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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[708 c]

23. Heft. Preis 10 cents. 2. November 1898.

Max Weil & Co., cor. 12th & Vine Street, Cincinnati, Ohio.

[708 d]

Inhalt.
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Kleine Mitteilungen.


Eine Biographie von Luise Otto-Peters. Wiederholt schon hat die „Gartenlaube“ ihrer vor einigen Jahren dahingeschiedenen alten Mitarbeiterin gedacht und in kurzer Darstellung deren jahrzehntelanges unablässiges Mühen um Hebung der weiblichen Bildung, um Eröffnung neuer Berufszweige für die Frauen geschildert. Heute liegt in einem Bändchen der „Biographischen Volksbücher“ (Leipzig, Voigtländer) der ausführliche Lebenslauf dieser merkwürdigen Frau vor, die als eigentliche Begründerin der deutschen Frauenbewegung zu betrachten ist. Ihrem eigenen Wunsch entsprechend, stammt der erste Teil des Buches, die an interessanten Details reiche Biographie, von Hugo Rösch, dem Freund und Biographen ihres Gatten A. Peters. Im zweiten Teil zeichnet Auguste Schmidt, die weitbekannte Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, in vortrefflicher Darstellung die geistige Thätigkeit der Dichterin und Schriftstellerin, in welcher sich Charakterstärke, Intelligenz und weibliche Herzensgüte zu einer seltenen Gesamtpersönlichkeit vereinigten.

Heute, wo unsere materiell so reiche Gegenwart dankbar der Idealisten von 1848, der Pioniere für Deutschlands Einheit gedenkt, heute sollten sich auch Deutschlands Frauen an die begeisterte junge Genossin jener alten „Achtundvierziger“ erinnern, an die für jene Zeit erstaunliche Honoratiorentochter, die aus ihrer behaglichen Familienexistenz heraus den Blick auf das soziale Elend richtete und in frühen Jugendgedichten schon Gerechtigkeit für die Unterdrückten, Hilfe für die Rechtlosen verlangte.

In jenen vormärzlichen Zeiten, wo das persönliche Auftreten einer Frau ausgeschlossen war, blieb nur der litterarische Weg, um Reformgedanken in die Oeffentlichkeit zu bringen. Luise Otto hat ihn energisch beschritten und durch eine Reihe sozialer Romane sich die Achtung und Freundschaft vieler Gesinnungsgenossen und Schriftsteller jener Zeit erworben, auch im Jahr 1844 die Verbindung mit Ernst Keil, dem späteren Begründer der „Gartenlaube“, geknüpft. Selbstverständlich ließen die Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 die Begeisterung der jungen Dichterin zu hellen Flammen aufschlagen; sie stellte ihre Feder in den Dienst der Bewegung, gründete Vereine und sprach in Frauenkreisen, hatte auch nicht minder unter dem Polizeidruck zu leiden als ihre männlichen Freunde, ließ sich aber dadurch nicht verhindern, den Flüchtlingen, sowie deren Frauen und Kindern die aufopferndste Hilfe zu gewähren.

Bekannt ist ihr merkwürdiges Herzensbündnis mit dem in Rastatt gefangenen Freischarenführer und Schriftsteller A. Peters, der ihr angesichts des über ihm schwebenden Todesurteils brieflich seine Liebe gestanden hatte. Die Hochherzige zögerte keinen Augenblick, sie zu erwidern, und kam später, als das Urteil auf acht Jahre Zuchthaus gefallen war, um sich mit ihm in Gegenwart des Gefängniswärters zu verloben! Nach sieben langen Jahren endlich wurde Peters begnadigt, und 1856 konnten die beiden hochstehenden Menschen die bescheidenen äußeren Bedingungen schaffen, aus welchen eine wahrhaft ideale Ehe hervorging. Sie dauerte nur kurz: im Jahr 1864 erlag Peters der im Gefängnis erworbenen Krankheit.

Von da an wandte sich Luise Otto, geklärt durch Leiden und Erfahrung, aber unverrückt in ihrem innersten Streben, ganz der Hebung und Bildung ihres eigenen Geschlechtes zu. 1865 gründete sie mit Auguste Schmidt und Ottilie v. Steyber den heute zu so mächtiger Blüte gediehenen „Allgemeinen Deutschen Frauenverein“, dessen Organ „Neue Bahnen“ von ihr durch 30 Jahre redigiert wurde. Sie leitete die Versammlungen des Vereins und wußte die Gegner stets durch ihr ganz einfaches, echt weibliches Wesen zu entwaffnen, das sich von jedem aufgeregten Emanzipationsgeschrei fern hielt. Ihre Ziele hießen: „Vermehrung der Fähigkeit und Kraft zur Arbeit, zum klaren Denken, zum sittlichen Wollen“; sie hat sie lebenslang festgehalten und in ihrem höheren Alter noch reiche, beglückende Erfolge erlebt als Lohn eines ganz ans Allgemeine hingegebenen Lebens.

Unserer eigenen, nach raschen Erfolgen und materiellem Gewinn haschenden Zeit kann der Hinweis auf solche hart und unverdrossen arbeitende Idealisten nur gut thun, deshalb wünschen wir dem sehr anziehend geschriebenen Bändchen recht viele Leserinnen und Leser. Sie werden vielleicht heute nach den mitgeteilten Gedichtproben der feurigen Freiheitssängerin den Kranz der Dichtung nicht mehr reichen, wie es dereinst ihre Zeitgenossen thaten, aber sie werden sicher mit Ehrfurcht das Bild der Frau betrachten, die, gleich groß im Handeln wie im Ertragen, sich um die deutsche Frauenwelt unsterbliche Verdienste erworben hat und das Denkmal, das ihr binnen kurzem in Leipzig errichtet werden soll, voll verdient!
Bn.


Das Photographieren unter Wasser. Schon vor mehreren Jahren ist es gelungen, einen photographischen Apparat herzustellen, dessen sämtliche Einrichtungen so getroffen sind, daß man damit auch unter dem Wasser arbeiten kann, ohne den optischen Apparat und die Metallteile des Mechanismus zu verderben. Es handelte sich nur noch darum, auch die erforderliche Beleuchtung für photographische Aufnahmen unter dem Wasser herzustellen. Das gelang anfangs durch die Erzeugung von Magnesiumblitzlicht in einem Sauerstoffstrom. Die Magnesiumlampe befand sich in einem wasserdicht abgeschlossenen Glasgefäß, und der Sauerstoff in einem mit dem Taucher gleichzeitig hinabgelassenen und am Meeresboden verankerten Ballon. Da der Photograph bei dieser Einrichtuug an die nächste Umgebung des Sauerstoffballons gebunden war, so hat man sich neuerdings des elektrischen Lichtes nach einem System des brasilianischen Kapitäns Boiteux bedient, um an jedem beliebigen Ort des Meeresgrundes, auch in ziemlich weiter Entfernung von dem Taucherschiff, photographische Aufnahmen machen zu können. Auf dem Taucherhelm befindet sich eine elektrische Glühlampe von großer Leuchtkraft, deren Strahlen durch einen Reflektor und eine Linse noch bedeutend verstärkt und nach einer Richtung konzentriert werden können. Die Lampe erhält ihren Strom durch einen vom Taucher mitgenommenen Draht aus einer Dynamomaschine oder Accumulatorbatterie, die an Bord des Taucherschiffes steht. Die optischen Teile des photographischen Apparates werden durch eine starke geschliffene Glasscheibe geschützt, welche in die vordere Seite der Camera wasserdicht eingefügt ist. Die Ergebnisse bei der Anwendung des Apparates sollen ganz vortrefflich sein. Nicht nur für die Erforschung des unterseeischen Tier- und Pflanzenlebens ist dies photographische Verfahren von Bedeutung, sondern auch zur Feststellung von Beschädigungen an gesunkenen Schiffen, zur genauen Aufnahme des Zustandes von Wracks und anderen Gegenständen, die der Schiffahrt hinderlich sein können, zur Feststellung der Lage und Einrichtung unterseeischer Minen, Hafensperren und für viele ähnliche Zwecke.
Bw.


Selbstangefertigter Waschschwamm. Einen sehr weichen Schwamm, der sich besonders zum Waschen kleiner Kinder eignet, kann man aus weißer Wolle herstellen. Man häkelt mit einer Holznadel zuerst eine 15 m lange Luftmaschenkette und darauf zurück immer abwechselnd eine Luftmasche und eine feste Masche in die siebente Luftmasche. Nach Beendigung dieser Tour wendet man die Arbeit und häkelt abwechselnd eine Luftmasche und eine feste Masche in jede zweite feste Masche der vorhergehenden Tour, worauf man abermals wendet und diese Tour immer wiederholt, bis die Maschenzahl verbraucht ist. Zum Aufhängen wird noch eine Luftmaschenkette extra gehäkelt. Der Schwamm läßt sich nach dem Gebrauche gut reinigen und muß zum Trocknen nur immer in die frische Luft gehängt werden. Will man den Schwamm zu Frottierzwecken benutzen, so kann man ihn statt in Wolle in hartem Garn arbeiten.
H.
[708 e]

MÄRCHEN
Nach dem Gemälde von F. Lefler

[709]

Halbheft 23.   1898.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahresabonnement (1. Januar bis 31. Dezember) 7 Mark. Zu beziehen in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.


Montblanc.
Roman von Rudolph Stratz.
(2. Fortsetzung.)


6.

Während über Tetuan die Regenwolken sich schon mählich lichteten, strömte es noch unablässig, in feuchten Nebeln aus allen Klüften und Rissen des Atlas heranwallend, über den einsamen Bergkessel nieder, an dessen Rand das düstere Mauerviereck der Karawanserai El-Fondak thronte. Bis zum Mittag hatten die drei Schwestern gewartet, ob es nicht besser würde. Aber als auch dann noch die Welt grau in grau, naß und frostig dalag, mußte man sich entscheiden: entweder sofortiger Aufbruch nach Tetuan oder noch eine Nacht in El-Fondak.

Eine Nacht in El-Fondak! Die drei Damen sahen, sich stumm an. Ihre Mienen sagten genug. Diese zehn Stunden zwischen Abendgrauen und Morgendämmern, dies trostlose Nicken auf harten Holzschemeln bei flackerndem Stearinlicht, diese Nachbarschaft all der zweifelhaften braunen Viehtreiber und sonstigen Eingeborenen im Raum nebenan, dies Wasserrauschen und Sturmstöhnen draußen blieb ihnen in unverlöschlicher, schauernder Erinnerung. Nein, lieber in den Regen hinaus! Schlimmer konnte es schon nicht kommen.

Aber es kam doch noch schlimmer. Als man vor dem Abmarsch frühstückte, erschien der braune Hotelkurier mit einem leeren Napf und der lakonischen Meldung: „Die Soldaten wünschen Wein!“ Die beiden Turbanreiter hatten sich entschlossen, das Gebot des Propheten sträflich zu mißachten und auch ihren Anteil an den europäischen Genüssen zu fordern, und der Maure, der trotz seiner weit höheren Civilisation keinen Tropfen Wein in den Mund nahm, trug den beiden Kerlen den berauschenden Trank in dem Napf herüber.

Die Folgen blieben nicht aus. Als man nun endlich aufbrach, waren die beiden gestern so gleichgültigen und schweigsamen Soldaten wie umgewandelt. Sie überhäuften verbindlich lächelnd die Damen mit Aufmerksamkeiten, zwangen ihnen Muscheln und Blumen, die sie am Wege fanden, als Geschenk auf und fingen mit allen daherkommenden Eingeborenen Händel an. Das gurgelnde Geschrei und Gezänke erhob sich, solange man sich in Seh- und Hörweite befand, immer wieder von neuem. Dazwischen galoppierte das trunkene Paar im Wettlauf weite Strecken davon, kam, was die Pferde nur rennen konnten, von irgend einem Seitenhang wieder zurück und ließ in überströmendem Thatendrang die Ladung der langen Entenflinten krachend zum Himmel aufgehen.

Natürlich scheuten dabei die Maultiere alle Augenblicke und schlugen nach hinten aus, wenn die Soldaten sie unvermutet mit ihrem heiseren „Aerra!“ und einem Gertenhieb zum Traben bringen wollten. Den drei Damen, die angstvoll im Sattel saßen, war das Weinen näher als das Lachen. Anfangs hatte die düstere Gouvernante, die an den Verkehr mit wilden

Soldatenkinder.
Nach einer Originalzeichnung von G. Mühlberg.

[710] Völkern gewöhnt war, versucht, den Kerlen in fließendem Sächsisch eine Strafpredigt zu halten. Da dies aber den Uebermut der beiden grauhaarigen Burschen nur vermehrte, verstummte sie und ritt finster, lang und schwarz wie eine Rachegöttin, der Karawane voraus, hinter ihr Klara, die auch etwas blaß geworden war, und Hilda.

Die Kleine hatte Todesangst. Sie erwartete jeden Augenblick ermordet zu werden und schloß die Augen, um wenigstens den Greuel nicht sehen zu müssen. Das Maultier fand ja von selbst seinen Weg. Und wenn man sich so im Dunkel schwebend hingetragen fühlte, konnte man sich einbilden, man sei gar nicht in Afrika, sondern an einem Sonntagnachmittag in der Sächsischen Schweiz, auf der Bastei, oder sonst in einer gesitteten Gegend unter freundlichen Menschen und blauem Himmel ….

Das Maultier machte einen Seitensprung in eine Agavenhecke, daß sie das Gleichgewicht verlor und sich an der Mähne festklammerte, während ihr Fuß blindlings in der Luft nach dem frei schlotternden Bügel suchte.

„Bleiben Sie oben, Fräulein! Die Agaven sind stachlig!“ hörte sie hinter sich eine derbe Stimme auf deutsch und ein lautes Lachen.

Sie wandte sich, nachdem sie glücklich wieder Halt gewonnen, im Sattel um und sah sich einem großen Mann mit blondem Vollbart, goldnem Kneifer und zahlreichen Schmissen auf der linken Wange gegenüber. In einen verschossenen Sportanzug aus dickem blaßgrünen Plüsch gekleidet, einen mächtigen Schlapphut auf dem buschigen Kopf, zwei Revolver im Gürtel und nach maurischer Art in schuhähnlichen Bügeln auf einem scharlachroten Bocksattel thronend, paßte er, als sei er aus der Erde gewachsen, in die abenteuerliche Umgebung.

„So allein, meine Damen?“ sagte er verbindlich grüßend und trabte, seinen Zug, ein paar Berberknechte mit hochbepackten Saumtieren, hinter sich lassend, zu den drei Sächsinnen heran. „Keine Soldaten? Verzeihen Sie – aber das ist leichtsinnig!“

„Soldaten haben wir schon!“ Hilda wies melancholisch nach ein paar buntflatternden Punkten, die in der Ferne zwischen Zwergpalmengestrüpp dahinjagten, während ein Rauchwölkchen sich über ihnen kräuselte. „Dort drüben …. die schrecklichen Menschen, das sind sie!“

„Sie sind betrunken!“ ergänzte die Gouvernante in ihrem Männerbaß.

„So, so! Nette Brüder!“ lachte der Fremdling unbekümmert. „Na .., dann nehm’ ich Sie unter meinen Schutz. Ich bin hier wie zu Hause. Mir macht die braunhäutige Schwefelbande nichts vor!“

„Gott sei Dank!“ sprach die Kleine aus tiefstem Herzen. Auch die blonde Malerin lächelte, von ihrer verstohlenen Beklommenheit erlöst. „Sie gehen auch nach Tetuan?“

„Eigentlich komme ich von dort!“ Der Fremdling gab, sein langes Bein lüftend, dem nächsten Maultier einen wohlgezielten Fußtritt, daß es mit gespitzten Ohren weiterzutrotten anfing und sich alles wieder in Bewegung setzte. „Ich war die Nacht in der Fonda d’España, in einem Zimmer mit einem schnarchenden Spanier und einem erkrankten deutschen Herrn. Greulich! Na, nun ist der Spanier weg, ich hab’ mich umquartiert und bin jetzt meinen Leuten entgegengeritten.“

Hilda sah die schwerbepackten Tiere. „Sind Sie ein Forschungsreisender?“ frug sie und sah ihn staunend aus ihren braunen Augen an.

Der Fremde lachte herzlich. „Nee, mein Fräulein!“ sagte er. „Dumm sind wir! Aber so dumm nicht. Da steckt kein Geld drin!“

„Ja, was machen Sie denn hier?“

„Geschäfte. Mein Name ist Albrecht Steffen, in Firma Holthoff und Söhne in Hamburg.“

Ein Geschäftsreisender in Afrika! Hilda begriff das nicht recht. „Kann man hier denn Sachen kaufen?“ forschte sie. „Ich meine wirkliche Waren. Nicht bloß alte Waffen und derlei?“

„Haben Sie noch nie von Maroquinleder gehört?“ Der Reisende deutete auf die hinter ihm trappenden Saumtiere. „In den Körben da steckt’s. Das beste Leder der Welt. Maroquin kommt doch von Marokko. Außerdem exportiere ich auf eigene Faust Blutegel und spekuliere in dem spanischen Pesetakurs. Die Kabylen hier halten sich nämlich keinen Kurszettel. Wenn die Peseta niedrig steht, geben Sie mir ihre Waren zum selben Preis wie sonst!“

„Also hauen Sie die armen Leute übers Ohr!“

„Natürlich!“ erwiderte der bärtige Handlungsreisende unbefangen. „Dazu sind die Kerle doch da. Im übrigen kann ich beim besten Willen keine Existenzberechtigung an der ganzen Gesellschaft entdecken. Für mich giebt’s nur zwei Worte, die heißen cash und money! Ja – Geld und nochmals Geld! Zu seinem Privatvergnügen reitet doch weiß Gott hier außer ein paar Engländern niemand im Land herum!“

„O doch!“ sagte die Kleine erschöpft und melancholisch. „Sehen Sie nur mich an! Ich mache eine Vergnügungsreise, um mich vom Examen zu erholen!“

Ihr Begleiter lachte. „So sehen Sie auch gerade aus! Uebrigens, ich weiß schon, wer sie sind und woher Sie kommen. Gestern sind Sie von Tanger abgeritten, um in Tetuan ‚die maurischen Dinge abzuschreiben‘, wie sich Muley Hassan, mein arabischer Vertrauensmann, ausdrückt.“

„Also das haben Sie alles schon erfahren?“

„O, Sie glauben gar nicht, wie der Europäer hier im Lande beobachtet wird! Anscheinend laufen die Eingeborenen finster und ohne ihn anzuschauen, vorbei. Aber in Wirklichkeit entgeht ihnen keine Bewegung. Aha, da kommt ja diese Höllenbrüt zurück!“

Er schrie den herantrabenden Soldaten ein paar Worte in einer rauhen Sprache entgegen. Die beiden Alten antworteten nicht. Offenbar machte sich bei ihnen die Katerstimmung mehr und mehr geltend. Schweigend, den Turban nachdenklich auf die Brust gesenkt, nahmen sie ihren Platz an der Spitze des Zuges wieder ein.

