu den Gipfelstürmern zahlt, bieten sich hier die mannigfaltigsten Ausflüge durch Wälder und Auen, auf Almen und Bergeshöhen. Unter den Sommergästen Reichenhalls finden sich daher neben Leidenden, denen man das Siechtum vom Gesicht ablesen kann, viel Gesunde, die man beinahe fragen möchte, was sie im Bade zu suchen haben. Alle Nationalitäten sind vertreten und alle Stände. Besonders in früher Morgenstunde, wenn das Badeleben im Kurgarten beginnt, tritt dies recht auffallend hervor. Ein Teil promeniert im Wandelgang und trinkt Milch und Molken dabei; ein anderer Teil sucht die Wege längs des Gradierhauses auf, um die Lungen an der salzhaltigen Luft zu stärken, während andere den vorgeschriebenen Spaziergang nach dem Bade machen und sich mit den Gesunden an dem Morgenkonzerte erfreuen. Zur vorgerückten Tageszeit gestaltet sich das Bild der vor dem Kurhause verkehrenden Gäste noch etwas lebhafter. Die elegante Welt hat sich hier auf ein paar Stunden angesiedelt, um den herrlichen Sommertag im Freien zu genießen. Man thut dies nicht, ohne dabei Erfrischungen aller Art zu sich zu nehmen; Bier spielt dabei allerdings keine Rolle, nur hier und da sieht man bei einem nichts weniger als leidenden Herrn das goldbraune Naß stehen; Kaffee, Milch, Limonade sind mehr an der Tagesordnung; aber es läßt sich auch bei diesen sanften Getränken mit Scherzen und Disputieren die Zeit verbringen. Man hat genug zu thun, jede neu auftauchende elegante Persönlichkeit „unter die Lupe zu nehmen“, die verschiedenen Toiletten zu kritisieren, die Verhältnisse der einzelnen Gruppen zu studieren, sich Badeneuigkeiten zu erzählen oder in stummer, behaglicher Passivität die Variationen des eigenartigen Verkehrs auf sich wirken zu lassen. B. Rauchenegger.     

Kinderbelustigung im Zoologischen Garten zu Berlin. (Zu dem Bilde S. 693.) „Im Zo“, sagt der Berliner kurz und bündig, wenn er „Im Zoologischen Garten“ meint, und an schönen Sommertagen kann man in Berlin W mit ziemlicher Sicherheit darauf gefaßt sein, auf die Frage: „Wo seid ihr heute abend?“ die Antwort zu erhalten: „Natürlich im Zo!“ Der Zoologische Garten ist in der That der beliebteste Erholungsort der Reichshauptstadt, und von Jahr zu Jahr wendet sich ihm in steter Steigerung die Gunst neuer Freunde zu. Besonders seitdem ihm die Neubauten und Neuanlagen dieses Sommers den Charakter eines wahrhaft weltstädtischen Etablissements im vornehmsten Stil gegeben haben, ist er täglich das Ziel vieler Tausender.

Den vom Kurfürstendamm her Eintretenden bietet sich ein entzückender Anblick. Ihn nimmt eine 20 m breite und 160 m lange, des Abends glänzend erleuchtete Doppelpromenade auf, mit Rasenmittelstück und Blumenbeeten, am Ende abgeschlossen durch einen Springbrunnen und einen chinesischen Musiktempel. Von hier aus schlingen sich die Wege unter schattigen Bäumen hin über die weite Fläche zu den einzelnen Tierbehältern. Hoch ragt goldglänzend das indische Elefantenhaus auf, nicht weit davon steht die große Antilopenhalle, jetzt durch Begas’ [708] bekannte Centaurengruppe noch verschönert. Die Raubtiere schließen sich an, die Bären, Hirsche, Vögel – alles in buntem Gemisch und doch mit klugem Bedacht systematisch geordnet. Die Raubtiersammlung umfaßt jetzt 102 Arten, die Wiederkäuersammlung 115, die Papageisammlung 133 und die Sammlung fremdländischer Sing- und Schreivögel gar 292 Arten.

