Die Gartenlaube (1899)/Heft 20
[612 c]
20. Heft. | Preis 10 cents. | 26. September 1899. |
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Seite | ||
Die Mondscheinfee. Gedicht von Karl Vanselow. Mit Abbildungen | 613 | |
Der König der Bernina. Roman von J. C. Heer (1. Fortsetzung) | 616 | |
Stift Neuburg Bei Heidelberg. Von Lorenz Werner. | ||
Mit Abbildungen und Bildnissen | 625 | |
Ein deutsch-amerikanischer Nationalfeiertag. Von Rudolf Cronau. | ||
Mit Abbildungen | 629 | |
Politische Blumensprache. Von Rudolf Kleinpaul. | 631 | |
Das lebende Bild. Erzählung von Adolf Wilbrandt (Schluß) | 632 | |
Neue Gedichte von Anna Ritter. Meine Kinder. Zwischen Erde und Himmel | 607 | |
Die Reichswaisenhäuser. Von Johannes Freudenberg | 607 | |
In Straßburg vor hundert Jahren. Von Dr. Emil Rechert. Mit Abbildung | 608 | |
Blätter und Blüten: Karl v. Weizsäcker † (Mit Bildnis.) S. 639. – Warum sin die Gewitter jetzt häufiger als früher? S. 639. – Am Kreisfeuer im Bivouac. (Zu dem Bilde auf S. 617.) S. 639. – Maskentänzer in Neu-Mecklenburg (Mit Abbildung.) S. 642. – Der Misurinasee. (Zu dem Bilde S. 621.) S. 642. – Was kostet die Pferdekraft? S. 642. – Das Pape-Denkmal für Brilon. (Zu dem Bilde S. 643.) S. 642. – Der schönste Ruderpreis. (Zu dem Bilde S. 637.) S. 643. – Deutschlands merkwürdige Bäume: die „tollen Buchen“ bei Remilly. Von Adolf Fischer. (Mit Abbildung.) S. 643. – Sonntagnachmittag vor dem Bahnhof Halensee-Berlin. (Zu dem Bilde S. 640 und 641.) S. 643. – Das alte Rathaus in Dortmund nach seiner Erneuerung. (Mit Abbildung.) S. 644. – Das Lichterfest der Hindufrauen. S. 644. – Botticellis Madonna aus der Sammlung Chigi. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 644. | ||
Illustrationen: Abbildungen zu dem Gedicht „Die Mondscheinfee“. S. 613, 614, 615. – Am Kreisfeuer im Bivouac. Von W. Püttner. S. 617. – Der Misurinasee. Von Alfred Enke. S. 621. – Abbildungen zu dem Artikel „Stift Neuburg bei Heidelberg“. Stift Neuburg. Das Eingangsthor zum Stiftshof. Alte Grabplatte einer Stiftsäbtissin. Das Stift vom Neckar aus gesehen. S. 625. J. W. v. Goethe. Von G. v. Kügelgen. S. 627. Marianne v. Willemer. 1819. Marianne v. Willemer. 1836. S. 628. – Abbildungen zu dem Artikel „Ein deutsch-amerikanischer Nationalfeiertag“. Von Rudolf Cronau. Ein Auswandererschiff am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Siegel von Germantown. S. 629. Bilder aus Alt-Germantown. S. 633. – Der schönste Ruderpreis. Von C. Tito. S. 637. – Karl v. Weizsäcker †. S. 639. – Sonntagnachmittag vor dem Bahnhof Halensee-Berlin. Von J. G. Akermark. S. 640 und 641. – Maskentänzer in Neu-Mecklenburg. S. 642. – Das Pape-Denkmal in Brilon. S. 643. – Deutschlands merkwürdige Bäume: „tolle Buche“ bei Remilly in Lothringen. S. 643. – Das alte Rathaus in Dortmund nach seiner Erneuerung. S. 644. |
Robert Bunsen †. Der berühmte Chemiker Bunsen, der seit 1852 der Universität Heidelberg zur Zierde gereichte und am 16. August dort verschied, hatte das hohe Alter von 88 Jahren erreicht. Im Jahre 1889 war er von seinem Lehramte zurückgetreten, in dem ihm Viktor Meyer folgte. Aus seinem Laboratorium ist eine Reihe der folgenreichsten Entdeckungen hervorgegangen, welchen unsere Naturerkenntnis, vielfach aber auch die Industrie bedeutende Förderung verdankt. Von unberechenbarer Tragweite ist die 1860 von ihm mit seinem Freunde J. Kirchhoff gemachte Entdeckung der Spektralanalyse, die er mit letzterem in der Schrift „Chemische Analyse durch Spektralbeobachtuugen“ niederlegte.
Bunsen hat uns gelehrt, die entferntesten Körper im Weltenraum ihrer Substanz nach zu erkennen. Von größtem Werte waren seine Untersuchungen über das Gesetz der Gasabsorption, über den Einfluß des Drucks auf den Erstarrungsprozeß geschmolzener Materien, über die Verbrennungserscheinungen der Gase. Gleiches läßt sich seinen Arbeiten über die elektrolytische Gewinnung der Alkali- und Erdalkalimetalle und seinen photochemischen Untersuchungen nachrühmen. Bunsen ist der Erfinder des Gasbrenners; er entdeckte das Aluminium und das Magnesiumlicht. Der berühmte Chemiker stammte aus Göttingen. Dort, dann in Paris, Berlin und Wien studierte er Naturwissenschaften im weitesten Umfange. Seine Laufbahn als akademischer Lehrer begann er 1833 in seiner Vaterstadt. 1836 wurde er Professor der Chemie am Polytechnikum zu Kassel, 1838 bis 1851 wirkte er in gleicher Stellung in Marburg. Nach kurzer Thätigkeit in Breslau folgte er dann dem Rufe nach Heidelberg.
Karl du Prel †. Der geistvolle Schriftsteller Karl du Prel, der mit seltenem philosophischen Feinsinn die Fragen des „Spiritismus“ zu behandeln gewußt hat, ist am 4. August in Heiligkreuz bei Hall in Tirol nach kurzen Leiden verschieden. Er war am 3. April 1839 in Landshut geboren, wurde in der bayrischen Armee Offizier, machte den Krieg gegen Frankreich mit und ließ sich 1872 seiner angegriffenen Gesundheit wegen pensionieren. Schon als Leutnant hatten ihn die dunklen Probleme des Seelenlebens, mit denen sich der „Occultismus“ beschäftigt, mächtig angezogen. Aus ihrem Studium machte er nun seinen Lebensberuf. Auf Grund einer geistvollen Abhandlung über den Traum wurde er in Tübingen zum Doktor promoviert. Der Hang seines Gemüts zu mystischen Vorstellungen hat freilich den reinwissenschaftlichen Wert seiner Studien und Darlegungen beeinträchtigt, aber daß er bei denselben stets vom Drange nach Wahrheit geleitet, von reichen Geisteskräften unterstützt war, ist auch von seinen wissenschaftlichen Gegnern stets anerkannt worden.
Aufsehen erregte er gleich mit seiner ersten polemischen Schrift „Der gesunde Menschenverstand vor den Problemen der Wissenschaft“, die 1872 erschien. Von seinen Werken sind besonders bekannt die „Entwickelungsgeschichte des Weltalls“ (1882), „Die Philosophie der Mystik“ (l885), „Justinus Kerner und die Seherin von Prevorst“ (1886), „Die monistische Seelenlehre“ (l888), „Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften“ (1894), „Die Magie als Naturwissenschaft“ (1899) und der 1891 zuerst erschienene hypnotisch-spiritistische Roman „Das Kreuz am Ferner“, welcher 1897 eine zweite Auflage erlebte. In diesem eigentümlichen Roman, der die Mitglieder einer Familie unter dem Einfluß der rätselhaften Erscheinungen schildert, welche der Spiritismus für erwiesen betrachtet, hat du Prel auch ungewöhnliches poetisches Talent offenbart.
Scherbenmosaik. Es heißt: „Schöne Krüglein geben schöne Scherben“. Wenn eine feine japanische Tasse zersprungen ist, so hält die Hausfrau sie nochmal wehmütig zusammen und sagt: „So war’s.“ In Holland aber haben sie eine Art, solche Scherben noch zu einer recht netten Dekoration zu verwenden; besonders die jüngeren Meisjes (Mädchen) machen das mit viel Geschick. Erst sammeln sie die kleinen bunten Scherben; ist ein Rest noch zu groß, so wird er in kleine Stücke zerschlagen; ganz kleine Muscheln und Glasperlen sind dazu verwendbar.
Ist ein genügender Vorrat beisammen, so nimmt man zum Beispiel irgend ein kleines Thongefäß her, das man mit einer Schicht von Glaserkitt 1/3 bis 1/2 cm dick überzieht, welche ringsum fest anzudrücken ist.
Ehe sie hart wird, preßt man nun die bunten und blaugemusterten Stückchen hinein, daß sie dicht nebeneinander zu liegen kommen; im Anpressen tritt zwischen den Kanten der Kitt ein wenig vor und bildet so eine Art Umrandung. Die kleinen flachen Muscheln und Perlen verwendet man dazwischen, wie es eben kommt, erstere mit der Wölbung nach außen. Darauf muß alles gut und fest trocknen, ehe man mit spitzem Pinsel die stehengebliebenen Ränder von Kitt vergoldet. Für kleine Gegenstände – Rauchschälchen, Außenseite einer Knäuelschale, kleine Thonvase etc. – ist diese Scherbenmosaik allerliebst; an großen Blumentopfbehältern und Vasen, die man zuweilen damit dekoriert sieht, wirkt sie etwas unruhig und kleinlich. J.
Karbolineum ist seiner konservierenden Eigenschaften wegen beliebt, dem Pflanzenwuchs aber äußerst schädlich. In seinen Ausdünstungen kann keine Pflanze leben. Gewächshäuser, Frühbeetkästen, die mit Karbolineum angestrichen werden, sind völlig unbrauchbar, weil nichts darin gedeiht. – Auch die Spalierwände in sehr der Sonne ausgesetzten und warmen Lagen sind auf Jahre hindurch zur Bepflanzung untauglich, wenn sie mit Karbolineum gestrichen wurden. Selbst Baumpfähle soll man nicht frisch gestrichen verwenden. Erst wenn sie im gestrichenen Zustande über Winter im Freien gelegen haben, steht ihrer Benutzung nichts entgegen. Viel besser ist es aber, Baumpfähle mit Kupfervitriol oder Kreosot zu imprägnieren. Dies kann allerdings nur geschehen, solange die Pfähle noch frisch und grün sind, weil die Flüssigkeit nur dann das Zellgewebe durchzieht.
Raffen von Gardinen. Sehr elegant wirken zum Raffen der Gardinen farbige seidene Bänder oder shawlartige Streifen aus weicher indischer Seide, die in graziöser, oft rosettenartiger Schleife mit mehr oder minder lang herabhängenden Enden zu ordnen sind, und deren Farbe sich natürlich der übrigen Zimmereinrichtung harmonisch anpassen muß. Praktisch ist es, die Schleife fest zu arrangieren und das um die Gardine gelegte Band unter derselben mit Haken oder Druckverschluß zu befestigen. Bei den modernen Gardinen mit glattem oder nur wenig gemustertem Fond und schöner Spitzen- oder Bortenverzierung am vorderen und unteren Rande rafft man häufig nur den hinteren Rand durch einige Falten, die durch die Bandschleife gedeckt werden. Zuweilen läßt man derartige Gardinen auch ganz glatt niederfallen, sie verlangen dann allerdings ebenfalls glatt niederfallende Uebergardinen mit Lambrequin und können, mit Zugvorrichtung versehen, zugleich die Stores ersetzen.
[612 e]
Die Mondscheinfee.
„… Ihre Spur ist von Silber, ihr Hauch von Duft,
Wo sie geht, füllen schimmernde Wolken die Luft,
Wo sie ruht, ist die Erde wie Blütenschnee –
So schön, so schön ist die Mondscheinfee.
Und sie wohnt, einem Traum, einer Königin gleich,
Hinter den Hügeln in heimlichem Reich.
Schwanenstill steigt sie bei Nacht empor
In dem schneeweißen Kleide von seidenem Flor,
Um die Stirn eine Krone von herrlichem Gold,
Das Haar wie ein blinkender Schleier so hold.
Und hinter den Hügeln wer da sie schaut,
Wenn die Mitternacht auf die Felder taut,
Den küßt sie und hält sie heimlich im Arm,
Und das Herz wird ihm weit und wohlig und warm,
Und der irdischen Wünsche alltägliches Weh,
Er vergißt’s bei den Küssen der Mondscheinfee …“
Es lauschten die Kinder mit offenem Munde,
Wie die Muhme erzählte die Märchenkunde.
Mit glänzenden Augen, mit glühenden Bäckchen
An die Alte geschmiegt in dem lauschigen Eckchen,
Die sich selbst wie ein Kind ihrer Worte freute,
Saßen sie da, von den Märchen entzückt.
Lange nicht klang es so schön wie heute,
Lange nicht waren sie so beglückt.
Und die Muhme erzählte und hielt nicht ein;
Sie war ja heut mit den Kleinen allein,
Und sie dachte nicht mehr, wie der Vater gescholten,
Wenn die Kinder so spät noch ein Märchen wollten:
„Das bekommt euch nicht gut!“ – und er hatte wohl recht –
„Das regt euch nur auf und dann schlaft ihr mir schlecht.“
Aber heut waren Vater und Mutter fort,
Bei Verwandten zur Hochzeit im nächsten Ort.
Und die Kuckucksuhr hatte schon Zehn geschlagen,
Da hörte die Muhme noch immer nicht auf,
Und immer noch wußte sie Neues zu sagen,
Und die Kinder lauschten begierig darauf.
Nur dem Schwesterchen wurden die Wimpern schwer,
Und bald nickte das Köpfchen und hörte kein Wort,
Da half auch dem Bübchen kein Betteln mehr,
Sie mußten beide ins Nestchen fort.
Und im Bettchen noch seufzte der Junge: „O weh,
Erzähl’ doch noch mehr von der Mondscheinfee!“
* * *
Ihre Spur ist von Silber, ihr Hauch von Duft –
Was liegt wohl da draußen so weiß in der Luft?
Was scheint wohl so wunderschön hell durch die Scheiben?
Was läßt ihn in seinem Bettchen nicht bleiben?
Muhme und Schwesterchen schlafen so tief …
War es ihm nicht, als ob es ihn rief?
Er lauschet – was hat er von draußen vernommen?
Warum will ihm nicht der Schlummer kommen?
Nun klettert er sacht aus den Kissen hervor –
Was schwebt vor ihm her wie ein schneeweißer Flor?
Was will von da draußen ihm winken? ihn grüßen?
Er trippelt zum Fenster mit hastigen Füßen,
Er schaut in die Nacht – was macht sie so licht?
War es ihm nicht wie ein weißes Gesicht? …
Da liegen die Felder wie weißer Traum,
Er traut seinen offenen Augen kaum,
Die Bäume im Hof sind wie Wolken von Schnee –
Steht sie nicht da, die winkende Fee? …
Er schleicht sich zur Thüre, sacht, ganz sacht,
Er klinkt sie auf, – nun hinaus in die Nacht,
Im bloßen Hemdchen, im bloßen Haar,
Barfuß hinaus; … da, da, was war
Zwischen den Bäumen so seltsam licht?
War da nicht deutlich das weiße Gesicht?
Aber schneeweiß ist die ganze Nacht.
Ueberall schimmernde, wolkige Pracht.
Ueberall weiße, mondhelle Luft.
Ueberall süßer, berauschender Duft.
Und er läuft auf das Feld, das noch heller ihn lockt,
Ueber und über schneeweiß beflockt …
Und es winken die Hügel hinaus auf die Heide,
Ueber und über wie schimmernde Seide …
Und er läuft mit fliegenden, flatternden Haaren
Durch das Gras und die lichtweißen Blumenscharen.
Wo ist sie, die schöne, die schimmernde Frau? –
Es kühlt ihm die Füßchen der nächtige Tau.
Ihm ist in dem Hemdchen so luftig und leicht.
Schon hat er die Spitze des Berges erreicht,
Da – welche blendende, neue Pracht
Winkt ihm von unten herauf durch die Nacht?
Ein schönerer Mond, als am Himmel steht,
Schimmert und glänzt und wiegt sich am Grunde.
Und ihm ist, er hört eine rauschende Kunde …
Wie ein Wiegenlied weich, wie ein Lied von dem Munde
Seiner Mutter kommt es heraufgeweht.
Und bald scheint’s wie ein wunderbar silberner Schwan,
Bald wird’s wie ein blinkender, schaukelnder Kahn,
Bald ringelt sich’s goldig mit leuchtenden Locken,
Bald lösen sich tausend weißflimmernde Flocken,
Bald winkt’s wie ein Leib, lichtlieblich wie Schnee –
Das ist sie, das ist sie, die Mondscheinfee!
Und das Kind, halb wachend und halb im Traum,
Was es thut, was es will, schon weiß es das kaum.
Schon sinken die Augen ihm müde und schwer,
Doch es läuft noch und läuft … Kaum sieht es mehr
Da unten die winkende, blinkende Pracht.
Den Hügel hinab durch die schneeweiße Nacht
Läuft es und läuft – und es flattern im Winde
Sein bloßes Hemdchen, sein bloßes Haar,
Und es kennt nicht die schlimme, die tiefe Gefahr …
– – – – – – – – – – –
Helf' Gott dem schuldlosen Kinde!
* * *
„Nun schlafen wohl beide im traulichen Stübchen,
Das holde Prinzeßchen, das herzige Bübchen …
Ach, Liebste, wie sind wir so reich, so reich!
Welch Glück auf der Erde kommt unserem gleich?“
Und der lieblichen Frau in dem weißen Gewand,
Die neben ihm sitzt in dem stattlichen Wagen,
Streichelt der Gatte kosend die Hand,
Und feuriger läßt er die Schimmel jagen.
Aber schweigsam steht sie, gedankenschwer,
Und lehnt ihren Kopf an des Liebsten Wange.
„Ich weiß nicht, wo kommt nur die Angst mir her?
Mir war schon den ganzen Tag so bange …“
Sie schaut in die Nacht, auf die Felder und Hügel.
Lautlos rollt, als trügen ihn Flügel,
Heimwärts der Wagen, der leichte, schnelle.
Jetzt, wo der Weg um die Berge biegt,
Kommt schon der See, der blinkende, helle,
Drin sich der Mond gespiegelt wiegt.
Da, was hält ihr die Augen, die stillen,
Plötzlich gebannt? – „Da, da, was schwebt
Drüben am Hügel? – Um Gotteswillen!
Sieh doch – sieh – das läuft ja – – das lebt!“
Eine Angst, ein Entsetzen durchfährt ihr die Glieder,
Da hält schon der Wagen, da springt sie nieder,
Und entgegen fliegt sie in ahnender Hast
Dem gefährdeten Kind – schon hat sie’s gefaßt –
Sie will schrei’n – doch in kaltem, eisigem Schrecken
In der Letzte bleibt ihr die Stimme stecken –
Zum Wasser hinunter kaum zwanzig Schritte,
Und wie schnell wär’s gescheh’n, das entsetzliche Weh!
Kaum hört sie des Kindes stammelnde Bitte:
„Küsse mich, küsse mich, Mondscheinfee!“
Wortlos hält sie den Liebling im Arm –
Da wird ihm das Herz so wohlig und warm,
Er wacht nicht, er träumt, – seine Augen sind schwer, –
Wer ihn hält, wer ihn trägt, er sieht es nicht mehr,
So unendlich wohl, so unendlich weich
Schläft er ein wie die Engel im Himmelreich. …
Und der Vater, noch kann er das Wunder nicht fassen,
Stumm steht er, von Schreck und von Freude bewegt;
Er fühlt, wie das Herz ihm hämmert und schlägt,
Von dem Kinde nicht mag er die Augen lassen.
Den Schlafenden küßt er mit wortlosem Munde,
Stumm drückt er dem Weibe zärtlich die Hand.
Sie aber, zum Himmel den Blick gewandt,
Betet zu Gott in der ernstesten Stunde,
Die sie im Leben je gekannt …
– – – – – – – –
Doch das Bübchen – das schläft auch zu Hause noch fest,
Und sie bettet es weich in ihr eigenes Nest,
Legt sich sacht ihm zur Seite in schweigender Lust,
Läßt den Liebling ruhn an der Mutterbrust.
Weiß webt es von Mondlicht im traulichen Zimmer,
Weiß leuchten die Linnen wie blumiger Schnee …
Und er träumt: er schläft unter Pracht und Schimmer
In den liebenden Armen der Mondscheinfee.
(1. Fortsetzung.)
Der Sommer ist gekommen.
Pfarrer Taß ist nach St. Moritz zu einer Konferenz gegangen. Cilgia sitzt am offnen Fenster, ein Buch auf ihren Knieen. Der Duft der Nelken, der Lieblingsblumen der Engadiner Frauen, strömt durch das Pfarrhaus, die Stille des Nachmittags brütet in dem mit Lärchen- und Arvenholz ausgetäfelten Gemach und webt um die einfach geschnitzten, mit Blumen bemalten alten Möbel.
Das Mädchen blickt vom Buche zu zwei alten Gemälden auf, die trotz der wurmstichigen Rahmen und obgleich die Farben im Lauf der Zeit nachgedunkelt sind, den vornehmsten Schmuck des Gemaches bilden und auf den ersten Blick die Hand eines Meisters verraten. Es sind zwei Gegenstücke.
Das eine stellt einen scharfgeschnittenen Männerkopf von asketischem Ausdruck dar. Die starkgebaute Stirn ist eisern, die Lippen sind schmal und hart, in den schwarzen Augen sitzt ein Funke Fanatismus, aber es liegt ein springender Zug geistiger Größe in diesem Kopf, der einem Manne zwischen den Vierzigen und Fünfzigen angehört. Die weiße Halsbinde und der Predigtrock verraten den protestantischen Pfarrer. Das Gegenstück ist ein wunderbar süßes und keusches Frauenantlitz mit allen Reizen der Jugend und tiefer Innerlichkeit. Ein einfaches Blütenkränzchen zieht sich über der reinen Stirn durch das dunkle Haar, die Stirn selber aber weist deutlich eine lange Spur von Narbenmalen, die das süße Gesicht etwas entstellen, doch in den mandelförmigen dunklen Augen liegt der Friede einer Verklärten.
In den untern linken Ecken beider Bilder stehen in Karminschrift einige Worte.
„Affligebat eam et subjectus est!“ („Er schlug sie und unterlag!“) lautete die des Männerbildnisses, „Amabat eum et vicit!“ („Sie liebte ihn und siegte!“) die des Frauenbildes.
Cilgia hing an den beiden Gemälden und konnte sich, wenn sie einsam war, andächtig in das der Frau vertiefen und über die merkwürdige Geschichte sinnen, die in den Sprüchen angedeutet war. Die meisten Besucher des Pfarrhauses aber glitten mit einem Wort oberflächlicher Teilnahme über die wertvollen Bilder hinweg. „So – so,“ sagten sie, „das sind Paolo Vergerio und Katharina Dianti, der erste reformierte Pfarrer von Pontresina und seine bessere Hälfte.“
Nur einer war gebannt wie sie vor dem hohen Liebreiz des Frauenbildes stehengeblieben und hatte die Augen fast nicht mehr davon lösen können: Markus Paltram, der vor einiger Zeit gekommen war und dem Pfarrer mit einem Wort des Dankes angezeigt hatte, daß er jetzt im Haus des Fischers Colani eingerichtet sei und seinen Beruf aufgenommen habe.
Cilgia hatte ihm versprochen, daß sie ihm die merkwürdige Geschichte des Paares erzählen werde. Aber seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen.
Von der Straße ertönte in die Nachmittagsstille, die mählich in die des Abends überging, plötzlich fröhlicher Gesang. Cilgia schaute neugierig hinab. Ein Trupp Heuer und Heuerinnen aus Tirol zog unter der Anführung eines langen, hagern Burschen, der die Sense auf der Schulter im Takte zu dem Lied regte, in das Dorf. Die Mädchen trugen grüne Troddelhüte, kurze Röckchen, bunte Mieder und weiße gesteifte Aermel und sangen, wie es die Sitte beim Einzug in die Dörfer fordert.
Der Anführer, der sich zwar noch als junger Bursch gebärdete, aber wohl schon gegen die Vierzig rückte, rief zu Cilgia empor:
„Jungfrau, wo wohnt denn Markus Paltram, der Schmied, und die Jungfrau Premont?“
„Die bin ich selbst und Paltram wohnt oberhalb des Dorfes in der Hütte, an der ein Wasserrad ist.“
„Ich danke Euch, ich wollte nur die sehen, die Sigismund Gruber gerettet haben.“
Damit zogen die Tiroler weiter.
„Ich gehe die Gloria und die Gioja abholen,“ rief Cilgia ein Stündchen später in die Pfarrküche, wo Rosina, die stämmige Magd, hantierte.
Das Mädchen schreitet auf dem rauhen Pflasterweg, der zwischen den alten Stein- und Holzhäusern von Pontresina hindurchführt, gegen das Kirchlein Santa Maria hinauf, das oberhalb des Bergdorfes einsam und verträumt am Wiesenhang unter dem Wald des Piz Languard liegt.
So thut sie jeden Abend. Den Strohhut am Arm, das Haupt frei, grüßt sie die Dörfler. Nur eben spürbar giebt sie sich vornehmer als die sonstigen Leute des Thals. Sie trägt ein ebenso einfaches Kleid wie die andern Mädchen, aber statt des roten Baumwolltuchs, das diese am Werktag in den Miederschnitt setzen, verwendet sie ein feines weißes Triestinergewebe, und die kleine Kunst genügt, daß man meint, sie sei immer in duftigem Sonntagsstaat.
Hinter ihr reden die Dörfler. Das Abenteuer von Fetan hat den günstigsten Ausgang genommen, den man sich denken kann. Obgleich es landauf, landab erzählt wurde, ist keine Klage aus Frankreich eingelaufen.
Und was für einen haben Cilgia Premont und Markus Paltram dem französischen Standrecht entzogen? Den jüngern Sohn des bekanntesten und reichsten Tiroler Händlers.
Man höre nur Säumer wie Tuons über den Vater des Flüchtlings erzählen: „Lorenz Gruber ist der Holzkäufer der Salzpfanne in Hall; die Leute im vordern Tirol nennen ihn deswegen nur den ‚Waldtöter‘, und es geht die Redensart, die Tannen fangen an zu zittern, wenn er durch einen Wald schreite. Dazu ist er in Handelssachen der Vertrauensmann tirolischer Klöster, und wenn auf den Straßen zwischen Landeck, Bozen und Tirano eine Fuhre geht und man fragt: ‚Wessen ist der Saum?‘ so lautet die Antwort immer gleich: ‚Lorenzen Grubers auf dem Suldenhof im Suldenthal.‘
Von dem Jungen freilich weiß man nur wenig – er hilft mit seinem Bruder dem Vater im Handel. Aber das weiß man, daß Sigismund Gruber kein Spion, sondern ein ehrlicher, tapferer Landstürmler gewesen ist.“
Davon plaudern die Leute, wenn Cilgia am Abend mit ihrem Buch zum Kirchlein Santa Maria emporwandert.
Vom ersten Tag an, da sie nach Pontresina kam, liebt sie das stimmungsvolle, altehrwürdige Gotteshaus, den Kirchhof darum her, über dessen Gräberterrassen Gras und Nelken fluten, und den weiten, friedevollen Blick der Aussicht.
Unter dem altväterischen Bergdörfchen rauscht, halb in Wald und Kluft verborgen, der Berninabach und stäubt seinen Wasserduft empor. Jenseits klettern die Tannen wie kämpfende Helden am jähen Felsen und hinter ihnen schimmern am Abend rosenrot die höchsten Spitzen des Berninagebirges, ein Riesenblumenkelch voll Schönheit und Duft.
Heute freilich sind die Berge nicht so klar, durch goldene Wolkenränder zieht die Sonne Wasser, die Spitzen sind umzogen mit blauem Rauch.
Cilgia sitzt auf dem Bänkchen am Thor und nicht weit von ihr gräbt der alte Mesner, das graue, dürre Männchen, ein frisches Grab. Es ist für einen Viehknecht, der lahm und nichts mehr nütze war.
Cilgia verbinden lieblichere Vorstellungen als die des Todes mit Santa Maria.
Unter dem steinernen Thorbogen des Kirchleins, der die Jahreszahl 1497 eingehauen trägt, ist jenes Liebespaar hindurchgeschritten, dessen Schicksal wie ihr eigenes Gedenken goldene Fäden zwischen Adria und Hochland zieht, Paolo Vergerio und Katharina Dianti, die vornehme Istrianerin, die nach Pontresina hinaufgestiegen ist, um die erste protestantische Pfarrerin des Ortes zu werden.
Und hier gedenkt sie ihrer eigenen sonnigen Kindheit zu Triest.