Hilda sah ihren Beschützer dankbar an. „Ich bin so froh, daß Sie da sind! Ich habe Tag und Nacht Angst hier in Marokko. Aber so gräßlich wie vorhin noch nie. Ich glaubte bestimmt, wir würden ermordet werden!“

„Ach wo! das kommt selten vor. Einmal haben sie hier vor einiger Zeit einen deutschen Reisenden umgebracht und in Tanger einen deutschen Bankier. Damals wurden die Mörder unter großem Zulauf auf dem kleinen Socco in Tanger enthauptet und ein verwünschter spanischer Renegat in Cadix guillotiniert. Es lagen deutsche Kriegsschiffe im Hafen, es mußte viel Geld als Entschädigung gezahlt werden, kurz die marokkanische Regierung hatte mehr Aerger als ihr lieb war, und seitdem ist allgemeine Schonzeit für die Fremden proklamiert!“

„Ich würde mich doch fürchten, hier im Land herumzureiten. Und immer allein. Das muß doch traurig sein!“

„Business! Geschäfte! Ich hab’ eine alte Mutter zu Hause und zwei Schwestern! Da heißt’s Geld schaffen. Sonst geht die Karre nicht weiter!“

„Aber Sie waren doch ursprünglich nicht Kaufmann? … Ich meine … wegen der Schmisse ...“

„Allerdings! Sie sehen meinem zerfetzten Gesicht mit Recht an, daß ich studiert habe. Oder vielmehr nicht studiert, sondern getrunken, gepaukt und Schulden gemacht, wie das auf deutschen Hochschulen Brauch. Bis mein Vater eines Tages starb. Er war ein kleiner Beamter gewesen, und wie er tot war, war nichts mehr da als die winzige Witwenpension!“

„Ach, und da gaben Sie das Studium auf?“

„Na, ich mußte doch wohl und sagte mir: Aus einem deutschen Korpsstudenten kann bekanntlich alles werden. Also auf nach Amerika! Bei der Gelegenheit blieb ich auf der Strecke Genua-New York in Gibraltar hängen und fand, daß da Geld zu holen war, wie überall, wo Old-England sich häuslich eingerichtet hat, und daß der deutsche Handel in Marokko sich wie in der ganzen Welt mächtig zu heben anfängt. Seitdem bin ich hier, und es geht ja auch vorwärts, wenn auch langsam genug.“

„Ja,“ Hilda nickte teilnehmend, „Sie verdienen sich wirklich ihr Geld schwer genug … fern von aller Kultur … in solch einem wilden Land!“

[711] Albrecht Steffen strich sich nachdenklich seinen blonden Vollbart. „Es gleicht sich eben alles aus in der Welt!“ sagte er. „Früher hab’ ich mein Geld verthan und in dulci jubilo gelebt. So ist’s nicht mehr als recht und billig, daß ich jetzt Blutegel exportieren muß und die maurischen Juden beim Pesetawechseln einseifen, nebenbei bemerkt, ein höllisches Stück Arbeit. Einmal wird’s ja auch wohl wieder anders werden. Von Leder und Blutegeln wird man auf die Dauer nicht fett. Es muß ein großer Schlag kommen!“

„Das wünschte ich Ihnen wirklich!“ sagte die Kleine herzlich. Sie sahen sich an und eilten dann, den während ihres Gespräches schon weit vorausgerittenen Haupttrupp wieder zu erreichen.

*               *
*

Das Wetter hellte sich allmählich auf. Als sie, noch vor Sonnenuntergang, ihre Pferde im Schritt durch das Stadtthor von Tetuan lenkten, schimmerten schon blaue Lücken am Himmel und das letzte Abendgold verklärte das Gewühl von Mensch und Tier in der weißgetünchten Stadt, über deren flachen Dächern geisterhaft der letzte Ruf der Muezzin hinzitterte.

Es war hier nicht so bunt wie in Tanger. Der Völkermischmasch des Hafens, der Gegensatz zwischen Morgenland und Europäertum fehlte und damit auch die Fremdenindustrie samt ihren lächerlichen Auswüchsen. Hier war der Islam noch Alleinherr, gemischt nur mit alttestamentarischer, orientalisch gekleideter Judenwelt, deren jüngste Sprossen nur vereinzelt, als seltene weithin sichtbare Erscheinungen in Rock und langen Hosen gingen. War doch sogar der französische Konsul, den Steffen im Vorbeireiten grüßte, ein richtiger freundlicher alter Türke mit hohem Turban, großer Brille und einem Regenschirm, der wenig zu seinem malerisch wallenden Gewande paßte.

„Darin ist Marokko merkwürdig!“ sagte der Reisende zu Hilda. „Der Islam schließt sich hier trotz seines Fanatismus nicht so streng gegen uns Christen ab wie sonst. Vielleicht weil die Leute hier selbständig sind und vom Sultan in Konstantinopel nichts wissen wollen. Ich bin hier oft sogar im Inneren maurischer Häuser gewesen, was in vielen anderen Städten Nordafrikas ganz unmöglich sein soll. Kennen Sie die Alhambra?“

„Jawohl!“ Die Schwestern waren auf der Herreise dort gewesen, und Klara hatte Studien zu einem Bild gemacht, das man im nächsten Jahr mit Vorteil zu verkaufen hoffte.

„Nun, sehen Sie,“ fuhr Hildas Begleiter fort und wies auf die burgartig nach außen abgeschlossenen, fast fensterlosen Gebäudereihen zu beiden Seiten der Straße. „Hier in den Häusern dieser reichen Mauren lebt die Alhambra wieder auf. Im kleinen natürlich, flüchtig ausgeführt, aber eben doch wieder diese Säulenhallen mit ihrer Filigranarbeit an den Wänden und den verschnörkelten Decken und die Gärten mit den Wasserbecken, den Springbrunnen und Orangenbäumen. Und statt der Engländer und Führer und Bettler in der Alhambra hier wirkliche Moslims in weißen Kleidern und Negersklavinnen an den Thüren … kurz, eben Stimmung! Mir wird ganz sonderbar darin zu Mut!“

Die Malerin hatte zugehört und wandte den hübschen Kopf zurück. „Kann man nicht ein solches Haus einmal sehen?“

„Es wird schwer gehen! Für eine Dame ist’s überhaupt mit Tetuan so so! Die Leute hier sind noch zu wenig an unverschleierte Europäerinnen gewöhnt. Sie ärgern sich darüber. Und wie Sie in diesem Gewühl auf der Straße sitzen sollen und Skizzen machen, das weiß ich wahrhaftig nicht. Im günstigsten Fall haben Sie sofort ein paar hundert Menschen, Esel, Hammel und wilde Hunde als Zuschauer dicht um sich her.“

„Ja, es wird Mühe kosten!“ seufzte die blonde Malerin und streifte mit dem Blick eine offene Moschee, in deren Vorraum zwischen den massenhaft herumstehenden gelbledernen Pantoffelpaaren ein einäugiger uralter Araber kauerte. „Sehen Sie nur, wie wütend mich dieser Mensch anschaut! Ich fürchte, wir müssen mit leerem Skizzenbuch nach Tanger zurück!“

Sie war nachdenklich geworden und schwieg, bis man die Fonda d’ España erreicht hatte. Dort stand die dicke Wirtin am Eingang und rief schon von weitem erregt dem Kaufmann ein paar spanische Worte entgeHen.

Auch auf dessen Gesicht malte sich Bestürzung. „Das ist eine schöne Geschichte!“ wandte er sich zu den Damen. „Der deutsche Herr, von dem ich Ihnen sprach … Sie erinnern sich … mit dem ich die Nacht im selben Zimmer schlief …“

„Nun ja … was ist mit ihm?“

„Er scheint plötzlich schwer krank geworden zu sein! Es ist niemand bei ihm. Und, was das Sonderbarste ist, es heißt, daß er Sie erwartet!“

Aufs neue begann die Spanierin ihren Wortschwall.

„Er hat der Wirtin gesagt,“ verdolmetschte Steffen, „es würden drei Damen ankommen, die er gestern in El-Fondak getroffen. Drei Deutsche, darunter eine, die blond und eine Malerin sei. Die wolle er bitten, ihm etwas nach Deutschland oder wenigstens bis Gibraltar mitzunehmen!“

„Warum hat er denn nicht Sie darum gebeten!“ forschte die düstere Gouvernante.

„Er wußte ja nicht, daß ich zurückkommen wollte. Aber wenn Sie wünschen, kann ich natürlich …“

„Nein, lassen Sie nur!“ meinte Klara schnell. „Sagen Sie, bitte, der Wirtin, daß sie mir das Zimmer zeigt!“

Die Kleine hielt sie am Arm zurück. „Aber, Klara! Das schickt sich doch nicht!“ flüsterte sie aufgeregt. „Zu einem Herrn …“

„Zu einem Kranken. Uebrigens kann ja Martha mitkommen.“

Sie stieg mit der Aeltesten hinter der vorausleuchtenden Wirtin die Treppe empor.

Hilda blieb unten zurück. „Um Gottes willen, gehen Sie nicht auch fort!“ bat sie verstört den Reisenden. „Sonst passiert mir heilig irgend ein Unglück in dieser schrecklichen Stadt!“

„Wo werd’ ich denn fortgehen!“ sagte ihr Freund und lächelte, während sie unter seinem Blick die Augen niederschlug.


7.

In einer leeren Whiskyflasche flackerte ein Kerzenstumpf und warf sein helles Licht auf die gegenüberliegende schmutzige Wand mit dem Oeldruck der Madonna. Der übrige Teil des Zimmers lag im Dämmerschein, namentlich das Bett in der Ecke, auf dem der Fremde von gestern gestiefelt und gespornt, in seinen Plaid gewickelt und eine Cigarette zwischen den Zähnen, ruhte.

„Guten Abend!“ klang seine Stimme aus der Gegend, wo das Feuerpünktchen glühte. „Ich danke Ihnen sehr, daß Sie gekommen sind.“

Klara trat näher. „Sind Sie denn wirklich krank?“ forschte sie besorgt.

„Ich bin zusammengeklappt. Und da ich nicht weiß, wie es ausgeht, möchte ich Sie um eine Gefälligkeit bitten.“

Die blonde Malerin rückte einen Stuhl heran. „Also ich soll Ihnen etwas nach Deutschland mitnehmen?“

„Ja. Selber kann ich nicht hin. Sowie ich mich aufrichte, geht mir der Atem aus, und es sind da so Stiche … na, einerlei … ich bin in der Lage, wo man einen vernünftigen Menschen braucht. Also wollen Sie es thun?“

„Gern!“ Sie stand auf, holte das Licht in der Flasche heran und setzte sich erwartungsvoll wieder vor ihn hin.

Er hatte die Augen geschlossen, wie um zu überlegen. Im Kerzenschein sah sie jetzt zum erstenmal sein Gesicht. Gestern Hatte sie die Gestalt nur im Dämmern geschaut, und doch war ihr ein ganz bestimmter Eindruck, eine Erinnerung geblieben. Jetzt plötzlich wußte sie es: Defregger! Das waren die deutschen Alpen, wie sie sich auf harten, kühnen Gesichtern widerspiegeln. Etwas Adlerartiges in Blick und Schnitt des Antlitzes, Kraft, Trotz und unsteter Freiheitsdrang, Vollmenschen der Lebenszähigkeit und Körperkraft, bis an die Grenzen der Wildheit. In diesen Köpfen verliert sich der germanisch blonde Typus. Etwas Welsches kündet sich in dem dunklen Schnurrbart, dem gelblichen Ton der Wangen, der sehnigen Magerkeit des Körpers an, mag auch die Sprache deutsch sein und echt deutsch die kecke Lust an Abenteuern und Gefahren.

„Es ist ja nur eine Kleinigkeit, um die ich Sie bitten möchte,“ sagte er plötzlich. „Verzeihen Sie, daß ich Sie als eine beinahe ganz Fremde damit belästige. Aber sonst kenne ich überhaupt niemand in Tetuan?“

[712]

Gott will es!
Nach dem Gemälde von G. A. Vanaise.

[713] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [714] Sie sah ihn erstaunt an. „Sie suchten doch Ihre Freunde hier, wie Sie gestern sagten?“

„Freunde? Was ist das? Wie sieht so ein Ding aus?“

„Mein Gott!“ Sie lachte etwas ungeduldig. „Sie wissen wohl besser als ich, wie Frau Angela Rey aussieht!“

„Ach so! Ja, die ist fort! Weithin über alle Berge!“

„Und hat Sie allein hier zurückgelassen?“

„Sie weiß ja nicht, daß ich krank bin.“ Er starrte vor sich hin. „Uebrigens wäre das auch kein Grund für sie. Sie läßt sich nicht halten, durch nichts. Sie kommt und geht wie sie will.“

„Nun, und womit kann ich Ihnen in Deutschland behilflich sein?“

„Ach so!“ Er wandte den Kopf ihr zu. „Nur dies Päckchen hier. Ich wage nicht, es der französischen Postagentur anzuvertrauen. Es enthält den Auszug aller meiner Beobachtungen und Forschungen in den letzten Jahren.“

Sie wog es andächtig in der Hand und blickte ihn erwartungsvoll an.

„Ach so …“ sagte er. „Sie wissen ja gar nicht, wer ich bin! Also um mich vorzustellen …“

„O doch!“ Sie ließ ihn nicht ausreden und schaute ihm ins Gesicht. „Jetzt, wo ich Sie im Licht sehe. erkenne ich Sie wohl! Nach einem Lenbachschen Bilde. Im Münchener Glaspalast! Ich weiß, wer Sie sind!“

„Um so besser! Und Sie kehren, wenn ich fragen darf, in nächster Zeit nach Deutschland zurück?“

„Sehr bald! Dies ist unsere letzte Etappe. Und hier wird es, fürchte ich, mit dem Malen nicht viel werden!“

„Schön! Das Paket ist für die Geographische Gesellschaft in Berlin bestimmt. Ich selbst werde kaum mehr in der Lage sein, es zu übergeben, sondern muß Sie darum bitten …“

Sie stand auf und sah ihn mit Angst und Erstaunen an.

„Ja, ja!“ Er lachte vor sich hin. „Einmal nimmt alles ein Ende. Ich habe viel ungestraft durchgemacht. Aber gestern hatte ich ein schlimmes Abenteuer – es ist mir was aufs Herz gefallen, und heute ein noch schlimmeres, ganz ähnliches. Das hat mir den Rest gegeben. Ich glaube nicht mehr, daß ich aus diesem Neste hier herauskomme!“

Sie schwieg immer noch, aber ein ungläubiges Lächeln spielte immer stärker um ihren Mund.

„Und wenn Sie dann lesen, mein Fräulein,“ fuhr er gelassen fort, „daß ein weitbekannter Forschungsreisender, Bergkletterer, Gelehrter etc. in der Fonda d’España zu Tetuan durch ein seliges Ende Europa, dem Deutschen Reich und seinem engeren Heimatlande Bayern entrissen worden ist, dann …“

Sie beugte sich nieder und nahm sein Handgelenk zwischen die Finger. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie da reden!“ sagte sie nach einer Weile ganz ruhig. „Sie haben ja nicht einmal Fieber.“

„Fieber soll ich auch noch haben? Es ist genug, daß ich dalieg’ und mich nicht rühren kann. Wissen Sie, was das heißt, wenn ein Mann wie ich auf einmal zusammenklappt?“

„Das heißt gar nichts! Gerade bei einem Manne wie Sie!“ Eine Röte des Unmuts übergoß ihr hübsches Gesicht, und sie sprach ganz laut und energisch: „Wenn man das hinter sich hat, was Sie durchgemacht haben, ist es denn da ein Wunder, wenn plötzlich die Konstitution nachgiebt? Aber das geht doch auch wieder vorüber!“

Er sah sie lächelnd an.

„Das ist so echt weiblich. Es soll immer wieder alles gut werden!“

„Das muß es auch! Man muß nur ordentlich hoffen und den Kopf oben behalten. Glauben Sie denn, Sie sind der einzige, dem das passiert? Es haben andere auch schon dagelegen und Stiche im Herzen gehabt – bildlich gesprochen – und gemeint, sie müßten sterben, und sind doch wieder gesund geworden und fröhlich. So wird’s Ihnen auch gehen!“

„Woher wissen Sie denn das so genau?“

„Nun, das kommt doch wirklich überall auf der Welt vor!“ sagte sie ruhig. „Dazu braucht man wahrhaftig nicht erst nach Afrika zu gehen. Die Hauptsache ist nur, daß man nicht bloß daliegt und klagt.“

„Aber ich bin nun einmal krank!“

„Krank sind Sie freilich. Aber wer so kräftig und rüstig ist wie Sie, der wird auch wieder gesund. Er muß nur ordentlich wollen! Sie haben doch gewiß Energie genug dazu!“

„Ich hab’ gar keine Energie mehr! Es ist alles fort, die Nerven … die Spannkraft … alles …“

„Das bilden Sie sich ein!“ Sie wurde beinahe zornig. „Natürlich … wenn man den ganzen Tag in diesem greulichen Zimmer daliegt, zur Decke starrt und Cigaretten raucht, dann muß man ja in eine aschgraue Stimmung kommen. Darum müssen Sie vor allem von hier weg. So bald wie möglich.“

„Ich kann doch nicht!“

„Sie müssen können! Sie haben gewiß schon Schwereres in Ihrem Leben durchgemacht! Wenn Sie sich da mitten in Afrika plötzlich in Ihre Decke gewickelt und steif und still auf den Boden gelegt hätten, da hätten die Wilden Sie längst gefressen. Es ist wirklich schrecklich! Nun haben Sie alles hinter sich, sind am Ziele, wenige Stunden von Europa, und da liegen Sie und reden vom Sterben! Ein Mann wie Sie! Wenn ich nicht genau wüßte, daß Sie’s sind, ich würd’ es nicht glauben!“

„Also eine regelrechte Gardinenpredigt!“ sagte der Afrikaner melancholisch und richtete sich doch dabei halb auf dem Ellbogen auf. „Nicht einmal ein alter kranker Junggeselle in der Wildnis ist davor sicher!“

Sie errötete. „Ich habe natürlich kein Recht, Ihnen irgendwelche Vorwürfe zu machen!“ sprach sie stockend und wandte sich ab. „Es ist nur … man kann sich wirklich ärgern! Sie haben vorhin gemeint, was ich sagte, sei so echt weiblich. Nun sehen Sie – echt weiblich ist es auch, daß man die Männer gerne kräftig und energisch, so recht voll Mut und Schneid sieht. Und gar einen Mann wie Sie! Gestern, wie Sie so im Galopp in die Nacht hineinritten, da haben Sie mir imponiert. Aber heute … es thut mir geradezu weh, Sie so schwach und mutlos zu sehen, das können andere auch. Dazu braucht man nicht Ihren Namen zu tragen!“

„Also eigentlich ist die Sache höllisch einfach!“ versetzte der Afrikaner trocken. „Ich soll Ihnen zuliebe in aller Eile wieder gesund werden!“

Sie lachte hellauf. „Freilich sollen Sie das! Und meinetwegen mir zuliebe, wenn es dann rascher geht, obgleich wir beide uns ja gar nicht kennen.“

„Wir kennen uns genau seit vierundzwanzig Stunden, das ist eine sehr lange Zeit.“

„Wie man’s auffaßt. Jedenfalls nehme ich mir, da niemand anders da ist, das Recht, Ihnen ins Gewissen zu reden! Ich weiß, das hilft! Ich kann mich ja natürlich neben Ihnen nicht nennen, aber ich habe auch schon schwere Stunden gehabt im Leben und war ganz mutlos und verzweifelt. Da hab’ ich mich gefragt: Wozu bist du auf der Welt? und geantwortet: Zum Arbeiten! und mich an meine Staffelei gesetzt und Bilder gemalt, wovon ich und meine Schwestern leben. Und so sollten Sie sich fragen, wozu Sie da sind! Da würden Sie finden, daß Sie das Schicksal zu großen Dingen geschaffen hat und nicht, um Trübsal zu blasen. Das steht Ihnen gar nicht zu Gesicht!“

Sie hatte sich in Erregung gesprochen. Eine feine Röte bedeckte ihre Wangen.