Man sieht, die wissenschaftliche Arbeit wird von der Verwaltung nicht vernachlässigt. Aber freilich – von der Wissenschaft und für sie allein könnte ein so kostspieliges Unternehmen wie der Zoologische Garten nicht leben. Es muß auch mit dem Vergnügungssinn der großen Menge rechnen. Und für das Vergnügen ist durch verschiedene Wirtschaften und Kaffeeschenken, vor allem aber durch das große Hauptrestaurant aufs allerbeste gesorgt. In der guten Jahreszeit beträgt der Besuch an Werktagen durchschnittlich 10000 bis 15000 Personen. An Sonntagen steigt diese Zahl auf 30000 bis 40000, und am „billigen Sonntag“, dem ersten in jedem Monat, an dem der Eintritt nur 25 Pfennig kostet, da hat man die Zahl der Besucher schon auf 100 000 geschätzt. Aber nicht nur eine Stätte der Wissenschaft und des Vergnügens ist der Garten, er hat auch als Erholungsort seine Bedeutung, und zwar besonders für das heranwachsende Geschlecht. Für die Kinder ist er ein wahres Paradies, und Kinder jeden Alters sieht man denn auch in hellen Scharen an schönen Tagen vom frühen Morgen bis zum späten Abend hier unter den grünenden Bäumen herumtollen, sorgsam beschützt von Mutter oder Kinderfrau. Für die Kleinsten sind besonders eingezäunte Spielplätze eingerichtet, damit sie sich nicht verlaufen können, die Größeren tummeln sich schon freier herum. Eine besondere Freude aber ist es für alle, wenn die Reitkarawane kommt und Väterchen wohl gar ein paar Nickel für einen Spazierritt oder eine frohe Fahrt opfert. Eine solche Scene des Kinderglücks giebt unser Bild wieder. Die Direktion stellt für dieses Vergnügen abgerichtete Tiere zur Verfügung: Kamele, Ponies und eine Ziegenkutsche. Neuerdings ist auch noch ein zweirädriger Karren hinzugekommen, den ein kleiner Zebustier zieht, und der Esel, der jetzt in der Karawane mitgeht, ist ein echter afrikanischer Karawanenesel und ein sehr berühmter noch dazu: Wißmann hat ihn auf seiner Dampferexpedition als Reittier benutzt. Kundige Wärter sorgen, daß den Kleinen kein Schaden geschieht. So ziehen sie mit leuchtenden Augen und lachendem Munde dahin, und der Graukopf, der all diese Jugendlust freudigen Herzens betrachtet, murmelt in den Bart: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“ G. Klaußen.     

Das Denkmal Friedrichs des Großen
in der Siegesallee zu Berlin.

Nach einer Aufnahme von
Photograph Hugo Rudolph in Berlin.

Das Denkmal Friedrichs des Großen in der Berliner Siegesallee. (Mit Abbildung.) Zu den in der Berliner Siegesallee aufgestellten Denkmalsgruppen hat sich kürzlich eine neue gesellt, deren Mittelpunkt die Statue Friedrichs des Großen bildet. Der Schöpfer derselben, Bildhauer Uphues, hat bei der Gestaltung des Königs an die Ueberlieferungen von Sanssouci angeknüpft, wo der gewaltige Kriegsherr von seinen Feldzügen zu rasten liebte. Die Haltung entspricht so manchem Bilde, das den König, mit dem Krückstock in der Rechten und die Linke auf dem Rücken, im Gehen darstellt. Der architektonische Hintergrund des Denkmals zeigt rechts und links vom König die Büsten des Feldmarschalls Schwerin und Johann Sebastian Bachs.

Wasserweihe im Kaukasus. (Zu dem Bilde S. 696 und 697.) Neujahr und Ostern, Pfingsten und Himmelfahrt und alle sonstigen Feste des griechischen Kalenders werden im Kaukasus, wie in ganz Rußland, gemeinsam mit der offiziellen Welt gefeiert. Die Eigenart der Kaukasusvölker tritt indessen bei keinem dieser Feste so sehr in den Vordergrund wie bei dem Feste der Wasserweihe am Epiphaniastage, dem 6. Januar.