Ein Garten taucht vor ihr auf mit dunklem Lorbeer, spinnenden Rosen und wächsernen Kamelien, ein weißes Haus mit
[617][618] glycinenumwucherten Veranden, und durch Bäume und Gebüsche sieht sie die weißen Segel der blauen Adria. Weiße, schwankende Segel auf azurnem Grund! Wenn sie aber darüber in die Händchen patschte, so sagte die Mutter: „Schwälbchen, es giebt noch etwas, was weißer ist als die Segel, das sind die Firnen des Engadins. Und inniger als die Adria strahlen die Seen des Inns.“
Ja, wenn man durch die Thäler und das Gebirge wandern dürfte! Aber der Onkel ist so schwer beweglich, und allein läßt er sie nicht gehen.
Und jetzt kommt noch der alte Gruber mit einer Liebeswerbung für seinen Sohn.
Thorheiten, man reißt doch einen Landstürmler nicht deshalb aus Feindeshand, um sein Weib zu werden! Was geht mich der junge Gruber an?
Da tönte das helle Glingling eines Schmiedehammers in den Frieden des Kirchleins – Paltrams Hammer.
Sie machte eine rasche Bewegung, wie wenn sie eben jetzt auch etwas tüchtig angreifen möchte.
Dort unten, halben Weges zwischen der Kapelle und der Straße, die zum Berninapaß führt, steht die Hütte, die er mit Hilfe des Pfarrers erworben und in der er seine Werkstätte eingerichtet hat. Er hat das baufällige Haus mit eigner Hand ausgebessert, den raschen Wiesenbach an seine Mauern hingezogen und ein selbstgezimmertes kleines Wasserrad, das ihm den Blasbalg der Esse treibt, darein gesetzt.
Mit wahrer Wonne horcht Cilgia dem hellen Klingen des Hammers – nicht gerade weil es von Paltram kommt, sondern weil es die Stimme emsiger, nützlicher Arbeit ist, und ihre goldbraunen Augen glänzen.
Ja, so ein Schmied hätte sie auch sein mögen!
Der Mesner hat das Grab fertiggeschaufelt und hört, in der Grube auf den Spaten gestützt, ebenfalls dem Hammerschlage zu.
„Wenn nur die Maduleiner Geschichten nicht wären,“ sagte er, aus der Grube steigend, „so stände alles um Markus Paltram gut. Er gewinnt zusehends an Boden und Vertrauen und man lobt seine Arbeit. Fragt den Kronenwirt in Samaden. Der hat eine alte Uhr seit drei Jahren bald nach Cleven, bald nach Chur geschickt und sie ist nie ordentlich gegangen. Da giebt er sie Paltram. Und jetzt geht sie so gut wie die an der Kirche.“
„Und was spricht man in Madulein von Paltram?“ fragte Cilgia.
„Ja, das sind andere Geschichten,“ versetzte der Mesner.
„Wer war denn seine Mutter?“
„Ein merkwürdiges Weib. Hört nur: am liebsten spielte der Bube auf der Ruine Guardaval, die wie ein Raubvogelhorst über dem Dorf steht, und er schleppte auch seine jüngern Brüder dort hinauf, wo sonst niemand etwas zu suchen hat. Eines Tages nun sah man etwas Entsetzliches. Markus und sein Bruder Rosius schoben einen Sparren aus den Mauern der Ruine, legten ein Brett darüber und schaukelten darauf zwischen Himmel und Erde.“
„Ich denke, kühne Buben hat’s irn Engadin immer gegeben,“ neckte Cilgia den alten, bedächtig eifrigen Erzähler.
„Ja, aber jetzt die Mutter,“ mahnte der Mesner mit einer abweisenden Bewegung gegen die Unterbrechung. „Der Küfer legte einen Strick bereit, um die Buben zu züchtigen, wenn sie von dem Felsen herniederstiegen. Sein Weib aber klatschte in die Hände und sagte: Mann, sei kein Narr und freue dich, daß Rosius, der Feigling, die Schlafmütze, neben Markus ein beherzter Kerl wird? Und sie ließ den Buben nichts geschehen.“
„Diese Mutter gefällt mir,“ sagte Cilgia fröhlich, „erzählt mir mehr von ihr.“
„Damals, als das geschah,“ fuhr er fort, „war Markus noch ziemlich klein. Als er etwas größer war, brachte er von Guardaval herab häufig junge Vögel, die er zähmte. Einmal auch eine rotschnabelige und rotstrumpfige Bergkrähe, die ihm sehr lieb wurde. Denn wo er stand und ging, hüpfte sie ihm nach. Der Vater, der Küfer, aber hatte einen prächtigen gestreiften Kater und der fraß die Krähe auf. Markus unterdrückte seinen Zorn. Als aber der Kater beim Mittagstisch auf die Bank sprang, sich neben den Küfer setzte und miauend seinern Anteil vom Mahle heischte, legte Markus den Löffel auf die Seite. Er sagte kein Wort, packte das Tier am Hinterkopf und den hintern Läufen, streckte es, obgleich es die Krallen der Vorderfüße tief in sein Handgelenk verbohrte, so auseinander, daß es, ohne einen Laut von sich zu geben, verschied. Es in eine Ecke schleudernd, zürnte er: ,Da, Vater, habt Ihr Euern Maudi, er hat mir meine Krähe gefressen.‘ Der Grimm loderte in den Augen des Küfers, ebenso kurz erwiderte er: ,Du bist nicht mehr mein Sohn, Markus!‘ Von da an redeten sie kaum mehr ein Wort zusammen. Markus ging mit den Gemsjägern und war als halbwüchsiger Bube schon der beste Schütz im Engadin.“
„Das habe ich gehört,“ sagte Cilgia, „und auch wie er einem, arg verbrannten Kinde die Schmerzen gestillt hat. Was haltet Ihr von dieser Geschichte, Mesner?“
„Sie ist höchst geheimnisvoll,“ und er zuckte die Schultern, „es blieb aber nicht bei diesem einzigen Mal, sondern er hat seine heilende Kraft in Blick und Händereichen oft bewiesen. Man rief ihn häufig ins Dorf und in die Umgebung zu Kranken, er ging aber erst, wenn ihn seine Mutter bat. ‚Markus, versuch’s!‘ Dann ging er ohne Widerspruch.“
„Das ist ein schöner Zug an ihm,“ versetzt Cilgia warm.
Der Mesner hob belehrend den Zeigefinger: „Mutter und Sohn liebten sich, wie man das selten sieht, sie redeten nur mit den Augen und verstanden sich – sobald aber der Küfer den Markus sah, gab’s zwischen den zweien Feuer, und es war ein Glück, daß der Junge später nach Frankreich ging, sonst hätten sie eines Tages die Fäuste und Waffen gegeneinander erhoben, denn der Küfer erzählte jedem, der es hören wollte, Markus sei nicht sein Bub, sondern ein Camogasker.“
„Ein Camogasker,“ sagt Cilgia vorsichtig und gespannt, „ich würde gern einmal genau wissen, was das ist.“
Der Mesner kratzt sich in den dünnen Haaren: „Sprecht mit dem Pfarrer darüber, Fräulein. Er hat eher als ich die rechten Worte, es für so zarte Ohren wie die Euern zu stimmen.“
„Gut, so erzählt mir weiter,“ und Cilgia senkte den Kopf in einer kleinen Enttäuschung.
„Es ist merkwürdig,“ fuhr der Mesner fort. „Wie sich das Gerücht, daß er ein Camogasker sei, verbreitete, änderte sich sein Blick, der vorher wie der anderer Leute gewesen war. Man begann ihn zu fürchten. Seiner Mutter aber blieb er so ergeben, daß er sich ein Auge hätte ausstechen lassen, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Und seht, Fräulein, daran erkennt man nun die Söhne des Ritters von Guardaval – sie können, wenn sie wollen, für ein Weib alles thun, aber nie von einem Mann einen Rat annehmen. Sie werden groß im Leben, aber einmal müssen sie die schlagen, die ihnen die liebsten sind.“
„Das ist ja gräßlich!“ versetzt Cilgia erschreckt.
„Ich gehe, Fräulein,“ sagt der Mesner. „Ich möchte gegen Markus Paltram nicht unchristlich sein – ich ärgere mich aber, daß er in sechs Wochen nur zweimal zur Kirche gekommen ist. Seht, es kommt schon ein starker Wind!“
Damit nahm der Alte die Grabwerkzeuge auf die Schultern und ging grüßend dem Dörfchen zu. „Die Geißen müssen jetzt bald vom Berg steigen, sonst geraten sie in das Wetter, das hinter der Bernina rüstet.“
Cilgia setzt sich nachdenklich auf die Bank am Thor.
An das Gerede vom Camogasker glaubt sie nicht. Ihr kluger Vater hat dergleichen Dinge immer verworfen.
Sie steht auf und wandelt in tiefem Sinnen zwischen den Gräbern.
Der mutige Mann, dessen das Engadin bedarf, ist kein andrer als Markus Paltram – nicht etwa einer ihrer Freunde von Fetan – nein, Markus Paltram, der aus der Tiefe kommt. Da wachsen die starken Männer – auch ihr Vater ist aus einem verachteten Jungen der spätere Mann von großem Ansehen geworden. Aber für Markus wäre vorher eins nötig: Sonne, Sonne müßte man diesem einsamen und freundlosen Leben geben, es müßte ihn eine lieben, wie ihn seine Mutter geliebt hat. Dann würde er steigen!
Das helle Glingling seines Hammers tönt in ihre Träume – auf den Arven am Waldrand krächzen schon die Raben, die in den Bergwald heimwärts fliegen, und mit Geschell und Gemecker [619] kommen die fröhlichen Berggeißen, ihrer über hundert, schwarze, weiße und gefleckte, viele mit zwei, viele mit vier Hörnern, die meisten mit lustigen Bärten. Schon gesättigt, naschen sie immer noch, sie steigen auf jeden Felsblock, der am Wege liegt, und halten mit schalkhaften Augen Ausschau, und mit den Mutterziegen spielen die Zicklein.
Mit einem Strauß Löwenzahn und Disteln pflegt Cilgia Abend um Abend die Tiere zu empfangen. Sie hält ihn hoch, und wohl ein Dutzend umringen sie und haschen nach dem Büschel, den sie ihnen mutwillig vor den Mäulern wegzieht.
Gioja und Gloria, die Pfarrersziegen, drängen sich am nächsten an sie, sie haben gute Freundschaft mit ihr geschlossen, sie erwischen den Strauß.
Mit der Herde kommt Pia, die kleine braune Hirtin. Sie trägt einen durchlöcherten Strohhut, das Mieder ist über der jungen Brust unordentlich geknüpft, das rote kurze Röckchen ausgefranst, an den Füßen klappern die klobigen Holzböden, sie trägt einen leichten Bergstock und auf dem Rücken den mit Murmeltierfell überzogenen Speisesack.
Häßlich ist die Pia Colani nicht, aber eine wilde, böse Hummel. Gerade das reizt Cilgia, immer wieder mit ihr anzubändeln.
„Hast du Bericht von deinem Bruder Orland?“
„Gewiß habe ich,“ erwidert die Kleine stolz und mit funkelnden Augen. „Er schrieb aus Basel – er fährt auf einem Rheinfloß – ich weiß nicht, was das ist – nach Holland.“
„Und wie verträgst du dich jetzt mit deinem neuen Hausgenossen, dem Schmied?“
Pia macht eine komische Gebärde des Abscheus.
Sie ist die erbitterte Feindin Paltrams und hat sich gegen seinen Einzug ins väterliche Haus wie eine Wütende gesperrt, obgleich der Pfarrer dafür gesorgt hat, daß sie und ihre Großmutter darin wohnen bleiben können.
„Fräulein,“ zischt die Kleine mit ihrem Mund voll schöner Zähne, „eines Tages beiße ich Euch schon – was ich in Samaden gesagt habe, gilt! Ihr seid auch schuld, daß er da ist.“
Und sie schleudert wilde Blicke gegen Cilgia.
„Sei doch ein bißchen lieb, Pia!“ schmeichelt Cilgia mit herablassender Zutraulichkeit.
„Nein,“ schreit das Waldteufelchen, „der geht ja jede Nacht zu seinem höllischen Vater. Sobald die Dämmerung eingebrochen ist, hängt er das Gewehr um, und erst nach Mitternacht, oft erst gegen Morgen kehrt er zurück.“
Die Herde Pias drängt vorwärts, das Gewitter naht, das Gespräch findet ein rasches Ende.
Hinter Cilgia laufen die Pfarrersziegen gegen das Dorf und verwundern sich, daß ihre Freundin so karg an Wort und Scherzen ist.
Paltram zur Nacht heimlich in den Bergen? – Es mußte schon so sein, denn er schenkte in die Pfarrküche dann und wann Schneehühner oder Alpenhasen.
Und die schoß er nicht am hellen Tag, sondern eher im Mondschein, denn man sah nie, daß er seine Arbeit versäumte.
Dieses dunkle Wesen gefiel ihr nicht.
Als sie den Ziegen den Stall öffnete, fielen die ersten Tropfen und in den Bergen hallte der Donner.
Früh sank die Nacht herein. In der Stube erwartete sie der Pfarrer, der schon eine Weile von St. Moritz zurückgekehrt war, und reichte ihr, als sie eintrat, beide Hände.
„Viele Grüße von drüben, und darüber, daß ich dich nicht mitgebracht habe, regnete es Vorwürfe. Von Samaden her sind alle voll guten Sinns für dich! Und der alte Gruber aus dem Suldenthal ist bei Melcher eingerückt.“
Cilgia errötete.
„Er ist ein gewaltiger Mann an Leib und Seele,“ fuhr der Pfarrer fort. „Als er wünschte, dich kennenzulernen, lud ich ihn auf morgen Mittag zu uns als Gast ein. Ich denke – ich denke – –“
Mit fröhlichen Augen blinzelte der Pfarrer gegen Cilgia.
„Ihr führt mich jetzt schön in die Klemme,“ erwiderte sie, halb im Scherz, halb im Ernst. Der Pfarrer wollte eben etwas Scherzhaftes entgegnen, da fiel ein Blitz und Donnerschlag, daß es bis in den Ofenwinkel leuchtete und die Fenster zitterten.
Mächtig und prächtig zog das Gewitter durch die Nacht, und als sie aus dem Fenster blickten, sahen sie an der Bergwand jenseit des Berninabaches eine züngelnde Flamme. Der Blitz hatte in eine alte Arve geschlagen, sie brannte wie eine Fackel und beleuchtete die schroffen Felsen mit blutigem Schein.
„Ein Camogaskerfeuer,“ sagte der Pfarrer.
„Camogaskerfeuer? – Wißt Ihr, daß man Markus Paltram einen Camogasker nennt. Erzählt mir doch, was ist ein Camogasker?“
„Wegen Markus Paltram, Cilgia, möchte ich dir die Sage nicht vorenthalten.“
Er prüfte sie mit einem Seitenblick, räusperte sich, und während draußen das Nachtgewitter wütete, horchte Cilgia mit gespannten Sinnen der Erzählung.
„Es giebt,“ hob der Pfarrer an, „mehrere untereinander ziemlich verschiedene Fassungen der Sage, ich berichte sie dir in derjenigen, die aus dem Burgherrn von Guardaval keinen unbegreiflichen Wüterich macht, sondern sein Wesen zur Not erklärt. Danach hatte das Volk im Anfang großes Vertrauen auf den Ritter gesetzt, und leutselig lud er es zu den Festen auf sein Schloß, wo fahrende Sänger die Harfen schlugen. Eines Tages aber erfuhr er, daß er nicht der Sohn des Ritters sei, den er als Vater verehrte und der im Morgenland als Streiter für das heilige Grab gefallen war, sondern der Abkömmling eines gemeinen Mannes, des Kastellans. Den Kastellan ließ der junge Ritter über die Felsen werfen und die Gebeine der Mutter aus dem Grab. Sein Sinn wandte sich. Er haßte die Menschen: er ging oder ritt einsam durchs Gebirg, und in gottlosen Zornausbrüchen verlangte er die härtesten Frohnden von den Männern, in rauschender Leidenschaft die Opfer der Töchter des Landes, mit seinem Blick umspann er sie wie mit Zauber und vergiftete ihr Wesen, daß sie Vater, Mutter und Ehre vergaßen und sich selbst an den Burgweg setzten, damit er sie sehen möge.“
Da unterbrach plötzlich ein seltsamer Laut die Aufmerksamkeit, die der Pfarrer seinen eigenen Worten schenkte.
Zähneknirschend und blaß vor Zorn saß ihm Cilgia gegenüber.
„Gefällt dir die Sage nicht?“
„Nein, aber ich möchte sie jetzt doch ganz hören. Erzählt nur weiter, Onkel,“ versetzte sie mit blitzenden Augen.
„Es ist nicht mehr viel,“ erwiderte er. „Nachdem der Unhold eine Weile so gewütet und Elend über die Bevölkerung gebracht hatte, erschlug ihn ein Vater auf seinem Schloß. Seither ist der Ritter der gespenstische Wildjäger, der vornehmlich im Camogaskerthal haust, aber von Zeit zu Zeit über die ganze Bernina zieht. Mit Unglücksfällen auf den Alpen kündigt er sich an, mit Sturm fährt er daher, auf einem Pferdegeripp reitet er in Blitz und Donner, Tiergerippe sausen und rascheln vor ihm. Einmal im Jahr, zu Simon und Judä, aber mag’s geschehen, daß er sich wie ein Lebendiger aus brütender Sonne, aus wispernder Luft und steigendem Erdduft auferbaut und als ein höllisches Wunder vor Hirtinnen und Wildheuerinnen erscheint. Zuerst sehen sie nur zwei brennende Augen – sprechen sie nun nicht rasch ein Stoßgebet, so sind sie verloren. Seine Söhne sind’s, die man Camogasker nennt.“
Gepreßt und blaß fragte Cilgia: „Und was haltet Ihr, Onkel, von der Sage?“
„Ich habe Studien darüber gemacht, doch die Quellen sind zu spärlich, als daß sich über ihren geschichtlichen Wert etwas sagen ließe. Sicher ist nur, daß manche Zusätze erst später auftauchten, so der Glaube an die Camogaskersöhne. Er ging erst zur Zeit der Hexenverfolgungen, als Frauen im Wahnsinn der Folterqual bekannten, daß ihnen der Wildjäger erschienen sei, ins Volk über.“
In Cilgias Zügen stand die Ungeduld. „Was Ihr sagt, Onkel, ist wohl merkwürdig, aber ich meine nicht, welchen Wert die Sage für die Engadiner Geschichte hat, sondern ob Ihr einen tiefen Sinn darin findet!“ Der letzte Teil ihrer Rede klang fast herausfordernd, und etwas wie zürnende Kampflust stand in ihren Augen.
„Kind, Kind, was regst du dich wegen dieser alten Geschichte auf!“ Und der Pfarrer schüttelte den Kopf.
Cilgia aber erhob sich im Eifer der Jugend: „Spürt Ihr denn nicht, Onkel, was für eine blutige Demütigung diese Sage für uns Frauen ist. Ich würde sie anders erdichten!“
[620] Sie stand mit brennenden Wangen, so daß der Pfarrer über ihre Heftigkeit erschrak.
„Ich würde sagen: Als der Ritter die Schuld seiner Mutter erfahren hatte, zweifelte er wohl an der Hoheit der Frauen. Es wuchs aber ein Mädchen im Volk, das widerstand ihm und besiegte ihn mit seiner Liebe, seiner Standhaftigkeit und Reinheit.“
Ein herrliches Metall bebte in ihrer Stimme und erstaunt wie zu Samaden sah der Pfarrer zu seiner Nichte auf.
„Kind – was liegt alles in deinen siegreichen Augen!“ versetzte er erschrocken. „Cilgia, dich und dein Geschlecht habe ich gewiß nicht beleidigen wollen, als ich dir die Sage erzählte. Nein, gewiß nicht! –“
Sie streckte ihm mit einem guten Lächeln die Hand hin.
„Ich halte die Sage aber,“ fuhr der Pfarrer fort, „nicht für wertlos. Es giebt in unsern Bergen, in stillen Wäldern verborgen, abgründige Seen, abgründig sind die Spalten der Gletscher, Abgründe gähnen im Volk, und wenn du in der Geschichte Bündens blätterst, so wirst du die Gestalten schon erkennen, die den unerforschlichen Seen und den unergründlichen Spalten gleichen. Ueberall aber hat die Natur zu den Gefahren die Warnung gestellt: um die Seen ohne Grund schwankt das Ufer und der reine weiße Schnee der Berge flimmert, wo unter ihm die Eiskluft verborgen liegt, gelb und falsch. Solch eine Warnung ist die Sage von den Camogaskersöhnen, sie ist ein Schild, den die feine Witterung des Volks vor abgründigen Seelen erhebt.“
Cilgia war sehr ernst. „Ist es nicht auch denkbar, Onkel,“ fragte sie nachdenklich, „daß das Volk irrt, einmal Einem ungerecht das Wort ‚Camogasker‘ zuschreit und den Fluchfaden des Mißtrauens um ihn zieht? Dann sagt sich der Getroffene: Gut, wenn ihr mich zum Camogasker macht, so will ich einer sein! Und er geht in Wut und Verzweiflung hin und wird ein Abgründiger.“
„Es ist kein Fertigwerden mit dir, Kind!“ versetzte der Pfarrer.
Nichte und Onkel redeten noch lange in die Nacht. Die Brandfackel an der Bergwand war verloht, das Gewitter braute nur noch im Rosegthal.
„Und morgen kommt also Lorenz Gruber!“ sagte der Pfarrer zum Gutenachtgruß.
Am Morgen aber, an dem der alte Gruber kam, mußte sich Cilgia zuerst auf einen thörichten Traum besinnen.
Auf einer Alpe, über der ein schöner weißer Berg stand, gingen zwei Kinder, sie sangen und pflückten Bergveilchen und Soldanellen. Da sahen sie am Rand des Gletschers über der Alpe ein weißes Gerippe, das ein Gewehr quer über die Knie hielt, auf einem Felsblock sitzen und sich sonnen. Sie zeigten es einander, der Knabe aber sagte: „Was geht uns der dort oben an?“ Da reckte sich das Gerippe klappernd in die Höhe, wuchs und strahlte in der Sonne. In wildem Schrecken sprang der Knabe davon und vor den Augen des Kindes in den Abgrund. Da war der Stürzende plötzlich Paltram und sie das andere Kind. Und mit einem mitleidigen Lächeln, doch ohne tieferes Herzeleid, warf sie ihm eine Blume nach, daß er nicht einsam schlafe.
Das war der sonderbare Traum.
Der Gast aus Tirol ist da und hat von Cilgia schon seinen Uebernamen bekommen. Den „Erzvater“ nennt sie ihn im stillen bei sich.
Sein schwerer, prunkender Gurt mit dem reichen, silbergetriebenen Schmuck und die Thaler, die er statt der Knöpfe am Rocke trägt, haben ihren Widerspruch geweckt.
„Ja, und so ist’s halt gegangen. Wie’s auf allen Kirchen stundenlang gestürmt hat, da sind auch meine zwei Buben mit den Büchsen davon geeilt. Es war wohl so Pflicht. Der Aeltere, der Frau und ein Kind hat, ist zur rechten Zeit wiedergekommen – aber der Sigmund, das Büberl, nicht.“
Mit rollender Baßstimme, die seinem Bericht ein eigenartiges Gewicht und Ansehen gab, erzählte Gruber.
„Das Büberl?“ warf Cilgia drollig ein. „Er ist ja ein großer, starker Mann.“
Der Alte sah sie, den breiten, grauen Bart, der die Brust bedeckte, streichelnd, mit einem verwunderten Blick der von schweren, dreizackigen Brauen überschatteten Augen an, und der Pfarrer lachte für sich.
Cilgia aber that, als sähe sie die Furchen auf der mächtigen Stirne Grubers nicht, und blickte ihn mit ihren schönen, großen Augen schelmisch zutraulich an.
Da fuhr er fort: „Das Büberl, sage ich, Fräulein, weil er der Jüngste geblieben ist. Und mein Bub ist er halt sein Lebtag, sogar wenn er siebzig wird. Also, wir sitzen eine Nacht auf, zwei, warten auf ihn, beten, die Alte und ich, und je länger, je ängster ist uns worden. Und die Toten haben sie gebracht von Finstermünz herauf, Tag und Nacht, und wenn wieder eine Fuhre gekommen ist, so haben sie das Glöcklein geläutet. Und ich und meine Alte haben bei jedem neuen Stoß gedacht: Jetzt bringen’s ihn. Und der Pfarrer ist gekommen und hat gesagt: ,Lorenz Gruber, ich thäte die Kerzen für den Sigismund anzünden, er ist unter den sechs gewesen, die am Inn hinauf versprengt worden sind. Er wird ins Standrecht gekommen sein und wo er ruht, das weiß der im Himmel.‘ Dämlich ist mir worden und die Kerzen haben wir um sein Bett angezündet und doch keinen Toten gehabt.“
Der Erzähler mit seinem gemütswarmen Ton gefiel Cilgia immer besser. Nein, Lorenz Gruber war kein Protz – und teilnahmsvoll ruhten ihre Blicke auf dem derben Gesicht, das so viel Wärme nicht vermuten ließ.
„Ich liege so die vierte Nacht, schlafe nicht, denke an den Sigismund, wo ihn wohl der Boden deckt, die Alte schüttet in des Buben Kammer dem Herrgott ihr Herz aus und ich denke g’rad’: Es nutzt dir nichts! Da pocht es an die Thüre: ‚Mutter! Mutter!‘ – Es ist der Sigismund. Wir ziehen den Buben in die Stube, er hat den Kopf verbunden, die Wangen glühen im Fieber wie Rosen, aber er lebt. Geweint hat die Alte vor Freude. Drei Wochen ist er dann noch gelegen, ruhelos und sinnlos hat er geredet und ich und meine Alte haben gesagt: ,Jrre ist er worden von dem Vielen, was er erlebt hat.‘ Wie er aber wieder zu Verstand gekommen ist, hat doch alles Sinn gehabt, was er in den Fiebern zusammengeschwatzt hat. – Und was hat er geredet, Fräulein?“ unterbrach der Erzähler sich selbst und sah Cilgia vielsagend und mit gutem väterlichen Blick an; sie aber erhob sich etwas unsicher, machte sich mit dem Geschirr auf dem Tisch zu schaffen und war zum Rückzug in die Küche bereit.
Da legte Gruber seine schwere Pranze auf ihre leichte Hand. „Geht nicht, Fräulein, thut mir das nicht zu leid; ich bin ja eigens wegen Euch ins Engadin gekommen!“
Wie artig dieser alte Tiroler Bär bitten konnte, wie die gescheiten Augen aus dem verwetterten Gesicht leuchteten! Und jetzt reichte er ihr aufstehend die Hand.
„Ich will keine großen Geschichten machen, Cilgia. – Ich kann nicht gut ‚Fräulein‘ sagen, aber – –“
Da bebte die tiefe Stimme des Alten unsicher. Er ließ ihre Hand los und wandte sich ab und eine feierliche Stille entstand.
„Es geht mir halt, wie’s meinem Buben gegangen ist,“ sprach er, indem er sich gefaßt zurückwandte, „er hat gesagt, es sei ihm noch kein Muttergottesbild im Tirolerland so lieblich erschienen wie Ihr.“
Cilgia wußte nicht, wohin blicken vor Scham und Verlegenheit.
Der schwerfällige Gruber tappte zu seiner Geldkatze, schloß sie auf und wandte sich wieder an sie:
„Darf ich Euch das geben, Cilgia, es ist eine Arbeit des Goldschmiedes Jffinger in Innsbruck. Ich habe ein paar Worte für Euch dareingraben lassen.“
Und in seinen klobigen Fingern hielt er ihr ein kunstreiches Halskettelchen mit einem Medaillon hin, öffnete es behaglich, und sie las: „Cilgia Premont zum Andenken an eine Rettung in Fetan. Der dankbare Vater: Lorenz Gruber.“
Sie wurde rot, dann blaß, aber als er ihr die Kette mit väterlicher Freude um den Hals legen wollte, wehrte sie ihm:
„Es geht nicht, Herr Gruber, ich danke Euch vielmal, aber ganz bestimmt lehne ich das Geschenk ab.“
„Ihr weist es ab?“ grollte Gruber, und der Pfarrer mußte seiner Nichte zu Hilfe kommen.
Er meinte, er habe seiner Lebtag nichts Fröhlicheres erlebt
[621]
als den Kampf zwischen dem alten Schwerenöter und der fröhlichen Nichte. Denn man sah es Gruber wohl an, daß er eigentlich nur zu befehlen gewohnt war, und sich verwunderte, wie ein so junges Mädchen mit ihm zu spielen und ihm zu widersprechen wagte, aber er war ganz vernarrt in sie.
Sie jedoch war in gründlicher Verlegenheit und mußte einen Mann, den sie zuerst in Mädchenübermut zu leicht gewogen, ernst nehmen.
„Zwingt mich nicht, Herr Gruber,“ und in ihren Augen blitzte es; „ich würde Euch und mir selbst zürnen, wenn ich Euch nachgäbe. Verderbt mir die Erinnerung an Euch nicht durch ein aufgedrängtes Geschenk.“
Dabei blieb’s – der stolze Gruber mußte Kettelchen und Medaillon wieder in seine Geldkatze stecken.
Er murrte und grollte, sie aber heftete ihm eine Nelke ins Knopfloch und der Pfarrer verging fast vor Wohlgefallen an den beiden.