„Und nun leben Sie wohl!“ sagte sie, sich sammelnd. „Und das Päckchen da will ich also in Gottes Namen mitnehmen.“

„Bleiben Sie doch noch!“ bat der Afrikaner lächelnd, „die Gardinenpredigt war noch viel zu kurz. Es muß noch ganz anders kommen. Ich bin ein zu hartgesottener Sünder!“

Sie mußte lachen. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich mir hab’ erlauben können, Ihnen das alles zu sagen! Es kam so über mich. Die Umgebung ist schuld. Unter all diesen braunen Menschen kommen wir Europäer uns wie alte Bekannte vor, beinahe wie Verwandte, die aufeinander angewiesen sind. Also … seien Sie nicht böse!“

Sie reichte ihm die Hand. Er hielt sie fest. „Böse?“ frug er. „Ich danke Ihnen! Wenn ich nun doch nicht sterbe, sind Sie daran schuld.“

„Die Schuld will ich gerne tragen. Wenn es nur geholfen hat!“

[715] „Das muß es wohl! Sie sind zu sehr im Vorteil gegen mich. Sie waren gestern die erste europäische Dame, die ich seit zwei Jahren gesprochen hab’ – bedenken Sie, wie da jedes Wort einer Gardinenpredigt wirkt – Sie sind jung, gesund, frisch, heiter, mit sich und der Welt zufrieden – schlendern mit Ihrer Skizzenmappe im afrikanischen Regen herum, als ob sich das von selbst verstände – kurz, ein ganzer Kerl – verzeihen Sie das Wort, aber ich muß mich erst wieder an den Verkehr mit Damen gewöhnen – hingegen ich … Ja, was bin ich denn noch? …“

„Ich sage Ihnen kein Kompliment!“ Sie drückte ihm noch einmal die Hand zum Abschied. „Das thäte Ihnen jetzt nicht gut. Sagen Sie sich lieber in Ihrem verschwiegenen Innern einige Offenherzigkeiten, je deutlicher desto besser, dann wachen Sie morgen als ein ganz anderer Mensch auf! Nun Adieu! Ich hör’ unten unser hungeriges Nesthäkchen rufen, daß das Essen fertig ist. Wir schicken Ihnen was herauf. Nehmen Sie etwas zu sich, lassen Sie Ihren Cognac ungetrunken, Ihre Cigaretten ungeraucht … und machen Sie sich keine trüben Gedanken mehr. Wollen Sie mir das versprechen?“

Er lächelte seltsam.

„Was Sie wünschen. Es ist zu komisch: ein Mensch, der um einen sorgt, das bin ich gar nicht gewohnt!“

„Ja, irgend jemand muß Sie doch pflegen!“

„Mich hat kein Mensch gepflegt … seit Jahren. Draußen in Europa hab’ ich für tot gegolten und da unten, in der schwarzen Welt, da hätten Sie mich am liebsten tot gesehen, da war ich ganz allein. Von Ihnen kommt mir seit langer, langer Zeit die erste wirkliche Teilnahme, aus dem Herzen heraus. Nicht bloß aus Höflichkeit oder weil man dafür zahlt. Das thut so wohl. Geben Sie mir noch einmal die Hand!“

„Meinethalb! Aber nun zum dritten- und letztenmal!“

„Zum letztenmal hoffentlich nicht!“ sagte er lachend.

Auch sie lachte. Sie nickten sich zu und schieden.


8.

Mit seinem blonden Vollbart, dem narbengezierten Antlitz, das dem alten Korpsstudenten hier in Afrika das Aussehen eines furchtbaren Kriegers gab, und dem funkelnden Kneifer die Menge der um ihn gescharten Mauren und Juden weit überragend, stand Albrecht Steffen auf dem Marktplatz da und handelte. Mit der Kaltblütigkeit des vielerfahrenen Geschäftsmannes, den der ehrwürdige arabische Kaufmann so wenig übers Ohr haut wie Israel in all seinen Schattierungen, vom alttestamentarischen Patriarchen in Käppchen und Kaftan bis zu dem bleichen spanischen Elegant in dem abgelegten Civil irgend eines britischen Lieutenants aus Gibraltar.

Das eigentliche Geschäft war beendet. Es galt jetzt nur noch, die Kaufsumme zu zählen und das dazwischen verteilte falsche Geld auszuscheiden. Zu diesem Zweck hatte sich die ganze Gesellschaft um einen aus dem Schlamm des Bodens aufragenden und von der Morgensonne bereits getrockneten Feldstein gruppiert. Auf diesen ließ der Handlungsreisende mit geübter Hand eines der großen silbernen Fünfpesetastücke nach dem anderen aufspringen, um dann je nach dem Klang des Metalls die Münzen, die ein Berberjunge aus dem Kot auffischte und blank rieb, seinem leinenen Geldbeutel einzuverleiben oder ohne ein weiteres Wort dem Käufer wieder zuzustellen.

„Die Welt wird ehrlich, meine Damen!“ lachte er und lüftete, zu der herankommenden kleinen Maultierkarawane gewendet, den Schlapphut. „Kaum ein Fünftel falsches Geld! Es ist geradezu unheimlich!“

Hilda reichte ihm vom Sattel herab die Hand. „Was werfen Sie denn um Gottes willen das Geld in den Schmutz, Herr Steffen?“

„Ich sondere die Spreu vom Weizen!“ Er wies auf das zurückgeschobene Silberhäufchen, in das sich ein weißbärtiger, düster schöner Araber mit einem jungen jüdischen Stutzer schweigend teilte. „Das ist alles falsches Geld. Dessen Anfertigung ist, wie Sie wissen, außer dem Stierkampf und dem Bürgerkrieg die einzige Arbeit, die das spanische Volk als seiner würdig betrachtet. Und man muß es ihm lassen: darin ist es unermüdlich. Ich war übrigens auch nicht faul. Ich habe heute schon Leder gekauft, Pesetas gewechselt, einen vorteilhaften Abschluß in Blutegeln gemacht und eine Hausse in Honig hervorgerufen – ich komme mir vor wie Rothschild auf der Londoner Börse!“

„Und was haben Sie jetzt vor?“

„Nichts!“

„Dann begleiten Sie uns doch!“ bat die Kleine. „Wir haben solche Angst, Tetuan ist eine schreckliche Stadt. Zu Fuß können wir uns auf der Straße schon gar nicht sehen lassen, nur auf diesen abscheulichen Maultieren. Dabei kann Klara natürlich nirgends zeichnen. Jetzt haben wir uns den Schlüssel zur Festung holen lassen. Da kommt niemand anders hinein, und wir sind vielleicht eine Weile ungestört!“

„Hoffen wir’s! Ich glaub’ es nicht! Der Schlüssel ist doch nur dazu da, um von den Fremden Bakschisch zu erlangen. Das Volk klettert, wo es will, über die Mauern. Wie war denn die Nacht?“

„Fragen Sie nicht!“ sagte die Kleine melancholisch. „Ich mache ja eine Erholungsreise. An die Erholung werd’ ich denken!“

Sie klommen, die Stadt im Rücken lassend, zu der Kasbah, dem hochragenden maurischen Kastell Tetuans, empor. Die Gassen hörten auf. Schuttplätze, grasbewachsene Hänge umgaben den Weg bis in das Innere des zerfallenen Werks. Eine wüste Trümmerwelt, wie überall in dem verrotteten Lande, in dem selbst die Erinnerung an die einstige maurische Herrlichkeit von Granada, an Cordovas Kunstblüte, an den Glanz der Wissenschaft am Hofe der Omaijaden völlig geschwunden, in der Roheit eines unwissenden, fanatischen Hirtenvolkes versunken zu sein scheint.

Verfall ringsumher in den bröckligen Mauern, den verrosteten Kanonen auf fauligen Lafetten, den aus den Angeln hängenden Thoren. Nur eins war von der Zeit unversehrt geblieben: der Blick von dem Wartturm herab auf das weiße, im Frühlicht leuchtende Häusermeer von Tetuan, die ringsum saftgrün prangende Ebene, von fahler, zerrissener Bergwildnis umrahmt, und in der Ferne der silberblaue Schimmer des Mittelmeers.

Hier ließ sich Klara nieder und begann ihr Malgerät zu ordnen. Die Gouvernante setzte sich steif abseits und Hilda ging mit dem jungen Kaufmann plaudernd zwischen den behaglich im Grase sich wälzenden Maultieren auf und ab.

Es war Steffen, als sei zwischen den Schwestern etwas vorgefallen. Und in der That konnte ihm die Kleine ihr überströmendes Herz nicht lange verschließen.

„Denken Sie nur,“ sagte sie bekümmert und beklommen und blieb stehen. „Wir haben uns heute morgen gezankt … wir drei! Das passiert sonst nie! Wir haben uns ja so gerne. Aber wir sind schon alle so nervös und weinerlich, von dem abscheulichen Land … zwei Nächte haben wir jetzt kein Auge zugemacht, sondern auf den Stühlen gesessen und Licht gebrannt – Sie können sich schon denken, weshalb – und den Tag über immer im Regen auf dem bösen Maultier und die Treiber mit ihrem ,Aerra! Aerra!‘ hinterher, und nichts zu essen und zu trinken. Wir haben nur noch eine Flasche. Auf der steht ‚Old scotch Whisky‘ und innen schwimmen ein paar Pfropfen, eine Menge Fliegen und ein bißchen Rotwein, schwarz wie Tinte … nein … ich halt’ es nicht aus; ich hab’ es Klara gesagt: Ich will nach Tanger zurück! Meine älteste Schwester auch!“

„Eine solche Weltumseglerin! Das nimmt mich wunder!“

„Ja, das hat seine Gründe.“

Die Kleine lächelte verstohlen.

„Sehen Sie nur, wie grimmig sie dasitzt! Sie möchte um ihr Leben gern in Tanger sein, wenn die Cooksche Reisegesellschaft dort ankommt. Wir haben sie vor vier Wochen in San Sebastian getroffen. Unterdes sind die Cooksleute überall in Spanien gewesen.“

„Und nun kommen sie von Cadix nach Tanger?“

„Ja, und von da nach Gibraltar. Und da ist jemand darunter … ein verwitweter Major außer Diensten. Lachen Sie, bitte, nicht! Wenn Sie meine Schwester ansehen, werden Sie merken, daß das noch ganz gut ginge! Der Major ist auch nicht mehr der Jüngste. Und daß er gerade schön ist, kann man nicht [716] behaupten. Er hat das alles mehr innerlich und ist ein sehr guter Mensch. Trotz seinem Fluchen und Krakehlen.“

„So, so!“ sagte der Kaufmann nachdenklich und blickte auf die schwarz und reglos dasitzende Gouvernante. „So spinnt sich derlei über Länder und Meere!“

„Ja, wenn man ein bißchen was dazu thut!“ beharrte die Kleine eifrig. „Sehen muß man sich doch vor allem, und dann ist es noch zweifelhaft, ob etwas daraus wird. Aber Klara will ja nicht. Sie will nicht fort von hier.“

„ . . Ja, wenn sie doch hier malen muß!“

„Sie kann ja nicht. Sehen Sie, Sie haben recht gehabt. Da kommen diese schrecklichen braunen Kerle und Kinder und alles schon über die Mauern geklettert und stellen sich um sie herum. Und wenn der Soldat sie wegtreibt, giebt es erst recht ein Geschrei und Gezänke, daß man jeden Augenblick glaubt, es bleibt einer tot. Vorhin haben sie schon um die Ecke herum mit Steinen nach uns geworfen. Nein, hier ist nichts zu holen!“

„Aber warum bleibt Ihre Schwester denn hier?“

„Ich weiß es schon!“ meinte Hilda.

„Aber ich werd’ mich hüten, es zu sagen! Und was sie will, das geschieht! Denn sie verdient ja doch alles Geld. Ich verdanke es doch auch nur Klara, daß ich hab’ mein Lehrerinnenexamen machen können.“

„Und jetzt wollen Sie eine Stellung annehmen?“

„Ich hab’ schon eine. In Genf. Die Familie eines Seidenfabrikanten, wo die Kinder Deutsch lernen sollen. Am 20. Juni muß ich dort sein. Meine Schwestern laden mich auf der Rückreise dort ab. Das sind jetzt die letzten Tage meiner goldenen Freiheit. Aber einen rechten Genuß habe ich eigentlich nicht davon!“

„In Genf.“ Der Handlungsreisende strich nachdenklich den langen blonden Vollbart. „Schade. So weit weg.“

„Ja, ich habe auch Angst vor dem fremden Land und den fremden Menschen!“ seufzte die Kleine. „Aber was hilft’s? Wir sind Waisen. Geld haben wir keins; also müssen wir auf eigenen Füßen stehen. Das hat mir Klara so oft gepredigt und vor allem durch ihr Beispiel bewiesen, daß ich mich damit vertraut gemacht hab’ . . . . . Sehen Sie… da kommt sie herunter, all ihre Sachen unter dem Arm. Es geht nicht mit dem Malen!“

Auf dem Gesicht der jungen Künstlerin lag ein unverhohlener Aerger, während sie die zerfallenen Steinstufen mehr herabsprang als ging, ein Haufe neugierig gaffendes und gurgelndes braunes Volk im Trabe hinterher.

„Wir wollen in die Fonda zurück!“ sagte sie heftig. „Man kommt sich hier ganz dumm vor. Am Ende thun uns die Leute noch was! Auf die Soldaten ist doch kein Verlaß!“

Die Gouvernante stand auf. „Am besten wär’ es,“ sprach sie knapp und düster, „wir ließen die Maultiere gesattelt und ritten gleich nach Tanger weiter. Jetzt ist das Wetter schön. Morgen abend können wir dort sein!“

„Ach ja, nach Tanger! Bitte, bitte!“ wiederholte die Kleine und hob flehend die Hände.

Ihre hübsche Schwester stand unschlüssig da und blickte zu Boden. „Ja sollen wir denn etwa den Kranken allein lassen?“ frug sie, ohne die beiden andern anzuschauen, in ungewohnt heftigem Ton. „Das wäre doch wirklich unverantwortlich!“

„Ach. Er ist gar nicht mehr so krank. Heute morgen war ihm doch schon viel besser!“

„Er wollte ja aufstehen!“ setzte die Gouvernante in ihrem Baß dazu. „Fieber hat er ja auch keines. Da ist doch keine Gefahr. Aber freilich …. du mußt es ja besser wissen. Du pflegst ihn ja. Das geht allem andern vor.“

„Ich habe nur eine Menschenpflicht erfüllt!“ sagte Klara heftig und schaute auf. „Also wenn es ihm wirklich besser geht und er außer Gefahr ist – aber auch nur dann – wollen wir gleich aufbrechen!“

„Hurra!“ rief Hilda und wollte die Malerin in ihrer überströmenden Freude umarmen. Aber zugleich fast hielt sie erschrocken inne. Sie hatte den traurigen Blick aufgefangen, mit dem der verschlagene Korpsstudent sie musterte.

„Nun müssen wir uns Adieu sagen, Herr Steffen!“ sprach sie und wandte, während sie ihm die Hand reichte, halb den Kopf zur Seite. „So geht’s auf der Welt. Kaum kennt man sich, so muß man auseinander.“

„Ich hoffe, wir sehen uns doch noch in nächster Zeit einmal!“ Der Handlungsreisende hatte seinen Zwicker abgenommen und polierte ihn umständlich mit seinem Taschentuch. „In Gibraltar.“

„Ach, kommen Sie hinüber?“

„Es wird dieser Tage hier ein Schiff erwartet, das hinüber fährt. Der ‚Piélago‘. Solch eine Gelegenheit muß man ausnutzen!“

„Natürlich!“ sagte Hilda eifrig. „Sie haben doch gewiß dringende Geschäfte drüben!“

„Und wie! … das Leder … und dann vor allem meine Blutegel … und überhaupt …“

„Und der Pesetakurs!“

„Richtig. An den Pesetakurs habe ich gar nicht gedacht. Also Sie sehen: es ist viel zu thun! Ich muß hin!“

Die Kleine nickte ernsthaft. „Das glaub’ ich! Uebrigens, damit Sie das in Ihren Geschäften nicht vergessen: wir wohnen im ‚Hotel Bristol‘.“

„Das trifft sich gut. Ich steige nicht weit davon im ‚Grand-Hotel‘ ab.“

„Und da werden Sie uns besuchen?“

„Ich hoffe bestimmt, daß meine Zeit es mir ermöglicht,“ sprach der abenteuernde Kaufmann und drückte zum Abschied ihre Hand.

*               *
*

Vor der Fonda d’España stand, als sich die Damen näherten, der Afrikaner, von Cigarettendunst umweht und auf einen Stock gestützt. Bei seinem Anblick hellten sich Marthas und Hildas Mienen auf. Gottlob – der Fremde hatte sich wirklich erhoben und brauchte keine Hilfe mehr! Der Weg nach Tanger war frei.

Auch auf dem hübschen Gesicht der Malerin erschien ein Lächeln, das freilich einen beinahe schmerzlichen Zug hatte. „Sehen Sie wohl!“ rief sie mit ihrer hellen Stimme, „es kommt, wie ich Ihnen gestern gesagt hab’! Ein bißchen angegriffen schauen Sie ja noch aus …“

„Es ist mir auch noch recht flau zu Mute!“ sagte der Forschungsreisende. „Aber die Nerven sind wenigstens wieder da. Nach dem kalten Sturzbad Ihrer Gardinenpredigt gestern. Die hat gewirkt!“

„Das wußt’ ich ja!“ Klara hob sich an der Hand des Hotelkuriers aus dem Sattel. „Sonst hätte ich es mir wahrhaftig nicht herausgenommen.“

„Zeit und Umstände waren aber auch wirklich günstig!“ sagte er, wie um sich zu verteidigen. „Sie können eigentlich stolz sein. Es ist lange her, daß irgend ein Mensch auf mich Einfluß gehabt hat! Da draußen in der Wildnis verlernt man’s, nach fremdem Rat zu fragen. Da ist das Ich das Einzige, was man hat!“

Er sah nachdenklich in die Weite. In herben, kühnen Linien zeichnete sich sein herrisches Profil in der durchsonnten Luft ab.

Von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, nestelte sie an ihrem Malgerät. „Bleiben Sie nur kurze Zeit so stehen!“ sprach sie rasch. „Bitte! Mir zuliebe!“

„Was soll es denn, mein Fräulein?“

Sie lachte etwas befangen und klappte ihr Skizzenbuch auf. „Mit meiner Malerei hier ist es nichts geworden! Nun müssen Sie mich entschädigen. Sie stehen gerade so charakteristisch da. Wie beim Photographen!“

„Soll ich auch ein freundliches Gesicht machen?“ frug er, ohne sich zu regen.

„Um Gottes willen … nein! Das würde alles verderben. Gerade so wie Sie sind. Und die Umgebung … die niedrige Mauer … die Palme darüber. Das stimmt alles. Im Augenblick bin ich fertig. – Wissen Sie, woran Ihr Kopf mich erinnert?“ fuhr sie fort, mit ihren prüfenden Blicken zwischen ihm und ihrer Skizze wechselnd. „An die Leute, die man bei Partenkirchen sieht. Um die Zugspitze herum und in der Gegend!“

[717]

Huzulin.
Nach dem Gemälde von W. v. Szerner.