Die Bevölkerung jedes noch so kleinen Bergnestes strömt zu dem nächsten Fluß, der in diesem kahlen, trockenen Gebirgslabyrinth als Wasserspender noch viel größere Bedeutung hat als in den wasserreichen Ebenen des Nordens. An einer geeigneten Stelle in der Nähe des größten Ortes wird eine Brücke in den Fluß gebaut, wie wir es auf unserem Bilde erkennen, und mit Reisig, Blumenguirlanden, Teppichen u. dgl. geschmückt. In der Ortschaft oben versammelt sich die gesamte Geistlichkeit, angethan mit den reichsten, von Goldstickereien bedeckten Gewändern, die Mitra auf dem Haupt. Begleitet von der ganzen offiziellen Welt, den Beamten und Offizieren in Paradeuniform, begiebt sich die Prozession unter Vortragung des Kreuzes hinab zum Fluß. Dort hat sich auf den beiderseitigen Ufern die Bevölkerung des Thales längst eingefunden; die Männer in ihren malerischen Festkleidern, die Patronentaschen auf der Brust, das Gewehr über die Schulter geworfen, die Schwerter zur Seite, tummeln sich auf ihren flinken Rossen umher; die Frauen in ihren bunten Trachten, farbige Kopftücher um die lang herabfallenden schwarzen Haarflechten geschlungen, stehen mit ihren Wasserkrügen gruppenweise umher, jeder aus dem Fluß hervorragende Felsblock, jeder Vorsprung auf den steil abfallenden Thalwänden ist mit Menschen besetzt, welche die heilige Handlung erwarten. Sogar im Flusse selbst tummeln sich die tscherkessischen und georgischen Reiter, herrliche Kriegergestalten, auf ihren reichgeschirrten Pferden, und besonders Strenggläubige entkleiden sich, um, ins Wasser springend, den Segen des Priesters, gewissermaßen als eine Art zweiter Taufe, zu empfangen.

Nach Absingung der schönen Taufhymnen schreitet der höchste Priester, das russische Kreuz auf einem langen vergoldeten Stab in den Händen haltend, zum Ende der Brücke vor und erteilt zunächst den Versammelten den Segen. Dann taucht er das Kreuz feierlich dreimal in die vorbeirauschende Flut, und ist dies geschehen, so nimmt er aus den Händen der assistierenden Geistlichkeit einen Weihwedel entgegen, näßt ihn in dem eben geweihten Flusse und besprengt damit die Umstehenden. Damit ist die Ceremonie beendet; die Männer feuern ihre Gewehre ab, die Frauen schreiten zum Flusse vor und füllen die mitgebrachten Gefäße mit dem frisch geweihten Wasser, das während des ganzen Jahres aufbewahrt wird, um die Weihwasserbehälter in ihren Häusern nachzufüllen und es auch sonst gegen leibliche und geistige Gefahren zu verwenden. Die Prozession, begleitet von den Truppen und dem Volke, begiebt sich nun wieder nach der Ortschaft zurück, und die übrige Zeit des Tages wird mit Tanz und Festlichkeiten aller Art verbracht. E. v. Hesse-Wartegg.     

Das neue Rathaus der Stadt Leipzig. (Zu den Abbildungen S. 701 u. 705.) Am 19. September fand in der alten Meß- und Handelsstadt Leipzig in feierlicher Weise die Grundsteinlegung für das zu erbauende neue Rathaus statt. Dort, wo ehemals die ehrwürdige Pleißenburg stand, wird auf einem Flächenraum von 10033 qm mit einem Kostenaufwand von nahezu 7 Millionen Mark der imposante Bau errichtet werden, der drei Höfe umschließen wird. Unser Bild auf S. 701 veranschaulicht das Gebäude, das nach den Plänen des Stadtbaurats Professor Hugo Licht zu Leipzig in deutscher Renaissance aufgeführt werden soll, mit der nach Süden, dem Obstmarkt zu, gelegenen Hauptfront. In dem das Ganze überragenden mächtigen Turm wird als Zeuge geschichtlicher Vergangenheit das Wahrzeichen der Stadt, der alte Trotzer der Pleißenburg, erhalten bleiben, welcher, bis zu einer Höhe von 100 m emporgeführt und mit einer durchbrochenen Bekrönung geschmückt, einen herrlichen Rundblick über Leipzig und seine weiten Schlachtgefilde gewähren wird. Die Fassaden des giebelreichen Hauses sollen bis einschließlich der Erdgeschosse in Granit, die oberen Partien in Sandstein ausgeführt, die Dächer mit glasierten Biberschwänzen und die Türme teils mit farbig glasierten Ziegeln, teils mit Kupfer gedeckt werden. In dem von zwei schlanken Türmen flankierten Mittelbau der Hauptfront befindet sich der Hauptzugang. Durch diesen gelangt man in einen mächtigen Vorraum und aus diesem in eine große Halle, aus der breite Treppen zum Hauptgeschoß führen. Dort ist im Mittelbau mit den Fenstern nach der Südseite der Sitzungssaal des Rats untergebracht. An diesen schließen sich schön ausgestattete Sitzungszimmer an, die zugleich mit einer nach innen zu liegenden und ihrer Flucht entlang laufenden Halle die Verbindung mit dem großen Festsaal herstellen, der sich auf der Ostfront hinzieht. Ebenfalls nach Osten zu gelegen und von dem vorigen nur durch einen kleinen Nebenraum getrennt, befindet sich der Sitzungssaal für die Stadtverordneten. Auf Grund dieser Anordnung lassen sich die Räume sämtlich zu einem Ganzen aneinanderschließen, in dem die Stadtverwaltung bei feierlichen Anlässen ihren Gästen und den Bürgern eine der viertgrößten Stadt im Reiche würdige Feststätte zu bereiten vermag.