„Herr Gruber, Ihr seid daheim gewiß ein ziemlich strenger Herr, aber Ihr seht, ich bin so ein loser Vogel, den man nicht an ein Kettchen legen kann.“
Sie sprach es so lustig, daß er lachen mußte, und ihr in die sonnigen Augen blickend, sagte er: „Ja, die habt Ihr noch wie zu Puschlav!“
„Haben wir uns zu Puschlav schon gesehen? Ihr kommt mir auch so bekannt vor,“ fragte sie neugierig und ernster.
„Ja, ich besuchte einmal auf der Durchreise Euern Vater, den Podesta. Ich habe Euch gut in der Erinnerung.“
„Das ist merkwürdig,“ sagte Cilgia mit schelmischem Erstaunen, „so ein dummes Kind wie ich damals war!“
„Eben das war’t Ihr nicht,“ lachte der Tiroler. „Ich kam vom Gasthaus, die Lampe brannte auf Euerm Tisch, der Herr Podesta las und Ihr schriebt lange Rechnungen auf dem Papier. Ihr war’t, während wir redeten, sehr ernst, sehr fleißig. ‚Cilgi, es ist Zeit, daß du zur Ruhe gehst,‘ sagte Euer Vater. Ihr legtet ihm das Papier hin, ein Gutenachtkuß, wir plauderten weiter und während des Gesprächs prüfte Euer Vater die Arbeit. Da strecktet Ihr nach einer Weile noch einmal den Kopf durch die Thüre: ‚Vater, stimmt’s?‘ – ‚Ja, ja, Kind, du hast ganz gut dividiert,‘ antwortete er, eine drollige Kußhand noch, und verschwunden war’t Ihr.“
„Wie Ihr aber das alles noch genau wißt!“
„Das ist kein Wunder, Cilgia. – Ihr kamt mir damals wie eine kleine Hexenmeisterin vor. Wißt, der alte Gruber setzt seine Hunderttausende im Jahr um, ohne daß er auf dem Papier rechnet. Aber gewaltigen Respekt hat er vor denen, die’s können!“
„Wer führt Euch denn die Bücher?“ fragte Cilgia.
„Das ist das ganze Buch,“ sagte Gruber und strich sich über die breite, hohe Stirn, die in eine leichte Glatze überging. „So lange es hält, ist es gut, aber nachher – ja, da kommen meine Buben nicht mehr draus. Den Wirrwarr möcht’ ich nicht mit erleben.“
„Ich behielte nicht so viel im Kopf,“ meinte Cilgia.
„Ihr habt halt anderes drin! In drei oder vier Sprachen wechselt Ihr die Unterhaltung wie unsereiner Hut und Pelzkappe – das habe ich damals an dem kleinen Jungferchen auch schon gesehen. Ich aber habe, wenn ich ins Italienische komme, Mühe, mit den Händlern das Dringendste zu parlieren. Es haut mir’s nicht.“
„Es ist nicht unser Verdienst,“ antwortete Cilgia fröhlich, „daß wir Bündner mit den Sprachen leidlich durch die Welt gehen, sondern Gottes Güte. Kennt Ihr die Geschichte?“
Halb scherzhaft, halb ernsthaft und mit glänzenden Augen erzählte ihm Cilgia das alte Märchen vom Engel, der in die Thäler Bündens die Samen aller Sprachen schüttete.
Der alte Lorenz Gruber sagte: „Haltet zu gut, Cilgia, für das Fabulieren habe ich den Sinn nicht; es mag ja wohl schön sein für die, die es verstehen – aber Rechnen und Sprachen schätze ich, weil man damit auf dem Markt leichter zu Gulden und Dublonen kommt.“
[622] „Ihr seid aber ein Trockener,“ spottete sie.
„Ja, das sind wir allesamt auf dem Suldenhof. Das Gewerbe und das Geldzählen verstehen wir, in Kisten und Kästen haben wir’s auch. Und eben deswegen habe ich eine Idee.“
Er blinzelte Cilgia so gütig, so wichtig und vielsagend an, daß sie unruhig wurde.
„Herr Gruber,“ sagte sie lachend, „es ist draußen Sonnenschein – gegessen und getrunken haben wir – möchten wir jetzt nicht ein wenig spazieren gehen? Ihr wißt es vielleicht, daß der junge Büchsenschmied, der Euern Sohn über das Sesvennagebirge geführt hat, auch hier im Dorf wohnt – wollen wir ihm nicht Grüß Gott! sagen?“
„Bin ich einmal in Pontresina, so gehört es wohl zum Anstand,“ erwiderte der alte Gruber kühl und kratzte sich im Haar.
Um einem zu vertraulich werdenden Gespräch die Spitze abzubrechen, war sie auf den Vorschlag verfallen, mit ihm den Besuch bei Paltram zu machen; vielleicht suchte sie auch selbst eine unverfängliche Gelegenheit, einmal einen Blick in die Werkstatt Paltrams zu werfen.
Auf der Straße legte sie zutraulich ihren Arm in den des Gastes.
Das gefiel dem Alten über die Maßen, und stolzer war er wohl noch nie mit seinem schweren, langsamen Bärenschritt durch ein Dorf gegangen, der gewaltige Mann mit dem silbernen Gurt und dem wallenden Bart.
„Habt Ihr etwas gegen Paltram, daß Ihr seiner noch mit keinem Wörtchen gedacht habt?“ fragte Cilgia.
„Das nicht,“ erwiderte Gruber gelassen. „Es kränkte mich nur, daß er damals nicht in unser Haus getreten ist, obgleich er vor der Thüre stand; er hätte nicht so stolz zu sein brauchen. Denkt, wir haben nicht einmal gewußt, wie er hieß, bis ich ins Engadin kam.“
Da begegnete ihnen der Tiroler Bursche, der gestern die Schar der Heuer und Heuerinnen angeführt hatte; er zog auf einem Schlitten, wie sie im Gebirgsland auch im Sommer als Lastfuhrwerke üblich sind, ein Fuder Heu und grüßte verlegen. Ebenso knapp war der Gruß Grubers.
„Der Mann sprach heute früh mit mir von Euch,“ versetzte Cilgia.
Da zuckte der alte Gruber merkbar zusammen – er faßte sich aber und sagte gleichgültig:
„Es ist ein von mir entlassener Knecht, den ich ein paar Jahre zu lange im Hause gehabt habe – man kennt ihn unter dem Namen des Langen Hitz weit und breit. Zur Arbeit ist er tüchtig wie kein anderer, sonst ein Erzgalgenvogel.“
Im Lederschurz und dunkel bestaubt von der Arbeit, trat ihnen Markus Paltram, der junge Handwerker, stolz und bescheiden zugleich entgegen.
Cilgia stand etwas abseits von den Sprechenden und beschaute eifrig eine Zeichnung des Büchsenschmieds.
„Was wird denn das, Paltram? Ich werde nicht klug aus dem Riß.“
„Es ist eine Erfindung eigner Hand, Fräulein – ein neues Doppelgewehrschloß – einfacher und zuverlässiger, als man es bis jetzt hat.“
Und er erklärte ihr den sinnreichen Mechanismus.
Lorenz Gruber horchte seinen Worten mit Spannung zu und erwärmte sich sichtlich für Markus Paltram.
„Hört,“ sagte er plötzlich, „verfertigt mir ein Gewehr nach diesem neuen Plan – es ist für die Franzosen, wenn sie wieder ins Tirol einbrechen!“
Und Cilgia half ihm, den mißtrauischen Schmied, der in dem Auftrag ein Dankgeschenk witterte, zu bestimmen, daß er an die Ausführung gehe.
Ihrer Ueberredung gelang es.
Nach dem Besuch schritt sie mit dem alten Gruber gegen Santa Maria empor.
Aber ihr Gast war auffällig still.
„Wie gefällt Euch Paltram?“ fragte sie.
„Das ist’s eben, worüber ich nachdenke. Er ist anders, als Sigismund ihn mir beschrieben hat – ich glaubte, sein Führer sei ein ganz geringer Vagabund – nun ist es ja einer, dem man es von weitem ansieht, daß er im Leben vorwärts kommen wird.“
„Glaubt Ihr das wirklich, Herr Gruber?“ fragte Cilgia, lebhaft über das Lob erfreut.
Da stand er still und sagte mit großem Selbstgefühl:
„Ich schaue eine Tanne nur ein einziges Mal an, dann weiß ich, was sie wert ist, und anders halte ich es nicht mit den Leuten. Ein Blick, und sie sind abgeschätzt. Wartet, bis dieser Paltram Oberluft hat – der wird ein Mann, daß es eine Freude ist.“
Endlich ein gerechtes Urteil! dachte Cilgia und wurde vor Vergnügen rot.
Sie waren bei Santa Maria angekommen und setzten sich dort auf die Bank am Thor.
Der alte Gruber räusperte sich mehrmals, als steckte ihm etwas im Hals, dann sagte er ernst:
„Ich habe so eine Idee, Cilgia. Wenn meine Buben dazuschauen, so fehlt’s ihnen nicht an Geld und Gülten. Ich habe aber auf meinen vielen Reisen auch gemerkt, daß das noch nicht alles in der Welt ist, und darum thäte es mich halt gefreuen und wäre mein Ehrgeiz, wenn ich auf den alten kernhaften Gruberstamm ein frisches Zweiglein setzen könnte, so etwas Feines, Herrenmäßiges – so ein liebes Wesen wie Euch! Das gehört zum Geld und giebt dem Hause Ansehen.“
Cilgia brannten die Wangen – sie dachte an Flucht. Lorenz Gruber aber nahm ihre Hand.
„Der alte Gruber macht nicht wegen jeder eine so weite Reise, wie Euretwegen – – und Ihr dürft ihm schon Rede und Antwort stehen. – Mein Büberl ist vernarrt in Euch – der Vater ist’s auch – und weil der Herrgott es in Fetan so wunderbar gefügt hat und Ihr mir als kleines Mädchen schon so gut gefallen habt, sagt nicht Nein, Cilgia – werdet meine Schwiegertochter – wir werden Euch auf Händen tragen!“
Mühsam und bewegt sprach es der alte Mann.
Cilgia senkte zuerst die Augen, hob sie dann wieder und schaute ihm ruhig und fest ins Angesicht.
Ernst, doch freundlich sagte sie:
„Herr Gruber, ich danke Euch. Glaubt aber nicht, daß ich mich nur ziere, wenn ich Euch mit einem festen Nein antworte. Es ist mir ernst – ich bringe noch keine Heiratspläne in den Kopf.“
Sie sagte es halb verzweifelt, sie schaute ihn innig vertrauend und lieb an; ihre Augen baten, daß er sie verstehen möge.
Der alte Gruber aber schluckte und schluckte.
„Hat Euch der Lange Hitz etwas Nachteiliges von uns gesagt?“ grollte er halb zornig, halb gedrückt.
„Nein, gewiß nicht.“ Und Cilgia sah ihn erstaunt an.
Gruber fühlte es, daß seine Bemerkung eine Erklärung forderte.
„Mein Sigismund,“ sagte er, „ist ein braver und wackerer junger Mann, nicht gerade ein Stadtherr, aber doch sehr ansehnlich von Gestalt. Er ist tüchtig im Geschäft und trägt dem Gulden und dem Kreuzer Sorge, ohne ein Geizkragen zu sein. Ich habe aber den Fehler begangen, daß ich ihn zu früh unter die Knechte gab. Da hat ihn der Lange Hitz zu thörichten Jägergeschichten verführt, wie sie etwa unter Holzhackern gepflegt werden, wenn die Leute wochenlang sich selbst überlassen bleiben. Darauf jagte ich den Langen Hitz fort, und nun habe ich wohl nicht mit Unrecht den Verdacht, daß er mit seinem frechen Mundstück den Suldenhof nicht lobe.“
Nur mit Pein sagte es Gruber.
„Ich liebe die Jagd nicht,“ bemerkte Cilgia. „Das kommt von meinem Vater her.“
Da lächelte Gruber: „Sigismund habe ich die Lust dazu ausgetrieben – ich bin gegen meine Buben scharf wie ein Messer, wenn mir an ihnen etwas nicht gefällt.“
„Das glaube ich,“ erwiderte Cilgia, „aber lieb könnt Ihr gewiß auch mit ihnen sein.“
„Daß ich’s kann, Cilgia, da seid sicher! Ich möchte auch meinem Sigismund es von Herzen gönnen, wenn er ein feines, gutes Weib wie Euch bekäme. Und heute, als ich Euch sah, da war es mein höchster Wunsch, daß Ihr mir eine gütige Antwort gebt. Und nun lautet sie so!“
Der alte Gruber sagte es herzlich betrübt.
[623] Dann sah er Cilgia wieder hoffnungsvoll an:
„Oder darf ich Sigismund doch einmal zu Euch nach Pontresina senden?“
Cilgia antwortete mit leisem Kopfschütteln. Eine Weile darauf sagte sie: „Wir sollten, denke ich, ins Pfarrhaus zurückgehen!“
Sie zerbrach sich den Kopf, wie sie den alten Mann, den sie hatte enttäuschen müssen, fröhlicher zu stimmen vermöchte.
Als er sich zum Abschied rüstete, bestürmte er sie noch einmal, daß sie doch das Kettelchen mit dem Medaillon annehme, er werfe es sonst in den nächsten Bach.
„Damit Ihr nicht glaubt, daß ich ganz ungehorsam sei,“ sagte sie plötzlich in alter Schelmerei, und er legte es mit seinen klobigen Händen um ihren schönen Hals.
„Ich habe schon gedacht, daß Ihr gegen einen alten Mann nicht hartherzig sein könnt.“
Und in herzlicher Freude schüttelte er ihr die Hände mit so kräftigem Druck, daß sie meinte aufschreien zu müssen.
„Geb’s Gott,“ sagte er feierlich, „daß Ihr Euch auch im andern und wichtigern noch zu uns wendet. Auf Wiedersehen, liebe Cilgia!“
Als er mit dem Pfarrer jenseit des Berninabrückleins verschwunden war, ging sie, wie jeden andern Abend, die Pfarrersziegen abholen.
Aber sie war in gärender Erregung.
Nein, nein – es lebte nichts in ihrer Brust, was für den Flüchtling von Fetan sprach. Soviel sie damals zu erkennen vermocht hatte, war er ein junger Mann, wie Hunderte im Lande umherlaufen, wohlgewachsen, blaue Augen, hübscher blonder Schnurrbart. Nichts sprach für ihn, als daß er dieses Vaters Sohn war.
Und sie liebte ihre Freiheit und Unabhängigkeit.
Während sie so überlegte und träumte, kam von seiner Hütte her Paltram. Er hatte seinen Schurz abgelegt, trug Halbsonntagsstaat und über dem Rücken das Gewehr.
Er überraschte sie mit seinem „Guten Abend, Fräulein Premont!“ und als sie den Kopf hob, sagte sie mit einem Lächeln der Verwirrung: „Wie sich das trifft, ich habe eben an Euch gedacht“ und errötete ein wenig über ihre Worte. „Sagt, seid Ihr mit dem jungen Gruber unartig gewesen, als Ihr ihn über das Sesvennagebirge führtet? Das habe ich mich vorhin gefragt.“
„Gewiß nicht,“ sagte Paltram nähertretend, „nur einmal ist mir ein böses Wort entfahren – eins, das ich nicht bereue!“
„Erzählt doch,“ bat Cilgia.
„Wenn Ihr den jungen Gruber lieb habt, dann ist es nichts für Euch. Ihr wäret mir später gram,“ versetzte er düster.
„Ihr dürft herzhaft erzählen,“ sagte Cilgia. „Kommt, wir gehen etwas den Waldrand entlang.“
Und sie nickte ihm ungeduldig ermunternd zu.
„Drei Tage,“ erzählte Markus Paltram, „lag Gruber in schweren Fiebern zu Scarl; am vierten schleppte ich ihn mit aller Vorsicht über die noch schwer im Schnee begrabene Scharte, und jenseit der Höhe, auf einem Vorsprung, machten wir Halt. Tief unter uns lag in seiner Heide das Dorf Mals. Da sagte der Tiroler: ,Dort unten wohnt ein guter Freund meines Vaters, geht dort nur hinab und meldet im Herrenhaus, bei Baron Mont, daß ich da oben liege. Er wird schon für mich sorgen.‘“
„Baron Mont – er war einmal im Institut zu Fetan und ich mit a Porta einmal in Mals,“ unterbrach Cilgia den Bericht des Büchsenschmieds.
„Ja, der Baron möchte die Malserheide gern in Wiesen und Aecker verwandeln,“ versetzte Markus Paltram. – „Wir ruhten ein wenig und sahen in unserer Nähe an schneefreiem Hang ein Rudel Gemsen, die an einem nassen Felsen leckten. Ich sagte halb für mich: ,Das wäre ein Schießen!’ Da antwortet der Fiebernde, allerdings tief verwirrt: ,Da könnte man die Gabel stellen‘ und sah mich listig an. Ich aber antworte: ,Bist du so ein Hund?‘ Und mit unserer Freundschaft war es aus.“
Heftig schleuderte Paltram die letzten Worte heraus.
Erschrocken sagte Cilgia: „Von dem allem verstehe ich nichts. Aber, wie ich höre, habt Ihr ihn dann doch noch bis ins Suldenthal begleitet.“
„Er war Euer Schützling – und so rasch mein Blut ist, so wohl kann ich mich zähmen – ich ging bis an die Hausthüre des Suldenhofes mit – – aber ein Gabeljäger –“
In seinen Augen funkelte der Camogaskerglanz – eine peinvolle Stille entstand – erst nach einer Weile brach er sie:
„Ihr seht, Fräulein Premont, ich hätte nichts sagen sollen; aber wenn Ihr hört, was die Gabel ist, werdet Ihr meinen Zorn verstehen.“
„Es ist gewiß etwas Entsetzliches?“ fragte Cilgia kleinlaut.
„Die Gabeljäger,“ erzählte Paltram ruhiger, „sind die traurigen Tröpfe, die vor den Salzlecken mit Pfosten und Stricken eine breite Leiter befestigen und die Gemsen darin fangen. Die ersten Tage fürchten die Tiere das Gerät, aber wenn sich in der weiten Runde nichts rührt, so nähern sie sich doch salzlustig, betrachten die Gabel, gehen wieder fort, kommen aufs neue, werden vertrauensselig, die keckste stellt sich auf die Hinterfüße, steckt den Kopf vorsichtig in das oberste weiteste Viereck der Leiter, leckt am Felsen und kann den Kopf ganz wohl zurückziehen, da die Hörner in dieser Stellung stark nach rückwärts liegen. Andere folgen ihrem Beispiel. Ist das Salz in der Höhe erschöpft, so zwängen sie, unvorsichtig geworden, den Kopf in die mittleren und unteren Vierecke, die enger sind, ja oft dann noch, wenn sie dieselben schief legen müssen, um überhaupt noch durchzukommen. Zurückziehen können sie ihn aber, wenn sie einmal zwischen den unteren, eng zusammengestellten Sprossen sind, nicht mehr; sie bleiben an den nach rückwärts gekrümmten Hörnern hängen, werden wahnsinnig vor Angst und gehen oft in einigen Stunden schon zu Grunde, wenn nicht vorher der Schandbube kommt und die Sterbenden mit einem Knüppel erschlägt!“
„Und das triebe ein Sohn Grubers, unser Flüchtling von Fetan?“ Cilgia war blaß vor Empörung.
„Ich beschwöre es nicht,“ erwiderte Paltram vorsichtig, „ich habe nur aus seiner Fieberrede den Verdacht geschöpft.“
Sie aber schloß aus den Andeutungen Lorenz Grubers über den langen Hitz, daß es sich so verhielte – ein Schatten fiel damit auf einen Namen, den sie seit ein paar Stunden ehrte, und sie schwieg in peinvollem Nachdenken.
„Manche Gabelsteller,“ fuhr Markus Paltram, seinen eigenen Gedankengängen folgend, fort, „erwarten das Abschwächen der Tiere nicht, sondern sie nähern sich, sobald sich die Gemsen verfangen haben. Die ausgestellte Gratwache pfeift, dann reißen die Tiere in ihrem Wahnsinn so an den Sprossen, daß sie ihre Hörner abbrechen und frei werden. Sobald Gemsen mit abgebrochnen Hörnern durch ein Revier laufen, so wissen die Jäger, was es zu bedeuten hat. In allen Berglanden aber besteht ein ungeschriebenes Recht und geht vom Vater auf den Sohn, nämlich, daß der Gabelsteller der Kugel des ersten Jägers, der ihn trifft, verfallen ist.“ Scharf und erregt sagte es Markus Paltram.
„Würdet auch Ihr auf ihn anlegen?“ fragte Cilgia zag.
„Auch ich,“ antwortete Paltram ruhig und fest.
Da vergaß sich Cilgia, sie erhob sich, in fieberhafter Erregung nahm sie seine Hand in ihre zitternde Rechte.
„Schaut mich an, Paltram; von Fetan her bin ich Eure Freundin und kein Mensch auf der Welt meint es besser mit Euch.“ Ihre Stimme bebte. „Ich möchte Euch an ein höheres Ziel weisen, als daß Ihr eines Tages beladen mit dem Gericht Gottes und des eigenen Gewissens aus den Bergen kommt!“
Mild, fast demütig, mit der Glut einer jungen Seele mahnend, stand sie neben ihm, mit beredterem Auge als Wort.
„Fräulein Premont,“ keuchte er und seine Blicke verschlangen die schöne Gestalt.
„Hört, Paltram! – Ihr seid auch ein ruchloser Jäger! – Sagt, kann man mit ruhigem Gewisien in das Auge eines Tieres zielen? – Furchtbar! – Mir kriecht es kalt über die Brust! – Das Herz einer Gemse, das eben noch heiß und lustig geschlagen, soll plötzlich still stehen! – Und meint Ihr nicht, die Tiere erheben ihre Augen ebenso freudig zu den strahlenden Schneegipfeln wie wir? – Nein, wißt, ihr Jäger alle zusammen habt ein schlechtes Gewissen, das bezeugen eure Sagen! Ihr glaubt eine Gemse in den Bergen zu schießen, durch ein Wunder aber trifft die Kugel die Schwester oder Braut, die friedlich zu Haus am Spinnrocken sitzt.“
Markus Paltram staunte wortlos in das flammende Mädchengesicht. – Wer spricht so zu ihm? – Ihm ist, über seine Seele ergieße sich Licht.
Aber er lacht bitter: „Seht, Fräulein Premont, es ist gewiß [624] gleichgültig, was ich thue. ,Camogasker!‘ schreit man mir in die Ohren, wo ich gehe und stehe. Das Heimweh hat mich aus der Fremde heimgetrieben, aber der erste Gruß, der mich empfing, war: ,So, ist der Camogasker auch wieder da?‘ Was sagt Ihr dazu, Fräulein?“
Einen Augenblick besann sich Cilgia. Dann sagte sie voll Güte und feierlich: „Besiegt diesen Fluch, Markus Paltram!“
Da färbt sich sein Gesicht dunkelrot vor Erregung.
„Ich habe den Welt- und Menschengroll zu früh als Kind eingesogen,“ stößt er hervor, „er ist in mir wie ein Gift! Ich bin wahrhaftig ein Camogasker!“
Es lag nicht Zorn oder Hohn, nein, ein Schmerzensschrei lag in seinen Worten.
Cilgia aber sagte sanft: „Kommt, ich will Euch eine Geschichte erzählen. – Ihr könnt daraus etwas lernen. – Es ist eine Geschichte, um die Ihr mich einmal gebeten habt. – Oder drängt Ihr in den Wald zu gehen?“
„Nein – nein!“
„Gut, dann setzen wir uns da an den Waldesbord. Es ist die Geschichte der ersten protestantischen Pfarrerin von Pontresina – ich habe eine Freude daran, obgleich ich vom Vater her Katholikin bin.“
Sie setzten sich an den Rand des Waldes. Ueber fernen Felsenzähnen ging die Sonne als ein blutroter Ball unter. Die rechtsseitigen Linien der Bernina glühten in einem Diamantensaum, die linksseitigen waren in der Blässe des Lichts kaum zu erkennen und die Schneefelder wiesen je nach ihrer Lage Töne wie blühenden Pfirsich und wie die grünliche Blässe eines Totengesichts.
Und Cilgia begann mit eigenartig gesenktem Ton:
„Es war in der bewegten Zeit der Reformation. Da suchte Paolo Vergerio, der früh durch seinen Glaubenseifer zum Bischof von Capo d’Istria vorgerückt war, das Lob Gottes darin, daß er die Ketzer der istrianischen Städte vertilgte. Zu Rovigno lebte die vornehme Familie der Dianti und besuchte die protestantischen Versammlungen. Ausgerüstet mit einem Brief des Papstes, der ihm das Recht erteilte, im ganzen Gebiet Venedig die Ketzer aufzuspüren und mit den Werkzeugen der Inquisition zu verfolgen, brach Vergerio in den heimlichen Gottesdienst ein und nahm alle, die daran teil hatten, gefangen, darunter die Familie Dianti. Unter der Folter bekehrten sich viele, andere blieben standhaft und starben für ihren Glauben, so Vater, Mutter und zwei Brüder der jungen, schönen Katharina. Das kaum erblühte Mädchen aber jammerte Vergerio. Seine Beredsamkeit zerschellte an ihrer Festigkeit; da wütete er gegen sie und die Henkersknechte drückten ihr die glühenden Eisen in Stirn und Arme und sie sollte verbrannt werden. Vergerio verging in Wut über die Widerspenstige und in Mitleid über ihre Jugend. In der Nacht aber, da der Feuerstoß auf dem Marktplatz schon geschichtet war, weckte ihn eine Stimme: ,Paolo Vergerio, was verfolgst du eine Gerechte?“ Da schrak er auf, und unter dem Vorwand, daß er versuchen wolle, ihr die Beichte abzunehmen, begab er sich ins Gefängnis. ,Du bist frei – ziehe, fliehe!‘ Und er selbst führte sie die Schleichwege durch die Stadt auf ein Schiff. Lange hörte man nichts mehr vom Bischof Paolo Vergerio, der Zierde der venetianischen Priesterschaft. Da flogen aus den Städten der Lombardei unerhört heftige Druckschriften gegen das Papsttum durch Italien. Paolo Vergerio! Den Krummstab des Bischofs hatte er mit dem Haken des Setzers und der Schraube des Buchdruckers vertauscht, und in der Nacht leitete er mit dem alten Feuer der Beredsamkeit protestantische Gemeinden. Verfolgt und verbannt kam er nach Sondrio, später nach Puschlav als Buchdrucker, und sein Ruf als protestantischer Prediger überstieg die Berge. Die Leute von Pontresina, die wohl von der neuen Lehre gehört hatten, aber nicht wußten, wie sich dazu stellen, schickten Boten an Vergerio und ließen ihn bitten, daß er zu ihnen komme und ihnen die neue Lehre erkläre. Er folgte dem Ruf, und nach der zweiten Predigt hoben die Leute des Dorfes, im neuen Glauben geeint, die silberne Monstranz vom Altar und die Bilder von den Wänden und warfen sie vom alten steinernen Brücklein feierlich in die Wellen des Berninabaches. Den Mann, der den Krummstab geführt, baten sie, daß er ihr Pfarrer bleibe. So geschah’s. Nach einiger Zeit aber, als die andern protestantischen Pfarrer im Engadin sich Frauen gaben, da wollten auch die Pontresiner eine Frau Pfarrerin haben und mißdeuteten die Ehelosigkeit Vergerios als ein Zugeständnis an den alten Glauben. Vergerio lächelte und bat um einen Urlaub, daß er eine Pfarrerin suche. Und nicht viel später führte er von der Bernina herab Katharina Dianti, die schöne Istrianerin, in das Pfarrhaus des Bergdorfs. Heimat und Verwandtschaft hatte sie um ihn verlassen, um den, dessen Wundmale sie an der Stirne trug, und zum Gedächtnis seiner großen Verirrung und in Bewunderung für sie hat er die Bilder malen lassen und selbst mit Rot darunter geschrieben: ,Er schlug sie und unterlag – Sie liebte ihn und siegte.‘ – Das Gedächtnis beider ist von der Nachwelt gesegnet.“
So erzählte Cilgia und gab jedem Wort die Klangfarbe, die es im Glanz seines Wertes leuchten ließ.
Lange schwiegen beide, Cilgia mit glänzenden Augen. „Warum sprecht Ihr nicht, Paltram?“ fragte sie mit merkbarer Ungeduld.
„Ich überlege,“ antwortete er nachdenklich, „was ich aus der schönen Geschichte lernen soll.“
„Ja, wenn Ihr das nicht spürt, kann ich Euch nicht helfen,“ erwiderte sie kühl und enttäuscht und erhob sich.
„Ihr wollt sagen, ich solle wie Katharina Dianti sein? Ich soll ein Held sein wie sie eine Heldin war!“
„Ihr versteht mich, Markus Paltram,“ sagte sie, und ihre Mienen heiterten sich auf.
„Die Geschichte ist wunderbar schön,“ sagte er tiefsinnig. „Sie ist aber ein Märchen; denn ein Weib wie Katharina ist nie über unsere gemeine Erde gegangen!“
„Nie? So, das glaubt Ihr?“ sagte Cilgia etwas verächtlich, und sie wandte sich zum Gehen.