[718] „Da bin ich auch zu Hause.“

„Eben diese Bergführer und Wildschützen und was es alles für Menschen sind – die haben einen verwandten Zug mit Ihnen – namentlich in den Augen. Dieser weite, suchende, unstete Blick. Nur natürlich ist bei Ihnen alles vergeistigt. Der Gelehrte schaut hindurch.“

„Ja, leider!“ sagte er, ohne seine halb von ihr abgewandte Stellung zu ändern. „Mein Leben hat der Wissenschaft gehört. So heißt es wenigstens, und halb mit Recht. Denn es giebt wenige Winkel der Erde, wo ich nicht Schädel gemessen und Trigonometrie getrieben und meinen Hypsothermometer ausgepackt hab’. Aber glauben Sie mir: schließlich ist die Wissenschaft doch nur ein Mantel für mich und viele meinesgleichen. Wir werfen ihn um, weil wir uns schämen, uns und der Welt einzugestehen, daß wir eigentlich nur aus reiner, unbezwinglicher Abenteurerlust, aus Freude an einem ganz ungebundenen Dasein uns unser Leben um die Ohren schlagen. Da liegt die Verwandtschaft mit Gemsenjägern, Wildschützen und derlei. Die haben es meist auch nicht nötig. Es ist nur die Lust am Wagnis, an der Gefahr, was sie hinaustreibt. Mich auch. Wie ich Ihnen schon gesagt hab’, ich bin eigentlich ein halber Wilder. Und wann darf ich mich denn nun endlich rühren?“

„Jetzt!“ sagte sie und reichte ihm das Blatt.

„Da sind Sie!“

„Aber geschmeichelt!“

Er schüttelte den Kopf.

„Daran merkt man die weibliche Hand.“

„Sie sehen ja auch nicht immer so schlecht aus wie jetzt, sondern hoffentlich besser, wenn wir uns einmal im Leben wieder treffen. Denn für jetzt,“ sie wies auf die Mauren, die das Gepäck der drei Schwestern aus der Herberge zu den bereitstehenden Maultieren trugen, „… für jetzt trennen sich unsere Wege. Wir gehen nach Tanger zurück!“

„O wirklich?“ sagte er in gleichmütigem Ton. „Und bald?“

„Jetzt gleich! Sie brauchen mich ja nicht mehr und der Aufenthalt hier . . .“

„Ich glaube gar, Sie wollen sich noch entschuldigen!“ Er sah sie erstaunt an. „An mir ist es, Ihnen zu danken. Für alles. Sobald ich kann, reite ich auch nach Tanger. Aber ich fürchte, das dauert noch einige Tage und ich finde Sie nicht mehr dort!“

Sie erwiderte nichts.

„Und das Päckchen für Berlin haben Sie mit sich?“

„Ja.“

„Nun, dann will ich wieder gehen und mich hinlegen. Also nochmals besten Dank und gute Reise!“


9.

Weit in der Ferne, vom blauen Himmel überwölbt, lag auf dem Rücken der Berge eine weiße Häusermasse, die mit ihren sich terrassenförmig abstufenden Dächern bis zu dem unsichtbaren Meere hinabstieg, Tanger, der Berührungspunkt Marokkos mit abendländischer Kultur.

Davor das breitgewellte Steppenthal des nach Tingis rinnenden Flusses, mageres, sonnenverbranntes Weideland, das Gebrüll grasender Rinder, das leichte Rauschen des Windes in zitterndem Gras, das Wehen der Einsamkeit und Oede.

Und doch lebte und wimmelte es an einer Stelle dieser kahlen Fläche und schob sich als ein Gewirr von Hunderten von braunen Gestalten durcheinander, die in ihren fahlen Gewändern, ihrer Massenhaftigkeit der Erde selbst entsprossen zu sein schienen. Denn nirgends war eines der von kleinen Saatstücken und Baumgruppen umgebenen Berberdörfcr, nirgends eine Hütte oder auch nur ein Zelt oder sonstiges Obdach zu sehen. Das Geplätscher des zur Seite zwischen Weidenbüschen hinrauschenden Baches schien allein die Eingeborenen veranlaßt zu haben, gerade hier, inmitten der Wüste, jeden Donnerstag ihren großen Markt abzuhalten.

Ein seltsames Bild! Unter dem brennenden Himmel die zerlumpten, wildblickenden Nomaden, die lange Steinschloßflinte in der Hand, die Hammel- und Ziegenherden um sich, unverschleierte, in braune Mäntel gewickelte Berberfrauen daneben, mit ihren Körben voll Eier, ihren Hühnern und den Haufen halbnackter Kinder, selten einmal ein bunter Turban in dem Gewoge kahlgeschorener, bezopfter und mit Ohrbüscheln geschmückter Schädel – das Ganze farblos und düster in seinem Durcheinanderraunen und Zischeln, dem Huschen bloßer Füße, dem unvermittelten Getriebe von Mensch und Tier inmitten der weiten Heide.

Die drei Damen ritten beklommen hindurch, von finsterneugierigen Augen verfolgt, und atmeten erst freier auf, als der Wüstenmarkt in ihrem Rücken lag und nur noch der Wind zuweilen einen Hahnenschrei, ein paar zornige Worte oder das Gewieher eines Rosses herübertrug. Es war still zwischen ihnen, seit sie am Tage vorher Tetuan verlassen und diesmal unter ihrem Zelt eine leidliche Sommernacht in El-Fondak zugebracht hatten. Auf jeder lastete etwas in anderer Weise und hieß sie schweigen.

Am Wege stand, mit langem Seile festgepflöckt, ein prachtvoller arabischer Schimmelhengst und starrte mit gespitzten Ohren und feurigen Auges die Europäer an, daß die Soldaten wohlgefällig lächelten und der Hotelkurier sich grinsend zu Klara umwandte, um sie auf das schöne Tier als „eine Mohrenkuriosität“ aufmerksam zu machen.

Aber heute sah die blonde Malerin nicht rechts noch links. Sie ritt dahin, als ob sie all diese Dinge gar nichts mehr angingen, und wenn auch ihr Gesicht ruhig und hübsch war wie immer, so entging doch ihre Blässe und Schweigsamkeit selbst dem Mauren nicht. Kein Wunder freilich nach der anstrengenden Reise, bei schlechtem Wetter und noch schlechteren Quartieren; die britischen Offiziere selbst, die von Gibraltar kamen, nannten diesen Ritt ein „rauhes Werk“. Und nun gar erst für Damen! Da hatte die Lady wohl recht, so sehnsüchtig in die Ferne zu schauen, als hoffe sie da jeden Augenblick die wieder hinter den Hügeln verschwundene weiße Stadt Tanger in nächster Nähe auftauchen zu sehen.

Aber die Lady schaute mit ihren inneren Augen etwas anderes in der Ferne, etwas, das ihr seit gestern fortwährend vor den Sinnen stand, so greifbar, so körperlich, daß sie es da förmlich vor sich zu erblicken glaubte, wie es langsam über die Steppe hinritt, in der trotzigen Gestalt eines europäischen Forschungsreisenden, mit dessen dunklen Schnurrbartenden der Wind spielte, – hinter ihm, braun und schweigsam, mit brennend rotem Fez, sein marokkanischer Diener.

Sie erschrak, so deutlich sah sie das alles auf der von der Sonnenglut überzitterten Heide. Es war wie eine Vision. Sie schloß die Augen, um das Bild los zu werden.

Aber fast zugleich brach Hilda hinter ihr das trübe Schweigen, in dem die Gedanken der Kleinen wehmütig nach Tetuan zurück und voll Wiedersehenshoffnung nach Gibraltar und in krausem Durcheinander vom Blutegelexport zum Pesetakurs wanderten und über das Ganze hin gebieterisch ein blonder Vollbart mit altvernarbten Schmissen darunter wehte.

„Jetzt da hört doch alles auf!“ sagte sie verdutzt. „Ich muß mir wahrhaftig die Augen reiben, ob das wahr ist!“

„Was siehst du denn?“ Die Malerin hielt die Wimpern gesenkt. Ein plötzlicher freudiger Schrecken zog ihr Herz zusammen.

„Na, ihn seh’ ich!“

„Wen denn?“

„Ihn! Deinen Afrikaner! Weiß Gott .. da reitet er. Es ist gar kein Zweifel: er ist’s. Jetzt hat er unsere Stimmen gehört. Er dreht sich um! Siehst du wohl …“

„Aber ein Mensch kann doch nicht an zwei Orten zugleich sein!“ tönte vom Ende des Zuges der Baß der Gouvernante. „Liebe Kinder … das ist unheimlich. Am Ende giebt’s hier Wüstengespenster!“

In Marokko war freilich vieles möglich! Die Damen bekamen etwas Angst. In banger Neugier ließen sie sich von den Maultieren vorwärts tragen, dem Fremden zu, der ihnen jetzt in kurzem Galopp entgegenkam. Der Leib seines Pferdes war glänzend naß von Schweiß.

„Guten Morgen!“ sagte er gleichmütig und lüftete die Kappe. „Darf ich fragen, warum Sie mich so erwartungsvoll anschauen?“

[719] „Ja, sind Sie es denn wirklich?“ Die hübsche Malerin reichte ihm zögernd, aber mit sonnigem Lächeln die Hand. „Wie kommen Sie denn um Gottes willen hierher?“

„Eigentlich sind Sie doch noch in Tetuan!“ fügte die Kleine schüchtern hinzu.

Er lachte. „Ich war in Tetuan und fühlte mich, seit Sie gestern fort waren und auch sonst kein Mensch mehr da, dort höchst überflüssig. Mit meinem Befinden ging es immer besser. Da ließ ich mir heute bei Sonnenaufgang mein Pferd satteln und ritt los, im Galopp; der bringt einen vorwärts. Man braucht weniger als die halbe Zeit wie mit dem Maultier!“

„Aber da müßten Sie doch an uns vorbeigeritten sein!“

„Es führen drei Wege von Tetuan nach Tanger. Ich habe einen andern, näheren eingeschlagen. Aber den Rest legen wir, wenn es Ihnen recht ist, gemeinsam zurück!“

Den Damen war es freilich recht. Sie waren so überrascht durch das plötzliche Wiedersehen, daß sie kaum ein Wort fanden, um das Gespräch in Fluß zu erhalten. Und zudem erforderte eben hier der schlechte Weg volle Aufmerksamkeit und darum Schweigen. Er bestand, wie auch an den meisten anderen Stellen, nicht aus einer Straße im europäischen Sinn, sondern aus einer Anzahl ausgetretener, schmal und tief in den Kiesboden gebetteter Rinnen, die sich in wirren, planlosen Schlangenlinien durcheinander wanden, einigten und teilten. Dichtes Gebüsch und Zwergpalmenunkraut wuchs darüber hin und riß dem Unachtsamen jeden Augenblick den Fuß aus dem Bügel oder ließ das Knie unversehens an einer der sonderbaren, kegelförmig bis zu Mannshöhe aus dem Boden wachsenden Kiespyramiden anprallen.

Jeder suchte sich hier seinen eigenen Pfad, auf dem er sein Tier lenkte. Aber da diese Spuren immer wieder ineinander- und auseinanderliefen, stieß man doch häufig genug auf demselben Weg zusammen. Das erste Mal, als sich Klara und der Forscher begegneten, lachten sie nur und lenkten die Zügel nach rechts und links, aber ihre beiden Wege näherten sich rasch wieder in weitem Bogen und wieder sahen Roß und Maultier einander freundschaftlich in die Augen. Diesmal wurde die Malerin unwillig und bog beinahe querfeldein, einem großen Busch zu. Hier auf dem äußersten Randweg war ein ungestörtes Reiten möglich, in diesem dichten Strauchwerk, das sie bis über das Haupt umfing und plötzlich, inmitten der Hecken, ihr wieder die Wahl zwischen drei oder vier strahlenförmig sich teilenden Einschnitten freistellte. Sie ließ ihr Saumtier gehen wie es wollte. Das geduldige Geschöpf spitzte die Ohren und schritt so rasch aus, daß es gerade am Ende des Busches wieder mit Roß und Reiter, die von der anderen Seite kamen, zusammentraf.

Der Afrikaner lachte. „Sie sehen … wir entgehen uns nicht. Unsere Wege führen uns immer wieder zusammen.“

„Ich kann wirklich nichts dafür. Das Maultier ist schuld!“

„Warum fassen Sie das so prosaisch auf! Das arme Maultier ist doch nur ein blindes Werkzeug!“

„Ein Werkzeug wofür?“

„Für das, was die ganze Welt lenkt. Frivole Menschen wie ich nennen es Zufall, fromme Gemüter Vorsehung. In der Sache ist’s dasselbe: was geschehen soll, das geschieht! Und es ist offenbar im Rate des Schicksals beschlossen, daß wir heute nachmittag zusammen durch dieses Thal pilgern sollen!“

„Sie sind also richtiger Fatalist!“

„Das wird jeder, der sich viel in der Welt herumgetrieben hat. Je mehr er erfährt und erlebt, desto deutlicher sieht er, daß nicht das geschieht, was er will oder meint oder fürchtet, sondern daß eine ganz fremde Gewalt ihn aufhebt und da- und dorthin stellt wie die Schachfigur auf dem Brett. Uns stellt diese Hand heute eben nebeneinander. Da müssen wir uns schon darein finden.“

Die Malerin lächelte. „Wenn mir nichts Schlimmeres passiert,“ sagte sie, „als hier in Afrika ein paar Stunden von Ihnen beschützt zu werden …“

„Zwei Stunden höchstens noch. Dann sind wir in Tanger und Sie der Freiheit zurückgegeben. Bis dahin müssen Sie mir schon erlauben, daß ich vor Ihnen reite. Dann geht es besser!“

„Ja, zeigen Sie mir nur den Weg!“

Ein glückliches Lächeln verklärte, sowie er den Rücken wandte, ihr Gesicht.

„Ich folge Ihnen gern.“

Viel sprechen konnte man auf diese Weise nicht mehr, und wieder ritten sie stumm und gedankenvoll dahin durch die glühende Steppe, deren würziger herber Hauch sie im Wehen des Windes umfing und emporstieg zu dem sonnenwarmen, unergründlich blauen Weltraum über ihnen. Ringsum die lachende Reife des ersten Sommers, Stille und Größe um die beiden, die, da das Maultier mit dem rascheren Hufschlag des Pferdes gleichen Schritt hielt, bald weit vor den anderen voraus waren.

Hilda blickte ihnen sehnsüchtig, beinahe neidisch nach. Ihre Schwestern hatten es wahrhaftig besser als sie! Die eine hatte da vorne schon einen Freund und Begleiter gefunden, die andere, die älteste, ritt mit einem seltsamen, düsteren und siegesgewissen Lächeln den Dingen entgegen, die sich in Tanger bei der Ankunft der Cookschen Reisegesellschaft entwickeln sollten – aber sie? Sie war einsam und verlassen und ihre ganze Hoffnung ruhte jetzt auf Gibraltar.

Ein kräftigerer, kälterer Wind fegte über das Land, die Hügel verloren ihre bisherige Gestalt und verwandelten sich mehr und mehr zu kahlen, nur von spärlichen Grasbüscheln durchsetzten und von Kaninchen belebten Sanddünen, ganze Haufen wilder Hunde von jeder Farbe, Größe und Rasse saßen schläfrig sich sonnend vor ihren Erdlöchern oder schleppten, an den Hängen hinstreichend, allerhand genießbare und ungenießbare Stoffe, die angeschwemmte Beute des Meeres, mit sich fort, und da hob sich plötzlich, ein tief azurblauer Streifen, der Atlantische Ocean über den zitternden Riedgräsern der nächsten Düne empor. Bald breitete er sich unermeßlich zur Linken aus und geradeaus, jenseit der schmalen, in weißen Wogenkämmen an der andalusischen Küste brandenden Wasserstraße, grüßte, ein Nebelgebilde, das Kap Trafalgar hinüber zu der kaum sichtbar dämmernden anderen Stätte englischer Größe, dem trotzigen Felsen von Gibraltar.

Blau rings umher. Das tiefe satte Blau des Himmels und der Wellen. Und, scharf, beinahe blendend sich von ihm abhebend, die weiße, hoch am Berge aufgetürmte Stadt. Auf dem weichen Strand, am Rande des Meeres ritten sie auf Tanger zu. Ringsum war volles Leben. Vorbeigaloppierende Europäer auf mutigen Rossen, im Sonnenschein faulenzende Spanier, in Ziegenschläuchen das Trinkwasser schleppende Negersklaven, welche mehr mächtigen schwarzen Halbaffen als etwas anderem ähnelten, berberische Bauern mit ihren Weibern auf der Rückkehr aus der Stadt, die ledigen Esel vor sich hertreibend, und, näher zu den Quaimauern hin, die üblichen Hafenbummler aller Nationen, Viehhändler, Agenten, maurische Kaufleute, bebrillte, würdevolle Turbanträger als Steuerbeamte, jüdische Geldwechsler und Briefmarkenhändler, Angestellte der drei europäischen Posten, die ganze bunte menschliche Mustersammlung einer orientalischen Seestadt.

Auf der starkbewegten Reede, aus der jetzt bei Ebbe sich die Trümmer der von den Engländern bei ihrem Abzug im 17. Jahrhundert zerstörten steinernen Mole erhoben, schwankte ein Dampfer auf und ab. Ein Schwarm nußschalengroß erscheinender Boote umgab ihn wie die Kücklein die Henne oder fuhr zwischen dem Schiff und dem Landungsplatz hin und her.

Die Gouvernante warf einen befriedigten Blick auf dies Schauspiel.

„Cook und Sohn sind da!“ verkündete sie. „Sie sind schon an Land!“

^Und das freut Sie auch noch?“ Der Forscher, der mit Klara am Eingang der steil aufsteigenden Straße auf die anderen gewartet hatte, sah sie erstaunt an. „Cook und Sohn sind ja ein wahres Unglück für andere Reisende! Der reine Heuschreckenschwarm. Wer kann, ergreift die Flucht!“

„Der Geschmack ist verschieden!“ Die schwarzgekleidete Dame lächelte streng. „Ich für meine Person fürchte mich vor Cook und Sohn nicht. Im Gegenteil … ich hoffe sogar, daß wenigstens ein Teil der Gesellschaft in unserem Hotel abgestiegen ist. Das wird mir eine angenehme Gelegenheit geben, mein Englisch wieder einmal zu üben!“ (Fortsetzung folgt.)     


[720]

Karoline von Günderode.

Ein Lebensbild von Moritz Necker.

Die Erinnerung an Karoline von Günderode wäre trotz ihres tragisch erschütternden Todes wohl längst verdunkelt, wenn nicht Bettina von Arnim ihr Andenken so sehr gefeiert hätte. Die Dichtungen Karolinens haben keine große Verbreitung gefunden, und heutzutage sind sie eine Rarität, die sogar in großen Bibliotheken nicht zu finden ist. Die Günderode war auch zu ihren Lebzeiten als Dichterin nur einem engeren Kreise von Freunden in Frankfurt, Heidelberg und Weimar bekannt; sie starb zu früh, um das poetische Talent, das sie ohne Zweifel besaß, zu voller Blüte auszubilden. Man hatte dann ein Interesse daran, nicht viel von ihr zu sprechen; eine druckfertige Sammlung ihrer Gedichte wurde nach ihrem Aufsehen erregenden Tode unterdrückt, obwohl schon ein Teil davon gesetzt war und die Korrekturbogen vorlagen. Sie wäre also ganz verschollen, wenn nicht Bettina in drei Werken, von denen eines den Titel „Die Günderode“ trägt und 1840 erschien, so warm, so begeistert von ihr gesprochen hätte; die anderen Werke sind „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835) und „Clemens Brentanos Frühlingskranz aus Jugendbriefen ihm geflochten“ (1844). Und da alle diese Werke noch immer leben, so viel Absonderlichkeiten ihnen auch anhängen, so lebt mit ihnen das Bild der Günderode fort, wie es Bettina in ihrer treuen Freundesseele festgehalten hat.