Im Südwesten wird das Haus eine breit abgestumpfte Ecke bilden, deren Fenster nach der Karl Tauchnitzbrücke blicken. Hier sollen die Amtsräume der Bürgermeister untergebracht werden, und dementsprechend wird auch hier die schmale Front eine reichere architektonische Gestaltung erhalten. Der westliche und nördliche Flügel wird den Bureaus eingeräumt werden. Hier galt es, durch praktische Einteilung des Raumes eine glatte Abwicklung des vielverzweigten geschäftlichen Betriebs zu ermöglichen und auf den gewaltigen Verkehr des Publikums Rücksicht zu nehmen. Diese Aufgabe wird nach den Plänen des Erbauers in trefflichster Weise gelöst werden. Auch eine Wirtschaft darf in einem echten Rathaus nicht fehlen, und so ist denn auf der Ostseite desselben auch ein „Ratskeller“ vorgesehen.

Unser Bildchen auf Seite 705 stellt das alte Leipziger Rathaus dar. Es stammt aus der Blütezeit der deutschen Renaissance und verkörpert mit seinem charakteristischen Giebelschmuck so recht den altehrwürdigen Rathausstil jener Zeit. Von dem Leipziger Bürgermeister und Baumeister Hieronymus Lotter im Jahre 1556 an der Stelle und mit Benutzung der Reste eines älteren auf dem inmitten der Stadt gelegenen Marktplatze errichtet, blickt es auf ein langes vielbewegtes Stück Geschichte zurück und wird deshalb nicht nur als ein herrliches Werk deutscher Baukunst, sondern auch als ein steinernes Monument denkwürdiger Zeiten geschätzt, das hoffentlich erhalten bleiben wird. Seine Räume genügten schon längst nicht mehr den Anforderungen einer großstädtischen Verwaltung, so daß eine Anzahl anderer Gebäude und Räume außerhalb des Rathauses zur Benutzung herangezogen werden mußte.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für jung und alt.

Waldmosaik. Zu diesen sehr hübschen Arbeiten verwendet man Schuppen der Tannenzapfen, Eicheln, Bucheckern, Walnuß- und Haselnußschalen, Kastanien, Lindennüßchen, Lerchenzapfen, Kätzchen der Erle, Zapfen der Kiefer und ähnliche Sachen. Der Rand des Gegenstandes wird gewöhnlich mit den Schuppen der Tannenzapfen und die Mitte mit den oben angegebenen Gegenständen verziert. Die Zwischenräume werden mit Moos und Flechten ausgefüllt. Nachdem der Leim gut trocken ist, wird der ganze Gegenstand lackiert. Schmetterlinge und Käfer, die auf der Arbeit befestigt werden, erhöhen die Wirkung bedeutend.

Waldmosaik: Bilderrahmen.

Waldmosaik: Rauchservice.