„Einen Augenblick, Fräulein Premont,“ bat Paltram, der sich auch erhoben hatte. „Sagt mir eins – giebt es Frauen wie Katharina Dianti?“
Seine Stimme klang wie der Ruf nach einer Heilswahrheit.
„Ihr seid ein kleinmütiger Thor, Markus Paltram,“ warf sie zurück.
„Schaut mich nicht so verächtlich an,“ schrie er, „ich ertrage es nicht.“
Da hemmte sie ihren Schritt und sah ihn prüfend an.
„Markus Paltram,“ sagte sie langsam und ernst, doch nicht ohne aufblitzende Schalkhaftigkeit, „der bischöfliche Buchdrucker Paolo Vergerio steckte dem Engadin ein Licht auf, das über dem Volke steht und sein Leben verklärt wie das Berninalicht die Thäler und Seen. Seit seinen und Katharina Diantis Zeiten sind die Postille und die Chronik der Stolz jedes Engadinerhauses, und es lebt in diesen Bergen ein gebildetes Volk.“
„Was wollt Ihr, Fräulein Premont?“ und Markus Paltram stürzte in heißer Erregung auf sie zu.
„Ihr wißt so gut wie ich,“ fuhr sie fort, „die Ampel des Engadins ist am Erlöschen. Auswanderung überall. Das Leben flutet von unserm Thal zurück, und wer weiß: wo heute sich die blühenden Dörfer Pontresina, Samaden, St. Moritz – auch Euer Madulein erheben, werden in hundert Jahren vielleicht nur noch Ruinen sein, und es wird wie eine fromme Sage klingen, daß in diesem Thal einmal ein glückliches Volk gelebt hat.“
Er bebte. „Fräulein Premont!“
Und wieder sah sie ihn mit ihren großen, siegreichen Augen prüfend an.
„Markus Paltram – wenn einer aufstände und dem Engadin die Ampel des Lebens wieder füllte! Wenn er ihm das Licht herunterholte von der Spitze der Bernina! Da könnte er sicher sein, daß auch er eine Liebe fände wie Paolo Vergerio, Frauenliebe, nicht kleiner, als Katharina Dianti sie geübt hat – aber es braucht freilich mehr dazu als Gemsen jagen!“
Einen Blick, einen flammenden, wirft sie noch zurück und Cilgia Premont schreitet gegen das Abendrot, das groß und schön über den nördlichen Bergen steht, es ist, als wolle die herrliche Gestalt darin verschwinden.
„Cilgia Premont!“ – Berge und Thäler jauchzen ihren Namen – und Markus Paltram hat vergessen, daß er auf die Jagd gehen wollte.
„Wenn einer das Licht herunterholte von der Spitze der Bernina!“ – –
(Fortsetzung folgt.)
Stift Neuburg bei Heidelberg.
Seit im Jahre 1877 der von Theodor Creizenach herausgegebene und erläuterte „Briefwechsel zwischen Goethe und Marianne von Willemer“ volle Klarheit über das wundersame poetische Herzensverhältnis verbreitet hat, welchem die schönsten Gedichte des „West-östlichen Diwan“ entblühten, wird von keinem Goetheverehrer, der die Gedenkstätten in des Dichters Geburtsstadt aufsucht, ein Gang nach der „Gerbermühle“ versäumt, wo jenes Verhältnis sich knüpfte.
Dieses einst vom Geheimrat Johann Jacob v. Willemer als Sommerwohnung benutzte, jetzt leider baufällige Landhaus, das an dem Fußweg zwischen Frankfurt und Offenbach am Mainesufer im Schatten alter Bäume liegt, ist damals schon den Lesern der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrgang 1877, Seite 804) in Wort und Bild geschildert worden.
Die Erinnerung an den Verkehr des Dichters mit Willemers jugendlicher Gattin Marianne, der in den Liebesliedern des Buchs „Suleika“ so reizvolle poetische Verklärung gefunden hat, ist aber auch mit jenem stattlicheren, noch heute gar wohnlichen Landsitz am Neckarufer verknüpft, den um 1825 der Frankfurter Oberstudienrat Johann Friedrich Schlosser erwarb, mit Stift Neuburg bei Heidelberg, und eine Schilderung dieser kürzlich von mir besuchten Gedenkstätte wird daher vielen willkommen sein. Weilte doch Marianne von Willemer oft auf Stift Neuburg als Gast in jenen Tagen, da sie an Goethe jene Briefe und Gedichte sandte, die ihm selbst am Ende seines Lebens als „Zeugen allerschönster Zeit“ erschienen.
Goethe hatte Frau von Willemer im September des Jahres 1814 in Frankfurt kennengelernt.
Er hatte vorher am Rhein erfrischende Reisetage verlebt. Während seines diesmaligen Aufenthaltes in der Vaterstadt wohnte er zunächst bei seiner mütterlichen Freundin, der Witwe des Schöffen Hieronymus Schlosser, sprach aber mehrmals bei dem mit ihr befreundeten Willemer vor, mit dem er schon früher in Briefwechsel gestanden und der dem Dichter nach dem Tode seiner Mutter beim Ordnen der Erbschaftsangelegenheiten im Verein mit dem jungen Johann Friedrich Schlosser, dem Sohn des Schöffen, wertvolle Dienste geleistet hatte. Höchst eigenartig waren die Umstände, welche der Verheiratung des schon betagten hochangesehenen und kunstsinnigen Bankiers mit Marianne vorangingen. Marianne Jung hatte kaum das vierzehnte Lebensjahr erreicht, als sie 1798, in Begleitung ihrer Mutter, der Witwe eines Instrumentenmachers aus Linz, mit einer Theatergesellschaft nach Frankfurt kam und die dortige Bühne in Kinderrollen betrat. Willemer, der als Mitglied der Oberdirektion des Theaters die hohe geistige Begabung des heiteren Mädchens kennenlernte, entschloß sich, die fast noch dem Kindesalter angehörige Marianne von der Bühne zu entfernen und für ihre weitere Ausbildung Sorge zu tragen. Indem er der Mutter an Stelle der Vorteile, welche ihr aus der Bühnenthätigkeit der Tochter werden sollten, eine Entschädigung bot, nahm er die kleine Künstlerin in sein Haus auf. Dort ließ er sie mit seinen zwei noch im Hause lebenden Töchtern aus einer früheren Ehe gemeinsam erziehen, nicht ohne daß er von lieben Landsleuten manchen Spott über seine pädagogische Vorliebe für „schöne Gegenstände“ hören mußte.
Das Mädchen entfaltete indessen überraschende Talente im Zeichnen und Singen, sowie im deklamatorischen Vortrag [626] und verbreitete allenthalben, wo es sich befand, Behagen, Glück und Freude. So entschloß sich der Gründer ihres Glücks, nachdem seine Töchter sich sämtlich verheiratet hatten, ihr die Hand zum dauernden Bunde zu reichen. Als Goethe sie nun traf, war sie nach seinen eigenen Worten „das vollendete Bild weiblicher Anmut, eine tief poetische Seele, die auf den Flügeln der Grazie leicht durchs Leben schwebte.“ Kein Wunder, wenn er sich in inniger Neigung zu Marianne hingezogen fühlte, ein Wunder aber für ihn, daß die bezaubernde Hülle dieses Wesens ein dem seinen fast ebenbürtiges Talent für lyrische Dichtung barg!
Nach einem kurzen Ausflug nach Heidelberg zu Sulpice Boisserée folgte Goethe der Einladung Willemers und verbrachte als dessen Gast mehrere Tage auf der Gerbermühle. Es waren überaus genußreiche Stunden, welche der Dichter damals im Umgange mit seinen Gastfreunden verlebte.
In lauen Nächten hielt man sich auf der Veranda des Hauses auf; bei Vollmondschein bot sich hier ein herrlicher Blick über das weite Thal des Flusses bis hin zum Taunus, an dessen Feldberg einst der Dichter, fern in Italien, sich beim Anblick des Sabinergebirges erinnert fühlte. Goethe las von seinen neuentstandenen Gedichten vor, Marianne sang mit seelenvoller Stimme manches seiner Lieder. In jenem Jahre beschäftigte sich Goethe mit dem Plan, die reizvolle Kunstweise des Persers Hafis, dessen Poesien er kurz vorher kennengelernt, seinem eigenen Talent dienstbar zu machen. Der „West-östliche Diwan“ war im Entstehen und Marianne wurde das Urbild der darin von „Hatem“ besungenen „Suleika“.
Die Mehrzahl dieser Lieder entstand im folgenden Jahre während der herrlichen Herbstwochen, die Goethe wiederum als Gast bei Willemers in der Gerbermühle und in deren Frankfurter Stadtwohnung, dann mit Mariannen und ihrem Gatten in Heidelberg verlebte. Goethes Gefühl für die heitere tiefempfindende Sängerin seiner Lieder, das hafisische Behagen des geselligen Lebens im Willemerschen Hause entsprach ganz der Seelenstimmung seines „Hatem“.
Die Spaziergänge, welche der Dichter mit Marianne zwischen den romantischen Ueberresten des Heidelberger Schlosses und in den daranstoßenden Parkanlagen machte, weckten in ihm die schönsten der Suleikalieder. Auf einem solchen Gange war es, daß Goethe das Blatt eines damals noch ziemlich unbekannten Baumes, der Gingo biloba, pflückte und dasselbe – zwei Hälften und doch ein Ganzes bildend – als symbolisches Unterpfand seiner Gefühle der geliebten Freundin gab. Darauf bezieht sich das Gedicht „Gingo biloba“:
„Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?
Solche Fragen zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?“
Nicht alle Lieder im Buche „Suleika“ rühren aber von Goethe her; mehrere der schönsten sind von Marianne v. Willemer verfaßt, welche mit frohem Zugehen auf das persische Dichtermärchen ihr eigenes Empfinden in Verse zu kleiden wußte, die völlig eines Goethe würdig waren. Das vielbewunderte zarte Sehnsuchtsgedicht „Ach, um deine feuchten Schwingen, West, wie sehr ich dich beneide“ ist dafür ein Vollbeweis.
Der Wechselgesang solcher Liebeslieder währte noch eine Zeit lang nach den Heidelberger Tagen fort. Hier am Ufer des Neckar sahen sich die beiden zum letztenmal am 26. September 1815. Goethe kam auch nicht wieder dazu, die Vaterstadt zu besuchen. Dafür trat ein brieflicher Verkehr ein, der eifrig gepflogen wurde. Freilich fanden auch in diesem die Töne der Leidenschaft allmählich ihren Ausklang und gingen in die sanfteren Accorde der Freundschaft über. Versicherungen unwandelbarer Treue wiederholen sich bis ans Ende.
Ein Herzensbedürfnis war es für Marianne, den Dichter mit Dienstleistungen zu erfreuen, die sich bis auf Küche und Garten erstreckten. So versorgt sie ihn, der in Weimar die Gartenfrüchte seiner Frankfurter Heimat ungern vermißt, jedes Jahr zur gewissen Zeit mit Artischoken, einer Lieblingsfrucht Goethes, und vergißt nicht, ein Dutzend Flaschen kostbaren Rheinweines beizufügen, die in den Briefen regelmäßig als „Die zwölf Apostel“ figurieren. Noch im Jahre 1831 berichtet sie nach Weimar, daß sie von Stift Neuburg aus die Erinnerungsplätze auf der Heidelberger Schloßhöhe aufgesucht und sich ein Blatt von der Gingo biloba gepflückt habe. Etwas später traf von Weimar aus ein wohlverschlossenes Paket auf der Gerbermühle ein, das die ernste Aufschrift trug: „Zur unbestimmten Stunde zu öffnen.“ Mit dieser Stunde war Goethes Tod gemeint, der nicht lange nach dieser Zeit eintrat. Das Paket, welches nun geöffnet wurde, enthielt sämtliche Briefe Mariannens an Goethe. Des Verklärten Andenken aber lebte fort in den Herzen Mariannens und ihres Gatten, wie nicht minder in der Familie des Rates Schlosser auf Stift Neuburg bei Heidelberg.
Johann Friedrich Schlosser entstammte einem von lange her in Frankfurt angesehenen Geschlechte. Sein Vater Hieronymus Schlosser, Jurist im reichsstädtischen Dienste, befaßte sich neben seinem Berufe mit schöner Litteratur und gab ein Bändchen lateinischer Gedichte heraus, worunter eines an Wolfgang Goethe, seinen Altersgenossen, gerichtet war. Die Sammlung enthält auch die deutsche Antwort des Besungenen. Der Bruder des Vaters war jener bekannte Georg Schlosser, der sich mit Goethes einziger Schwester verheiratete. Unser Schlosser, der „Rat“, hatte in Halle, Jena, wo er Schiller kennenlernte, und Göttingen Jura studiert und nebenbei historische und ästhetische Studien betrieben. In seine Vaterstadt zurückgekehrt, wurde er unter die Advokaten aufgenommen, dann Stadtgerichtsrat, 1812 Oberstudienrat. Zwischen ihm und Goethe entspann sich ein reger brieflicher Verkehr. Daß er nach dem Tode von Goethes Mutter deren Hinterlassenschaft ordnen half, ist bereits oben erwähnt. Er blieb zeitlebens Goethes Vertrauensmann in Frankfurter Angelegenheiten.
Unangenehme Erfahrungen verleideten Friedrich Schlosser sein reichsstädtisches Amt; von da ab widmete er sich rein wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten, wozu ihm sein Vermögen reichliche Mittel bot. Im Winter lebte er in der Stadt, während der schönen Jahreszeit wohnte er seit 1825 in dem von ihm gekauften, herrlich am rechten Neckarufer bei Heidelberg gelegenen Stift Neuburg, das er in einen reizvollen Landsitz umschuf und mit Schätzen der Kunst und Wissenschaft füllte. Hier verlebte er die schönsten Tage seines Daseins, mit seinen Lieblingsstudien beschäftigt und sich wie andere durch Wohlthun erfreuend.
Friedrich Schlosser zählte, wie einer seiner Biographen sagt, zu den lautersten, edelsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Verehrt auch von denen, die weder seine strengreligiösen noch politischen Anschauungen teilten, bewahrte er sich eine Kindlichkeit des Gemütes und eine beim reichsten Wissen und Verdienst so aufrichtige Bescheidenheit, daß er ungesucht und unwillkürlich alle fesselte, die er in seine Umgebung zog. Eine ihn harmonisch ergänzende Natur war seine im Jahre 1809 ihm angetraute Frau Sophie, geb. Du Fay. Neben einem ruhigen, klaren Blick und der Fähigkeit, eine zuweilen kühle, ja scharfe Kritik zu üben, besaß sie die volle Wärme und schlichte Einfalt eines echten Frauengemütes, aus welch letzterer Eigenschaft sich die innige Freundschaft erklärt, welche zwischen ihr und Frau Marianne von Willemer – lange noch nach dem Tode ihrer Männer – bestand. Für Goethe bewahrte sie, trotz der Verschiedenheit ihrer Weltanschauung, eine begeisterte Verehrung. Wenn jemand es wagen wollte, sich abfällig über ihn zu äußern, so pflegte sie das Gespräch abzuschneiden mit den Worten: „Sie haben Goethe nicht gekannt“.
Gleiche Verehrung widmete dem Dichter bekanntlich der Gatte, der demselben bei Abfassung des Buchs „Aus meinem Leben“ dankenswerte Dienste leistete, indem er ihn mit reichhaltigen Notizen über die gemeinsame Vaterstadt versah. Schon zu Lebzeiten Goethes sammelte er alles von Schriften, Bildern und Münzen, die denselben betrafen, eine Aufgabe, in welcher ihn [627] der Dichter selbst häufig unterstützte; Schlosser legte sich eine Goethebibliothek an, die wohl einzig in ihrer Art war und beständig bereichert wurde. Als die Nachricht von dem Hingang Goethes eintraf, schrieb er an den gemeinsamen Freund Sulpice Boisserée:
„Von unserer Kindheit an hatte Goethes Gestirn mit immer gleichem Glanze über uns gestrahlt; Generationen waren neben ihm aufgeblüht und dahingewelkt; manches schön aufstrebende Talent, manches reiche Gemüt hatte sich wenigstens in Perioden der Entwicklung an ihn gerankt und seine Einwirkungen aufgenommen – und wie manche der uns theuersten unter diesen deckt längst das Grab, während wir uns gewöhnt hatten, dem alten Heros gewissermaßen eine Art physischer Unsterblichkeit beizulegen. In ihm und in dem im verflossenen Jahre geschiedenen Minister v. Stein starben die beiden kräftigsten Heldennaturen, die mir im Leben begegnet.“
Man begreift, daß Menschen, wie das Schlossersche Paar, ganz dazu bestimmt erschienen, dem Herzen Mariannens das zu gewähren, was sie nach dem Tode des Freundes und dem gegen Ende der dreißiger Jahre erfolgten Ableben ihres Gatten entbehren mußte. Namentlich fühlten sich, wie bereits angedeutet, die beiden Frauen voneinander angezogen. Das Band zwischen den Familien Willemer und Schlosser war schon früh geknüpft worden, und zwar durch die gemeinsamen Beziehungen zu Goethe. Jetzt, nach dem Tode des Dichters, schloß das gemeinsame Bedürfnis, dem Andenken an den großen Toten gegenseitig Ausdruck zu geben, die Drei noch enger zusammen.
Nachdem Marianne als Witwe die Gerbermühle veräußert hatte, wohnte sie während der Wintermonate in einem behaglichen Heim innerhalb der Stadt; in der schönen Jahreszeit aber weilte sie häufig, oft ständig als Gast auf Stift Neuburg bei Heidelberg, mit welcher Stadt sich so schöne Erinnerungen verbanden! Im Umgange mit Rat Schlosser und dessen Gattin bewahrte sie sich bis ins Alter die Frische des Geistes und Heiterkeit des Gemütes, deren sie sich seit früher Jugend erfreut hatte. In ihrer Winterwohnung war sie nicht selten von Künstlern und Gelehrten, immer mit Büchern und Schriften umgeben, durch welche sie ihr Wissen fortgesetzt bereicherte. Den Nachruhm Goethes verfolgte sie mit Eifer, ohne daß sie es liebte, von dem Dichter mehr zu sprechen, als dringende Umstände es verlangten. Ein kostbares Vermächtnis war ihr Goethes Briefwechsel, den sie mit Pietät und Verständnis ordnete und sichtete. Auf Stift Neuburg, wo sie im Laufe der Jahre mit vielen hervorragenden Männern der Wissenschaft bekannt geworden, weilte sie übrigens zum letztenmal im Herbst des Jahres 1860. Schon war sie den Schloßberg, nachdem sie Abschied genommen hatte, halben Wegs heruntergefahren, als sie plötzlich ein liegengebliebenes Häubchen vermißte. Sie gab dem Kutscher Befehl, umzukehren, besann sich aber wieder eines andern, indem sie es als glückliches Omen für ihre Wiederkehr hielt, wenn einer ihrer Gegenstände in dem lieben Hause zurückblieb.
Am 6. Dezember des gleichen Jahres entschlief sie, die allen, welche ihr auf dem Lebensweg begegnet waren, nur Freude bereitet hatte. Ihr Briefwechsel mit Goethe blieb weiter der Oeffentlichkeit entzogen. Als ihn 1877 der Frankfurter Goetheforscher Theodor Creizenach herausgab, fand der Wert dieser Kostbarkeiten aus dem Erbe zweier Dichternaturen sogleich allgemeinste Würdigung.
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Vieles, was außer diesem Briefwechsel an die seltene Frau gemahnt, ist, wie ich wußte, auf Stift Neuburg bewahrt, dessen jetziger Besitzer, Freiherr Alexander von Bernus, die Gegenstände in treue Hut und Pflege genommen hat. Mit einer Empfehlung von einem Verwandten des Schloßherrn an diesen wurde es mir nicht schwer, in den nur dreiviertel Stunden von Heidelberg entfernten, reizvoll gelegenen Landsitz Zutritt zu erhalten. Von der Stadt führt der Weg über die Neckarbrücke, dann flußaufwärts der Straße entlang, an fruchtbeladenen Weinbergen vorbei, während rechts die malerische Schloßruine aus Waldesgrün herübergrüßt. Bald nachdem ich um einen Bergesrücken gebogen, gewahrte ich die hart am Neckarufer sich erhebende Stiftsmühle und hoch über derselben das noch immer an seinen einst klösterlichen Zweck erinnernde Stift. Nachdem ich, die Fahrstraße meidend, den von rückwärts über den Schloßberg, an dichtem Buschwerk und einem kleinen Weiher vorbeiführenden Fußweg emporgestiegen, stand ich bald vor dem Eingange zu dem Edelsitze. Es dauerte nicht lange, so war ich mit wohlthuender Gastlichkeit aufgenommen.
Der Schloßherr selbst führte mich umher, zunächst durch mehrere Gänge, deren Wände mit Kupferstichen, Radierungen und Gemälden bedeckt waren, in die Bibliothek. Diese weist noch immer, nachdem viele Bestandteile laut Testamentsbestimmung in andere Bibliotheken übergegangen sind, eine ansehnliche Fülle von wissenschaftlicher und schöngeistiger Litteratur auf. Der sogenannte gotische Saal, den wir hierauf betraten, entstand aus dem zu einem Museum umgewandelten Schiff der alten Stiftskirche. Hier erblickt man zunächst treffliche Gemälde; neben historischen Bildern und Landschaften die Bildnisse von Familiengliedern des Hauses, unter denen das des Schlosserschen Paares das erste Interesse beansprucht. Unverkennbar ist in dem Gesichte des Mannes das gefestigte Wesen seines Charakters ausgedrückt, in dem Antlitze der Gattin, der „gestrengen Frau Rat“, wie sie schon in jungen Jahren ob ihrer ernsten Würde genannt wurde, die seltene Verbindung von frauenhafter Gemütswärme mit einem fast männlichen Geist. Ein besonders stimmungsvoller Raum ist das einstige Studierzimmer des Rates; der gotische Ueberrest einer Kapelle aus alter Zeit, im Gemüte des Besuchers fast Andacht erweckend, erscheint er wie geschaffen für die Thätigkeit Schlossers. Dieselbe – weniger freischaffend als reproduktiv – erstreckte sich hauptsächlich auf Übersetzungen poetischer Werke aus fremden Sprachen, so übertrug er Fauriels neugriechische Lieder. Sein Hauptwerk ist „Die Kirche in ihren Liedern durch alle Jahrhunderte.“ Eine Uebersetzung von Goethes „Freudvoll und leidvoll“ in zwölf Sprachen widmete er „huldigend“ der „Frau Geheimeräthin von Willemer“.
Eine eigene Abteilung ist der Erinnerung an Marianne v. Willemer geweiht. Zahlreiche Bildnisse zeigen sie in allen Abschnitten ihres Daseins, vom neckischen Mädchen bis hinauf zu der ruhig betrachtenden Matrone, immer aber heiter in die Welt schauend, im Alter noch ein anmutendes Frauenbild. Nicht fern [628] von diesen Porträts, am passendsten Platze, steht auf einer Staffelei das lebensgroße Bild Goethes, das kostbarste Kleinod des an Kunstschätzen so reichen Hauses. Der Dichter selbst hat es gestiftet, was die geschnitzten Namen auf dem Rahmen bezeugen. Es zeigt ihn (vgl. die Abbildung S. 627) in der Galatracht des Ministers, die Miene dementsprechend ernst und gemessen, das Auge geistsprühend. Das Bild rührt von der Hand des Dresdner Malers Gerhard von Kügelgen her, der es 1810 in Weimar malte. Rat Schlosser erhielt das Porträt offenbar als Zeichen des Dankes für die zahlreichen Dienstleistungen, deren er sich für den Freund und Landsmann unterzogen hatte. In dem Begleitschreiben vom 24. Januar 1811 nennt sich der Geber glücklich, das Bild übersenden zu können, und wünscht, daß es Beifall finde. Dieser Wunsch erfährt bis zur Stunde immer neue Erfüllung.
Der an das „Goethezimmer“ stoßende Raum enthält fast ausschließlich Gemälde von Meistern der romantischen Schule, Schnorr von Carolsfeld, Overbeck, Steinle, Moritz von Schwind u. a. Außerdem überraschen das Auge, wie überall an geeigneter Stelle, wertvolle Altertümer und kleinere Kunstwerke, wie Schnitzereien, Vasen und Majoliken, unter diesen Gegenständen viele Reiseerinnerungen des Besitzers. Der kostbarste Gegenstand aller Kunstschätze aber ist eine 11/2 Fuß ins Geviert messende Kassette, ein Schatzkästchen von einziger Art; es trägt in goldenen Lettern die Aufschrift: Goetheana. Der glückliche und gütige Besitzer ließ mich den ganzen Inhalt sehen und gab mir Stück für Stück in die Hand. Es sind dies seltene Gelegenheitsschriften, die sämtlich auf Goethe Bezug haben oder von ihm herrühren, Autogramme von Dichtern, wie Lenz und Klinger, sowie ein vollständiges Tagebuch von Goethes Jugendfreundin, dem Fräulein von Klettenberg, Originalbriefe von des Dichters Vater, Mutter und Sohn. Einem Briefe der „Frau Rat“ an Hieronymus Schlosser ist ein kleiner Zettel mit Umschlag beigelegt, beides von ihrer Hand überschrieben. Der Zettel enthält einen Bibelvers, ein Zeugnis fröhlichen Gottvertrauens.
Bedeutender und zugleich zahlreicher sind Goethes eigene Briefe, besonders wertvoll der im Jahre 1786 aus Rom an seine Mutter gerichtete; in demselben ist von dem wunderbaren Umschwung die Rede, der sich in seiner Künstlerseele seit der Anschauung der Antike in Italien vollzogen. „Wie wohl mir’s ist,“ heißt es, „daß sich soviele Träume und Wünsche meines Lebens auflösen, daß ich nun die Gegenstände in der Natur sehe, die ich von Jugend auf in Kupfer sah, und von denen ich den Vater so oft erzählen hörte, kann ich Ihnen nicht ausdrücken.“ . . . Auch einige Gedichte sind vorhanden, im ersten Entwurfe niedergeschrieben und mit Korrekturen versehen. Den Hauptbestandteil der Goethebriefe bildet das halbe Hundert Originalbriefe, welche Fritz Schlosser in den Jahren von 1808 bis 1830 vom Dichter erhalten hat und die in dem Bande „Goethe-Briefe aus Fritz Schlossers Nachlaß“ von Julius Frese herausgegeben worden sind. Sie unterscheiden sich natürlich vielfach von denen, welche an Suleika und auch an litterarische Freunde gerichtet sind, zumal häufig geschäftliche Angelegenheiten den Inhalt bilden; gleichwohl sind sie ein schönes Denkmal freundschaftlicher Treue. Gerade der letzte Brief ist insofern von besonderer Bedeutung, als in ihm auch von Stift Neuburg die Rede ist. Schlosser hatte dem Dichter eine Abbildung seines Landsitzes zugeschickt, worauf ihm die Antwort zu teil wird: „Es war, wirklich, theuerster Herr und Freund, ein sehr glücklicher Gedanke, durch einen geschickten Künstler Ihre ernst-heitere Wohnung und die unschätzbare Gegend abbilden und vervielfältigen zu lassen; es kann uns nichts Freudigeres und mehr Ermunterndes begegnen, als wenn wir, zugleich mit guten und herzlichen Worten, auch ein vorzügliches Lokal erblicken, wo Sie behaglich verweilen, wo Sie an uns denken, von woher Sie Ihre Schreiben an uns richten. Es entsteht daraus eine gewisse Unmittelbarkeit des Zusammenseyns, welche höchst reizend ist.“ Goethe hatte nie auf Stift Neuburg geweilt, da es zu jener Zeit, wo er in die Gegend kam, noch nicht in Schlossers Besitz war. Allerdings hatte er es gesehen, und zwar auf einer Reise von Heidelberg nach Stuttgart, und dessen Lage als sehr anmutig geschildert. Aber durch die vielen Beziehungen Mariannens von Willemer zu dem Stift und seinen Bewohnern war es seinem Geist jetzt ganz besonders nahe gerückt.
Am Theetisch im Salon erfuhr ich das Wichtigste aus der reichen Vergangenheit des Stiftes: wie es, schon im 11. Jahrhundert von Benediktinern des Klosters Lorch gegründet, bis zur Reformation den Ordenszwecken diente und dann zu einem Frauenstifte mit ziemlich weltlicher Verfassung umgeschaffen wurde, von welcher Zeit noch heute die auf S. 625 abgebildete Grabplatte einer Aebtissin zeugt. Im 18. Jahrhundert wurde das Stift den Jesuiten als Lehr- und Erziehungsinstitut überlassen; nach Aufhebung der Gesellschaft Jesu blieb es eine Zeit lang unbewohnt, bis es in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts vom Rat Schlosser die Gestalt des reizenden Landsitzes erhielt, der es heute noch ist. Während Schlosser hier weilte und wirkte – der „Onkel“, als der er noch heute im Stifte Neuburg gilt – war das Stift eine Herberge der Wissenschaft, ein Stelldichein von Künstlern und Gelehrten. Das gastliche Haus wurde von weltlichen und geistlichen Würdenträgern, sowie von Trägern berühmter Namen nie leer. Von diesen seien erwähnt Ludwig Tieck, Sulpice Boisserée, der „römische Kestner“ (Lottes Enkel), Walter und Wolfgang von Goethe, Wilhelm von Humboldt, der Freiherr vom Stein, aus späterer Zeit der Erbgroßherzog Friedrich, jetziger Großherzog von Baden. Mit Ludwig Tieck war Marianne von Willemer zusammen auf Neuburg, worüber sie am 2. November 1828 an Goethe berichtet hat. Jetzt findet in der kunstsinnigen Familie Bernus die Gastfreundschaft des Hauses, wie auch ich erfahren sollte, eine erfreuliche Fortsetzung und das Andenken edler Menschen eine pietätvolle Pflege. Mit gehobener Stimmung verließ ich die ehrwürdige und doch so heiter ins Land blickende Stätte.