Darin erscheint Karoline als das wahre Widerspiel Bettinens. Diese ist der ewig unruhige Geist, übersprudelnd von Gefühlen, von närrischen und tiefsinnigen Gedanken. Karoline, um mehrere Jahre älter als Bettina, ist von ruhigerer Gemütsart, mehr zur Beschaulichkeit und Grübelei geneigt, etwas gedrückt auch durch manche herbe Lebenserfahrung. Karoline ist Freundin, Vertraute, Erzieherin Bettinens; alt genug, um bedächtiger als sie zu sein; jung genug, um mit ihr zu Zeiten noch schwärmen und phantasieren zu können. Folgt man Bettinens Erzählung, die im einzelnen zuweilen Dichtung, im ganzen aber Wahrheit bietet, so erfährt man aus ihr die Geschichte einer Freundschaft, die idealer nicht gedacht werden kann und zwischen Frauen, die litterarisch bekannt wurden, auch ihresgleichen nicht mehr hat. Diese Aufzeichnungen der Freundin haben in der That mehr noch als der tragische Tod der Günderode die Nachwelt zur Beschäftigung mit dem Schicksal der unglücklichen Dichterin angeregt und noch ganz neuerdings L. Geiger, E. Rhode, K. B. Stark und andere zu Publikationen veranlaßt. Auf Grund dieser Forschungen wollen wir die kleine Lebensgeschichte nun wiedererzählen.

Karoline v. Günderode.
Nach einer Lithographie von C. Lang.

1.

Karoline von Günderode stammte aus einer alten, angesehenen Familie in Hessen und Baden, die schon von Kaiser Rudolf II in den Freiherrnstand erhoben wurde und eine Reihe von Militärs, Justiz- und Hofbeamten aufweist. Karolinens Vater, Hektor Wilhelm von Günderode (1755–1786), begnügte sich nicht mit seiner amtlichen Stellung in Karlsruhe, sondern hatte auch wissenschaftlichen und litterarischen Ehrgeiz. Er erwarb sich einen guten Ruf als besonnener und gründlicher Historiker, starb aber, mit wenig mehr als dreißig Jahren, zu früh, um das Ziel seines Ehrgeizes zu erreichen. Nach der Schilderung seines Biographen Posselt war Hektor von Günderode „mehr Beobachter als Sprecher. Es beleidigte ihn, wenn die Leute über Abwesende spotteten. Sein Leben war das Leben eines Mannes, der gern alles thun möchte und noch wenig gethan zu haben glaubte. Bei allem Ehrgeiz sehnte er sich nach Freiheit und Ruhe, er war zur Schwermut geneigt.“ Auch Hektors Bruder Friedrich Justinian von Günderode war litterarisch thätig, doch mehr in schöngeistiger, feuilletonistischer Art. Von ihrem Vater dürfte Karoline nicht bloß den Charakter, sondern auch die litterarischen Neigungen geerbt haben. Sie war auch körperlich dem Vater ähnlich, doch hat er keinen Einfluß auf ihre Bildung genommen, da sie, geboren am 11. Februar 1780 in Karlsruhe, erst sechs Jahre alt war, als er starb. Er hinterließ seine Familie in etwas bedrängten Verhältnissen. Die Pension der Witwe betrug nach der kurzen Dienstzeit des Gatten nur 300 Gulden jährlich. Sie hatte ursprünglich sechs Kinder, fünf Töchter und einen Sohn; doch starben die drei älteren Töchter in früher Jugend wie der Vater an der Auszehrung. Auch die Mutter Karolinens, gleichfalls eine geborene von Günderode, war bei großer Schönheit eine reich begabte und vielseitig gebildete Frau; sie betrieb philosophische Studien mit Vorliebe; Fichtes Schriften waren ihr vertraut, und anonym hat sie manches Gedicht in Zeitschriften veröffentlicht. Nach dem Tode ihres Gatten siedelte sie von Karlsruhe nach Hanau über. Die schmale Witwenpension wurde durch die Einkünfte des Günderodeschen Fideikommisses immerhin soweit ergänzt, daß die Freifrau ein eigenes Haus in Hanau kaufen und ihren Kindern eine gute Erziehung angedeihen lassen konnte. Dazu bot auch die Stadt hinreichend Gelegenheit; sie hatte gute Lehranstalten, lebhaften geselligen Verkehr und ward aus dem nahen Kurorte Wilhelmsbad viel besucht. Seit 1787 blühte Hanau neuerdings auf, da der Erbprinz von Hessen-Kassel, der spätere Kurfürst Wilhelm II, dort seinen Hof hielt und bis zur Franzosenzeit daselbst verblieb. Frau von Günderode hatte auch eine Stellung an diesem Hofe, die sie oft von den Kindern fernhielt.

Ueber das Leben Karolinens bis zu dieser Zeit sind wir wenig unterrichtet, da sich unter den wenigen Briefen, die wir überhaupt von ihr besitzen, keiner aus den Jahren vor ihrer Uebersiedelung in das von Cronstetten-Hynspergsche adelig-evangelische Damenstift in Frankfurt a. M. vorfand. Diese Uebersiedelung machte Epoche in Karolinens Leben.

Das adelige Damenstift war 1766 zunächst nur für mittellose Frauen der „Ganerbschaft“ Alt-Limpurg von Fräulein Justine von Cronstetten gegründet worden, und zwar für Witwen oder Fräulein, die das dreißigste Lebensjahr erreicht hatten. Bei Karoline von Günderode, deren Familie auch zum Hause Alt-Limpurg gehörte, machte man jedoch eine Ausnahme, als man sie, die wenig mehr als Siebzehnjährige, am 4. April 1797 ins Stift aufnahm. Der Dienst, den man dem jungen Mädchen damit leistete, war von zweifelhafter Art. Man entlastete wohl die Mutter, sperrte aber die Tochter in eine Art von reformiertem Kloster ein. Denn die Statuten des Stiftes waren sehr streng. Die Damen mußten sich schwarz, zum mindesten dunkel kleiden, durften keine Herrenbesuche empfangen, in keine große Gesellschaft gehen, sollten dem Tanz und dem Theater entsagen, sich aller Karten- und anderen Spiele enthalten, auch aller Klatschereien und üblen Nachreden, und zwar mußten sie all dies eidlich geloben! Mittags und abends mußten sie bei der gemeinsamen Tafel erscheinen, nur ausnahmsweise durften sie auf ihren Zimmern allein essen …. Es läßt sich leicht denken, daß [721] eine junge und an den freien Verkehr in Hof und Stadt Hanau gewöhnte Dame wie Karoline das Leben im Stift als eine Beschränkung ihrer Freiheit empfinden mußte und jede Gelegenheit, auswärts zu verkehren, mit Freuden ergriff. Daß sie unter den Stiftsdamen selbst eine Freundin gefunden hätte, ist nicht bekannt; alle, die sie liebten, lebten draußen.

Und was war das für ein bewegtes Leben da draußen! Man erinnere sich nur an alle die großen Umwälzungen in der politischen und geistigen Welt, welche gerade um die Wende des Jahrhunderts in Deutschland und ganz Europa stattfanden. Die französische Revolution vom Jahre 1789 hatte eine neue Zeit eröffnet.

Bettina v. Arnim.

Als die Günderode in das Alter kam, wo sie schon selbst denken und urteilen konnte, da war der Stern Napoleon Bonapartes im vollen Aufsteigen. Man sah in ihm schon den Selbstherrscher der Franzosen; die öffentliche Meinung war geteilt in Gegner und Bewunderer seines Genies; man stritt über den Wert der verschiedenen Verfassungen: Republik und Monarchie. Man ahnte damals freilich noch nicht, daß Deutschland mit dem bewunderten Genie des Schlachtfeldes bald auf Leben und Tod ringen werde. In diesem großen Parteigegensatz der Zeit stand Karoline auf seiten der Republikaner; sie bewunderte nicht den Eroberer, wie die meisten Menschen in ihrer Umgebung, und zeigte wenig Sympathie für Frankreich. Die großen Schöpfungen des goldenen Zeitalters unserer Litteratur blieben natürlich nicht ohne Einfluß auf das begabte Stiftsfräulein. Karoline las sehr viel: Dichter und Philosophen, Romane und Geschichtswerke, und suchte zu mehr als bloß dilettantischen Einsichten zu gelangen. Besondere Freude bereiteten ihr Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. Und wie für Herder war sie auch für den demokratischen Jean Paul eingenommen. Den tiefsten Eindruck scheint indes Schiller auf sie gemacht zu haben. An seinen Werken bildete sich ihre eigene dichterische Sprache; sein Sinn für Geschichte, seine philosophische Aesthetik und sein Idealismus entsprachen ihrem eigenen dichterischen und zur Reflexion neigenden Naturell, und sie hielt zu ihm, obwohl ein Teil ihres Freundeskreises aus seinen Gegnern bestand und sie von ihm abzulenken bestrebt war. So schrieb ihr Savigny aus Marburg am 29. November 1805: „Dein Geschmack an Schriftstellern, z. B. an Schiller, hängt damit (nämlich mit der Ueberspannung der Gefühle, die er ihr zum Vorwurf machte) zusammen. Denn, was ist das Charakteristische an diesem als der Effekt durch eine deklamatorische Sprache, welcher keine korrespondierende Tiefe der Empfindung zum Grund liegt?“

Doch damit haben wir schon der Zeit vorgegriffen und den Kreis von Freunden berührt, der auf das Schicksal der Günderode so stark eingewirkt hatte. Das Leben des Weibes wird ja mehr noch als das des Mannes von seiner Umgebung bestimmt.

Der eben erwähnte Karl von Savigny, der später so berühmt gewordene Rechtslehrer und Begründer der historischen Rechtsschule, von dessen Methode auch Jakob Grimm den Anstoß zu seinen epochemachenden deutschen Sprach- und Altertumsforschungen erhielt, spielte eine bedeutsame Rolle im Leben der Günderode. Er stand ungefähr in gleichem Alter mit ihr. Savigny wurde am 21. Februar 1779 in Frankfurt a. M. geboren, wo sein Vater als Vertreter mehrerer Fürsten und auch als Kreisabgesandter des oberrheinischen Kreises lebte. Doch starben Savignys Eltern frühzeitig, er wurde bei seinem Obervormund von Neurath in Wetzlar erzogen und studierte dann in Göttingen (1796 bis 1797) und Marburg (1798 bis 1799) Jurisprudenz. Im Sommer pflegte sich Savigny auf dem väterlichen Gute Trages bei Hanau aufzuhalten, und hier war es, wo ihn Karoline von Günderode bei der gemeinsam befreundeten Familie Leonhardi kennenlernte. Der junge Savigny war eine früh gereifte männliche Erscheinung, von feinen Umgangsformen, klarem, zielbewußtem Willen; 1800 ward er Doktor der Rechte und habilitierte sich auch gleich als Privatdocent in Marburg.

Karl v. Savigny.
Nach dem Leben gezeichnet von L. Claude.

Clemens Brentano.
Nach der Büste von Chr. Fr. Tieck.

Dieser hochbegabte Mann konnte nicht ohne Eindruck auf das Gemüt Karolinens bleiben, und es sind mehrere Brieflein von ihr an ihre Freundin Karoline von Barckhaus, geb. Leonhardi, erhalten, in denen sie ihrer Liebe rührend und liebenswürdig Ausdruck gab. Den Sommer 1799 verbrachte die Günderode bei ihrer Mutter in Hanau. Sie war leidend, Kopf- und Augenschmerzen plagten sie, und sie zog sich so viel als möglich vom geselligen Leben zurück. Auch das Herz war ihr schwer, denn sie wußte nicht, ob sie wieder geliebt werde und Hoffnungen hegen dürfte. In dieser Not eröffnete sie sich der Frau von Barckbaus, die auch Savigny gut kannte. Ihr schrieb sie am 4. Juli 1799 aus Hanau:

„Schon beim ersten Anblick machte Savigny einen tieferen Eindruck auf mich; ich suchte es mir zu verbergen und überredete mich, es sei bloß Theilnahme an dem sanften Schmerz, den sein ganzes Wesen ausdrückt, aber bald, sehr bald belehrte mich die zunehmende Stärke meines Gefühls, daß es Leidenschaft sei, was ich fühle. Ich wußte mich vor Freuden kaum zu fassen, als Sie mir in Ihrem letzten Briefe schrieben, Savigny käme nach Wilhelmsbad. Zürnen möchte ich mit mir selbst, daß sich mein Herz so schnell an einen Mann hingab, dem ich wahrscheinlich ganz gleichgiltig bin; aber es ist nun so, und mein einziger Trost ist, bei Ihnen, Beste, freundliche Theilnahme zu suchen …“

Frau von Barckhaus versagte ihr diese Teilnahme nicht, aber sie suchte Karolinen auf andere Gedanken zu bringen und [722] gab der Meinung Ausdruck, daß der junge Rechtsgelehrte, der nur der Wissenschaft lebte, „über seine künftige Bestimmung noch völlig unentschieden sei“.

Savigny war indes viel empfänglicher für die Liebe der Günderode, als ihre gemeinsame Freundin dachte; es sind Zeugnisse dafür vorhanden, daß er sich auch mit ernsteren Absichten ihretwegen trug, denn er holte bei seinem Freunde Creuzer Erkundigungen über die Verhältnisse der Freifrau von Günderode, Karolinens Mutter, in Hanau ein, und erst die erhaltenen Auskünfte dürften ihn zur Zurückhaltung bestimmt haben. Leicht ist sie ihm nicht geworden. Der Verkehr mit dem schönen, in all seiner Verschlossenheit, die ihr Savigny später vorwarf, immer anziehenden Mädchen hatte sich in den Sommermonaten 1799 schon recht lebhaft gestaltet. Man las gemeinsam Goethesche Dichtungen, und gewiß hat Savigny in dieser Zeit Einfluß auf den litterarischen Geschmack der Günderode genommen, wie er ihr auch später noch mit Ausleihen von Büchern behilflich war. Aber wenn sie auch nicht zusammenkommen konnten, so bewahrten sich diese zwei edlen Menschen doch ein reines Herz, und es blieb keine Bitterkeit in dem Mädchen zurück, das entsagen mußte. Er wiederum bewahrte vor ihr stets eine ritterlich galante Haltung, die sich bis zur wärmsten brüderlichen Teilnahme steigern konnte. Den Verleumdungen, die ihr vielfach zu teil wurden, schenkte er keinen Glauben.

Als er sich verlobte, ruhte er nicht, bis ein freundschaftliches Verhältnis zwischen seiner Braut und Karolinen angebahnt war. „Es müßte entsetzlich unnatürlich zugehen“ – schrieb er der Günderode im Herbst 1803 – „wenn wir beide nicht sehr genaue Freunde werden sollten. Sie glauben nicht, mit welcher Klarheit und Gewißheit ich einsehe, daß die Natur diesen Plan mit uns hat …“ Und er hielt zu ihr in den kritischsten Zeiten ihres Lebens, bis zu ihrem nur allzu frühen Tode.


2.

Karolinens Beziehungen zu Savigny wären schwerlich so dauernd geblieben, wenn nicht beide in Verbindung mit der Familie Brentano geraten wären. Savigny wurde im August 1799 mit Clemens Brentano in Jena bekannt, kurz nachdem er die Günderode verlassen und auf eine Reise nach Sachsen gegangen war. Durch Clemens lernte er dessen Schwestern kennen, deren älteste, Kunigunde, er 1804 heiratete. Die Günderode wurde um das Jahr 1801 mit der jüngeren Schwester Bettina befreundet, und diese Freundschaft muß als das größte Glück in dem kurzen Leben Karolinens betrachtet werden. Denn nachdem sie mit Mühe die Leidenschaft für Savigny überwunden hatte, geriet sie in schwermütige Stimmungen, die durch Kränklichkeit und Einsamkeit nur noch gesteigert wurden. Den Winter 1800 verbrachte sie wieder außerhalb des Stifts, bei ihrem Großvater in Butzbach, der durch den Tod seiner Frau vereinsamt war. Sie blieb mehrere Monate bei ihm, und die Briefe, die sie von Butzbach aus an Frau von Barckhaus richtete, zeigen uns die inneren Kämpfe eines jungen, nach Harmonie und Stärke strebenden Herzens, das einen Umgang und eine Thätigkeit vermißte, die es befriedigen könnten. Es fand sie weder im Stift noch außerhalb desselben. Aus dem Sommer 1800 stammt die folgende briefliche Aeußerung Karolinens: „Ich muß Dir nur gestehen, daß mir vor meiner Zurückkunft ins Stift beinahe bange ist, und daß ich es darum auch wieder verschieben werde, hinzugehen …“ Aber sie kehrte doch wieder dahin zurück, und da war es ein Glück, daß sie die Bekanntschaft Bettinens machte.

Wie dieser Verkehr zustande kam, das wissen wir nicht. Bettina erzählt zwar in „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“, die Günderode wäre zu ihr nach Offenbach gekommen und hätte sie aufgefordert, sie doch in der Stadt zu besuchen; doch setzt auch schon dieser Besuch in Offenbach eine vorhergegangene Bekanntschaft Karolinens mit der Familie Brentano voraus. Bettina, geboren in Frankfurt a. M. am 4. April 1785, war um fünf Jahre jünger als Karoline. Zu der Zeit, da sie deren Bekanntschaft machte, lebte sie mit ihren Geschwistern Lullu. Meline und Kunigunde bei ihrer Großmutter Sophie von La Roche, der einst viel gelesenen Romandichterin und Jugendfreundin Wielands, in Offenbach a. M. Ihre beiden Eltern waren gestorben, als Bettina noch ein Kind war. Die Mutter Maximiliane, deren Schönheit und Frische Goethe in der Wertherzeit so sehr entzückt hatten, starb schon 1793, wo sie erst 37 Jahre alt war, aber schon acht Kindern das Leben gegeben hatte. Der Vater, Pietro Antonio Brentano, ein nüchterner, aber umsichtiger und erfolgreicher Kaufmann in Frankfurt, war seiner Frau wenig später, 1797, nachgefolgt, nachdem er noch ein drittes Mal geheiratet hatte. Der älteste Sohn der Familie führte das Geschäft weiter. Aber es läßt sich leicht denken, daß die Geschwister unter der Aufsicht der guten alten Großmutter in wenig beschränkter Freiheit aufwuchsen. Unmittelbar nach dem Tode ihrer Mutter war Bettina zur Erziehung ins Kloster der Ursulinerinnen in Fritzlar gegeben worden, wo sie vier Jahre blieb, bis sie nach Offenbach zurückkehrte.

Sie war die begabteste von allen Schwestern, aber auch die unbändigste; in diesen jungen Jahren mehr Knabe als Mädchen, eine wilde Hummel, die auf alle Bäume kletterte, jede Mauer erstieg, mit ihren feurigen Augen die Leute anblitzte und aus ihrer Meinung kein Geheimnis machte. Wer ihr nicht gefiel, dem sagte sie’s ins Gesicht, mochte es eher grob als artig ausfallen. Von mädchenhafter Scheu und Zurückhaltung keine Spur, sprunghaft und launisch in ihren Stimmungen. Dabei aber doch von höchstem Seelenadel instinktmäßig geführt, überströmend von unbewußter Poesie, dämonisch geleitet von einer unsagbaren Sehnsucht nach Klarheit, Erkenntnis und großen Thaten. Ausdauer zu methodischen Studien fehlte ihr; der Schneckengang des gewöhnlichen Unterrichts langweilte sie; aber sie lernte in Stunden, was andere in Wochen, in Jahren kaum erlernen konnten, und sie war geistig früher denn als Weib gereift. Man konnte mit ihr vernünftig, ja tiefsinnig sprechen, indes sie im Handumdrehen wieder zum Kinde wurde. Nichts war Absicht oder vorbereitende Ueberlegung, alles Begeisterung, Eingebung, Offenbarung in ihr; sie wußte selbst noch nicht, wie schön oder wie tief sie sprach. Bequem war sie niemand; Feinde, die sie für vorlaut, kokett und frech hielten, hatte sie genug. Sie selbst war stark im Hassen, aber stärker doch noch in der Liebe. An wen sie sich einmal angeschlossen hatte, an dem hing sie treu mit der ganzen Macht ihres dämonischen Wesens, und wenn sie auch mit dem fortschreitenden Alter ihre ursprüngliche Naivität verlor: die Kraft zu lieben und sich zu begeistern bewahrte sich Bettina bis in ihr hohes Alter, mit dieser Kraft wirkte sie noch als Greisin auf ihre Zeitgenossen ein.