Der Bilderrahmen. Als Grundlage dient ein Rahmen aus nicht zu dünner Pappe. Auf diesen werden zunächst die Schuppen der Tannenzapfen durch Aufkleben mit dickem Tischlerleim, oder durch Aufnähen mit Zwirn befestigt, so daß die Spitzen über den Rand der Pappe etwas hervorragen. Die Schuppen werden nur am unteren Ende so befestigt, daß die zweite Reihe die erstere zur Hälfte deckt. Der Mittelstreifen des Rahmens wird nun in buntem Gemisch mit Eicheln, Bucheckern, Kiefernzapfen etc. ausgefüllt, welche mit dickem Leim befestigt werden. Einzelne Punkte, zum Beispiel die Ecken oder die Mitten der Seiten, müssen durch einzelne größere Gegenstände, oder durch besondere Gruppierungen hervorgehoben werden, um dem Auge Ruhepunkte zu geben.

Rauchservice. Man schneidet ein Oval aus Pappe, leimt um den Rand desselben einen schmalen Pappstreifen, so daß das Ganze die Form eines Schachteldeckels erhält, und beklebt den schmalen Streifen außen mit dunklem Sandpapier. Der Behälter für die Cigarren rechts besteht aus einer Pappröhre und der Aschenbecker links, in den ein Blechgefäß gestellt werden kann, aus Baumborke. Außerdem wird noch ein Klötzchen zum Aufstecken der Streichholzschachtel befestigt. Der Boden des Rauchservice erhält am Rande zwei Reihen Tannenschuppen, die entweder an dem unteren Ende angeleimt oder aufgenäht werden. Dahinter liegt ein Kranz von Eicheln, Bucheckern etc. Der übrige Teil wird mit Moos bedeckt. Der Cigarrenbehälter erhält oben und unten eine breite Borte von Schuppen, während um die Mitte ein erhabenes Band von Nüssen, Kätzchen etc. als Sinnbild des Zusammenhaltens führt. Fr.     

Eine neue Handtasche. Unter dem Namen „Kolumbus“ erscheint neuerdings eine höchst praktische Handtasche im Handel – aus braunem Segeltuch bestehend, und von einer ansehnlichen Länge, wenn man sie ganz ausnützen will, dagegen in mehreren Etagen zu verkürzen und in ein ganz bescheidenes Täschchen umzugestalten, wenn man zum Beispiel vor dem Kommissionengang noch Besuche etc. zu machen hat.

Am Bügel der Tasche befinden sich kleine gut schließende Haken, an der Tasche in entsprechenden Abständen die Oesen dazu, so daß sie auf die Hälfte oder den vierten Teil ihrer Länge zusammengelegt und so befestigt werden kann. Auch als Reisetasche ist sie gut verwendbar, und in den größeren Reisebazars wohl überall zu haben.


Allerlei Kurzweil.

Damespielaufgabe.
Von A. Stabenow in Berlin.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und gewinnt.

Kreisarithmogriph.
Von Heinrich Vogt.

Werden die Zahlen obiger Figur durch die entsprechenden Buchstaben ersetzt, so nennen die einzelnen Kreis: O. eine physikalische Temperaturbestimmung, I. eine Frauengestalt aus der griechischen Mythologie, II. eine Stadt in Hannover, III. einen Vornamen, IV. einen französischen Opernkomponisten, V. eine Stadt in Spanien, VI. den Strom der Vergessenheit in der Unterwelt der Alten, VII. einen Papierstreifen, VIII. eine Stadt in der Provinz Posen, IX. ein Amphibium, X. eine Pflanze, XI. eine Pflanze, XII. einen der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Der Kreis O. enthält die Anfangsbbuchstaben der Wörter der übrigen Kreise.


Quadraträtsel.

Die Buchstaben sind so zu ordnen, daß in den wagerechten Reihen bekannte Wörter von folgender Bedeutung entstehen: 1. ein männlicher Vorname, 2. die Hauptstadt eines deutschen Fürstentums, 3. ein schmaler Landstrich zwischen Meeren, 4. ein Thal in den Alpen, 5. eine Stadt in Mittelitalien, 6. eine Stadt in der Rheinprovinz, 7. ein Verwaltungsbezirk eines größeren Staates. – Nach richtiger Lösung nennen die Buchstaben in den Feldern mit fettgedruckten Buchstaben einen Berg in Asien. A. St.     


 Wechselrätsel.
Ob ihr ein kleines Wort wohl kennt.
Das einen großen Landstrich nennt?
Steht in der Mitte ein n statt a,
Dann nennt ein Tier es in Afrika.
 F. Müller-Saalfeld.