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Ein deutsch-amerikanischer Nationalfeiertag.
Seit etwa zwei Decennien versammeln sich alljährlich am 6. Oktober in vielen amerikanischen Städten die Mitglieder der um die Aufrechterhaltung des Deutschtums in der Fremde bemühten Vereine, um durch Veranstaltung von Freudenmahlen und durch festliche Reden den sogenannten „Deutschen Tag“ gemeinsam zu begehen. Die Feier desselben findet von Jahr zu Jahr mehr Boden und es ist begründete Hoffnung dafür vorhanden, daß der „Deutsche Tag“ mit der Zeit zu einem echten, vom gesamten Deutschtum in Amerika begangenen Nationalfesttag werde. Und das mit Recht! Soll er doch die Erinnerung lebendig halten an die mehr als zwei Jahrhunderte hinter uns liegende Zeit, wo deutsche Auswanderer zuerst dazu schritten, in der Neuen Welt eine rein deutsche Ortschaft zu gründen.
Die Geschichte dieser Gründung ist interessant und wichtig genug, um die Aufmerksamkeit aller über den ganzen Erdball verstreuten Landsleute zu fesseln, vornehmlich der Leser der „Gartenlaube“, die ja von jeher den Deutschen in der Fremde ihre Teilnahme in so hohem Grade zugewendet hat.
Seit Mitte des 16. Jahrhunderts bestand in Norddeutschland die Sekte der Mennoniten, Anhänger des 1492 in Friesland geborenen Menno Simon, der, ursprünglich ein Priester der katholischen Kirche, sich von derselben losgesagt hatte und in reformatorischem Sinne predigte. Er empfahl seinen Anhängern Reinheit, Sittlichkeit und Herzensmilde, ermahnte sie, sich alles unnötigen Aufwandes in Kleidung und Lebensweise, ferner des Gebrauchs der Waffen, des Schwörens von Eiden und der Teilnahme an weltlicher Regierung zu enthalten, um desto inniger den wahren Glauben erfassen zu können. Die Mennoniten waren demnach in der ausgesprochensten Weise gottesfürchtige Menschenkinder, denen es um die Wiederherstellung des schlichten, aber innigen altchristlichen Gemeindelebens zu thun war. Gleiche Bestrebungen zeichneten auch die hauptsächlich über Holland und England verbreiteten Quäker aus, mit denen sie unausgesetzt Beziehungen unterhielten. Beide Sekten waren den härtesten Verfolgungen seitens der Andersgläubigen unterworfen. Die Regierungen gewährten ihnen um so weniger Schutz, als sie in der Weigerung der Sektierer, Kriegsdienste zu verrichten und Kriegssteuern zu bezahlen, verdächtige Neuerungen witterten, die dem auf militärischer Gewalt beruhenden Staatswesen große Gefahr bringen könnten und darum im Keim erstickt werden müßten. Vornehmlich solange die Niederlande noch unter der Herrschaft der Spanier standen, hatten die Quäker und Mennoniten entsetzliche Leiden zu erdulden. Ihrer 6000 wurden verbrannt oder mit dem Schwert hingerichtet. In Süddeutschland und der Schweiz verfielen über 3000 dem gleichen Schicksal. Erst nach 1597 ließen diese furchtbaren Hetzen nach; aber bis ins vorige Jahrhundert hinein wurden Quäker und Mennoniten mit Beschlagnahme ihres Vermögens, mit Gefängnis und körperlicher Züchtigung bedroht.
Trotzdem erhielten sich in Deutschland mehrere Mennonitengemeinden, und zwar in Hamburg, Altona, Lübeck, Danzig, Emden, Krefeld, Frankfurt a. M. und Griesheim bei Worms. Sie standen nicht nur in geheimem Verkehr miteinander, sondern erfreuten sich bisweilen auch des Besuchs holländischer und englischer Qnäkermissionare. Einer der letzteren war William Penn, der berühmte Begründer des heutigen Staates Pennsylvanien. Er erschien zweimal in Deutschland, 1671 und 1677, predigte vor den Mennonitengemeinden im Rheingebiet und hinterließ bei denselben einen tiefen, nachhaltigen Eindruck. Als Penn sich später entschloß, an Stelle einer von seinem Vater, einem berühmten englischen Admiral, ihm hinterlassenen, 16 000 Pfund Sterling betragenden Forderung an die englische Regierung eine bedeutende, in Nordamerika gelegene Strecke Landes anzunehmen und dieses Besitztum zu einer Zuflucht für alle zu machen, die in Europa ihres Glaubens wegen verfolgt wurden, ließ er auch an die Mennoniten in Frankfurt, Griesheim und Krefeld Sendschreiben ergehen, durch welche sie eingeladen wurden, nach der jenseit des Oceans gelegenen Freistätte zu kommen. Dieser Einladung entsprachen die Mennoniten um so lieber, als Penn ihnen das zur Anlage von Ansiedlungen benötigte Land zu äußerst günstigen Bedingungen anbot. Je 100 Acker verkaufte er für nur 40 Schillinge. Wer nicht kaufen wollte, konnte den Acker für einen Jahreszins von nur 1 Penny pachten. Dies vorteilhafte Angebot, sowie die Aussicht, in Pennsylvanien ungehindert ihren religiösen Anschauungen leben zu können, bestimmte die in Frankfurt wohnenden Mennoniten zur Erwerbung von 25 000 Acker. Die Krefelder sicherten sich das Anrecht auf 18 000 Acker. Um den Kaufpakt abzuschließen, das Land auszusuchen und die nötigen Vorbereitungen für die Ankunft der Auswanderer zu treffen, entsandten die beiden Gemeinden einen jungen Rechtsgelehrten, der nach Absolvierung seiner Studien auf den Universitäten Straßburg, Basel und Jena mancherlei Reisen durch das westliche Europa vollführt und später in Frankfurt sich der dortigen Mennonitengemeinde angeschlossen hatte. Sein Name war Franz Daniel Pastorius. Er landete am 20. August des Jahres 1683 in Philadelphia.
Jene kurz zuvor von William Penn gegründete „Stadt der Bruderliebe“, die sich heute mit ihrem Häusermeer über viele Quadratmeilen Landes ausbreitet, war damals in ihren allerersten Anfängen begriffen. Ihre ^ . Bewohner hatten einen förmlichen Kampf gegen den schier [630] übermächtigen Urwald zu führen, der sich bis dicht an ihre Hütten drängte und dessen Ende gen Westen hin noch von keinem Weißen erreicht worden war. Pastorius berichtet in seinen Aufzeichnungen, daß auf ihn, der eben London, Paris und Amsterdam besucht hatte, diese inmitten der Wildnis entstehende Stadt einen ganz seltsamen Eindruck machte. Aber er war entschlossen, nicht nur seine Verpflichtungen zu erfüllen, sondern auch der freiwillig übernommenen Aufgabe, den nachkommenden Glaubensbrüdern die Wege zu bahnen, treu zu bleiben. Er folgte darum dem Beispiel der Ansiedler Philadelphias und baute sich ein 10 m langes und 5 m breites Hüttchen, über dessen Eingang er, altem deutschen Brauch folgend, einen von ihm ersonnenen Spruch setzte: „Parva domus sed amica bonis, procul este profani,“ zu Deutsch: „Klein ist mein Haus, doch Gute sieht es gern, wer gottlos ist, der bleibe fern.“
Mit William Penn häufig verkehrend und von diesem hoch geschätzt, erwartete Pastorius in der armseligen Hütte, deren Fensteröffnungen in Ermangelung von Glas nur mit ölgetränktem Papier verklebt waren, die Ankunft seiner Landsleute. Von diesen hatten sich zunächst nur 13, insgesamt 41 Köpfe zählende Familien aus Krefeld aufgemacht. Am 18. Juli 1683 befanden sich dieselben in Rotterdam, von wo sie nach England gingen, um sich in Gravesend am 24. Juli auf der „Concord“ zur Ueberfahrt nach Amerika einzuschiffen. Die letztere nahm 74 Tage in Anspruch, denn erst am 6. Oktober kamen die Reisenden in Philadelphia an, wo sie von Penn und Pastorius herzlich willkommen geheißen wurden.
Bei der Auswahl der Stelle, wo die erste deutsche Ortschaft in der Neuen Welt entstehen sollte, entschied man sich für eine zwei Stunden von Philadelphia entfernte Ebene, die sich unweit des linken Ufers des Schuylkillflusses dahinzog. Hier wurden am 24. Oktober 14 „Lose“ oder „Erbe“ ausgemessen, eins für jede der 13 Familien und eins für Pastorius. Trotzdem die Jahreszeit schon weit vorgeschritten war, begann man sofort Keller auszuwerfen und Hütten zu bauen und kam bis zum Eintritt der kälteren Witterung glücklich unter Dach.
„Den Ort,“ so erzählt Pastorius in seinen Aufzeichnungen, „nannten wir Germantown, welches der Teutschen-Statt bedeutet. Etliche gaben ihm den Beynamen Armentown, sindemahl viel der vorgedachten Beginner sich nicht auff etliche Wochen, zu geschweigen Monate provisioniren kunnten. Und mag weder genug beschrieben noch von denen vermöglichen Nachkömmlingen geglaubt werden, in was Mangel und Armuth, anbey mit welch einer Christlichen Vergnüglichkeit und unermüdetem Fleiß diese Germantownship begunnen sey.“ –
Wie schwer es war, die Urwildnis der Kultur zu gewinnen, bezeugt manche Klage des trefflichen Mannes in seiner Niederschrift. In diesem Kampf mit der gewaltigen Natur bedurfte es, wie er gesteht, „gedachten William Penn’s offtmaliger durchdringender Anmuthigung und würklicher Assistenz, zumal wir, die Urheber dieses Werks, wegen ermangelnder Experienz in solcherlei sachen vieles gethan haben, das wir hernach theils selbst ändern, theils der klügeren Nachfahren Verbesserung anbefehlen müssen.“
Mit der Zeit wurde das Aussehen der Ortschaft aber doch ein wohnliches. Die 20 m breite, von einigen Querstraßen durchschnittene Hauptstraße, welche den Ort in zwei Hälften teilte, wurde auf beiden Seiten mit Pfirsichbäumen bepflanzt. Große Gemüse-, Blumen- und Obstgärten wurden rings um die Behausungen angelegt; auch ein kleines hölzernes Kirchlein erstand. Der jungfräuliche Boden lohnte den auf ihn gewendeten Fleiß in so reicher Weise, daß man bald beginnen konnte, den Ueberfluß nach Philadelphia auf den Markt zu bringen. Auch befaßte man sich mit Getreidebau und Viehzucht und trieb mit den Indianern, mit denen man gute Freundschaft hielt, einen gewinnbringenden Pelzhandel. Obendrein setzten die Männer das in der Heimat erlernte Gewerbe, die Leinweberei fort und stellten allerhand Zeuge her, die ihrer Haltbarkeit wegen allerorten willige Abnehmer fanden.
Fleiß, Sparsamkeit und Genügsamkeit waren die Tugenden, durch welche die Ansiedler von Germantown sich auszeichneten und die Achtung aller Umwohner erwarben. Obwohl fromm und gottesfürchtig, waren sie aber keineswegs Duckmäuser, die wie so manche andere nach Pennsylvanien gekommene Sektierer ihr Dasein in denkfauler Beschaulichkeit verbrachten. Sie waren als echte Rheinländer vielmehr Freunde froher Regsamkeit Und wußten auch den Wein als Quelle derselben zu schätzen. So währte es nicht gar lange, daß sich um die Fenster und Thüren ihrer Hütten schwertragende Reben rankten, andere sich zu schattigen Lauben verbanden, unter denen die Ansiedler abends nach vollbrachter Arbeit behaglicher Rast pflegten oder Nachbarn und Freunde empfingen, um mit ihnen der fernen Heimat zu gedenken, die ihnen trotz aller erlittenen Kümmernisse doch stets heilig und teuer blieb.
Ueber Arbeit und Frohsinn vergaß man aber auch nicht die Pflege des Geisteslebens. Mittelpunkt desselben war allüberall Pastorius, welcher, ein echter Vater der jungen Kolonie, nicht bloß die Errichtung einer Schule durchsetzte, sondern auch persönlich eine Abendschule leitete, in der er den reichen Born seines Wissens allen erschloß, die auf Vertiefung ihrer Kenntnisse bedacht waren. Haben die Deutschen in Amerika Veranlassung, das Andenken eines Mannes hoch in Ehren zu halten, so ist es das des Franz Daniel Pastorius, der, obwohl er das reichbewegte Leben der europäischen Großstädte hatte kennenlernen, sich doch ohne Murren in die Wildnis vergrub, um seinen Landsleuten ein Helfer und Berater zu sein. Daß ohne diesen seltenen Mann die erste deutsche Niederlassung in Amerika so folgenreich gewesen wäre, darf man bezweifeln. Von der Vielseitigkeit seiner Begabung, von seinem Fleiß und von der Tiefe seines Gemüts zeugt gewiß die Thatsache, daß er in Germantown nicht weniger als 43 Bände mit selbstverfaßten Aufsätzen über Rechtskunde, Naturwissenschaft, Landwirtschaft, Geschichte und Theologie, sowie mit Gedichten, Sinnsprüchen und philosophischen Betrachtungen füllte. Daß die Bewohner des Ortes ihn, als Germantown im Jahre 1691 Stadtrechte erhielt, zum ersten Bürgermeister und zugleich auch zum Friedensrichter erwählten, war der Ausdruck der von allen gegen ihn empfundenen Dankbarkeit.
Sinniger konnte der erste deutsche Bürgermeister in Amerika seine Thätigkeit gewiß nicht eröffnen, als Pastorius es that, indem er das Titelblatt des Grundbuches von Germantown mit einem warmempfundenen, von treuer Anhänglichkeit an die alte Heimat durchdrungenen „Gruß an die Nachkommenschaft“ zierte. Derselbe, in flüssigem Latein geschrieben, lautet verdeutscht: „Sei gegrüßt, Nachkommenschaft! Nachkommenschaft von Germanopolis! Und erfahre zuvörderst aus dem Inhalt der folgenden Seiten, daß Deine Eltern und Vorfahren Deutschland, das holde Land, das sie geboren und genährt, in freiwilliger Verbannung verlassen haben – o ihr heimischen Herde! – um in diesem waldreichen Pennsylvanien, in der öden Einsamkeit minder sorgenvoll den Rest ihres Lebens in deutscher Weise, das heißt wie Brüder zu verbringen. Erfahre auch ferner, wie mühselig es war, nach Ueberschiffung des Atlantischen Meeres in diesem Striche Nordamerikas den deutschen Stamm zu gründen. Und du, geliebte Reihe der Enkel, wo wir ein Muster des Rechten waren, ahme unser Beispiel nach; wo wir aber von dem so schwierigen Pfad abwichen, was reumütig anerkannt wird, vergieb uns; mögen die Gefahren, die andere liefen, dich vorsichtig machen. Heil dir, Nachkommenschaft! Heil dir, deutsches Brudervolk! Heil dir auf immer!“
Pastorius war es auch, der beim Entwurf des Ortssiegels von Germantown in die Mitte desselben in sinniger Weise ein Kleeblatt zeichnete, dessen drei Blätter den Weinstock, den Flachs und die Weberei darstellen sollten, was durch die Umschrift Vinum, linum et textrinum (Wein, Lein und Webeschrein) Ausdruck fand. Dadurch wurde zugleich die Mission der Deutschen in Amerika, die Förderung des Ackerbaus, des Gewerbes und des heiteren Lebensgenusses, in der glücklichsten Weise angedeutet.
Ohne Zweifel ist auch eine weltgeschichtliche Großthat der Deutschen von Germantown auf den edlen Pastorius zurückzuführen: der erste in der civilisierten Welt erhobene feierliche Protest wider die Sklaverei, die unfreiwillige Knechtschaft! Die „Einfuhr“ von Negersklaven in die englischen Kolonien von Nordamerika wurde seit Anfang des Jahrhunderts betrieben, ohne daß die für allgemeine Menschenrechte eintretenden Quäker und Puritaner diesen Menschenhandel als eine schwere Ungerechtigkeit empfunden hätten. Erst die Deutschen von Germantown [631] kamen zu der Ansicht, daß der Sklavenhandel gegen die Lehren der christlichen Religion verstoße, und setzten am 18. Februar 168ß ein Schriftstück auf, das in geharnischten Worten ihren Anschauungen Ausdruck verlieh. Das denkwürdige, noch jetzt im Original vorhandene Dokument wurde zwar von den maßgebenden Behörden ad acta gelegt, aber die einmal angeregte Frage kam nicht wieder zur Ruhe und hatte mancherlei Gesetzanträge zur Folge, die ein Verbot des Sklavenhandels in Permsylvanien schließlich herbeiführten.
Der edle Pastorius erlebte leider diesen Triumph nicht mehr. Er, von dem sein ihm vorausgegangener Freund William Penn einst gesagt hatte: „Vir sobrius, probus, prudens et pius, spectatae inter inculpataeque famae“ („Ein nüchterner, rechtschaffener, weiser und frommer Mann von allgemein geachtetem und unbescholtenem Namen“), schied schon zu Ende des Jahres 1719 aus dem Leben. Aber er hatte doch noch Germantown durch Zuwanderung aus Deutschland und aus den englischen Kolonien allmählich zu einem betriebsamen Städtchen emporblühen sehen. Kein Zuwachs innerhalb des 18. Jahrhunderts erwies sich aber so wertvoll wie die Einwanderung eines aus Laasphe in Westfalen stammenden Mannes, Christoph Saur, der, wie viele andere durch die von Penn errichtete Freistätte des Glaubens angelockt, im Jahre 1724, also nur wenige Jahre nach Pastorius’ Tode, in Germantown anlangte.
Wohl nicht an Gelehrsamkeit, sicher aber an Vielseitigkeit war er dem Begründer von Germantown über, sagt doch eine handschriftliche Notiz über ihn: „Er ist ein sehr ingenieuser Mann, ein Separatist, der auf die 30 Handwerke ohne Lehrmeister erlernet. Denn als ein Schneider ist er dahin nach Amerika gereiset und nun ein Buchdrucker, Apotheker, Chirurgus, Botanicus, groß und klein Uhrmacher, Schreiner, Buchbinder, Concipient der Zeitungen, der sich alle seine Buchdruckerwerkzeuge selbst verfertigt; ziehet auch Bley und Drat, ist ein Papiermüller u. s. w.“
In keiner seiner vielen Beschäftigungen erzielte Christoph Saur so große und nachhaltige Erfolge wie in der Druckerei. Er war der Erste, welcher in Amerika deutsche Bücher mit deutschen Lettern druckte; er gab im Jahre 1739 den ersten „Hoch-Deutsch Amerikanischen Calender“ heraus und ließ am 20. August desselben Jahres auch die erste in Amerika gedruckte deutsche Zeitung erscheinen. Dieselbe führte den Titel: „Der Hoch-Deutsch Pensylvanische Geschicht-Schreiber oder Sammlung wichtiger Nachrichten aus dem Natur- und Kirchen-Reich“. Sie kam anfänglich monatlich, später aber als „Germantowner Zeitung“ wöchentlich heraus.
Wenige Jahre später, 1742, kündigte Saur sogar ein für jene Zeit und die dortigen Verhältnisse sicher großes Unternehmen an: eine deutsche Bibel in Luthers Übersetzung. Dieselbe erblickte in einem äußerst bescheidenen, mit dem Saurschen Wohnhause verbundenen Hintergebäude (vgl. das Mittelbild der Hauptillustration S. 633) das Licht der Welt. Der Druck dieser 1272 Quartseiten starken Bibel wurde bis zum Sommer 1743 fertiggestellt. Sie ist die erste auf der westlichen Erdhälfte gedruckte Ausgabe der Heiligen Schrift, der erst vierzig Jahre später eine von amerikanischen Druckern besorgte englische Ausgabe folgte.
Daß in Germantown auch die erste Papierfabrik in Amerika errichtet wurde, möge noch nebenbei bemerkt sein.
So knüpfen sich an den Namen Germantown mancherlei Vorgänge, die nicht bloß für die Geschichte des Deutschtums in Amerika, sondern überhaupt für die Kulturgeschichte der Neuen Welt von hervorragender Bedeutung sind. Kein Historiker, der es unternehmen wollte, die kulturelle Entwicklung Amerikas, insbesondere der großen transatlantischen Republik, zu schildern, dürfte verabsäumen, Germantowns und der Pionierarbeit seiner Gründer zu gedenken.
Und deshalb haben die Millionen von Deutschen, welche heute in Amerika wohnen, nicht nur das Recht, mit Stolz auf jene Stätte zu blicken, wo deutsche Kultur in der Neuen Welt zuerst Wurzeln schlug, sondern sie haben auch die heilige Pflicht, das Andenken jener deutschen Pilgerväter hochzuhalten, die deutschem Wesen, deutschem Fleiß und deutscher Gemütlichkeit die Wege zu neuen großen Erfolgen bahnten. Je mehr deutsche Vereine in Amerika die Feier des „Deutschen Tages“ in ihr offizielles Programm aufnehmen, je lebendiger sie die Erinnerung an Pastorius, Saur und die vielen anderen Stammesgenossen halten, die sich um das Deutschtum in Amerika und um die Förderung der neuweltlichen Kultur verdient machten, desto mehr ehren sie sich selbst, desto größer ist auch die Aussicht, daß der „Deutsche Tag“ zu einem Mittel werde, welches alle jetzt nur durch die losen Bande der Sprache und gemeinsamen Abstammung zusammengehaltenen Deutschamerikaner zu einem geschlosseneren Ganzen verbinde.
Politische Blumensprache.
Blumen als Dolmetscherinnen seiner Gedanken und Empfindüngen, namentlich in Liebesangelegenheiten, zu gebrauchen, ist eine alte Sitte, die sich durch ihre Anmut, ihren Reichtum und ihre Unverfänglichkeit empfiehlt. Sie gilt für eine Specialität des sinnigen Orients, wird aber überall gepflegt und überall verstanden. Wer kennte nicht die Sprache der Rosen, der Veilchensträußchen und des Vergißmeinnichtes? –
Aber die Blumen werden nicht nur benutzt, zarte Liebesgeständnisse auf sinnige Art zu vermitteln. Es giebt auch politische Blumen, die man selbst behält und als Zeichen seiner Gesinnung an sich trägt. Als kürzlich der Präsident Loubet bei den Rennen zu Auteuil von dem Grafen Christiani insultiert ward, hatten die Monarchisten weiße Nelken im Knopfloch stecken, worauf sich die Republikaner, um ihnen nichts schuldig zu bleiben, mit roten Nelken schmückten; die Weißnelken und die Rotnelken wurden Parteinamen, wie einst in England die Weißen und Roten Rosen. Die Kriege der Häuser York und Lancaster im 15. Jahrhundert um den Thron von England nennt man bekanntlich die Rosenkriege, weil sie unter dem Zeichen der Rose ausgefochten wurden, indem die Anhänger des Hauses York eine weiße, die von Lancaster eine rote Rose als Feldzeichen an ihren Hüten, beziehentlich als Kleinod an ihren Helmen führten. Shakespeare hat im ersten Teil von „König Heinrich VI“ den Ausbruch der Feindseligkeiten geschildert. Im Garten des Tempels, des ehemaligen Ordenshauses der Tempelherren in London, setzt Richard Plantagenet, Herzog von York, seine Ansprüche und Rechte auseinander. Da aber seine Anhänger mit der Sprache nicht herauswollen, so fordert er sie auf, ihre Herzensmeinung zu verblümen:
„Es pflücke, wer ein echter Edelmann,
Und auf der Ehre seines Bluts besteht,
Wenn er vermeint, ich bringe Wahrheit vor,
Mit mir von diesem Strauch ’ne weiße Rose!“
Das greift sein Gegner, der Graf von Somerset, auf, er bricht seinerseits eine rote Rose:
„So pflücke, wer kein Feigling ist, noch Schmeichler,
Und die Partei der Wahrheit halten darf,
Mit mir von diesem Dorn ’ne rote Rose!“
Worauf denn die anwesenden Lords und Herren samt und sonders Partei ergreifen und zwischen den beiden Rosen wählen. Das geschah an einem Sommerabend des Jahres 1452, damit begann der dreißigjährige englische Erbfolgekrieg, der Hunderttausende „in Rosen, d. h. im Blute, waten“ ließ, in dem achtzig Prinzen von Geblüt erschlagen wurden und die altnormännische Aristokratie unterging.
Die Nelke hat in Frankreich nach dem Sturze Napoleons I politische Bedeutung gewonnen. Bereits im Jahre 1815, wenige Tage nach der Wiedereinsetzung der Bourbonen, wurde die rote Nelke das Sammelzeichen der Anhänger Napoleons und seiner Dynastie, der Imperialisten; dagegen steckten die Royalisten, namentlich die königlichen Garden und die Pagen, weiße Nelken an. Erst nachher wurde das Veilchen Abzeichen der Bonapartisten, wofür es [632] auch nach dem Sturze des zweiten Kaiserreiches galt. Vor zehn Jahren trugen wieder die Boulangisten dunkelrote Nelken als Erkennungszeichen im Knopfloch, während die Sozialisten und die Radikalen in Frankreich den roten Storchschnabel angenommen haben. Alle diese Blumen, die vielfach wechseln, sind auf dem Boden der ersten französischen Revolution gewachsen; sie stehen in ausgesprochenem Gegensatze zu der weißen Farbe des Königtums.
Weiß ist in Frankreich die Farbe der alten Monarchie, der Bourbonen und der Orleans; ein „Weißer“ soviel wie ein Legitimist oder ein Orleanist, das heißt ein Königlicher. Das kommt daher, daß die französischen Könige durch acht Jahrhunderte (seit König Ludwig VII) die Lilie in ihrem Wappen und das weiße Lilienbanner führten, eine mit goldenen Lilien übersäte weiße Fahne. Das änderte sich mit der Revolution; mit ihr kam die sogenannte Trikolore, die rotblauweiße Fahne und Kokarde, als Sinnbild der drei Stände und des neuen Staatsgedankens auf. Natürlich, daß die königliche Partei diese drei Farben niemals anerkannte: nach der Wiedereinsetzung der Bourbonen im Jahre 1815 mußte sich die Trikolore wieder vor dem Weiß verstecken. Ludwig Philipp nahm zwar 1830 die dreifarbige Fahne anstatt der weißen an; aber als die legitimistische Partei nach der Februarrevolution und nach dem Sturze des zweiten Kaiserreiches 1870 den Grafen von Chambord als Heinrich V auf den Thron erheben wollte, scheiterte der Versuch an der Weigerung des Grafen, die Trikolore anstatt des weißen Lilienbanners als nationales Abzeichen anzunehmen.
Jedesmal kämpften nun die Farben im stillen weiter, wenn sie beim großen Spiele unterlegen waren, und zwar suchte man nach Blumen, die minder auffällig und verdächtig waren als Fahnen und Kokarden, und die man anstecken konnte, ohne gleich eingesteckt zu werden. Die Republikaner schmückten sich mit blühenden Trikoloren: deren gab es viele. An ein halbes Dutzend Blumen werden von den Gärtnern als Tricolor (dreifarbig) bezeichnet; zum Beispiel der Amarant, das Stiefmütterchen, das deshalb auch das Dreifaltigkeitsblümchen heißt, eine Art Storchschnabel oder Pelargonium und mehrere Varietäten der Nelke. Die dreifarbige Nelke und das dreifarbige Veilchen mußten Opposition gegen das alte Königshaus, die ältere und die jüngere Linie desselben machen; das dreifarbige Veilchen, Viola Tricolor, ist unser bekanntes Stiefmütterchen. Dieses wurde speciell die Wappenblume derjenigen Revolutionäre, die den Imperialismus begünstigten, der Napoleoniden. Jetzt tragen die Bonapartisten meist einfache blaue Veilchen, die Lieblingsblume Napoleons III; die Veilchen sind wie die Bienen, die einst der erste Napoleon zu Emblemen seines Kaisertums erhob, weil sich im Grabe des alten Königs Childerich zu Tournai goldene Bienen gefunden hatten, Abzeichen der Partei. Auch die Republikaner behielten am Ende von den drei Farben nur eine, die Volksfarbe, das Rot, bei. Und neben diesen Ausgeburten der Revolution erhielt sich fort und fort die weiße Blume des Königstums, die weiße Nelke.