Als sich nun die wenig mehr als zwanzigjährige Günderode und die frühreife Bettina zusammenfanden, da entstand ein wundersames Ineinanderleben zweier Mädchen, die sich gegenseitig ergänzten. Denn wovon Bettina zu wenig hatte: den Sinn fürs Maß, für die äußere schöne Form im Leben sowohl wie in der Kunst, die weiblich keusche Zurückhaltung in der Mitteilsamkeit des übervollen Herzens, davon hatte Karoline fast zu viel. Diese ging z. B. in ihrer Verschlossenheit einmal so weit, ihrer intimen Freundin den Tod ihrer Schwester erst nach vielen Wochen mitzuteilen, sie mußte vorerst allein mit ihrem Schmerz fertig werden. Gemeinsam war beiden die Begeisterung für Poesie; aber Bettina wollte echt romantisch die Poesie nur erleben, sie war unerschöpflich in Erfindung neuer Sensationen, kein Abenteuer schreckte sie zurück, wenn es etwas versprach. Karoline hingegen war zurückhaltend und beschaulich; Schillers ästhetische Abhandlungen, die Bettinen wenig gefielen, boten ihr höchsten Genuß. Und gerade diese Ruhe, dieses gehaltene Wesen der Günderode übte durch seinen Kontrast einen unsäglichen Zauber auf die ewig bewegte Bettina aus. Karoline hatte Geist und Güte genug, um diesen Brausekopf zu verstehen und zu lieben. Bettinens Erziehung wurde durch die Günderode vollendet. Daher die unvergängliche Treue, mit der die jüngere und überlebende Freundin an der ältern hing.

Bettina hat von der äußeren Erscheinung der Günderode eine Schilderung entworfen, die wir nicht überschlagen dürfen. In „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ schrieb sie:

„Ihre kleine Wohnung (im Stift) war ebener Erde nach dem Garten; vor dem Fenster stand eine Silberpappel, auf die kletterte ich während dem Vorlesen; bei jedem Kapitel erstieg ich einen höheren Ast und las von oben herunter; sie stand am Fenster und hörte zu und sprach zu mir hinauf, und dann und wann sagte sie: ,Bettina, fall’ nicht‘; jetzt weiß ich erst, wie [723] glücklich ich in der damaligen Zeit war, weil alles, auch das Geringste, sich als Erinnerung von Genuß in mich eingeprägt hat; – sie war so sanft und weich in allen Zügen wie eine Blondine. Sie hatte braunes Haar, aber blaue Augen, die waren gedeckt mit langen Augenwimpern; wenn sie lachte, so war es nicht laut, es war vielmehr ein sanftes, gedämpftes Girren, in dem sich Lust und Heiterkeit sehr vernehmlich aussprach; – sie ging nicht, sie wandelte, wenn man verstehen will, was ich damit auszusprechen meine; – ihr Kleid war ein Gewand, was sie in schmeichelnden Falten umgab, das kam von ihren weichen Bewegungen her; – ihr Wuchs war hoch, ihre Gestalt war zu fließend, als daß man es mit dem Worte schlank ausdrücken könnte; sie war schüchtern-freundlich und viel zu willenlos, als daß sie in der Gesellschaft sich bemerkbar gemacht hätte....“

Und fast gleichlautend äußerte sich Bettina in dem von der „Gartenlaube“ 1868 mitgeteilten Gespräch mit Max Ring, zu dem sie noch sagte: „Das meiste und beste, was ich geworden bin, habe ich der Günderode zu danken … Ihr ganzes Wesen war verkörperte Poesie, sie selbst eine begabte Dichterin. Ihre Verse klangen, wenn sie las, wie eine fremde Sprache, die ich mir erst übersetzen mußte, aber sie waren reich an sinnigen Gedanken. Weit größer aber als ihre poetische Begabung war ihre philosophische und wissenschaftliche Bildung. Sie wollte mich Philosophie lehren und drang darauf, daß ich mich an ein logisches Denken gewöhnen sollte, wie sie auch in allen übrigen Dingen auf eine gewisse Ordnung hielt, weshalb sie mir mein zerfahrenes und wildes Wesen zum Vorwurf machte …“

Durch Bettina lernte die Günderode deren um zehn Jahre älteren Bruder Clemens Brentano kennen, der schon damals sich durch einen Roman („Godwi“) und durch Gedichte rühmlich bekannt gemacht hatte und noch zu Lebzeiten der Günderode mit seinem Freunde Arnim die Sammlung deutscher Volkslieder „Des Knaben Wunderhorn“ (1805) herausgab. Zu der Zeit stand Brentano in voller Gärung, kaum fertig mit seinen Universitätsstudien. Der echte Bruder Bettinens, war auch er eine impulsive Natur, ohne die Kraft, sich zu regieren. Genial veranlagt, hatte er, gleich der Schwester, den Hang, immerfort über sich selbst zu grübeln, sich selbst zu bespiegeln, die eigenen Phantasiegebilde zu zersetzen und also nie mit sich fertig zu werden, zu keiner Befriedigung zu gelangen. Auf die Günderode machte der schöne und so reich begabte junge Dichter zuerst einen großen Eindruck, wie er überhaupt stark auf Frauen wirkte. Auch sie blieb Clemens nicht gleichgültig; aber zu der Zeit fühlte er sich noch zu jung, um sich schon binden zu lassen. Von Karolinen hat Bettina ein nicht gerade vollkommenes Gedicht „An Clemens“ in ihrem Buche „Günderode“ gedruckt, das ihn als die Verkörperung der Poesie feiert.

Es blieb jedoch nicht lange bei diesem Enthusiasmus. Die Günderode mußte bald erkennen, daß sie den Dichter vom Manne trennen mußte. Brentano nahm es mit der Treue zu den Frauen nicht sehr genau, und der übermütige Ton, den er ihr gegenüber anschlug, konnte unmöglich von ihr ertragen werden. Es kam zwar zu keinem völligen Bruch, wohl mit Rücksicht auf Bettina; aber Karoline ließ Clemens nicht im unklaren, wie sie über ihn denke. In dem einzigen ihrer Briefe an ihn, der bisher bekannt geworden ist, schrieb sie ihm (am 10. Juni 1804) ganz entschieden: „Meine Beziehung zu Ihnen ist nicht Freundschaft, nicht Liebe, meine Empfindung bedarf daher keines Verhältnisses, sie gleicht vielmehr dem Interesse, das man an einem Kunstwerk haben kann; aber verworrene, mißverstandene Verhältnisse könnten mir dies Interesse trüben.“ Das war deutlich genug. Karoline konnte ihm nicht in die Augen sehen, sie fand seinen Blick „verzehrend“. Bettina selbst scherzt im „Frühlingskranz“ über die ewige Verliebtheit ihres jungen Bruders, der in jedem Städtchen ein ander Mädchen verehrte. Brentanos Benehmen gegen die Günderode war denn auch später nicht entfernt so ritterlich und teilnahmsvoll wie das seines Schwagers Savigny. In den an sie selbst gerichteten Briefen lobte er ihre Gedichte; in Aeußerungen gegen andere sprach er mit viel weniger Anerkennung von ihnen, und auch über ihren Charakter fällte er voneinander abweichende Urteile. Er war eben kein zuverlässiger Freund.


3.

Die Günderode strebte nach dem Höchsten in der Kunst. Allein ihre dichterische Begabung stand nicht auf der Höhe ihres Ehrgeizes. Was sie als Weib so anziehend und liebenswürdig machte, ihr mehr passives, bescheiden sich zurückhaltendes als sich persönlich vordrängendes Naturell, das mußte sie als Künstlerin auf ein kleines Gebiet der Kunst beschränken. Sie hatte nur zur Lyrik Talent, weniger zur Erzählung, noch weniger zum Drama, wiewohl sie sich mehrfach darin versuchte. Ihr fehlte Gestaltungskraft, der Sinn für Handlung und theatralische Wirkung, um es im Drama oder in der Erzählung zu großen Leistungen bringen zu können. Dazu kam noch ihre Neigung zur Philosophie, ihr Hang, großen allgemeinen Begriffen nachzugehen, der sich aus ihrer Existenz wohl begreifen läßt. Wie unbefriedigt lebte sie dahin! Schön, jung, begabt, wie sie war, mußte sie einsam verkümmern. Wo sie geliebt hatte, wurde sie enttäuscht. Dabei war ihre Gesundheit zart und häufig gestört. Was Wunder also, wenn sie sich aus der Wirklichkeit in das Reich der Ideen flüchtete und am liebsten über das Geheimnis des Todes nachdachte oder den Gegensatz von Tod und Leben, von Gegenwart und Vergangenheit betrachtete. In der Betrachtung des Ewigen suchte sie Trost für ihr unbefriedigtes Herz, im Kultus der Ideen eine Erhebung über das Irdische. Im Grunde erschien ihr die Liebe einzig und allein als der wahre Zweck alles menschlichen Lebens. In dem Gedichte „Der Franke in Aegypten“, das auch Brentano als ein vollendetes bezeichnete, sprach sie es aus. Alles schon hat der Franke versucht, um die Sehnsucht seiner Seele zu stillen:

„Ins Gewühl der Schlachten
Warf ich durstig mich,
Aber Ruhm und Schlachten
Ließen traurig mich:
Der Lorbeer, der die Stirne schmückt,
Er ist’s nicht immer, der beglückt.“

Auch die Wissenschaften befriedigten ihn nicht, bis er endlich das Mädchen findet, das er lieben kann:

„Nicht an fernen Ufern, nicht in Schlachten,
Wissenschaften, nicht an eurer Hand,
Nicht im bunten Land der Phantasien
Wohnt des durst’gen Herzens Sättigung.
Liebe muß dem müden Pilger winken,
Myrten keimen in dem Lorbeerkranz,
Liebe muß zu Heldenschatten führen,
Muß uns reden aus der Geisterwelt.“

Und die Liebe ist das Thema ihrer Poesie in den verschiedensten Variationen. Die trüben Erfahrungen ihres Herzens spiegeln sich in ihren Gedichten. In einem derselben „Ariadne von Naxos“ ruft sie aus:

„Betrogner Liebe Schmerz soll nicht unsterblich sein!
Zum Götterlos hinauf mag sich der Gram nicht drängen,
Des Herzens Wunde hüllt sich gern in Gräbernacht.“

Es ist die eigene Ironie ihrer Lebenstragödie, daß sich dieses Gedicht selbst in ihrem Schicksal bewahrheiten sollte. Sie hat blutigen Ernst mit ihrer Meinung gemacht. Und da es uns hier nicht auf eine eigentlich litterarische Würdigung der Günderodeschen Dichtungen ankommt, so verlassen wir das dünne Bändchen ihrer Muse, wie es uns in der schon so selten gewordenen Quartausgabe von Friedrich Götz in Mannheim (1857) vorliegt, und wenden uns zum letzten Kapitel ihres Lebensromans, der mit Friedrich Creuzer erlebten Tragödie.


4.

Friedrich Creuzer (geboren am 10. März 1771 in Marburg, gestorben am 16. Februar 1858 in Heidelberg) war seit dem Frühjahr 1804 in Heidelberg Professor der Philologie. Von Haus aus unbemittelt, hatte er sich mit größtem Fleiß bis zu der schönen Stellung eines Universitätslehrers emporgearbeitet und noch als Privatdocent in Marburg die um dreizehn Jahre ältere Witwe des Professors Leske, Sophie, geheiratet. Er war ein hervorragender Gelehrter, der in der deutschen Wissenschaft vom klassischen Altertum eine epochemachende Stellung einnahm. Den Zusammenhang der alten Religionen und Philosophiesysteme mit dem ganzen Leben der Völker und ihr Verhältnis zum Christentum zu erkennen, das war sein wissenschaftliches Ziel. Er hat in seiner langen akademischen Laufbahn anregend nach vielen Seiten hin gewirkt. Männer wie Savigny (der ihn auch in seiner [724] Studienzeit materiell unterstützte), Wilhelm von Humboldt, Edgar Quinet, Guizot – um nur einige der bekanntesten zu nennen – waren ihm persönlich befreundet, haben seine wissenschaftlichen Leistungen hochgeschätzt und anerkannt. Aber der große Gelehrte war Meister nur in seiner Bücherwelt, dem Leben stand er hilflos wie ein Kind gegenüber.

Wenige Monate nach seiner Uebersiedelung nach Heidelberg, im August 1804, lernte er Karoline von Günderode kennen. Sie war von Frankfurt zum Besuche der Frau des Professors Daub, des berühmten Theologen, herübergekommen, die sie noch von Hanau aus kannte. Creuzer war mit Daubs befreundet. Karoline sehen und lieben war für ihn Eines. Er war kein schöner Mann und wußte das auch; er war auch ein bescheidener, wenig selbstbewußter Mann. Auf dem Altane des Schlosses Heidelberg sah er Karoline zum erstenmal, und seitdem war er wie verwandelt. „Nie“ – schrieb er am 17. August 1804 – „bin ich für das äußere Leben mit all seiner Herrlichkeit unempfänglicher gewesen als jetzt, aber auch nie in meinem Leben so glückselig. Der Tod ist besser als das Leben. Wer sie doch zerreißen könnte die Bande dieses Lebens und entbehren könnte die Klugheit dieser Welt!“

Auch auf Karoline hatte er sofort einen tiefen Eindruck gemacht. Sie war ihm seelisch verwandt: schwärmerisch, zur Mystik geneigt wie er, mit dem Herzen denkend, Poesie und Philosophie vermischend wie er. Und dabei stand Creuzer in seinem Wissen hoch über ihr, so daß sie als Schülerin zu ihm emporblickte. Das mußte der Mann sein, den sie suchte, denn sie konnte nur dort lieben, wo sie gleichzeitig auch verehrte! Von den vielen Briefen, die zwischen beiden nun gewechselt wurden, haben sich Karolinens Briefe nur ganz vereinzelt, Creuzers hingegen fast sämtlich erhalten. Aber auch einzelne Gedichte von ihr, und nie hat sie wärmere Töne gefunden als in dieser Zeit.

Wie tiefempfunden ist z. B. das folgende, welches erst neuestens (im vorigen Jahre) zum Druck gelangt ist:

  Die eine Klage.

Wer die tiefste aller Wunden
Hat in Geist und Sinn empfunden,
Bittrer Trennung Schmerz;
Wer geliebt, was er verloren,
Lassen muß, was er erkoren,
Das geliebte Herz;

Der versteht in Lust die Thränen
Und der Liebe ewig Sehnen:
Eins in Zwei zu sein,
Eins im andern sich zu finden,
Daß der Freiheit Grenzen schwinden
Und des Daseins Pein.

Wer so ganz in Herz und Sinnen
Konnt’ ein Wesen liebgewinnen,
O, den tröstet’s nicht,
Daß für Freuden, die verloren,
Neue werden neu geboren:
Jene sind’s doch nicht.

Das geliebte, süße Leben,
Dieses Nehmen und dies Geben,
Wort und Sinn und Blick,
Dieses Suchen und dies Finden,
Dieses Denken und Empfinden
Giebt kein Gott zurück.

Kein Wunder, daß bei Creuzer bald der Plan feststand, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und Karoline zu heiraten. Das war nun freilich leichter gedacht als gethan. Zwar war Frau Creuzer eine gutmütige, leicht bestimmbare Frau. Nachdem ihr der Gatte erklärt hatte, wie es um sein Herz stehe, fand sie sich bereit, ihm, dem um so viel jüngeren Manne, zu entsagen. Aber sie blieb nicht bei ihrer Meinung; kurz darauf erklärte sie: sie wolle ihm zwar entsagen, aber das wäre auch ihr Tod! Creuzer war seinerseits dieser Frau doch zu sehr verpflichtet, um ihr das Aeußerste anzuthun. „Ich bin nicht hart genug, töten zu können. Sterben kann ich.“ Nun begann eine Zeit der Qual für ihn, des Konfliktes zwischen Leidenschaft und Pflicht. Savigny, der beiden doch so gut gesinnt war, mahnte ihn zur Entsagung, verwies ihn auf die Wissenschaft, seine einzige und höchste Göttin, bei der er Trost finden könne, warnte Karoline vor Ueberspannung der Gefühle. Creuzer bäumte sich dagegen auf und schmiedete allerlei Pläne, um aus der Herzensnot zu kommen, die Geliebte zu erringen und doch auch die gute alte Frau zu versorgen. Weg von Heidelberg, bis nach Moskau wollte er gehen und für Sophie eine Pension aussetzen. Aber alle Pläne zerschlugen sich, es war nicht möglich, die finanzielle Frage zu lösen. Anstatt mit kurzem männlichen Entschluß der Sache so oder so ein Ende zu machen, blieb Creuzer schwach und unentschlossen, allerdings Karoline auch, die mit mächtiger Leidenschaft an ihm hing. Seinetwegen hatte sie sich mit Bettina überworfen. Diese ward zunächst vielleicht nur aus Eifersucht eine Feindin Creuzers; ihr Instinkt stieß ihn zurück. Er war ihr kein rechter, ganzer Mann, er war ihr zu häßlich, zu unselbständig. Und in ihrer Art gab sie’s ihm auch deutlich zu verstehen. Das verletzte ihn und infolgedessen auch Karoline, und sie brach den Verkehr mit Bettina, so viel Schmerz es ihr auch verursachte, kurzweg ab. Im November 1805 schrieb sie Creuzer neuerdings, daß sie entsagen wolle:

„Siehe, es ist mir freier und leichter geworden, seit ich allem irdischen Hoffen entsagte. In heilige Wehmut hat sich der ungestüme Schmerz aufgelöst. Das Schicksal ist besiegt. Du bist mein über allem Schicksal. Es kann Dich mir nichts mehr entreißen, da ich Dich auf solche Weise gewonnen habe … Such doch Sophiens Vertrauen zu gewinnen. Sag ihr, wir hätten entsagt …“ Und ebenso in einem längeren Gedicht.

Aber es blieb doch nicht bei diesem Entschluß. Sahen sich die Liebenden auch sehr selten, so wurde der briefliche und litterarische Verkehr doch fortgesetzt, und die Leidenschaft kam nicht zur Ruhe. Creuzer veröffentlichte in seiner neuen Zeitschrift „Studien“, die nur wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet war, ein Drama von der Günderode, „Mahomed“, und das machte wieder großes Aufsehen. So flammte die Leidenschaft immer von neuem auf; nach einem verliebten Schreiben folgte bald wieder die nüchterne Erwägung, daß die Verbindung denn doch nicht möglich sei, und so ging das monatelang zur gegenseitigen Qual fort. Gewiß hätte Creuzer als Mann stärker sein sollen; er war unklar und konnte den Gedanken der Möglichkeit eines rein platonischen Liebesverhältnisses nicht aufgeben, indes sich Karoline vor Sehnsucht verzehrte. Er erschrak, als sie endlich Forderungen zu einer kühnen That an ihn stellte, und rechnete ihr alle materiellen Bedenken vor, die einer Verbindung im Wege stünden. Die Mißverständnisse häuften sich; Creuzer nannte Karoline seine „liebe Peinigerin“, der Ton ihrer Briefe wurde unerquicklich. Schließlich, Mitte Juli 1806, verfiel er in eine schwere Krankheit, und von ihr errettet, ließ er am 18. Juli seine Freunde, die Professoren Schwarz und Daub, rufen und „entsagte vor ihnen feierlich seinen bisherigen Verhältnissen“, und Daub mußte es übernehmen, „dieses alsobald der Günderode zu schreiben“.