 Rätsel.
Ob Stellungen, Federn, Provinz und auch Stadt –
Ob all das wohl eine Bezeichnung nur hat?   E. S.


[708 b] Königszug.

Worträtsel.

Das Rätselwort als die Mehrzahl steht Im deutschen Walde, vom Wind durchweht; Die Wurzeln weit in den Boden dringen, Im grünen Laubdach die Vöglein singen.

Als die Einzahl findet dasselbe Wort Ihr auch im Wald – in dem Busche dort! Es ist so niedlich, unscheinbar und klein, Doch schließt etwas Wunderbares es ein.

Als Eigenschaftswort auch ist bekannt Dasselbe Wort in dem deutschen Land: Das Hausgerät ist’s mit hellem Schimmer In manchem Speise- und Herrenzimmer. F. Müller-Saalfeld.

Bilderrätsel „Wappen von Tirol“. Von Al. Weizelbaum.

Umstellungsaufgabe.

Man stelle die Buchstaben eines jeden der nachfolgenden zwölf Wörter um und bilde daraus ebensoviele neue Wörter: 1. Norden, 2. Niere, 3. Garde, 4. Hafen, 5. Borste, 6. Reval, 7. Minka, 8. Natur, 9. Roman, lO. Augen, 11. Serbe, 12. Breslau.

Die Anfangsbuchstaben der neugebildeten Wörter nennen alsdann, in der hier gegebenen Reihenfolge gelesen, den Titel einer bekannten Oper. Oscar Leede.

Auflösung des Wechselrätsels aus dem Umschlag von Halbheft 21. Schale, Schalk, Schall.

Auslösung der Charade auf den Umschlag von Halbheft 21. Herbstzeitlose.

Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 21. Im Trüben ist gut fischen.

Äuflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 21. Rom.

Auflösung der Dominopatience auf dem Umschlag von Halbteft 21.

Gartenlaube-Kalender 1900. Mit einem farbigen Kunstblatt von Hugo Engl u. zahlreich. Illustrationen in Bunt- u. Schwarzdruck. Fünfzehnter Jahrgang.

Preis im elegantem Ganzleinenband 1 Mark.

Der „Gartenlaube-Kalender“ für das Jahr 1900 enthält u. a. die neueste Erzählung von W. Heimburg: „Originale“ ansprechende und humorvolle Novellen von Dora Duncker und Ernst Muellenbach, unterhaltende und belehrende Beiträge von Dr. Otto Dornblüth, Friedrich Arnold u. a., ferner zahlreiche Illustrationen von hervorragenden Künstlern, Humoristisches in Wort und Bild und viele praktische und wertvolle Kalendernotizen und Tabellen zum Nachschlagen bei Fragen des täglichen Lebens.

Bestellungen auf den Gartenlaube-Kalender für das Jahr 1900 nimmt die Buchhandlung entgegen, welche die „Gartenlaube“ liefert.

Die Jahrgänge 1887–1898 des „Gartenlaube-Kalenders“ haben wir bis auf weiteres im Preis herabgesetzt und zwar liefern wir dieselben, solange die Vorräte reichen, in rote Leinwand gebunden zum Preise von je 50 Pfennig.

Ernst Keil's Nachfolger G. m. b. h. in Leipzig.

Was ist Sapolio?

Es ist ein festes, schön aussehendes Stück Reinigungs-Seife, welches an Güte durch kein anderes, Reinigungszwecken dienendes Material übertroffen wird. Wer es gebraucht, lernt seinen Werth schätzen.

Was erreicht man mit Sapolio?

Dasselbe beseitigt Oelflecke, giebt dem Wachstuch Glanz und bewirkt, dass Fussböden, Tische und Schubladen wie neu erscheinen; es entfernt Fett von allen Küchen-Geräthschaften, Töpfen und Pfannen; Messer und Gabeln sowie alle zinnernen Geräthe werden nach seinem 6ebrauch wie neu erseheinen.

Waschtische, Badewannen, ja selbst die Abzugsröhren von der Küche sehen wie neu aus nach dem 6ebrauche von Sapolio.

ein einziges Stück genügt, um unsere Behauptung zu beweisen. Seid verständige Hausfrauen und macht einen Versuch damit.

Hütet euch vor Verfälschungen! Es existiert nur eine Sorte von Sapolio hergestellt von Enoch Morgan's Sons Co. New York. U.S.A.

Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.