Aber nicht nur in Frankreich gedeiht die politische Blumensprache. Vor zehn Jahren wurde die achthundertjährige Feier der Herrschaft des Hauses Wettin in Sachsen mit großem Glanz begangen. Bei dieser Gelegenheit trug sich alles mit blühenden Rautenstengeln, obgleich die Raute im sächsischen Wappen nur auf einem Mißverständnisse beruht: der Schrägrechtsbalken desselben ist gerautet. Nun, die gelblichen Rautenstengel in den Händen der königstreuen Sachsen entsprachen ungefähr den weißen Nelken in den Knopflöchern der französischen Legitimisten, nur daß sie weniger herausfordernd und mehr der Ausdruck einer allgemeinen Anhänglichkeit als ein Feldzeichen waren. Aehnlich könnte man im Fürstentum Schaumburg-Lippe ein Nesselblatt, in der Türkei, deren Wappenblume der weiße Mohn ist, eine Mohnblume und in Japan wie O-Kiku-San einen Chrysanthemumstengel tragen. Als nach Cromwells Tode die Stuarts auf den britischen Thron zurückkehrten, schmückten sich die Royalisten zur Erinnerung daran, daß König Karl II nach der Schlacht bei Worcester (1651) auf eine Eiche geklettert war, mit Eichenlaub. Am 29. Mai 1660, an seinem Geburtstage, zog Karl in London ein; da hielt männiglich das Oak (Eichenblatt) wie eine Trophäe in die Höhe. Bei uns ist der Eichenbruch, den der heimkehrende mit Beute beladene Weidmann, der Schütze und der Soldat aufsteckt, wenn die Schlacht gewonnen ist, ein allgemeines patriotisches Glücks- und Freudenzeichen, ohne politischen Beigeschmack, wie es die Stechpalme im Elsaß ist, die Rottanne im Harz, die Edeltanne im Schwarzwald, der Lauch in Wales, das Kleeblatt in Irland und die Distel in Schottland.
In London wurde 1880 plötzlich die Primel für die Lieblingsblume des Premierministers Beaconsfield erklärt: sie versinnlichte fortan den Konservativismus, erzeugte den „Primelbund“ und verjüngte gleichsam die Partei. Eine passendere Blume konnte der alte Staatsmann gar nicht wählen: sie kündigt den Frühling an, sieht leuchtend hellgelb aus und ist – eine Hauptsache bei politischen Blumen! – billig. Am 19. April 1881 starb Lord Beaconsfield; seitdem ergießt sich an diesem Tage über London eine Flut von Himmelschlüsselchen. In dichten Scharen strömt die primelngeschmückte Menge nach Parliament Square, zur Bildsäule des großen Toten, die unter den gelben Blumen ganz verschwindet.
Sinniger und noch volkstümlicher war die blaue Blume, mit der man um dieselbe Zeit in Deutschland seine Anhänglichkeit an den alten Heldenkaiser zu erkennen gab und die man ihm brachte, als er seine siegreichen Truppen heimführte. Wilhelm I hatte die blaue, aus Sicilien stammende und mit dem Getreide verbreitete Kornblume zur Lieblingsblume erkoren. Sie war ihm heilig, denn sie war die Blume seiner Mutter, der Königin Luise, ein Sinnbild des Ausharrens und der Treue. Es war im Sommer 1808 gewesen: die Königin kehrte mit ihren Söhnen von Memel nach Königsberg zurück. Da brach auf freiem Felde ein Rad am Wagen. Es mußte gewartet werden: die Kinder suchten Kornblumen, die Mutter flocht Kränze daraus. Ein Kränzlein setzte sie dem elfjährigen Prinzen Wilhelm auf. Ihre Thränen waren darauf gefallen. Unter den herzgewinnenden Eigenschaften, die unsern unvergeßlichen ersten Kaiser auszeichneten, war eine der rührendsten die Liebe zu seiner Mutter. Als er auszog, die französischen Ansprüche zurückzuweisen, ging er noch einmal ins Mausoleum zu Charlottenburg, holte sich den Segen seiner Eltern und flehte am Grabe der Mutter um Stärkung zu dem gefahrvollen Werke. Auf Frankreichs Gefilden umschwebte den Oberfeldherrn der Geist der edlen Königin, die einst das Goethesche Wort „Wer nie sein Brot mit Thränen aß“ in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Und ein Hauch von diesem Geiste umschwebt jeden sein Vaterland liebenden Deutschen, wenn er eine Kornblume pflückt, wo es auch sei.
Das lebende Bild.
(Schluß.)
Hans von Hochfeld verlor allmählich die Geduld. Zweimal war er schon mit Luisens Buch in Onkel Julius’ Arbeitszimmer eingetreten, um es ihm versprochenermaßen selbst zu übergeben; jetzt kam er zum drittenmal und der Oheim war noch nicht da. Die große Stockuhr hatte halb zwölf geschlagen. Müde war Hans nicht, heute abend gar nicht; aber er sollte doch zu Bette gehn. Heimgekommen war der Onkel gewiß. In seinem Schlafzimmer war er nicht, in den andern auch nicht. Auf seinem Arbeitstisch brannte die Lampe; sonst war alles dunkel und tot. So konnte er nur im Garten sein, im Mondschein spazieren gehn … Zum vierten- oder fünftenmal trat Hans an die große Glasthür; bisher hatte er in dem mondhellen Garten nichts Lebendiges entdeckt. Diesmal – ja! Da ging er! Aus der Nacht unter den dichten Bäumen kam er ins Lichte heraus, ging quer über den Rasenplatz hin; den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken, wie er das so liebte.
Merkwürdig! dachte Hans. Eigentlich verrückt! So kurz
[633][634] vor Mitternacht irrt er noch umher. – Wenn er noch ein verliebter junger Bursch wär’ wie ich! – – Schauderhafte Einsamkeit hier! Keine Musik, keine Parfums, keine Toiletten, keine blitzenden Augen. Donnerwetter, diese Augen! Jeannette von Lossow hat doch die merkwürdigsten, unternehmendsten Augen, die – – Klein sind sie ja eigentlich. Und kein rechtes Blau. Aber manchmal guckte sie mich an, daß ich – –
Mit einem verzückten Lächeln sah er in die Luft. Wie viel hatte er in den paar Stunden erlebt! Wie persönlich wohl war ihm zu Mut; er fühlte, daß es ganz entschieden ein Glück war, Hans von Hochfeld zu sein. Nur das muß ich sagen, ging ihm nach einigem Nachdenken durch den Kopf: etwas in mir bäumt sich doch gegen sie auf. Ich bin ja nicht unbescheiden; aber wenn sie zum Beispiel meine Frau würd’ und sagte mir dann eines Tages: ich hab’ Almansor doch noch lieber als dich –
Ein furchtbarer, schauderhaft aufregender Gedanke; Hans ballte seine beiden Fäuste. Diesem Almansor schöss’ ich eine Kugel vor den Kopf!
Er hatte das schwere Buch auf den Arbeitstisch gelegt; aus Pflichtgefühl konnte er sich aber noch nicht entschließen, zu gehn. Endlich! Der Oheim kam! In sich versunken, unheimlich ernst, ohne Hans zu sehn, trat er durch die Glasthür ein, in braunem Mantel und braunem Hut, ganz denen gleich, die er in der Villa Viola gelassen hatte. Er drehte den Schlüssel um. Er sah auf die Erde, ließ ein paar Töne hören, die wie halb unterdrückte Seufzer klangen. Derweil blieb er stehn, neben der lebensgroßen Flora-Statue; gegenüber stand nur noch das leere Postament der zerschlagenen Fortuna. Er nahm Hut und Mantel ab und legte sie, wie er schon öfter gethan, der Flora auf Kopf und Schultern. Als er dann zum Arbeitstisch ging, sah er Hans.
„Guten Abend, Onkel Julius,“ sagte der junge Mann.
Julius nickte ihm zu: „Guten Abend, Hans.“ Er unterdrückte ein bitteres Lächeln; der kommt immer wieder! dachte er. – „Was, du noch auf?“
„Ich hatte dir was zu übergeben, Onkel. Uebrigens war ich auch – noch zu aufgeregt. Hätte doch noch nicht schlafen können.“
„Du warst im Salon bei Morlands?“
„Ja, auch; eine Zeit lang. Hab’ aber natürlich auch meine Geschäfte besorgt. – In der Villa war’s – recht interessant. Ich hab’ auch dieses merkwürdige junge Mädchen, Fräulein von Lossow, kennengelernt –“
„Ah!“ unterbrach ihn Julius. „Die Centaurin!“
„Centaurin?“
„Ja. Dieses junge Weibchen mit dem Pferdeherzen.“
Julius trat an das Fenster, das auch in den Garten sah; es war aber durch einen langen, dunklen Vorhang verdeckt. Er lüftete ihn und starrte wieder in die dämmernde Nacht.
Er drückt sich immer merkwürdig abkühlend aus, dachte der doch etwas verwirrte Hans. Wie ein Regenbad! – „Ich find’ sie aber jedenfalls sehr interessant,“ entgegnete er, um sich aufzulehnen.
Julius lächelte über die Schulter. „So? Sehr interessant? Daß sie immer von Pferden spricht? – Ich hab’ sie im Frühling in Berlin gesehn; das war nicht sehr – –“
„Aber wie sie davon spricht!“ warf Hans ein, wenn auch etwas unsicher. „Und dann – ihre frische, herzliche Art; ihre Natürlichkeit.“
Der Oheim sah ihn schweigend an. Was er dachte, konnte er nicht gut sagen: Alle Weisheit aller gescheiten Menschen kann die Dummen nicht hindern, dumm zu sein!
„Verliebt!“ murmelte er dann in den Vorhang hinein, wie um den Bengel ein wenig zu entschuldigen.
„Sagtest du etwas?“ fragte Hans.
„Nur so für mich. – Na, und du warst auch so glücklich, die lebenden Bilder zu sehn?“
„Nein, Onkel, ich nicht mehr. Tante Clotilde ließ sich entschuldigen, weil sie Kopfweh hatte. Später suchten wir sie alle im Garten auf; da sah sie aber in ihrem Kleid und Schleier und Blässe noch aus wie eine Statue des –“
Er suchte das Wort; er hatte sich zu weit gewagt.
„Wessen?“ fragte Julius.
„Wie eine Statue des Kopfwehs,“ brachte Hans mit einem kühnen Lächeln heraus. „Es ging ihr aber doch schon besser … Du, Onkel, bei Statue fällt mir ein: da fehlt also noch immer das Gegenstück zur Flora. Das Postament und gar nichts drauf; es sieht schauderhaft unsymmetrisch aus. Willst du sie nicht wieder kommen lassen?“
„Die Fortuna?“
„Ja.“
„Nein, nein. – Laß es nur so aussehn. Was liegt daran. – Ich werd’s auch nicht mehr lange sehn. Ich reise ab.“
„O! Du reisest ab?“
„Ja.“ – Julius ging durchs Zimmer, langsam hin und her. – „Eine längere Reise. Nach dem Süden; es kommt ja nun der Herbst.“
Nach einigem Zögern fragte Hans: „Allein?“
„Ja. – – Geh zu Bett, mein Junge. Es ist spät, du bist für einen Landmann schon viel zu lange auf. Morgen wieder früh heraus –“
„Ich schlaf’ schnell!“
„Sehr angenehm. Aber doch Gute Nacht!“
Hans trat näher und gab ihm die Hand. „Wie der Herr Onkel befehlen. Gute Nacht!“ Er ging.
„Allein!“ dachte Julius, sich Hansens Wort wiederholend, als er die Thür hatte schließen hören. Es ödete ihn an, dieses Wort; sich auf die Reise freuen konnte er nicht. In der Fremde herumirren, allein … Und doch war’s vielleicht gut. Vielleicht verjüngte es ihn; denn sie hat wohl nicht Unrecht, dachte er, die verfinsterten Augen schließend, – ich fühl’s: ich bin wirklich älter, als ich sollte. Die wahre Lust am Leben, die ist mir entfallen …
Nebenan, im Salon, hörte er Klavierspiel; leises, aber er hörte es doch. Er erkannte Hans am Anschlag; weich spielten seine Finger nicht. War der dumme Junge denn in den Salon gegangen, statt nach seinem Zimmer? – Der glückliche dumme Junge fand also noch nicht zu Bett. Offenbar verliebt! Der Waldmensch in die Centaurin! – Julius saß an seinem Schreibtisch nieder, stützte die Stirn in die Hand. Wär’ wenigstens Luise bei mir! fuhr ihm durch den heißen Kopf; das würd’ mich verjüngen! Mit ihr in die Welt hineinschauen – o ja. Mit ihr wieder neu staunen lernen über alles! – Sie bleibt bei der Mutter.
Sie bleibt bei der Mutter …
Er starrte auf den Tisch. Etwas Eingewickeltes fiel ihm in die Augen; „an meinen lieben Vater“ stand darauf. Es war von Luisens Hand geschrieben. Wie kam das hierher?
Er stand auf, ging zur Salonthür und öffnete sie. Eine einzige Kerze brannte dort, auf dem Klavier; Hans saß noch und spielte. Als der Jüngling den Oheim sah, sprang er auf. „Bitte um Vergebung! Ich wollt’ mir nur noch ein Schlummerlied aufspielen –“
„Hast du das gebracht?“ unterbrach ihn Julius. „Auf meinem Tisch liegt ein Buch, wie es scheint.“
„O Gott, ja! Verzeih! Das hab’ ich vergessen. Als du von der – Centaurin anfingst – –“
Er folgte dem Onkel ins Arbeitszimmer, um seine Dienstfertigkeit zu zeigen, und legte ihm das Buch selber in die Hand. „Schwer! Was? Und damit den ganzen Weg geritten. Cousine Luise schickt es dir.“
Julius wickelte den Inhalt heraus; befremdet, mit einem mißfälligen Spiel der Brauen, sah er darauf hinunter. „Ein Album. Das alte Buch mit – den Photographien von Tante Clotilde. – Das schickt mir Luise?“
„Ja.“
„Warum?“
„Lieber Onkel, das weiß ich nicht. Sie kam damit und gab mir’s; basta.“
Julius öffnete das Album und durchblätterte es. „Ich versteh’ nicht! – Vielleicht hat sie sich vergriffen; mir fehlte ein anderes Buch, das ich in der Stadt gelassen hatte. Das sollte Friedrich mir schicken.“
„Ja, so wird’s wohl sein!“
Hans sah dem Oheim über die Schulter, seine Augen blätterten mit. „Donnerwetter, schöne Photographien! – Weißt du, Onkel Julius, wenn dir’s kein Opfer ist, könnt’st du mir eine davon geben: Tante Clotilde ist in meiner Schuld. Die einzige [635] Photographie, die ich von ihr hatte, mußt’ ich heute hergeben; sie verschenkte sie weiter –“
Er sagte doch lieber nicht, an wen.
„Gut,“ antwortete Julius gleichgültig; er schaute schon nicht mehr hin. „So nimm dir eine.“
„Darf ich wählen?“
„Ja.“
Hans deutete mit dem Finger auf das Bild, das er eben sah. „Die da ist ausgezeichnet, Onkel; die im Bergwandererkostüm. Kann ich die nehmen?“
Julius nickte. Er zog die Photographie aus dem Album heraus und hielt sie ihm hin; dabei warf er noch einen Blick darauf. „O ja,“ sagte er, „ein gutes Bild; nur etwas verblaßt. Das ließ ich in der Schweiz machen, als wir beide sogenannte Bergfexe waren, mit Leidenschaft auf die ,Pics‘ und ,Pize‘ stiegen; – da waren wir beträchtlich jünger als jetzt …“ Er lächelte, in langsam aufsteigender Wehmut; er hielt die Photographie besser zum Lampenlicht. „Ja, das war in Pontresina. – Ein gutes Bild. Ganz das unternehmende, frische, feurige Gesicht; und die elastische, unermüdliche Gestalt! – Vier, fünf Wochen wanderten wir damals in der Schweiz und in Tirol herum; fast jede Nacht ein neues Quartier. Diesen Alpenstock“ – er lächelte wieder – „den sie so kriegerisch in der Hand hält, wie die Jungfrau von Orleans ihre Fahne, den verlor sie den Tag darauf; er rollte in den Abgrund. Bei einem Haar rollte sie ihm nach. – – Weißt du, nimm lieber ein andres Bild. Dies da – zur Erinnerung sollt’ ich’s doch behalten. Das ganze Album ist voll; also Auswahl genug!“
Hans nickte und blätterte zurück. „Da war eins, das mir auch sehr gefiel; im Reitkleid. Da ist es.“
„Gut, also nimm’s!“
Indem Julius es herausziehen wollte, sah er es noch einmal an. „Ja, ja, damals lernte sie reiten; als junge Frau: denn als Mädchen war sie nicht aufs Pferd gekommen, ihre ängstliche Mutter hatt’ es nicht gelitten. Sie lächelt auf dem Bild, rein vor Glück. ,Reiten ist der Himmel,‘ sagte sie damals, ,Reiten ist das Paradies!‘ – – Ein kindlich triumphierendes Lächeln. Ich glaube, so kann das nur ’ne Frau! – – Mein lieber Junge, das Bild ist nicht gut; zu wenig Form im Gesicht, zu viel retouchiert; aber ich – wenn ich’s ansehe, wird es mir lebendig; ich seh’ wieder die Wangen glühn und die Augen leuchten. Diese Reiterin – nein, die geb’ ich doch nicht her. Such’ dir eine andre; von der Infanterie!“
Er macht wieder Witze, dachte Hans sehr verwundert. Auf die Kavallerie verzichtend, blätterte er weiter zurück. „Da ist eine, die sitzt und liest. Die find’ ich vortrefflich.“
„Findest du?“ – Julius betrachtete sie nun auch, zuerst nur von der Seite. „Das ist der wahre Gegensatz zu der Reiterin! So ernsthaft still, wie man nur sein kann; träumend, weltvergessen. – Des Gegensatzes wegen sollt’ ich das Bild eigentlich behalten; – aber nimm es hin!“
Er zog es heraus, hielt es Hans entgegen; der griff danach.
Julius hielt es aber noch fest: „einen Augenblick!“ Er betrachtete es aufmerksamer. „Das Bild hab’ ich selbst gemacht; ich glaube, damit fing mein Photographieren an. Ja, ja. Sie hatte zum erstenmal Lord Byrons ‚Manfred‘ gelesen; ich fand sie grade, als sie so ergriffen, in das Buch versunken dasaß; mit einem fremden, beinah rätselhaften Gesicht. Könnt’ ich das festhalten, dacht’ ich! So entstand diese Photographie …“
Er ruhte noch mit den Augen darauf; eigentlich sah er sie aber nicht mehr. Es ward ihm so wohl und weh ums Herz. O ja, dachte er, eine merkwürdige Frau. Was für eine Frau. So viele, viele Geister in der einen Seele. Ein Proteus … Aber ach –!
Er versank in sich.
Hans wartete eine Weile; dann fragte er schüchtern: „Also – behalte ich dieses Bild?“
Julius blickte auf. Er lächelte: „Du hast’s ja noch nicht.“ Nach einem stummen Blick auf den Jüngling – was er für Augen hat! dachte Hans – steckte er die Photographie wieder an ihren Platz. „Ich kann dir’s nicht geben, Junge. Es hängt etwas daran; eine Erinnerung, mein’ ich. Nimm irgend ein anderes Bild, das mir nichts bedeutet.“
„Gieb mir doch, welches du willst!“ sagte Hans.
„Also dieses da. Im antiken Kostüm; mit Schleier und Diadem;“ Julius’ Gesicht verzog sich: „als ‚lebendes Bild‘. Aus der Zeit, als sie anfing, die Statuen aus dem Altertum zu spielen – in Drapierungen und Stellungen zu glänzen –“
Er sprach nicht weiter. Ein bitterer Geschmack trat ihm auf die Zunge, wie an diesem Nachmittag. Bis es nun damit endet, dachte er, daß Centauren und Silene ihr dort Beifall klatschen, während ich hier im Mondschein durch den Garten irre …
Weg mit diesem Bild!
Er begann es herauszuziehn; dabei blickte es ihn noch einmal an. O, sie weiß warum! ging ihm durch den Sinn, während seine Augen es wider Willen anstarrten: das Antike steht ihr so gut. Es macht sie vornehm und edel; es legt gleichsam den Zeigefinger auf die Poesie ihrer Gestalt, es giebt ihren Augen Stimme … Diese Bilder machen mich verrückt!
Er ließ das Album auf den Schreibtisch fallen. – Um diese Bewegung wieder harmlos zu machen, fragte er, ohne Hans anzusehn: „Hast du endlich gewählt?“
„Du wolltest ja für mich wählen, Onkel.“
„Wollt’ ich das? – Na, gut!“
„Soll ich das lebende Bild da nehmen?“ fragte Hans und griff nach dem Buch.
Julius zog es ihm fort: „Nein, nein, nein! Die nicht! – Versteh mich, mein Junge – um des Kostüms willen muß ich sie behalten. In diesem Kostüm ist sie eben eine andere; und diese andre ergänzt sie; und aus all den Ergänzungen wird ja erst der ganze Mensch. Reiß’ ich ein Blatt heraus, ist das Buch verstümmelt …“
Er sah die aufhorchende, wachsende Verwunderung auf Hansens Gesicht; mit einem fast verlegenen Lächeln brach er ab. „Du verstehst,“ murmelte er nur noch.
„O ja,“ erwiderte Hans treuherzig. „Verzeih, daran dacht’ ich nicht. Dann verzicht’ ich, Onkel.“
„Warte, warte; wir finden vielleicht –!“
Julius blätterte noch weiter zurück; Hans trat aber bescheiden zwei Schritte weg, als wär’s schon zu Ende. „Im Ballkleid; – das ist nichts für dich. – Auf einer Rasenbank liegend, träumend; hier im Garten …“ Julius schüttelte den Kopf und schlug um.
„Im Morgenkleid! – Auch von mir. Bei meinen Blumen im Treibhaus; mit der Gießkanne; das jüngste Bild, vor zwei Jahren gemacht. Damals versuchte sie mir nachzueifern und meine Blumen mütterlich zu pflegen; du kannst dir wohl denken, es stand ihr gut …“
Er versank in das Bild und in sich. Wieder wie anders! dachte er, einen körperlichen Schmerz in der Brust. Wie die größte, sonderbarste, veredeltste unter all den Blumen. Holde Mütterlichkeit in dem noch so frischen Gesicht. Die letzte goldene Zeit! – Dann fing diese Unruhe an, wieder jung zu sein, dieser Lebenstaumel … Ach, ist es denn nun wirklich vorbei? Seh’ ich sie nie mehr so? Soll ich ihr nie wieder zu Füßen sinken wie damals, und verjüngt, verliebt – –
Er hörte Hans, der vor Ungeduld einen Fuß bewegte, erschrak und blickte auf. Wie kam er zu diesen Gedanken – und zu diesen Bildern. Weg, weg, weg damit …
Er legte das Buch wieder auf den Tisch; dann ging er durchs Zimmer. So lange war er in der Nacht umhergegangen, bis er ruhig wurde; nun war wieder alles hin!
Hans sah ihm bedenklich nach. Das kommt von dem Buch, dachte er; das hat ihn so aufgeregt. Es war eine Dummheit, daß Luise ihm das Album schickte!
Julius kam langsam zurück; „ja so, du bist noch da!“ sagte er. Sein gewohntes Schicksal: er vergaß so leicht, daß der Junge da war. „Also die Photographie! – Es ist komisch: ich finde keine für dich. Jede gehört –“
„Zum Ganzen,“ fiel Hans ein. „Ich versteh’ das. Ich verzichte, Onkel. Ein andermal, wenn eine neue gemacht wird –“
„Dann gewiß, gewiß! – – Nun aber endlich zu Bett. Ich darf’s nicht dulden, daß du länger aufbleibst. Und ich – will auch schlafen …“
Es war ihm nur, als hätt’ er jede Möglichkeit des Schlafs verloren für diese Nacht. Er trat wieder an den Tisch, es zog ihn förmlich. Das Album war noch offen; die Clotilde mit der [636] Gießkanne, die „mütterliche“, schaute ihn noch mit den herzlichen Augen an. Was für ein Blick das ist! dachte er. Ach, ich könnte jetzt – –
Die Stutzuhr begann zu schlagen. Er fuhr zusammen.
„Also Gute Nacht, Onkel!“ sagte Hans. „Wahrhaftig, es schlägt schon Mitternacht.“
„Mitternacht!“
Julius drückte die Augen zu. Also aus und vorbei. Also morgen fort!
Er sammelte sich zu männlicher Ruhe. Alte Gewohnheiten sind oft die besten Helfer; ihn unterstützte sein Ordnungssinn. Bedächtig schlug er das Album zu und ließ die Krampen einspringen; dann legte er ein andres Buch darauf. „Bitte, lösch die Lampe, Hans, eh’ du gehst. Geh aber auch gewiß. Gute Nacht!“
Die große, magere Gestalt schritt ehrenfest in den Salon hinaus.
So hab’ ich ihn vielleicht noch nie gesehn, dachte Hans. Wie komisch ihm das zu Herzen ging, daß es zwölfe schlug! – Ueberhaupt, ich glaube – – Was? – Ich weiß es nicht. – Ich bin auch viel zu müde, um noch viel zu denken. Ich bin höllisch müde. Wenn Jeannette von Lossow etwa meinen sollte, ich werd’ heute nacht um ihretwillen nicht schlafen – furchtbar schlafen werd’ ich!
Er wollte zum Schreibtisch gehn, unbewußt, mechanisch, um die Lampe zu löschen; ihm fiel aber wieder das infame Wort „Centaurin“ ein und schüttelte ihn. „Das junge Weibchen mit dem Pferdeherzen“ … Ihm ward so zuwider zu Mut, daß er einfach aus der Thür ging; die Lampe war vergessen. Centaurin! Centaurin! Das Wort kam ihm immer wieder, während er über den Korridor zu seinem Zimmer schlich. Am Ende seh’ ich sie heut nacht im Traum als wirkliche Centaurin über die Koppel galoppieren – und hör’ mich wiehern als Stronzian!
Die drei „Nachtwandler“, Clotilde, Luise und Friedrich, waren elbaufwärts marschiert, über Loschwitz, Niederpoyritz, Hosterwitz; dann über die Höhen ins Land hinein. Bis Hosterwitz ging Clotilde wie die andern ihren guten Schritt; als sie aber die Hügel anstiegen, schämte sie sich sehr: sie, die ewig Elastische, die Bergsteigerin, fühlte eine Müdigkeit in den Knien, die in wahrhaft verächtlicher Weise wuchs. Was war denn mit ihr geschehn? War sie plötzlich alt geworden? Oder hatten diese wilden Wochen, diese Jagd von Sport zu Sport, von „Vergnügen“ zu „Vergnügen“, sie doch heimtückisch ausgesogen und zu einer Art von schöner Ruine gemacht? – Sie sah den schweigsamen Friedrich von der Seite an, der neben ihr so gleichmäßig dahinstapfte: verstellte er sich nur? ward er auch schon müde? Nein, es war ihm nichts anzumerken. Er schritt beleidigend tapfer fort. Vollends die Gazelle auf der andern Seite, die lange, schlanke Luise, die von Zeit zu Zeit ein süddeutsches oder ein heimatliches Liedchen in die Mondnacht hineinträllerte … Ja, ja, dachte Clotilde mit mütterlich gönnendem Neid, die hat vernünftig, natürlich gelebt! Das hat ihre Mutter wohl nicht gethan; – dafür wird sie sich nun aber zusammennehmen; niemand soll was merken. Wenn man in so ’nem braunen Pilgermantel geht … Auf der Bußfahrt. Laß dir die Knie nur weh thun. Das thut dir gut!
Sie sang nicht wie die Tochter, aber mit einem hellen, heiteren Gesicht wie der Mond – dann freilich wieder plötzlich bange: ach, wie wird es enden? – wanderte sie ihre Straße fort.
Endlich kamen sie auf den Gutshof; vor ihnen lag das alte, zum Teil erneuerte hellgraue Haus. In Julius’ Schlafzimmer sahen sie noch Licht. Sie gingen leiser heran; Friedrich schloß die Hausthür mit dem Schlüssel auf, den Julius ihm vor Monaten für alle Fälle mitgegeben und den er beim Abmarsch nicht vergessen hatte. Auch eine kleine, zierliche Laterne hatte der Vorsorgliche mitgenommen; damit leuchtete er nun den Damen im Haus, auf dem Korridor. Alles um sie her war still. Luise ging ungeduldig, aber auf den Zehen, voran: sie trat zuerst in des Vaters Arbeitszimmer. „Was ist das?“ flüsterte sie. „Hier brennt noch die Lampe?“
Clotilde folgte ihr in starker, heimlicher Bewegung; sie sah wie im Traum umher. „Ja, das ist sonderbar,“ erwiderte sie; es beschäftigte sie aber nicht. Ihr war der ganze Raum so merkwürdig; als hätte sie ihn früher mit andern Augen gesehn. Die schön gebundenen Bücher in den altertümlich geschnitzten Gestellen, die herrlich gediehenen Pflanzen, die Geweihe und Waffen, die edlen Bilder, alles schien ihr heut so stimmungsvoll; und so menschenwürdig. Nur über den braunen Mantel, den andern, der auf den Schultern der Flora hing, flog sie ein kleines Lächeln an; und auf dem Postament gegenüber fehlte die Fortuna …
Friedrich war draußen geblieben. Luise legte einen Arm um Clotilde: „Soll ich dir was sagen, Mutter? Weißt du, was ich mir ausgedacht hab’? Ich geh’ jetzt in den dunklen Salon, neben seinem Schlafzimmer, setz’ mich ans Klavier, spiel’ sein altes Lieblingsstück, die ,Adelaide‘; leise, aber doch, daß er’s merkt. Oder wenn er schon schläft – er hat zwar noch Licht – na, dann werd’ ich lauter spielen, bis er endlich aufwacht. Und dann wird er horchen – und wird sich wundern: was ist denn da für ein Heinzelmännchen gekommen, das mir meine Musik macht? Und wird aufstehn und kommen; ich versteck’ mich aber –“
Clotilde faßte ängstlich Luisens Arm: „Ja, ja! Aber nicht zu früh. Ich – bin noch nicht so weit. Geh ans Klavier, ja, ja; aber fang’ nicht gleich zu spielen an, wart’ noch fünf Minuten, hörst du? bis ich hier, am Schreibtisch – –“
Es kam ein verschämtes Erröten über sie, vor dem eignen Kind. „Laß mich nur und geh! – – Ach, du meine gute Luise. Bist noch so jung, so jung, und über dein Leben kommt schon so – Wunderbares, Unaussprechliches. Das man besser nie erlebte …“
„Ich hab’ dich aber so lieb!“ flüsterte Luise, umschlang sie und küßte sie auf die heiße Wange.