Und nun kam die Katastrophe. Karoline war schon durch die Korrespondenz mit Creuzer in den letzten Wochen, die ihr immer klarer die Unhaltbarkeit des Verhältnisses fühlbar machte, sehr erregt. Den Juli verbrachte sie in Winkel am Rhein in gemeinsamer Wohnung mit ihren Freundinnen Paula und Charlotte Servière. Dort erwartete sie immer vergeblich Briefe von ihrem geliebten Creuzer; sie wußte nicht, daß er krank war. Da kam endlich am 26. Juli ein Brief, nicht an sie, sondern an die Freundin gerichtet. Daub hatte die Absage Creuzers Karolinen auf Umwegen vermitteln wollen. Er schrieb an eine gemeinsame Freundin, Frau Susanna von Heyden in Frankfurt, sie möchte Karoline benachrichtigen. Doch auch sie vermied es, Vermittlerin der Hiobspost zu sein, und schrieb daher an Charlotte Servière, sie möge die Günderode auf die Absage Creuzers vorbereiten und ihr endlich diese schonungsvoll mitteilen. Karoline aber, gespannt auf die ersehnten Briefe, wie sie schon war, übernahm vom Boten, dem sie entgegenlief, den an die Servière gerichteten Brief der Heyden, ging auf ihr Zimmer, erbrach ihn und las so die böse Botschaft ohne die von allen Freunden gewünschte Vorbereitung. Das traf sie zu Tode. Ihr Entschluß war rasch gefaßt. Scheinbar ganz unbefangen nahm sie von der Servière Abschied zu einem kleinen Spaziergange am Rhein, wie sie ihn abends oft zu machen pflegte. Aber sie kam nicht wieder. Beunruhigt suchten die Freundinnen sie auf dem Zimmer, fanden dort den erbrochenen Brief und ahnten gleich ein Unglück. Man forschte die ganze Nacht nach ihr, doch erst am Morgen fand man ihre Leiche in einem Gebüsch am Rhein, von dem Dolch durchbohrt, den sie seit längerer Zeit bei sich zu tragen pflegte, und den ihr Bettina schon einmal hatte entwinden müssen. – –

Der Tod erlöste sie von einem Dasein, in dessen Schranken sie sich nicht fügen konnte. Da Karolinen die Erfüllung des natürlichen Frauenberufes nicht gestattet war, so hatte sie bei der Ueberspanntheit ihres Wesens den festen Boden der weiblichen Existenz verloren. Da sie die Liebe nicht fand, wünschte sie sich den Tod. Wissenschaft, Kunst, Litteratur – so viel Verständnis sie für sie hatte – konnten sie nicht über den Mangel an Liebe trösten. Das macht ihr Schicksal zu einer so reinen Tragödie, in der sich das Schicksal so vieler ihres Geschlechts spiegelt. Und darum kann man ihrer nie vergessen.


[725]

Bethlehem.
Nach dem Gemälde von Paul Linke.

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Die Ausstellung nationaler Frauenarbeiten im Haag.

Von den holländischen Frauen wurde während des verflossenen Sommers im Haag eine Ausstellung veranstaltet, die auch in den Frauenkreisen Deutschlands ein lebhaftes Interesse erweckt hat. Sie zeigte einerseits, was die Frau im Kulturleben geleistet hat, und suchte anderseits über die neuen Bahnen, auf welchen das Los der Frauen gebessert werden soll, Aufklärung zu verbreiten. Das letztere Ziel war das bedeutsamere, und treffend hob Frau Goekoop die Tendenz der Ausstellung hervor, indem sie in der Eröffnungsrede sagte: „Wir haben nicht für uns selbst gearbeitet, sondern für die Zukunft, für die Frauen, die nun noch kleine Mädchen sind, denn vornehmlich das junge kommende Geschlecht wird die Früchte unseres Strebens pflücken.“

Und weil der Grundgedanke der ganzen Ausstellung dem Bestreben galt, den Frauen der Zukunft ein sicheres, besseres Los zu schaffen, so sollte es ein Kindermund sein, welcher das wichtigste Wort des Tages aussprach und die Ausstellung für eröffnet erklärte! Das war nun zum mindesten sehr ungewöhnlich, verfehlte aber seine Wirkung auf die Anwesenden keineswegs.

Ungewöhnlich war noch manches bei dieser Ausstellung, so auch der Umstand, daß sie am Eröffnungstage, dem 9. Juli, vollständig fertig war, was man nur wenigen Ausstellungen nachrühmen kann.

Die historische Abteilung sollte beweisen, welche Rolle die Frau zu allen Zeiten in der Volksentwicklung gespielt hat. Bilder und Schriften berühmter niederländischer Frauen, aber auch Handarbeiten und Kunstwerke zeugten von dem Geist und Streben der „guten alten Zeit“. Ein prächtiges Bild stellte die „Weiber von Weinsberg“ dar, welche nach Erlaubnis Kaiser Konrads III die belagerte Stadt verlassen und das Liebste mitnehmen dürfen, was sie besitzen: da tragen die Frauen ihre Männer, die Mädchen ihre Brüder mit Aufbietung aller Kräfte zur Stadt hinaus.

Neben den Leistungen aus alter Zeit waren ferner Kunstwerke zu schauen, welche die Frauen der Gegenwart geschaffen haben. Sehr gut war zunächst die Malerei vertreten. Nur die ersten niederländischen Künstlerinnen waren zur Beteiligung aufgefordert worden, von denen viele auch in Deutschland nicht unbekannt sind.

Auch Musik und Schauspiel fehlten nicht. Cornelie van Oostersee hat eine Kantate für Frauenchor, die am Eröffnungstage zur Aufführung kam, komponiert. Der Text von Mevrouw Sneyder van Wissenkerke erzählt in Versen, wie die Frauen bisher im Dunkel lebten, bis das Licht sich durchringt und sie anfangs blendet, so daß sie ängstlich fragen: „Ist Licht Glück?“ Aber eine höhere Stimme gebietet ihnen, dem Licht zu folgen, bergan zu dem Wunderschloß, in welchem der ewige, von keinem Auge gesehene Schatz bewahrt wird: „der Menschheit erfülltes Ideal“.

Hendrika van Tussenbroek hat ihre Landsleute gleichfalls mit einer Komposition überrascht. Es ist eine Kinderoperette, ein liebenswürdiges Werk, das man kurz vor Eröffnung der Ausstellung aufführte. Als dritte Komponistin zeichnete sich Catharina van Rennes durch ihre Oranje-Nassau-Kantate aus, die als Morgengruß der jungen Königin Wilhelmina von 1700 Kindern gesungen wurde.

Aber verlassen wir die schönen Künste und wenden uns dem Kern der Ausstellung, der Arbeit, zu! Versinnbildlicht wurde diese durch eine plastische Figur, ein Weib, das einen Karren mit Steinen schob, ferner durch das Bild einer Frau, gebückt unter einer schweren Last daherschleichend. Lange Tabellen an den Wänden und auf Tischen erzählten von den Hungerlöhnen, dem Elend der Großstadtarbeiterin, lange Listen meldeten die Vereine, welche bemüht sind, die Last dieser Unglücklichen zu erleichtern.

Den Arbeiterinnen, denen wir im Industriesaal begegneten, sah man allerdings weder die „Hungerlöhne“ noch die schweren Lasten an, sie waren, dank der Fürsorge der Ausstellerinnen, hübsch gekleidet, sahen gesund aus und arbeiteten ohne Hast, aber mit sichtlichem Vergnügen. Dort saßen die einen vor den Webstühlen, und mit Hilfe der treuen Maschinen ließen sie leichte, flatternde Bänder oder schwere, kostbare Teppiche entstehen; hier arbeiteten andere an Setz- und Druckmaschinen, Dampfwasch- und Bügelmaschinen; auf einem anderen Platz wurden in wenigen Minuten Hunderte von Strohhülsen für Flaschen fabriziert. Ueberall reges Leben und reges Interesse des Publikums.

Eine dichte Menge war beständig um die Diamantschleifer!n geschart, aber auch die Schuhmacherinnen fanden ihr Publikum. Bijouterie, Passementrie, Typographie, Maschinenstickerei – alle die von Frauen ausgeübten Erwerbszweige waren vertreten, die meisten in vollem Betriebe. Viel Aufmerksamkeit fanden auch die frischen sauberen Bäuerinnen, welche Butter, Käse und Honig bereiteten. Das Post- und Telegraphenbureau wurde eifrig benutzt, es war, wie die beiden Restaurattonen, von denen die eine nur vegetarische Küche führte, durch Frauen geleitet.

Hochinteressant war die Abteilung für Pharmacie (ein Beruf, in welchem 1200 niederländische Frauen thätig sind, von denen viele das Provisorexamen glänzend bestanden haben!) und nicht minder die Abteilungen für Hygieine, Krankenpflege, Wohnungseinrichtung und Reformkleidung. – Der Buchhandel sollte – wie überhaupt die Rubrik „Handel“ – nur durch statistische Tabellen vertreten sein, wurde aber schließlich doch durch zwei dieses Fach selbständig betreibende Damen praktisch vergegenwärtigt. Auch ein Lesesaal und ein Preßbureau fehlten nicht.

Noch möchten wir von „Insulinde“ berichten, einem Stück tropischen Lebens unter dem blassen nordischen Himmel! Ein ganzes Dorf (Kampong) ist da aus den Häuschen der verschiedenen Kolonien, wie Java, Sumatra und Borneo, zusammengestellt, mit Reisscheunen, Brunnen, Gräbern etc. Unter hohen Palmen und tropischen Bäumen schreiten die Eingeborenes dieser Länder, schöne, schlanke Gestalten in bunten, fremdartigen Gewändern. Wir belauschen die Frauen, wie sie diese weben und bemalen, wie sie in ihren Hütten den Haushalt besorgen und ganz unglaubliche Gerichte bereiten.

Während der Ausstellung fand im Haag ein Frauenkongreß statt, auf dem zahlreiche Vorträge gehalten und wichtige Fragen besprochen wurden. Durch eine für die Dauer der Ausstellung geschaffene Zeitung „Vrouwenarbeid“ wurde der Inhalt der Vorträge auch denjenigen übermittelt, die an dem Kongreß persönlich nicht teilnehmen konnten.

Möchten die Samenkörner, welche Ausstellung und Kongreß in so reichlichem Maße ausstreuten, in den Herzen der Menschen reiche Früchte tragen! Anna v. den Eken.     


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Wie Träume entstehen.

In unserer Zeit haben die Träume an Bedeutung verloren. Die Aufklärung hat in weiteste Volksschichten die Ueberzeugung getragen, daß Träume uns keinen Einblick in die übersinnliche Welt gewähren, daß es ein müßiges Unterfangen ist, aus ihren wechselvollen Gebilden die Zukunft wahrsagen zu wollen. Die Zunft der Traumdeuter ist allerdings noch lange nicht ausgestorben, aber ihre Gemeinde schmilzt immer mehr zusammen. An Stelle des Traumglaubens ist die Traumforschung getreten; denn das Interesse an den Träumen ist keineswegs erloschen. Wer hat nicht im Leben ihre Macht gespürt? Wen hat nicht ein Traum einmal aufs innigste beglückt und das andere Mal im Tiefinnersten erschüttert? Und über den Schlaf hinaus reicht die Wirkung. So mancher bleibt den ganzen Tag über verstimmt – wegen eines sinnlosen Traumes. Kein Wunder, daß man sich eifrig bemüht, das Wesen dieser rätselhaften Erscheinung zu ergründen! Von einer zuverlässigen Lösung dieser Frage sind wir leider noch sehr weit entfernt. Die strenge Wissenschaft, die sich mit Annahmen und Vermutungen nicht begnügt, sondern mit Thatsachen rechnet, hat bis jetzt nur vermocht, einige Bausteine zu einer künftigen Lehre von den Träumen zusammenzutragen. Das wenige, was man erkundet hat, ist aber schon darum wichtig, weil wir daraus ersehen, daß in das Träumen keine übernatürlichen Kräfte hineinspielen, daß vielmehr das träumende Gehirn nach denselben Gesetzen arbeitet wie das wachende.

Unter anderem haben wir tiefere Einblicke in die Ursachen der Träume gewonnen.

Zahlreiche Beobachtungen haben gelehrt, daß die meisten Träume durch äußere oder innere Reize veranlaßt werden, die auf den Schlafenden einwirken. Bemerkenswert ist, daß dabei eine gewisse Gesetzmäßigkeit sich geltend macht. Dieselben oder ähnliche Reize rufen bei verschiedenen Menschen gleichartige Träume hervor.

Zuerst hat man diese Erkenntnis bei der Prüfung einer sehr häufig vorkommenden und sehr belästigenden Traumart gewonnen. Jeder kennt aus eigener Erfahrung das Alpdrücken; ein Tier, eine feindliche Person oder irgend eine schwere Last wälzt sich allmählich auf den Träumenden und ängstigt ihn, bis er oft unter stöhnendem Laut erwacht. Börner, der durch das Alpdrücken oft gepeinigt wurde, stellte durch Versuche fest, wie es zustande kommt.

Der Alptraum stellt sich ein, wenn aus irgend einem Grunde die Atmung des Schlafenden behindert wird. Man kann ihn darum künstlich erzeugen, indem man dem ruhig Schlummernden irgend einen Gegenstand, z. B. eine wollene Decke, über Mund und Nase breitet. Dann bemerkt man, daß die Atemzüge der [727] Versuchsperson länger und tiefer werden, die Atmungsmuskeln mit sichtbarer Anstrengung arbeiten und das Gesicht sich rötet. Der Schlafende stöhnt zeitweilig, bleibt aber regungslos liegen, bis er mit einem plötzlichen Ruck die Decke fortschickt und nun erwacht oder ruhig weiter schläft. Fragt man den Muntergewordenen, was er gefühlt habe, so erfährt man, daß er ein Alpdrücken gehabt habe. Von einigen Versuchspersonen wurde hervorgehoben, daß die beängstigende Traumerscheinung, z. B. irgend ein Tier, ihnen plötzlich auf die Brust gesprungen sei. Das erklärt sich durch das rasche Eintreten des Atmungshindernisses, durch das plötzliche Auflegen der Decke auf Mund und Nase. Unter gewöhnlichen Umständen tritt im Schlaf die Atemnot allmählich ein, und darum haben die Alpträume einen mehr schleichenden Charakter; der Schlafende wird langsam von dem Hindernis überwältigt. Das Wesentliche an dieser Traumart ist das Gefühl der Beklemmung und Beängstigung; die Gestalten, die es hervorrufen, können aber verschieden sein, je nach der Lebensweise und Anschauungsart des Träumenden.

Einen wahren Gegensatz zum Alpdrücken bilden Träume, in welchen wir uns so wohl und leicht fühlen, daß wir imstande sind, auf und nieder zu schweben und zu fliegen. Auch diese Traumart stellt sich häufig ein, namentlich in den jüngeren Lebensjahren. Sie hängt gleichfalls mit der Atmung während des Schlafes zusammen und tritt ein, wenn dieselbe besonders leicht und frei ist. Der dänische Psychologe Dr. Alfred Lehmann erzählt in seinem trefflichen Werke „Aberglauben und Zauberei“, das neuerdings in deutscher Übertragung bei Ferdinand Enke in Stuttgart erschienen ist: „Während eines Mittagsschlafes auf dem Sofa hatte ich einen langen Traum des Inhalts, daß ich mich damit belustigte, auf und nieder zu schweben. Als ich erwachte, lag ich auf dem Rücken, hatte die Arme an den Seiten, den Kopf stark zurückgebogen und die Brust sehr hoch – eine Lage, die durch die Einrichtung des Sofas bedingt war –; die Atmung war sehr frei und das Wohlbefinden über dem normalen Stand.“ Gelegentlich verschiedener Vergiftungen, die auf das Nervensystem einwirken, entstehen traumartige Visionen. Das ist unter anderm auch bei Vergiftungen mit der Tollkirsche und dem Bilsenkraut der Fall. Die Delirien, die sich infolgedessen einstellen, sind oft mit Empfindungen des Fliegens verbunden. Nun wirken diese Gifte in der That auf unsere Atmungsorgane, indem sie in geringen Mengen das Atmen erleichtern, so daß Räucherungen aus Stechapfelblättern mitunter als Heilmittel gegen Asthma von den Aerzten verordnet werden.

Es giebt recht unangenehme Träume, in welchen wir uns von Feinden bedrängt sehen und ihnen durch Flucht zu entrinnen suchen. Sie enden häufig damit, daß wir einen Sprung aus dem Fenster oder von einem Berge in den Abgrund wagen und während des Fallens mit Zeichen großer Angst erwachen. Die Ursache dieser Traumart ist gleichfalls ermittelt worden. Sie entsteht in der Regel, wenn das eine Bein des Schlafenden über dem anderen liegt. Dadurch wird oft ein Druck auf eine größere Ader ausgeübt, was eine Störung des Blutkreislaufes hervorruft. Das Herz sucht das Hindernis zu überwinden und arbeitet stärker und schneller. Das Herzpochen ruft nun ein Angstgefühl hervor, und dieses läßt den unangenehmen Traum von Verfolgung und Flucht entstehen. Der Zustand wird schließlich unerträglich, der Schlafende rafft sich, um sich Erleichterung zu verschaffen, zu einer ruckweisen Bewegung auf, nun gleitet das eine Bein hinab, und dadurch wird die Empfindung des Fallens hervorgerufen. Man kann auch diese Träume künstlich hervorrufen, indem man sich in passender Stellung mit übereinander gelegten Beinen zum Schlafen niederlegt. Alfred Lehmann teilt in Bezug darauf folgende interessante Selbstbeobachtung mit:

„Eines Morgens lag ich im Halbschlaf mit hochgezogenen Knieen auf dem Rücken. Plötzlich glitten meine Füße aus, wahrscheinlich weil der Schlaf tiefer wurde und infolgedessen die Beinmuskeln erschlafften. Sofort hatte ich die lebhafte Empfindung eines tiefen Falles; aber da ich so weit wach war, daß ich mir über die Ursache der Empfindung klar werden konnte, knüpfte sich auch kein Traum an dieselbe.“ Aus diesem Beispiele ersehen wir, daß die Erschlaffung der Beinmuskulatur Träume erzeugt, bei denen das Fallen oder Abstürzen den wesentlichen Inhalt bildet.

Alle Reize, die von außen auf die Sinne des Schlafenden einwirken, können gleichfalls Träume auslösen. Licht, das plötzlich in das dunkle Schlafzimmer hineingetragen wird, gestaltet sich im Traume zu einem Brande, und Mondstrahlen, die das Gesicht treffen, verwandeln sich mitunter in einen Glanz, der die Traumscene verklärt. Schallerscheinungen geben in gleicher Weise zu Träumen Anlaß, eigenartig sind aber die Wirkungen der Geschmacks- und Geruchsempfindungen. Nur selten riechen oder schmecken wir im Traume. Die Geruchsempfindung weckt vielmehr Gesichtsvorstellungen. In einem Versuche ließ man den Schlafenden Rosenöl riechen, und er träumte, daß er in einem Garten Rosen pflücke. Ueberhaupt nehmen wir im Traume hauptsächlich Gesichtsbilder wahr. Jedes solcher Bilder birgt aber in sich eine Summe von Handlung wie ein Gemälde. Mit blitzartiger Schnelligkeit vermag wohl eine ganze Reihe derartiger Bilder an dem Geiste des Träumenden vorbeizuziehen und so ein Erlebnis vorzutäuschen, das sich in der Wirklichkeit nur im Laufe von Stunden abspielen kann. Aber die Zeit, in der die Gesichtsbilder im Traum sich aneinanderreihen, bemißt sich nicht einmal nach Minuten, sondern nur nach Sekunden. Ein Knall, der den Schläfer weckt, verursacht zugleich einen Traum. An dem Krankenbette einer Rekonvalescentin stand eine Seltersflasche; plötzlich sprang der Pfropfen mit lautem Knall in die Höhe; die Kranke erwachte sofort, so daß kaum zwei Sekunden zwischen dem Schall und dem völligen Wiedererlangen des wachen Bewußtseins verflossen waren, und doch hatte sie geträumt, sie sei in ihrem Garten mit ihrer Katze gewesen, da sei ein Mann mit einer Flinte gekommen; er habe sie durch den Garten und die Straßen der Stadt verfolgt und schließlich im freien Felde auf die Katze geschossen.