Clotilde lächelte glücklich. „Geh!“
Luise, immer auf den Zehen, trat in den Salon: sie machte die Thür hinter sich zu. Auf einmal schlug Clotilden das Herz so stark. Das Schmerzgefühl in den matten Knien war vergangen, dafür zog ihr die Unruhe, die Bangigkeit nun durch alle Glieder. Sie wollte an seinem Arbeitstisch schreiben, für ihn; er sollte ihre Worte lesen, ehe er sie sähe. Aber auch davor fürchtete sie sich jetzt; ihr war, als sähe sie schon sein ernstes, ungläubiges Gesicht, das auf seine Stirn geschriebene „Zu spät“; und alles, was sie fühlte, was sie ihm bekennen, was sie hinausweinen wollte, floh ihr wie zurückgeschrecktes Blut wieder dem Herzen zu. Sie konnte noch nicht … Sie schloß die Glasthür zum Garten auf und öffnete sie, frische Luft zu schöpfen. Der Hauch der Nacht that ihr gut; er belebte sie, gab ihr wieder Mut. Sie wehte ihn sich mit der Hand ins Gesicht. Die Thür offen lassend, um mehr Luft zu haben, ging sie dann endlich zum Schreibtisch hin, setzte sich entschlossen, nahm Papier und Feder. Sie schrieb. Ob er nicht staunen wird wie über ein Gespenst? dachte sie, während die Feder flog. Wenn ihm hier die Lampe meine Schrift beleuchtet? und dann – mich selbst?
Die Thür zum Korridor öffnete sich leise, ohne daß sie’s merkte; Hans, der vom schlafen gehenden Oheim nicht gehört sein wollte, trat mit aller Vorsicht herein. Es war ihm doch noch eingefallen, daß er die Lampe hatte brennen lassen … Jetzt erschrak er aber, da er die braune Gestalt am Schreibtisch sah. Der Onkel wieder hier? Und in Hut und Mantel? – „Onkel Julius?“ sagte er zaghaft, schlaftrunken.
Clotilde, die von ihm abgewandt schrieb, fuhr vor Schreck zusammen. Hans! Großer Gott!
Das ist ja doch nicht der Onkel! dachte Hans, dessen Verstand erwachte. Der ist größer und – –
Er sah jetzt das weibliche Haar unter dem Hut. Er erschrak nun auch: aber nur einen Augenblick. Donnerwetter! eine Dame! – Wie kam eine Dame hierher?
Unsicher, langsam trat er näher; Clotilde stand auf. Was thun? fuhr ihr durch den Kopf. Soll dieser Junge mich sehn – und alles, alles erraten? – Wie bring’ ich ihn fort? Oder, wie komm’ ich fort? – In diesem Augenblick begann Luise
[637][638] nebenan zu spielen. Es klang gedämpft herein; aber die so oft von Julius gespielte Beethovensche „Adelaide“ war nicht zu verkennen. Zum Teufel! dachte Hans und stand in neuer Verblüffung still; Onkel Julius spielt Klavier? Und eine Dame hier in seinem Zimmer – in seinem Mantel und Hut – nach zwölf? – Ah! Ah! Ich hab’ ihn immer für einen Tugendspiegel gehalten …
Er oder ich muß fort! Das war Clotilden klar; sonst nichts. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie den Zettel aus Fannys Wettbuch, den sie ihr weggenommen, in der Tasche hatte; auf der Wanderung, im Mondlicht, hatte sie ihn gelesen. Sie griff unter ihren Mantel, zog das Blättchen geschwind hervor; mit dem konnte sie Hänschen den Mund stopfen – und zugleich ein gutes Werk an ihm thun! Rückwärts auf ihn zugehend, ohne ihm ihr Gesicht zu zeigen – nun wieder ganz die lustige „Zigeunerin“, die einen Evasstreich spielt – hielt sie ihm abgewandt den zerknitterten Zettel hin. „Lesen Sie das!“ sagte sie mit dumpfer, verstellter Stimme.
„Was heißt das?“ fragte Hans.
Sie antwortete nicht; der Zettel blieb in seiner Hand. „Lesen Sie!“ murmelte die fremde Stimme noch einmal.
Hans trat näher zur Lampe und las: „Fanny Morland fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld; Handicap-Steeplechase; Ziel: Jeannette von Lossow. Herr von Marwitz fünfhundert Mark auf Bankier Ellenberger …“
Der gute Junge verstand noch nicht; es war für seine Unschuld zu fremd; er starrte wie auf hebräische Schrift. Clotilde hatte mittlerweile die langen, dunklen Vorhänge am Fenster gesehn; da war Rettung! Sie huschte hin und verschwand darunter. Hans, sich die Stirne kratzend, las weiter: „Anton Morland desgleichen. Fanny Morland nochmals fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld“ …
„Ah! Ah!“ stieß er nun in seiner Empörung heraus. „Das ist unerhört! Das ist eine Infamie! – Eine Centaurenwirtschaft; wahrhaftig. Mit so ’nem Pferdestall will ich nichts zu thun haben; bei Gott nicht!“
Er sah umher, er suchte die rätselhafte Dame, die ihm den Zettel gegeben hatte. Wo war sie denn? Sie war fort. Nein, da stand sie, in dem Mantel und Hut! – – Nein, das war Flora. Er lief wie närrisch auf die Statue zu, dann an ihr vorbei. Jetzt blickte ihm der Mond ins Gesicht; leibhaftig, nicht durchs Glas. Die Glasthür war offen. Ah! da war sie hinaus!
Er stürzte in den Garten.
Unterdessen war das Klavierspiel lauter geworden; neben Hänschens aufgeregtem Gebahren erklangen die ernsten, großen Melodien wunderbar in die Sommernacht. Clotilde trat aus ihrem Versteck hervor; die Musik ging ihr so weich durchs Herz. Was nun thun? Zu Ende schreiben? Es drängte sie, es trieb sie hin; – mitten im Zimmer blieb sie doch wieder stehn. Wenn der Junge zurückkam? zu früh? Sie hörte seine Schritte im Garten; er lief tief hinein, wie es schien. Er verfolgte vielleicht eine falsche Spur. Wenn sie ganz geschwind – –
Das Klavierspiel brach ab. Im nächsten Augenblick hörte sie Julius’ Stimme im Salon: „Hans! Willst du denn die ganze Nacht am Klavier sitzen? Bist du rein von Sinnen?“
Es war zu spät! Er war da!
„Hans!“ hörte sie Julius noch einmal, lauter. „Wo steckst du, Junge? Ich seh’ nichts. Gieb Antwort! – Ist denn in meinem Zimmer noch Licht?“
Mein Gott! dachte Clotilde erschrocken; sie hörte Schritte auf die Salonthür zu. Eh die sich aufthat, wohin? Es war nur noch eine Sekunde Zeit. Sie stand fast neben dem leeren Postament der Fortuna; ihre alte Geistesgegenwart verließ sie nicht. Mit einem kleinen Sprung war sie hinauf. Da stand sie nun ebenso wie die Flora, in braunem Mantel und Hut. Das wird er wohl nicht gleich bemerken, dachte sie, daß wir wieder zwei sind ... Und hat doch Hans eben die Flora für mich angesehn …
Julius trat ein. Er murmelte etwas vor sich hin, verdrießlich, verstört; er schien von der noch brennenden Lampe zu sprechen und auf Hans zu schelten. An Flora und „Fortuna“ vorbei, ohne sie zu sehn, ging er auf seinen Schreibtisch zu; dann neigte er sich, um die Lampe auszublasen oder auszudrehn. „Was liegt denn da?“ murmelte er zornig. „Hat er hier sogar geschrieben?“ Er nahm Clotildens Blatt in die Hand.
Ein wunderbarer Wechsel, von trocknem Verdruß zu tiefstem, nichtfassendem Staunen, ging über seine Züge. „Ich las einmal als Kind,“ fing er noch halb unbewußt an zu lesen; darauf hielt er inne. Er durchbohrte das Blatt mit den grauen Augen. Mit der leeren Hand fuhr er sich langsam, stockend, zitternd über die Stirn hin und her. Das war Clotildens Hand. Wie kam das auf diesen Tisch? – – Zuerst noch mit den Lippen, dann lautlos, regungslos, in sich hinein las er, was da stand:
„Ich las einmal als Kind ein Märchen von einem Kind. Dessen Augen waren krank geworden, und sie flohen vor der Sonne und wollten ihr Licht nicht mehr sehn. Da schickte die Sonne ihr Kind, den Mond, das Licht von ihrem Licht; das sah dem kranken Kind ins Fenster, und der milde Glanz that ihm wohl, und es ward gesund. Und durch das liebliche Sonnenkind genesen, kehrte es zur Sonne zurück und hatte sie lieb wie zuvor. – Julius! Damals wußt’ ich nicht recht, was das Märchen sollte; ich behielt es wohl, aber ich verstand es nicht. Jetzt ist mir, als wär’s für mich gemacht. Ich war jetzt dieses kranke Kind. Und ich komm’ wieder zu dir. Bist du mir noch gut? Du warst meine Sonne so viel Jahre lang; Wärme und Licht und Leben hatte ich von dir; und dazu diesen holden Mond, unser goldnes Kind“ …
Es war aus. Ohne Schluß. Julius sah auf das Blatt, als müsse noch mehr kommen; erschüttert und überrätselt und verwirrt zugleich. „Heiliger Gott!“ brach es endlich aus ihm heraus, in die tiefe Sülle. „Was soll dieses Blatt? Wer hat das hierhergelegt?“
„Ich,“ flüsterte hinter ihm eine Stimme; wenigstens klang es so.
Er horchte auf; ein leichter Schauder überlief ihn. Hatte er recht gehört, oder kam’s aus ihm? Schon während er las, War ihm gewesen, als seufze etwas hinter ihm, leise, geisterhaft; wie wenn sich’s in der Flora rührte. – Mein Ohr phantasiert, dachte er; ich hab’ überreizte Sinne. Vielleicht ist auch dieses ganze Blatt ein Wahn, eine Phantasie …
Er wandte aber doch noch langsam den Kopf. – Nein, hinter ihm stand kein Mensch. Nur die Statue da, die Flora …
Nur die Flora? Nein, noch ein Bild. Ein lebendiges – blickendes – schüchtern lächelndes. Vom Grauen befreit erkannte er’s. „Clotilde!“ rief er.
„Ja,“ sagte sie, noch befangen, zaghaft. „Verzeih. Du liebst sie ja nicht mehr, die ‚Verwandlungen‘ und Verkleidungen – und doch steh’ ich so närrisch da.“ Sie öffnete den Mantel, zeigte das griechische Gewand darunter. „Das lebende Bild, siehst du, kommt zu dir; aber als Pilgerin – als Büßerin –“
„Clotilde! Du!“
„Bitte, sag noch nichts; laß mich noch was sagen.“ Sie stieg vom Postament herunter, warf Hut und Mantel ab, auf die Erde, blieb aber dann so stehn. „Ach, wie viel wollt’ ich dir noch schreiben; aber –“
„Du hier! Plötzlich! Mitten in der Nacht!“
Sie lächelte schmerzlich freundlich: „Bis Mitternacht, hatt’st du ja verlangt. Ich bin etwas zu spät gekommen; der Weg war so weit. Mit dem Kind, zu Fuß –“
„Du!“ rief er wieder aus.
„Ja, ich. Bin ich nicht oft viel, viel weiter mit dir gegangen, nur um von einem Berg in die Welt zu sehn – und sollt’ nicht diesen Lebensweg gehn, zu dir?“ Ihre frei gewordene Stimme begann nun doch zu zittern: „Um dir zu sagen, Julius: ich dank dir für mein ,goldenes Kind‘ – das mir geholfen hat, diesen Weg zu finden – ja, und für all das Licht von deinem Licht, das du ihr gegeben hast. Und – und in ihr lieb’ ich dich!“
„Clotilde!“
„Könnt’st nur auch du mich in ihr noch lieben. Und Geduld mit mir haben, bis ich – Frieden finde; bis ich ihr ähnlicher werde – oder wie du willst. – Glaub mir, Julius: diese letzte Jugend in mir, die noch so thöricht sein kann, sie hat wohl auch noch die Kraft, wieder anzufangen – noch einmal zu [639] wachsen, im Guten, mein’ ich, im Frieden – mit ihr und mit dir!“
Julius sah sie in stiller Seligkeit an. Er hatte mehrmals lächelnd den Kopf geschüttelt; es waren aber nur Versuche, sich von dem Uebermaß der unerwartetsten Empfindungen zu befreien. Als er nun auch Worte fand, war seine Stimme eine Weile noch fast ohne Klang: „Wie beschämst du mich! Ja, ja. Ich, der ich an nichts mehr glaubte – weder an dich noch an mich – und nun geschehn Wunder in uns beiden …“
Sie blickte ihn fragend an.
„Ja, ja, auch in mir! – Das Album da, mit deinen Bildern –“
Im Salon begann wieder gedämpftes Klavierspiel, das ihn unterbrach; jetzt eine andere Melodie. Es war Zerlinens Trostgesang zu Masetto, im „Don Juan“:
Wenn du fein fromm bist, will ich dir helfen;
Ich weiß ein Mittel, für alles gut.
Es schmeckt so lieblich, und hilft so plötzlich;
Du sollst dich wundern, wie wohl drr’s thut!
Ach, das zerteilet.
Lindert und heilet …
Sie horchten eine Weile, beide, auf den süßen Wohllaut. Julius hatte begriffen: „Das ist unser Kind!“
Clotilde nickte.
„Gott! Was für ein Kind! Diese Sechzehnjährige. Dir hilft sie auf den Weg zu mir, wie du sagst – pilgert her mit dir – und mir legt sie so von weitem, ohne Worte, ihre kleine Hand aufs Herz. Schickt mir das Buch da – ja, sie – und öffnet mir die verdrossenen Augen, die sich schließen wollten ... Nein, nein, sie sind wieder offen, Clotilde. Ich schau’ wieder hinter mich in mein Jugendglück – als du meine Freude warst, als alles, alles noch gut war – wie es wieder werden soll, wenn mir dein Mund und deine Augen nicht fromme Lügen sagen –“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wenn du mir noch gut bist!“
Sie gab ihm die Hand; mit feuchten Augen. „Frag dein Kind,“ sagte sie leise, mit dem Kopf nach der Salonthür deutend, in die eben Luise trat. „Frag sie, ob ich dir noch gut bin. Sie weiß es!“
Julius nickte Luisen zu, mit seiner Bewegung kämpfend. „Komm, Kind, komm zu mir!“ – Sie ging, unterwegs erwiderte sie sein Nicken; wie sie sich’s vorgenommen, hatte sie ein nichtsverratendes, zartfühlend verschlossenes Gesicht. Er nahm ihre beiden Hände: „Mir ist was Gutes geschehn, Luise. Ich hab’ meine zerschlagene Fortuna wieder; eben stand sie da auf dem Postament. Und sie geht nun nicht mehr fort. – Und du –“
Er zog sie in seine Arme; ihr Kopf sank an seine Schulter, schwer von lauter Glück. „Und du hattest recht … O, du hattest recht!“
„Worin?“ fragte sie leise.
„Mir das Buch zu schicken, das Photographienbuch. Mir dadurch zu sagen: es ist voll, fang’ ein neues an. Ja, ja, Kind, das wird geschehn. Wir fangen ein neues an. Die braune Pilgerin als das erste Bild!“
„Vater!“ rief Luise, umschlang ihn nun auch und küßte seinen Mund, der so süß gesprochen hatte.
Er erwiderte den lieben Kuß; ihm war aber, als müßte die Mutter auf diese voreilige Umarmung eifersüchtig werden. Vor Clotilde hintretend, sah er sie mit verjüngten, gefeuchteten Gattenaugen an. „Und du?“ sagte er. „Mein Proteus?“
In dem einen Wort hörte sie, daß alles gut war. „Julius!“ rief sie nur und warf sich ihm ans Herz.
Karl v. Weizsäcker †. (Mit Bildnis.) In Karl v. Weizsäcker, der am 13. August in Tübingen verstarb, hat die württembergische Landesuniversität ihren Kanzler und einen ihrer berühmtesten Lehrer verloren. In seiner Wissenschaft, der protestantischen Theologie, war er einer der geistvollsten Vertreter der historischen Bibelforschung; als seine Hauptwerke sind „Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche“ und die kritische Neuübersetznng des Neuen Testaments zu bezeichnen. Am 11. Dezember 1822 zu Oehringen bei Heilbronn geboren, studierte er in Tübingen und Berlin. Nach einer kurzen Thätigkeit als Dozent an der heimischen Hochschule wurde er 1848 Pfarrer in Stuttgart. Seit 1861 war er ordentlicher Professor der Dogmen- und Kirchengeschichte in Tübingen. 1889 wurde Weizsäcker als Nachfolger Rümelins zum Kanzler der Universität, 1894 zum Staatsrat ernannt. In der württembergischen Abgeordnetenkammer, in welcher er die Landesuniversität vertrat, hat sich Weizsäcker als ein charakterfester Politiker von ebenso nationaler wie liberaler Gesinnung bewährt. Er war ein ausgezeichneter Redner.
Warum sind die Gewitter jetzt häufiger als früher? Daß die Anzahl der Gewitter bedeutend gegen früher zugenommen hat, ist von Professor v. Bezold für die letzten 60 Jahre auch aus der Brandversicherungsstatistik ausgezeichnet nachgewiesen worden. Eine völlig befriedigende Erklärung für diese Erscheinung war man jedoch außer stande zu geben. Denn man sollte viel eher eine Abnahme als eine Zunahme der gewaltigen elektrischen Entladungen erwarten, weil ja doch sowohl das große Eisenbahnnetz, als auch die vielen Telegraphen- und Telephonleitungen, neben der riesigen Zahl hoher Schornsteine, gerade verteilend auf die Spannung der Luftelektricität nach unseren bisherigen Anschauungen wirken müßten.
Freilich wird ja in jedem Jahre eine gewaltige Anzahl der natürlichsten Blitzableiter durch das Niederschlagen der Wälder vernichtet, und auch das mag von Einfluß auf die Vermehrung der Gewitter sein. Die größte Einwirkung auf dieselbe hat aber, nach den Untersuchungen des französischen Gelehrten Pellat, der Wasserdampf der Luft. Pellat stellte folgenden Versuch an. Er nahm zwei Messingschalen und isolierte sie. Darauf wurde das eine der Gefäße mit Wasser gefüllt, während das andere leer blieb. Nun lud er beide Gefäße mit Elektricität und überließ sie bei gewöhnlicher Temperatur mehrere Stunden lang sich selbst. Als er nach Ablauf dieser Zeit die Gefäße wieder untersuchte, stellte sich heraus, daß die leere Schale ihre Elektricität noch fast ungeschwächt besaß, während die mit Wasser gefüllte Schale den größten Teil der Ladung verloren hatte. Diese Thatsache erklärte er dadurch, daß der Wasserdampf, der aus dem Wasser der gefüllten Schale emporstieg, die Elektricität mit sich genommen hatte. Der Schluß liegt nahe, daß auch der von der Erde aufsteigende Wasserdampf denselben Dienst der Erdelektricität leistet und sie den Wolken zuführt. So würden wir gerade in den vielen Dampfschornsteinen, den auf den Eisenschienen hinbrausenden Lokomotiven und auf dem Wasser hingleitenden Dampfschiffen die Faktoren, denen wir die Gewitterzunahme verdanken, zu sehen haben.
Diese Erklärung stimmt auch mit der Thatsache, daß seit 60 Jahren – also etwa dem Zeitpunkt, seit welchem die Industrie solch gewaltigen Aufschwung genommen hat – die Gewitterzunahme zu beobachten ist, überein, und sie stimmt ferner damit, daß die Häufigkeit der Gewitter mit jedem Jahre wächst, denn in jedem Jahre haucht auch eine stets größere Anzahl von Schornsteinen Wasserdampf in die Atmosphäre aus. Dr. –t.
Am Kreisfeuer im Bivouac. (Zu dem Bilde auf S. 617.) Ein echtes Stück Soldatenleben aus der Manöverzeit bringt uns dies Bild vor Augen, das wohl in vielen Lesern Erinnerungen an Selbsterlebtes wachrufen wird. Zumal im Bivouac entfaltet sich ja so recht das eigenartige militärische Treiben während jener alljährlichen großen Uebungen, die eine Vorschule für den Krieg sein sollen. Zwar der alte Spruch, daß jedes Ding zwei Seiten habe, paßt auch ganz besonders auf diese militärischen Nachtquartiere „bei Mutter Grün“. Bei schlechtem Wetter, namentlich wenn es schon tagelang regnet, und bei empfindlicher Kälte ist das Bivouac ein gar schlechter Spaß. Ist aber die Nacht mild und trocken, dann bildet es eine wahre Ergötzlichkeit, die sogar eines gewissen poetischen Reizes nicht entbehrt, und dann treibt auch der soldatische Humor seine köstlichsten Blüten. Ist genügende Sicherheit vor dem „Feind“ vorhanden, so gestattet der Bivouacskommandant meist, daß die Leute nach dem Abkochen compagnieweise große „Kreisfeuer“ anzünden. Die Dunkelheit bricht herein, und nun sieht man die aus kreisförmig aneinandergelehnten Scheiten gebildeten Holzstöße überall aufflammen. Die rote Lohe wirft ihre flackernden Lichter auf die ringsum gelagerten Mannschaften und hebt sich grell von dem dunklen Nachthimmel ab. Dann gewährt so ein Bivouac in der That ein überaus malerisches Bild.
[640][641] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[642] Und lustig geht’s bei den Feuern zu. Die Leute lachen und singen, plaudern und rauchen, und wenn nun gar der Herr Hauptmann als Belohnung für die bewiesene „Tapferkeit vor dem Feinde“ und die wacker ausgehaltenen Strapazen ein Faß Bier auflegen läßt, dann ist die Freude übergroß. Wenn man im Manöver zum letztenmal unter freiem Himmel nächtigt, dann spielen die Reservisten die Hauptrolle, die ja gleich nach beendeter Uebung entlassen werden, und überall giebt es besondere scherzhafte Bräuche, die bei dieser Gelegenheit geübt werden. Den Mittelpunkt eines jeden Kreisfeuers pflegt eine hohe mit Stroh umwickelte Stange zu bilden, an der oben ein mächtiger Strohkranz befestigt ist. Sie wird wie ein Siegeszeichen mitten in den lodernden Holzstoß gesteckt, und alles sieht dann mit Vergnügen zu, wie die Flammen an ihr hinauflodern. Die demnächstigen Reserveleute pflegen nun vielfach beim letzten Bivouac ihre zinnernen Eßlöffel, die sie ja fortan nicht mehr brauchen, an der in das Kreisfeuer gesteckten Stange zu befestigen; es ist das ein Gegenstück zu dem gleichfalls üblichen „Löffelbegraben“. Während dann das Feuer das Stroh und die Stange verzehrt, ertönen lustige Reservistenlieder in die Nacht hinein, in die auch die noch länger unter der Fahne bleibenden Kameraden fröhlich einstimmen. Th. F.
Maskentänzer in Neu-Mecklenburg. (Zu dem nebenstehenden Bilde.) Ein Werk voll der interessantesten Aufschlüsse über Neu-Guinea und den sich nordöstlich daranschließenden Bismarckarchipel sind die „Studien und Beobachtungen aus der Südsee“ des Grafen Joachim Pfeil (Verlag von Fr. Vieweg und Sohn in Braunschweig). Dasselbe ist reich illustriert nach Aquarellen und Zeichnungen des Verfassers und Photographien von Parkinson. Besonders lehrreich sind seine Schilderungen des merkwürdigen Charakters der wilden Kanakenstämme, welche die Inseln bevölkern, ihrer Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuche. Als eine besondere Charaktereigenschaft der Kanaken bezeichnet Graf Pfeil ihren Hang zum Geheimnisvollen, der sich fast in allen ihren Kultusgebräuchen äußert. Auch die feierlichen Tänze, bei deren Ausführung Masken getragen werden, bringen diesen Zug zum Ausdruck. Bei den Neu-Pommern bestehen diese Masken aus einem einfachen Geflecht, dessen eine Seite mit Lehm bestrichen und weiß gekalkt ist. Auf diese weiße Fläche werden mit schwarzer Farbe grauenhafte Gesichter gemalt und die Haare durch Grasbüschel dargestellt. Der Tänzer hält einen kleinen Stab im Munde, der der Maske ihre Rundung giebt und sie hindert, sich zu verrücken. Um den Kopf ist sie mittels einer Schnur festgebunden. Prächtiger und geheimnisvoller sind die Masken, welche die kriegerischen Neu-Mecklenburger bei gewissen Tänzen tragen. Sie sind mit beträchtlicher Kunst geschnitzt, und an die Aufgabe, einen furchterregenden Eindruck hervorzubringen, ist auffallend viel Phantasie gewandt. Besonders merkwürdig sind die hochgetürmten Auswüchse, welche die fratzenhaften Gebilde an Stelle der Ohren haben. Mit diesen Masken führen die Neu-Mecklenburger einen wunderbaren Kontertanz auf, der eigentlich in nichts anderem besteht als einem seitlichen Hin- und Hergehen mit hohem Aufheben der Beine und merkwürdigem Bewegen der Arme. Obwohl sehr langsam, sagt Graf Pfeil, ist der Tanz doch nicht ungraziös; doch vermag man bei objektiver Beobachtung nicht zu erkennen, daß, wie viel behauptet worden ist, die Bewegungen des Kasuars nachgeahmt werden sollen. Die geheime Bedeutung dieses Tanzes hat auch Graf Pfeil nicht ergründen können.
Der Misurinasee. (Zu dem Bilde S. 621.) Der Anblick des idyllischen Sees mit dem majestätischen Alpenhintergrund auf der stimmungsvollen Studie von Alfred Enke wird in vielen Lesern schöne Erinnerungen wecken. Ist doch das herrliche Ampezzothal, in dessen Nähe der Misurinasee liegt, alljährlich, seit die Pusterthalbahn die Reise nach Toblach so bequem gemacht hat, das Ziel vieler tausend Alpenfreunde. Nirgends kommt man auch so bequem und so schnell mitten hinein in die grandiose Felsenwelt der steilgetürmten Dolomiten, die mit ihren gewaltigen Zinnen und Schrofen so trotzig in den tiefblauen Himmel des Südens emporragen! Auf prächtiger Straße und in wenigen Stunden gelangt man von Toblach aus am Ufer der waldumschatteten Rienz vor das mächtige Felsmassiv des Monte Cristallo mit seinem strahlenden Gletscher, dem zu Füßen die freundlichen Gaststätten von Schluderbach liegen. Wie staunt das Auge beim ersten Anblick des märchenhaften Felsgebildes der „Drei Zinnen“, das schon bei Landro unsere Blicke fesselt! Und setzen wir unsere Wanderung nach Cortina d’Ampezzo fort, so starren uns über den dunkelgrünen Waldgeländen des Thals immer aufs neue riesenhafte Felswände entgegen, deren Gestein im Lichte der Sonne golden und rötlich erschimmert. Zu einem weitgezogenen Gebirgspanorama dieser Art aber gelangen wir von Schluderbach wie von Cortina aus gar schnell und bequem durch die Wanderung zum Misurinasee. Der Weg selbst, von Schluderbach durch das Val Popena basso über den Sattel Col S. Angelo, von Cortina über den herrlichen Aussichtspunkt der Tre Croce, ist an sich schon sehr lohnend. Der kleine anmutige See liegt in stiller Bergeinsamkeit, großartig aber ist die Umrandung der grünen Hochplateaus: die Cadini im Osten, die Sorapiß im Süden, die Drei Zinnen im Osten stellen sich dem Auge in voller Größe dar. Unser Bild zeigt uns die Aussicht nach Süden mit dem prächtigen Monte Sorapiß, dessen höchste Spitze 3201 m hoch ist.
Was kostet die Pferdekraft? Bei dem großen Interesse, welches man gegenwärtig in allen Ländern der Ausnutzung der natürlichen Kraftquellen entgegenbringt, ist es von Wichtigkeit, festzustellen, welches die Mindestkosten der Erzeugung von Dampfkraft in größeren Anlagen sind, und bis zu welchem Punkte umfangreiche Dampfkraftanlagen mit Wasserkräften wie die des Rheins und Niagara den Wettbewerb werden aushalten können. Eine genaue Berechnung der Kosten der Dampfkraft in einer nach den besten Fortschritten der Technik eingerichteten amerikanischen Baumwollspinnerei bildet nun den neuesten Versuch zur Lösung der oben aufgeworfenen Frage. Die Fabrik arbeitet mit nahezu zweitausend Pferdestärken bei etwa zehnstündigem Betriebe und wird somit an Größe wie Betriebsdauer bis jetzt nur von ausnahmsweise starken hydraulischen Kraftanlagen übertroffen. Die Erzeugungskosten dieser Energie belaufen sich, auf die einzelne Pferdestärke und das ganze Jahr, d. h. 3070 Betriebsstunden verrechnet, auf rund 55 Mark, wovon ein Drittel für Kohlen, ein Drittel für Zinsen, Amortisation, Versicherungskosten u. dgl. entfällt, während der Rest für Bedienung, Reparaturen, Oel, Kraftverluste in den Transmissionen etc. draufgeht. Es ist zu berücksichtigen, daß Kessel- und Maschinenanlage von erstklassiger Beschaffenheit sind und die vorzüglichsten Kohlen zu einem nicht übermäßig hohen, aber auch nicht besonders niedrigen Preise zu Gebote stehen. Es handelt sich also um Bedingungen, die allenthalben zu schaffen und bei bedeutend größeren Anlagen in ihren Vorteilen auch noch zu überbieten sind. Diese Kosten der Energie-Erzeugung sind im Vergleich zu denen der größten Centralenergiestationen der Erde verhältnismäßig gering. Sie betragen bei einer großen Wasserkraftstation an der Rhône bei Genf ungefähr 43 Mark für Pferdekraft und Jahr. Allerdings wird man sie dafür, beziehungsweise für den Pachtpreis der Niagaracentrale, Tag und Nacht hindurch oder 6000 bis 7000 Stunden im Jahre zur Verfügung haben. Aber diese Ausdehnung der Arbeitszeit bedeutet auch bei Dampfkraft keineswegs eine Verdoppelung der Erzeugungskosten. Nur einige Posten der letzteren, wie Kohlen und Oel, wachsen ungefähr im gleichen Maße mit der Arbeitsausdehnung, während viele andere, z. B. Zinsen und Bedienung, in loserem Zusammenhang damit stehen. So würde eine durchgehende Arbeitszeit bei der obenerwähnten Dampfanlage vielleicht nur eine Erhöhung der jährlichen Kosten auf 90 bis 100 Mark für die Pferdekraft bedeuten. Daß der Unterschied zwischen den Erzeugungskosten großer Dampf- und Wasserkräfte nicht noch mehr zu gunsten der letzteren ausfällt, liegt daran, daß die Anlage einer hydraulischen Kraftstation sich unverhältnismäßig teurer stellt als die einer gleich starken Dampfkraftanlage. Während z. B. die Herstellung der erwähnten vorzüglichen Dampfanlage in Amerika 171 Mark für die Pferdekraft kostete, stellt sich dieselbe Energie bei den genannten Rhônewerken auf 444 Mark in der Herstellung. Bw.
Das Pape-Denkmal für Brilon. (Zu dem Bilde S. 643.) Um das Zustandekommen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das demnächst dem Bau der deutschen Einheit als gewaltiger Eckstein eingefügt werden soll, hat sich Geheimrat Heinrich Eduard Pape unvergeßliche Verdienste erworben. Er war der Vorsitzende der mit der Ausarbeitung des Gesetzbuchs beauftragten Kommission, nachdem er schon früher an der
[643]Ausarbeitung des Deutschen Handelsgesetzbuchs, der neuen preußischen Civilprozeßordnung, der Civilprozeßordnung für den Norddeutschen Bund hervorragenden Anteil gehabt hatte. Von 1870 bis 1879 war er Präsident des Reichsoberhandelsgerichts. Er starb am 11. September 1888 zu Berlin als Mitglied des preußischen Staatsrats. Am 13. September d. J. wurde dem hochverdienten Juristen zu Brilon in Westfalen, wo er 1816 am gleichen Tage zur Welt kam, ein Denkmal errichtet. Dasselbe ist nach dem Entwurfe des Regierungsbaumeisters Karl Moritz in Köln zur Ausführung gelangt und trägt in seinem architektonischen Aufbau dem altertümlich malerischen Charakter des künftigen Standorts des Denkmals vor dem Briloner Rathause Rechnung. Hinter der Bronzefigur Papes, nach der Modellskizze des Bildhauers Arnold Künne in Berlin, wird sich eine mit symbolischen Ornamenten geschmückte Spitzsäule erheben, an deren Unterbau sich beiderseits eine Bogenstellung mit davorstehender Sitzbank anlehnt. Pape ist auf einem antiken Sessel sitzend dargestellt, wie an einer von ihm geleiteten Beratung teilnehmend. Zu seinen Füßen liegen zwei Folianten, das „Bürgerliche Gesetzbuch“ und das „Handelsgesetzbuch“.
Der schönste Ruderpreis. (Zu dem Bilde S. 637.) Mit frohem Stolz ist der schlanke Gondelführer, der in den Kanälen und Lagunen Venedigs so trefflich Bescheid weiß, aus der Ruderwettfahrt als Sieger hervorgegangen. Mit seinen Kameraden hat er im ersten Siegesjubel, dem Brauche gemäß, einen festlichen Trunk gethan; bald ist er aber heimlich beiseite geschlichen, und jetzt steht er im lauschigen Stelldichein freudestrahlend vor der Geliebten. Stolz blickt auch sie zu ihm auf; seinen Triumph empfindet sie als den ihren, und den schönsten Preis, den ihm der Tag bringt, empfängt er jetzt von ihr in dem von Reben umsponnenen Winkelchen des Campiello, wo sie ihn erwartet hat, mit freudiger Zuversicht seinen Sieg voraussehend. Die leuchtende Purpurnelke, mit der sie ihn schmückt, ist ein Symbol dieses freudigen Mitempfindens. Wie hätte sie zweifeln sollen, daß er, der ihr Herz besiegte, nicht auch sich als Sieger bewähren würde, nun er mit seinen Berufsgenossen nach Kraft und Gewandtheit sich maß?
Deutschlands merkwürdige Bäume: die „tollen Buchen“ bei Remilly. (Mit Abbildung.) Zwanzig Kilometer südöstlich von Metz, an der Nied, dem bedeutendsten Nebenfluß der Saar, liegt Remilly, eines der schöneren lothringischen Dörfer, merkwürdig als Vereinigungspunkt der von Saarbrücken und Straßburg kommenden Eisenbahnlinien, durch seine drei mit stattlichen Parks umgebenen Schlösser und endlich durch ein auf einem nahen Waldhügel befindliches Naturwunder, im Volksmund die „tollen Buchen“ geheißen. Es sind dies zwei uralte und höchst eigentümlich gestaltete Bäume. Der auf unserer Abbildung dargestellte umfaßt unmittelbar über der Erde 4 m im Umfang, sein moosreicher Stamm wächst bereits krumm und bucklig aus dem Boden heraus und seine zahllosen Aeste durchkreuzen sich in den bizarrsten Blitz- und Schlangenwindungen. Nicht minder seltsam geformt ist die zweite 150 m südöstlich davon stehende „tolle Buche“. Der Zugang zu diesen beiden merkwürdigen Bäumen war bisher schwer aufzufinden, doch hat die Sektion Metz des Vogesenklubs im Plane, ihn in Bälde mit Wegweisern und Merktafeln zu versehen. Adolf Fischer.
Sonntagnachmittag vor dem Bahnhof Halensee-Berlin. (Zu dem Bilde S. 640 und 641.) Es ist einer der interessantesten Plätze des neuen Berlin, den wir heute unsern Lesern im Bilde vorführen. Am Kurfürstendamm stößt die gewaltige Riesenstadt, die sich von Jahr zu Jahr mehr ausdehnt, mit dem Grunewald zusammen. Die Brücke im Hintergrund führt über die Geleise des Südrings der Ringbahn. Diesseits gehen die letzten Häuser von Charlottenburg, das heute mit Berlin schon eine zusammenhängende Stadt bildet, in den Vorort Halensee über, jenseits beginnt der Wald, in den an dieser Stelle die schöne Villenkolonie Grunewald eingebettet liegt. Sie verdankt ihr Entstehen hauptsächlich der kräftigen Förderung und Unterstützung des Altreichskanzlers Fürsten Bismarck. Die dankbaren Einwohner haben ihm denn auch ein würdiges Denkmal gesetzt, das den Alten von Friedrichsruh darstellt, wie er, den Schlapphut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, in Begleitung seines treuen Tyras auf einem Spaziergang begriffen ist.
Die Entwicklung Berlins hat ihre Richtung erhalten durch den Zug der Stadtbahn. Um die Bahnhöfe herum entstanden die neuen Stadtteile, die so unmittelbar Anschluß an den großen Verkehr hatten. Der Kurfürstendamm, das erste Stück der Grunewaldchaussee nach Potsdam, zieht sich ziemlich parallel dem Teil der Stadtbahn zwischen Bahnhof Zoologischer Garten und Halensee hin. Kein Wunder also, daß längs der alten Straße sich eine rege Bauthätigkeit entfaltet hat, die eher zu- als abnimmt. Freilich, noch liegen an einzelnen Stellen große Stücke freien Feldes zwischen den Häusern, aber von Jahr zu Jahr werden sie kleiner und die Zeit ist nicht mehr fern, wo eine geschlossene Straße vom Tiergarten bis zum Grunewald führen wird. Dann ist das Ziel früherer Landpartien ein Teil der Stadt geworden, der Grunewald ist der neue große Tiergarten. Schon heute ist er ein alltägliches Spaziergebiet für viele Tausende. Unser Bild zeigt das letzte Stück des Kurfürstendamms. Da die neue Brücke hier so ziemlich das einzige Verkehrsmittel ist, um in den Wald zu gelangen – eine zweite, weiter südlich, liegt noch allzusehr im öden Gelände, um für die große Masse in Betracht zu kommen – so ist das Leben und Treiben an dieser Stelle immer ein buntbewegtes, an Abwechslungen überreiches!
Die Uhr am Bahnhofsgebäude Halensee links zeigt die sechste Nachmittagsstunde. Ein Zug von Berlin ist soeben angekommen. In dichten Scharen drängen die Reisenden, die innerhalb des Bahnhofes von den Bahnsteigen heraufgestiegen sind, ins Freie. Die meisten von ihnen schlagen die Richtung nach drüben ein, sei es, daß sie sich im Walde ergehen wollen, sei es, daß es sie nur zu jenen Vergnügungs- und Tanzlokalen zieht, von denen es dort eine ganze Reihe sehr großstädtischer giebt, und deren eines schon freundlich herüberlockt. Freilich besser als die, welche im dumpfen Waggon hierher gekommen sind, haben es die glücklichen Besitzer bequemer Equipagen. Es giebt in Berlin viele elegante Gespanne, obwohl sie lange nicht so in die Erscheinung treten wie in Paris. Man lebt bei uns weniger nach außen, sich allzusehr zeigen gilt nicht für vornehm. An der Brücke vor Halensee aber kann man die Vertreter der Berliner Welt zu Wagen oder hoch zu Roß, oft auch den Kaiser und seine Familie an schönen Tagen vorübereilen sehen. Dazwischen fehlen dann sicher auch nicht die alten Kremser, in denen Familien Landpartien machen. Weitaus am zahlreichsten sind jedoch die Radfahrer. Das Rad hat sich, seitdem die Straßen der Reichshauptstadt ihm freigegeben sind, Berlin im Sturm erobert. Die 50000ste Radfahrerkarte ist längst ausgegeben. Der Sport zählt in allen Kreisen seine Vertreter. Allerdings gehört eine große Geschicklichkeit dazu, in dem Gewirr des Kurfürstendamms sein [644] Rad vor jedem Unfall zu bewahren. Denn nicht nur Wagen und Pferde werden ihm gefährlich, sondern auch eine Dampfstraßenbahn, von der ein Zug gerade qualmend die Brücke befährt, fordert aufmerksame Beachtung. Alles in allem aber bietet dies bunte Durcheinander ein Bild echt weltstädtischen Lebens von eigenartigem Reiz.
Das alte Rathaus in Dortmund nach seiner Erneuerung. (Mit Abbildung.) Das alte Rathaus zu Dortmund, in dessen neuhergerichtetem Saal der Kaiser gelegentlich der Einweihung des Dortmund-Ems-Kanals von Oberbürgermeister Schmieding feierlich begrüßt wurde, ist ein hervorragendes Wahrzeichen der Stadt aus den stolzen Tagen der Hansa. Doch der Verfall der Stadt, der nun längst wieder überwunden ist, hatte auch dem stolzen Gebäude übel mitgespielt, stilwidrige Anbauten und Zuthaten hatten viel von seinem ursprünglichen Charakter verwischt, ohne ihn freilich ganz zerstören zu können (vergleiche Bild und Text im vorigen Jahrgang der „Gartenlaube“, S. 418). Die Wiederherstellung des Rathauses in „alter Pracht und Herrlichkeit“, welche nach den Plänen des Stadtbauinspektors Kullrich seit dem März vorigen Jahres durchgeführt wurde und nunmehr vollendet ist, darf als Wahrzeichen der neuen Blüte gelten, welche die einstige Hansastadt in unseren Tagen erlebt. Wie einst im Mittelalter schmückt auch jetzt wieder den Giebel das Standbild Karls des Großen, des Begründers der Stadt nach der Sage. Die Sandsteinfronten mit ihren Bogen, Thüren, Fenstern und Nischen sind ergänzt und erneuert. Gleiche Auffrischung hat der aus dem vierzehnten Jahrhundert stammende Anbau, das „Brothaus“ erfahren. Im Mittelalter diente dies Bauwerk der Bäckergilde, während das Erdgeschoß des Rathauses eine große Verkaufshalle für die Tuchhändler- und Gewandschneidergilde bildete. Auf der Giebelseite des Brothauses befindet sich neuhergestellt ein großes Relief mit der Ratswage, auf der ein Kaufmann Tuchballen wägen läßt, und einem Bäckerstand. Unter dem Relief ist das alte Sprichwort:
„wäge recht und gleich
so wirst du selig und reich“
eingemeißelt worden. Wie das Aeußere des alten Rathauses, so wurde auch das Innere von Grund aus erneuert unter Benutzung der noch erhaltenen mancherlei Altertümlichkeiten. Der große Saal ist von einer prächtigen Holzdecke hoch überwölbt und reich mit bildnerischem Schmuck geziert. Das Erdgeschoß darunter soll die Kunstschätze des Dortmunder Museums aufnehmen. Auch der Ratskeller hat eine altertümlich reizvolle Ausstattung erhalten.
Das Lichterfest der Hindufrauen. Die Frauen und Mädchen der Hindu feiern ein sehr poetisches Fest; freilich verdankt es seinen Ursprung einem Aberglauben, der aber hier anmutende Blüten treibt. An einem Tage im Jahre, wenn sich die Sonne zum Untergange neigt, eilt die weibliche Welt, und zwar oft aus weiter Ferne, mit kleinen aus Holz geschnitzten Kähnen zum Ganges. Dann sieht man, so weit das Auge reicht, Tausende von weißen Gestalten am Flußufer, die ihre Kähnlein, auf denen sich eine brennende Lampe befindet, in den Strom setzen. Jede verfolgt mit ängstlicher Spannung das von den Wellen geschaukelte Schiffchen mit seinem Hoffnungslichte, an dessen Erhaltung sich ein Wunsch knüpft.
Bleibt das Licht so lange sichtbar, als das Auge das Schiffchen zu verfolgen vermag, dann wird der Wunsch erfüllt, den man dem Orakel der Fluten anvertraute. Erlischt das Licht aber früher, so ist auch die gehegte Hoffnung untergegangen. Der Sehkraft und Beobachtungsgabe der Hindostanerinnen, welche offenbar durch die fieberhafte Spannung geschärft wird, macht es aber alle Ehre, daß jede von ihnen ihr Schifflein und ihr Lämplein zu unterscheiden vermag, obschon Tausende derselben von den Wogen des heiligen Stromes geschaukelt werden. Und diesem Bericht zuverlässiger Zeugen muß man Glauben schenken, weil ja sonst das ganze Orakel keinen Wert hätte.
Botticellis Madonna aus der Sammlung Chigi. (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Madonnenbild von Sandro Botticelli, welches unsere Kunstbeilage wiedergiebt, hat kürzlich in eigentümlicher Weise von sich reden gemacht. Fürst Mario Chigi in Rom, Abkömmling jenes kunstsinnigen Agostino Chigi, der als Bankier des Papstes Julius II zu großem Reichtum gelangte und herrliche Kunstschätze erwarb, hat das ihm gehörige kostbare Bild aus seiner Galerie zum Preise von 315000 Lire in das Ausland verkauft.
Nach dem seit 1877 bestehenden Gesetz ist aber den Besitzern der unschätzbaren Privatgalerien Roms ein solcher Verkauf ohne Genehmigung der Staatsbehörde untersagt. Der Staat hat sich das Vorkaufsrecht gesichert und die Ausfuhr von Kunstwerken aus Rom hat unter staatlicher Kontrolle zu erfolgen. Fürst Chigi, dessen Vermögensumstände keine günstigen sind, suchte das Gesetz zu umgehen, indem er sich beim Verkaufe ausbedang, daß der Käufer das Bild in Italien belasse. Nach erfolgtem Verkauf ist der letztere jedoch samt dem Bilde aus Rom verschwunden.
Die Madonna Botticellis aus der Sammlung Chigi gehört zu den schönsten, welche der Florentiner Maler geschaffen hat. Sie besitzt in hohem Grade die Lieblichkeit und den Zauber keuscher Auffassung, welche Jakob Burckhardt den Werken dieses Vorläufers von Raffael nachgerühmt hat, der aus Fra Filippo Lippis Schule hervorging.
[ Verlagswerbung für den Gartenlaube-Kalender 1900. Hierher nicht übertragen]
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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Briefhalter aus einer Cigarrenkiste. Man entfernt die eine Langseite und den Deckel von der Cigarrenkiste, schneidet die beiden kleinen Seitenbretter rund und macht von dem Deckel und der entfernten Seitenwand drei Fächer hinein, welche alle unten in der Ecke zusammentreffen und die man mit Leim und ganz feinen Stiften an den abgerundeten Seitenbrettchen befestigt. Unsere Vorlage ist mit Brandmalerei an den Seiten einfach fächerartig verziert, auch die Ränder der sämtlichen Bretter sind stark gebrannt, man kann aber auch hübsche Ornamente oder Blumenzweige als Zierde brennen oder malen. E. R.
Decke mit Heckenrosen. Auf weißes Leinen sind die ziemlich groß gezeichneten Heckenrosen und ihre Blätter so angeordnet, daß sie den ganzen Grund gleichmäßig und doch regellos überspinnen, durch hie und da erscheinende Stiele zusammengehalten. Die Blumen selbst sind ziemlich stark stilisiert, das Krause, Bewegte, was die Rosenblätter oft haben, ist durch vielfache schmale Umschläge zum Ausdruck gebracht, diese werden in feinem, doch nicht zu hellem Rosa mit Plattstich gestickt, der sich leicht aus der Stielstichkontur entwickelt. Die mattgrünen Blätter werden auch konturiert und mit irgend einem rasch füllenden Stich ausgearbeitet, wenn man man sich nicht die Mühe machen will, durchweg Plattstich anzuwenden.
Außerordentlich schön wirkt ein Ueberspinnen des ganzen Grundes mit leichten Stichen, gekreuzt oder gerade, gobelinartig oder wie sich’s eben hübsch macht, so daß die Blumen sich von einem zart farbigen Grunde abheben. Ein Rand von grünlicher Seide oder Leinen schließt die reiche, schöne Arbeit nach außen ab. J.
Federzeichnung auf Holz. Um einen der zahlreichen hübschen Gebrauchsgegenstände aus Holz einmal in anderer Weise als mit Holzbrandmalerei künstlerisch auszuschmücken, läßt sich folgendes Verfahren sehr wirkungsvoll anwenden: Man überzieht die betreffende Holzfläche zuerst mit Firnis (Mastix- oder Damarfirnis) auch flüssiger Gummi mit Wasser vermischt kann verwendet werden; dann zeichnet
man mit Feder und unverwaschbarer Tusche auf die wieder getrocknete Fläche die gewünschte landschaftliche oder figürliche Darstellung in kräftigen Strichen. Wenn die Tusche aufgetrocknet ist,
greift man wieder zum Firnis (diesmal kann Gummi ihn nicht ersetzen) und streicht ihn über das Ganze, so daß der Ton des Holzes ein entschieden gelblicher wird. Setzt man dann noch an Stellen, wo ein paar höchste Lichter nötig sind, dieselben mit feinem Pinsel und weißer dünner Oelfarbe auf, so ist die ganze, sehr malerisch wirkende Arbeit fertig. – Nebenstehend abgebildete gedrechselte Kugel, in der Mitte zugeschraubt, zur Aufnahme eines Bindfadens oder Strickknäuels bestimmt, soll als ungefähres Beispiel dienen, wennschon der Eindruck der schwarzen Striche und weißen Lichter auf gelbem Holzgrunde sich hier nicht ganz wiedergeben läßt. Das Loch in der Mitte des gewölbten Deckels ist zum Durchziehen des Fadens bestimmt, während rechts und links eine Handhabe zum Tragen angebracht ist. H. R.
Im Herbste zu säende Gemüse. Es giebt einige Gemüse, die man mit Vorteil im Herbst oder im Winter bei frostfreiem Boden aussäen kann. Dazu gehört die Karotte, die Möhre, die Petersilie, die Haferwurzel und Schwarzwurzel. Letztere gehört zu den delikatesten Gemüsen. Es ist wirklich schade, daß man sie so wenig auf den Märkten trifft. Gute Schwarzwurzeln können nur in einem tiefgelockerten, in guter Kultur stehenden Boden wachsen, der nicht frisch gedüngt ist. Frischer Dung benachteiligt den Geschmack wesentlich. Die Aussaat des Schwarzwurzelsamens geschieht in Reihen, von denen fünf auf ein 120 cm breites Beet kommen. Dicht darf nicht gesät werden. 2 bis 3 cm Entfernung eine Pflanze. Die im Herbste gesäten Schwarzwurzeln kommen im nächsten Frühjahre sehr zeitig und entwickeln sich dann im Laufe des Sommers so, daß man im Herbste daumdicke und stärkere Wurzeln ernten kann. – Gewöhnlich bringen einige Pflanzen Blüten. Sie bleiben trotzdem gut, geben aber nicht so starke Wurzeln. Das Herausnehmen der Schwarzwurzeln hat recht vorsichtig zu geschehen. Man darf mit dem Spaten nicht viel biegen, um die Wurzeln nicht zu verletzen und abzubrechen. – Ein Schwarzwurzelgericht wird leicht nach einem unserer Kochbücher hergestellt.
Das Ueberwintern von Knollen und Zwiebelgewächsen ist nicht immer leicht. Man muß dazu die nötigen Räume haben und die einzelnen Pflanzen auch nach ihrem Bedürfnis unterbringen. Trockenheit ist ja die erste Bedingung aller Ueberwinterungsräume, denn trocken wollen alle Pflanzen liegen, welche über Winter ruhen. – Aber die Wärme muß verschieden sein. – Montbretien, Crocosmien, Dahlien, Gladiolen, Anemonen fühlen sich bei 1 bis 2 Grad Wärme am wohlsten, Canna, Caladien, Begonien lieben einige Grade mehr, und Gloxinien sind am besten bei 10 bis 12 Grad aufbewahrt. Je wärmer eine Knolle liegt, desto mehr muß sie von Erde umhüllt sein. Begonien und Gloxinien erhalten sich am leichtesten, wenn sie einfach mit dem Topfe fortgestellt werden. Canna hebt man vorteilhaft mit dem ganzen Ballen aus und stellt sie hin. Drei- und vierfach können Töpfe und Ballen übereinander stehen – es schadet nichts. Wo Raummangel solche Ueberwinterung unmöglich macht, muß man die Knollen in Kisten packen, welche mit Sand gefüllt sind. Es dürfen dann aber höchstens zwei Lagen übereinander geschichtet werden. Flache Kisten eignen sich zum Ueberwintern am besten.
Obst aufzubewahren. Große Mengen Obst halten sich immer am besten, wenn man im luftigen Keller große Haufen aufschüttet. Einige Centner dagegen welken bei solcher Aufbewahrung leicht. Dasselbe ist der Fall, sobald man das Obst auf Tabletten in schwacher Schicht lagert. Mit Vorteil läßt sich dies nur bei passend eingerichteten Räumlichkeiten ausführen. Wenig Obst ist am besten in Kisten untergebracht, wo es in trockenen Torfmull eingebettet wird. Man legt in solche Kisten, die allerorts, auf dem Boden, im Keller etc., aufgestellt werden können, zuerst eine handhohe Schicht Torfmull, dann eine Schicht Früchte, darauf wieder Torfmull etc. Das Obst kann frisch vom Baume genommen sein – besser ist es aber, wenn es vorher einige Tage gelagert hat.
In Torfmull, der antiseptisch wirkt, verändert das Obst sich wenig – auch Birnen halten sich sehr lange darin. Fault einmal eine Frucht, dann wird sie nicht gleich zum Verderben für die übrigen. Die Fäulnis verbreitet sich im Torf nicht weiter.
Beim Einwintern der Rose wird viel gesündigt. Man bedenkt dabei gar nicht, weshalb man einwintert, denn sonst würde es nicht vorkommen, daß die Rosenkronen einfach in den Erdboden vergraben werden. Den Rosen schadet die Winternässe im allgemeinen mehr als die Winterkälte. Trockenen Frost verträgt jede Rose, und wenn man seine Vorbereitungen so getroffen hat, daß man bei solchem Frostwetter einwintern kann, dann ist die gute Ueberwinterung ziemlich sicher, weil der Frost im Boden die Rose trocken lagert. Man soll deshalb die Rosen schon vor dem Einwintern niederbiegen – thut man’s bei Frostwetter, dann knacken die Stämme – und das Deckmaterial, durch etwas Dünger geschützt, daneben legen. Die beste Decke ist Torfmull, trockener Sand, leichter Boden. Bevor diese Stoffe auf die entblätterte Rose gelegt werden, deckt man diese noch mit einigen Wachholderzweigen zu. Sie sollen die Rosenkrone vor der allzufesten Umhüllung schützen, gleichzeitig Mäuse abhalten und die ganze Winterdecke luftiger machen.
Wo die Rosen im Sommer von Mehltau und Rost gelitten haben, wird das Beet, auf dem sie stehen, zuvor mit Kalk gedüngt, dann werden die Rosen selbst mit einem Kalkanstrich versehen, dem zwei Prozent Kupfervitriol beigemischt sind. – Die Pilzsporen werden so zum größten Teil getötet. Die Widerstandsfähigkeit der Rosenkrone gegen Feuchtigkeit wird gleichzeitig erhöht. Lange Zweige kann man vor dem Einwintern etwas zurückschneiden. Nach Möglichkeit wird man aber suchen, sie zu erhalten, weil alle Rosensorten mit sehr starkem Wuchs vornehmlich an den langen Trieben blühen.
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Allerlei Kurzweil.
Scherzrätseldistichon.
Zwiefach ist das Geschlecht des Wortes, an das ich jetzt denke;
Männlich ist es zur See, weiblich dem Landwirt bekannt. E. S.
Buchstabenrätsel.
1 2 3 4 5 6 7 8 – ein jeder Mensch hat es zweimal,
2 5 3 5 1 8 4 . – schafft manchem Höfling bittre Qual.
3 1 6 3 4 5 . . – hat manchem einst gebracht den Tod,
4 6 4 5 8 . . . – ein kleines Wort für große Not.
5 1 7 5 . . . . – im heiligen Lande eine Stadt,
6 4 2 . . . . . – in Prosa nie Verwendung hat.
7 5 . . . . . . – ist als Verhältniswort bekannt,
8 . . . . . . . – zum Schluß bleibt nur ein Konsonant.
F. Müller-Saalfeld.
Homonym.
Ob als Befehl mein Wort ihr kennt?
Da gilt’s dem Glase und dem Liede;
Doch was als Hauptwort es benennt,
Das ist ein Werk der Waffenschmiede.
Die Auflösung der Skataufgabe erscheint auf dem Umschlag des nächsten Halbhefts.
Auflösung des Ergänzungsrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 19.
O Range, Orange.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 19.
Marine, Marie.
Auflösung des Scherzrästels auf dem Umschlag von Halbheft 19.
Asien.
Auflösung des Bilderrrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 19.
Vorgethan und nachgedacht,
Hat manchem sehr viel Leid gebracht.
Werbung für das Technikum Altenburg und
Produktwerbung für „Sapolio“
Zur Zeit hier nicht dargestellt. ]