Nach dem Mitgeteilten muß es durchaus natürlich erscheinen, daß auch Empfindungen, welche durch krankhafte Veränderungen im Körper verursacht werden, Anlaß zu Träumen geben. Leute, die an chronischen Krankheiten leiden, werden mitunter von gleichartigen sich wiederholenden Träumen geplagt, die mit ihrem Leiden im ursächlichen Zusammenhang stehen. Weygand, der sich viel mit Beobachtung der Träume befaßt hat, berichtete z. B., daß er infolge eines asthmatischen Leidens oft geträumt habe, daß er stöhnend einen Berg erstiege.

Charakteristisch ist es ferner, daß verhältnismäßig geringfügige Reize zu starken Empfindungen im Traume verarbeitet werden. So rief bei dem einen der Druck, den eine Bettkante auf den Arm ausübte, die Vorstellung hervor, daß er eine schmerzhafte Operation aushalten müsse; bei einem anderen wieder zeitigte die Berührung des Nackens mit einer Stange einen wüsten Traum, der ihn in die Revolutionszeit versetzte, ihn vor das Tribunal führte und mit seiner Enthauptung mittels der Guillotine endete. So wird im Traume ein harmloser Insektenstich als ein Dolchstoß empfunden, und das Summen einer Fliege schwillt zum Kanonendonner an. In derselben Weise geschieht es auch, daß geringfügige Krankheitssymptome im Traume als schwere Krankheiten wahrgenommen werden. Der Zufall kann es nun fügen, daß bei einer beginnenden Krankheit die Beschwerden zuerst im Traume empfunden werden. Solche Wahrnehmungen sind vielfach aufgebauscht worden, und man hat sie als prophetische Träume hingestellt. Man sollte aber nicht vergessen, daß Krankheiten, von denen wir träumen, bei weitem häufiger sich nicht verwirklichen.

Träume, die durch verschiedene Reize auf unsere Nerven verursacht werden, stellen sich in dem leiseren Schlafe ein, der dem Erwachen vorausgeht. Man hat sie „Reizträume“ genannt, und sie gehören zu den am besten erforschten. Es giebt aber noch eine andere Art von Träumen, die kurz nach dem Einschlafen entstehen. Sie kommen seltener vor, und ihre Quelle sind weniger äußere Reize als vielmehr Vorstellungen, die im Laufe des Tages unser Gehirn beschäftigt haben. Ueber diese Erscheinungen sind wir noch nicht genauer unterrichtet, ebenso wie über die Träume, die im tiefsten Schlafe sich einstellen können. Der fortschreitenden Forschung wird es aber gewiß gelingen, auch diese dunklen Gebiete zu erhellen, die Naturgesetze, die den scheinbar regellosesten Traum beherrschen, zu ergründen.


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Die Einweihung der ersten Strecke der Jungfraubahn.

Jungfraugipfel mit dem projektierten Turm des Aufzugs.

Von Mitte Juli bis gegen Ende September dieses Jahres waren Wolken am Berner Himmel eine nahezu unbekannte Erscheinung. Mit goldenen Strahlen brannte die Sonne Tag um Tag ihren Segen auf die wogenden Kornfelder, auf die Früchte der Obstgärten, verklärte die Berggipfel mit ihrem Glanze und ließ Tausende und aber Tausende die Alpenpracht schauen.

Um so größer war das Erstaunen, ja die Entrüstung, als das himmlische Gestirn gerade am 19. September sich nicht zeigen wollte. Bei tadellosem Wetter hatte sich im Laufe des achtzehnten, eines Sonntags, eine mehr als vierhundertköpfige Taufgesellschaft in Jnterlaken eingefunden, um dem jüngsten Kinde Guyer-Zellers, der Jungfraubahn, zu Gevatter zu stehen. Mit einer Gastfreundlichkeit, die ihresgleichen sucht, hatte der Vater des Täuflings Vertreter fast aller Kreise der Schweiz eingeladen. Neben Männern des Eisenbahnwesens und der Elektrotechnik sah man Professoren der Philologie, der Theologie und Geschichte, alt- und römisch-katholische Geistliche neben reformierten Pfarrern, Spitzen der Finanz in trautem Verein mit Handels- und Gewerbetreibenden, Vertreter der bei der Eidgenossenschaft accreditierten Gesandtschaften und einheimische Staatsmänner versammelt. Nur ein Element, das weibliche, fehlte fast ganz; wahrscheinlich, weil man fand, dasselbe sei durch die Hauptperson, die Jungfrau, genügend vertreten. In um so stattlicherer Zahl war die achte Großmacht, die Presse, aufmarschiert. Nicht nur die der Schweiz. Auch die bedeutendsten Blätter des Auslandes hatten ihre Delegierten gesandt. – Besonders um dieser Weithergekommenen willen wurde einem etwas schwül zu Mute, als sich am Sonntag Abend ein Gewitter zusammenzog. Und in der That, als am nächsten Morgen um sieben Uhr die Gesellschaft in zwei Extrazügen ins Lauterbrunnerthal hineinfuhr, war alles grau verhängt – ein lange nicht dagewesener, heute geradezu niederdrückender Anblick! Als in Zweilütschinen, wo das Thal sich gabelt, links nach Grindelwald, rechts nach Lauterbrunnen, der Zug eine Weile hielt, sah man an der schwarzen Wand des Wetterhorns von dessen verhülltem Gletscherhaupt während mehrerer Minuten den breiten Strom einer Lawine sich herabstürzen, ein böser Strich durch unsere Hoffnung, daß es sich aufheitern werde: die weichen, lawinenlösenden Winde sind keine Freunde des Bergsteigers.

In Lauterbrunnen kamen wir auf etwas andere Gedanken. Hier beginnt das Riesenwerk der Jungfraubahn, über deren Plan die „Gartenlaube“ bereits im Jahrgang 1895, S. 316, ausführlich berichtet hat. Am Ufer der tosenden Lütschine hin zieht sich die aus Stahlrohren, durch die ein Mann aufrecht gehen könnte, gebildete Wasserleitung von 1300 Metern Länge und 40 Metern Gefälle, welche einen Teil des Bergstromes in das Turbinenhaus führt und hier die 2400 Pferdekräfte erzeugt, die, in Elektricität umgesetzt und in die Höhe geleitet, oberhalb der Scheidegg die Bohrmaschinen treiben, die Beleuchtung erzeugen, die Luft im Tunnel reinigen, im Winter durch Schmelzen des Schnees für das nötige Wasser sorgen und demnächst die Bahnwagen zur Höhe der Jungfrau heben werden. Bis jetzt ist nur die erste, etwa zwei Kilometer lange Strecke der Bahn von ihrem Ausgangspunkte, der Kleinen Scheidegg, bis zur Station „Eigergletscher“ fertiggestellt.

Station Eigergletscher mit dem Festplatz.
Nach einer Aufnahme von Photograph Gabler in Interlaken.

In kürzester Frist hat das Umsteigen aus unseren zwei Zügen in die von je einer Lokomotive geschobenen Einzelwagen der Wengernalpbahn stattgefunden, und bald keucht in kurzen Zwischenräumen ein schnaubendes Dampfungetüm nach dem andern an den senkrechten Felswänden und über Quadernviadukte zu der Terrasse von Wengen empor. Hier, über den grünen, häuserbesäten Matten, öffnet sich sonst eine der schönsten Aussichten des Oberlandes: geradeaus die silberglänzende Jungfrau, rechts der herrliche Thalabschluß durch die Eiswände des Breit- und Großhorns. Heute senkt sich, einem Alp gleich, der Nebel tiefer und tiefer, und mein Nachbar, der zum erstenmal hierher kommt, zieht sein Gesicht in immer melancholischere, immer ungläubigere Falten, je anschaulicher ich ihm zu schildern versuche, was alles man sonst hier sieht. Eben will ich ihm noch Mürren jenseit der Thalkluft zeigen, da fahren wir plötzlich mit den Köpfen in die Nebeldecke und – verschwunden ist die Welt. Rings nichts als eine weiße Wand. Auf der Wengernalp verlassen ein paar deutsche Damen, die nicht zu unserer Gesellschaft gehören, den Wagen. Wir begleiten sie mit Gefühlen innigen Mitleids, als ob sie auf einer unbewohnten Insel des Weltmeers ausgesetzt würden. – Station Scheidegg! Alles aussteigen! Hier beginnt der Schienenstrang der elektrisch betriebenen Jungfraubahn, während die Wengernalpbahn nach Grindelwald hinunterführt. Der von Grindelwald heraufwehende Luftzug hat hier etwas aufklärend gewirkt. Man erkennt doch das mit Fahnen und Guirlanden geschmückte Stationsgebäude und entdeckt ohne Mühe das mit Butterbroten beladene Büffett. Und da steht er ja auch selber, der Mann mit dem unverwüstlichen Glauben an sein Werk. Auf seinen Locken schimmert das Silber des Sechzigers: seine breiten [729] Schultern aber und sein Auge künden eine Kraft, die noch manchen Kampf trotzig aufzunehmen gedenkt. Auf dem Wege, der ihn zum Jungfraugipfel führen soll, ist heute die erste Station erreicht. Wer will es ihm verargen, daß er trotz der Unbill des Wetters freudig um sich schaut und mit Befriedigung alle die Männer begrüßt, die heute seinem Rufe gefolgt sind!

Wer je das Glück hatte, an einem sonnigen Tage auf der Kleinen Scheidegg zu stehen, der wird schwerlich das Bild vergessen, das sich hier vor den Blicken aufthut. Verschwenderisch in ihrer Schöpferkraft, künstlerisch edel in der Formgebung schuf die Natur hier ein firn- und gletscherumwalltes Felsenmonument, das in seinem harmonischen Aufbau wohl zu dem Erhabensten gehört, was man auf Erden sehen kann. Zwei Sockel bilden den Unterbau desselben, rechts der senkrecht aus dem Lauterbrunnerthal aufsteigende Schwarze Mönch als Fußgestell der Jungfrau, links, als Pfeiler des Eigers, der langgestreckte, gegen Zweilütschinen abstürzende Höhenzug, auf dessen tiefster, thälerverbindender Einsattelung, der Kleinen Scheidegg, wir uns befinden. Nur von hier aus bot sich dem verwegenen Gedanken, einen Gipfel von mehr als 4000 Metern in einem bequemen Wagen sitzend zu erklimmen, einige Aussicht auf Verwirklichung. Zwischen der Jungfrau und der ihr näher gelegenen Wengernalp klafft das Trümletenthal, in das sie täglich ihre Lawinen entsendet. Von der Scheidegg aus aber erreicht man ohne übermäßige Steigung und völlig gefahrlos den Fuß des Eigers und kann nun, im Innern des Berges geborgen, unbekümmert um Gletscherspalten und Steinschlag, durch Tunnel zum Lichte emporstreben. Die Bahn, welche sich nur nach dem höchsten der drei Berge nennt, ist in Wahrheit eine Eiger-Mönch-Jungfraubahn. Durch den Felskern aller drei Giganten bohrt sich der Mensch aufwärts, und eines jeden Eigenart wird man zu spüren bekommen.

Die Aufführung des Festspiels.
Nach einer Aufnahme von Photograph Gabler in Interlaken.

Die Stationen werden so nahe der Außenwand angelegt, daß es nur kurzer Tunnel bedürfen wird, um dem Fahrer aus dem Innern des Eigers heraus den grünen Thalkessel von Grindelwald, aus dem Innern des Mönchs heraus die Eisgefilde des Aletschgletschers und die fernen Gipfel des Matterhorns und Monte Rosa zu zeigen. Schließlich wird man in einem senkrechten Tunnel mittels eines Aufzugs auf den Jungfraugipfel gehoben, den, wie unsre Anfangsvignette zeigt, ein Aussichtsturm krönen soll. Von solcher Zukunftsmusik umwogt, fuhren die einen auf der elektrischen Bahn, gingen die andern zu Fuß von der Scheidegg (2064 Meter) zur Station „Eigergletscher“ (2319 Meter) hinauf, wo die Fanfaren eines für den heutigen Tag komponierten Triumphmarsches von dem Interlakener Kapellmeister Scheidt die Gäste empfingen. Was sehe ich? Hier ein Stück blauen Himmels, dort eins, dort noch eins! Die scheinbar kompakte Nebelwand zerflattert in zaghafte Fetzen; in drohender Massigkeit taucht die Eigerwand vor uns auf. Dort unten über dem Rande der Seitenmoräne schimmert es wie Silber in den Furchen des wild zerklüfteten Gletschers, hier trifft ein Sonnenpfeil auf einen blendenden Eispanzer, dort läßt er eine grüne Matte aufleuchten und nun, wie aus überirdischer Höhe, strahlt ein Schneegipfel auf uns herab – die Jungfrau! – Fast that es uns leid, bei der jetzt anhebenden, in Jauchzen ausbrechenden Lust ins Innere des Berges zu dringen. Aber geheimnisvoll lockte es uns hinein. Wie Jakobs Himmelsleiter sah man in der Nacht des aufwärtssteigenden Tunnels ein Glühlicht sich ans andere reihen. Das Doppelgleis einer Rollbahn führte hinein. Zur Linken die elektrischen Lampen in spärlicher Zahl und bescheiden an Leuchtkraft, zur Rechten das leise summende Ventilationsrohr, nahmen wir zwischen den zwei Schienenwegen die 20 bis 25% Steigung unter die Füße. Etwa nach den ersten 150 Metern öffnet sich rechts ein Stollen, durch den der losgesprengte Felsschutt hinabgeworfen wird. Auf dem dadurch entstandenen Plateau befinden sich die Maschinen, welche die aus dem Thale empfangene Elektricität ihrer oben geschilderten Verwendung zuführen.

Wir setzen unsere Tunnelwanderung fort. Wände und Boden sind trocken, die Luft völlig rein und kühl, doch nun wird das Gehen etwas schwieriger, da wir aus dem fertigen Teil des 4,25 Meter hohen und 3,6 Meter breiten Tunnels über ein Leiterchen in den Richtstollen hinaufklettern müssen, wo die elektrische Beleuchtung aufhört. Mit Zündhölzern in der Hand geht es weiter dem Grubenlicht entgegen, mit dem am Kopfende der Führer die ruhende Bohrmaschine und die von ihr gebohrten Löcher beleuchtet. Zwölf Löcher von je einem Meter Tiefe werden gebohrt und, während man die beiden Maschinen [730] in den unteren Teil des Tunnels zurückzieht, mit Dynamit gefüllt. Bis dann die Explosion erfolgt, der Rauch hinausgejagt, der Schutt weggeräumt ist, vergehen etliche Stunden, so daß der tägliche Fortschritt 4, höchstens 5 Meter wird betragen können. Etwas über 500 Meter war man damals vorgedrungen. Als Andenken an diesen Aufenthalt im Berginnern liegt ein graues, von weißen Adern durchzogenes Stück Kalk vor mir, das, seit die erkaltende Erdrinde sich zu Gebirgen wölbte, jetzt zum erstenmal aus seiner vieltausendjährigen Ruhe aufgeschreckt worden war.

Als wir ans blendende Tageslicht zurückkehrten, hatte sich nicht weit vom Tunneleingang eine andächtige Gemeinde versammelt. Auf der unteren Hälfte einer sanft ansteigenden Rasenhalde, die sich an die Felsen des Eiger-Rotstocks anlehnt, standen und lagerten die von nah und fern herzugeströmten Männer entblößten Hauptes. Auf der oberen Hälfte war durch coulissenartig vorgebaute Steinhaufen, zwischen denen langbärtige Gnomen ihr Wesen trieben, ein Raum für Rede und Schauspiel abgegrenzt. Feierlich schwebten die Klänge des von einem Orchester gespielten „Nun danket alle Gott!“ durch die Lüfte, und dann hielt der bekannte „Gletscherpfarrer“ von Grindelwald, Gottfried Strasser, eine Bergpredigt, die in meisterhafter Weise der Bedeutung des Tages gerecht wurde und darin gipfelte, daß das Streben zur Jungfrauhöhe nicht Gott versuchen, sondern Gott suchen bedeute.

Dem nun einsetzenden Männerchor „Das ist der Tag des Herrn“ folgte ein heiteres Spiel des Züricher Dichters Leonhard Steiner. Eiger, Mönch und Jungfrau, dargestellt von zwei Söhnen Guyers und einer Tochter seines ersten Mitarbeiters, Wrubel, traten auf und einigten sich nach harter Gegenrede des Eigers dahin, daß auch sie die Jungfraubahn begrüßen. Die Jungfrau aber wendet sich zu den Gästen:

„So heiß’ ich heute denn euch schon willkommen
Nah’ des krystall’nen Doms erhab’nen Zinnen,
Wo ringsum vor den schönheitstrunk’nen Blicken
Schimmernde Silberhöh’n, smaragd’ne Tiefen
Vermählen ihrer Reize Pracht und Glanz
Zum Festkleid der erhabenen Natur.“

Wieder ein Lied – „Trittst im Morgenrot daher!“ – und dieser Teil der Feier war zu Ende. Schon schallten von einer tiefer gelegenen Terrasse die Gesänge der italienischen Arbeiter herauf, die bei dem ihnen gespendeten Weine ihren „padrone“ leben ließen. Durch den wieder dichter heranwallenden Nebel fuhr und stieg die Menschenmenge zu dem Scheidegghotel hinab, wo ihrer ein lecker bereitetes Mahl harrte. Daß sich dort eine überaus fröhliche Feststimmung entwickelte, wobei deutsche, französische und englische Reden gehalten wurden, bedarf nicht der Versicherung. Nur eines der dort gesprochenen Worte sei hier wiederholt, das Wort Guyers: „Auf Wiedersehen bei der Vollendung der Jungfraubahn im Jahre 1904!“ Die Zahl derer, welche die Ausführung des Riesenwerks für einen Traum halten, ist am 19. September 1898 bedeutend zusammengeschrumpft. Wer den Mann und sein Werk gesehen hat, wird von seinem Glauben, der „Berge versetzt und Berge durchbohrt“, angesteckt. „Nüd nahlah g’winnt!“ („Nicht nachlassen gewinnt!“) sagt ein alter Berner Wahrspruch. Alex. Francke.     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Schloß Josephsthal.

Roman von Marie Bernhard.

 (8. Fortsetzung.)

19.

In der Kolonie Josephsthal ging alles im gewohnten Gleise, und die Erinnerung an den geheimnisvollen Mord fing nach und nach an, zu verblassen, wenn auch ab und zu jemand die Frage aufwarf: „Aber wer kann es denn gethan haben?“

Da schwirrte plötzlich ein Gerücht umher, wie durch die Luft kam es geflogen: die Justiz habe eine neue Spur des im Februar verübten Verbrechens entdeckt und sei mit allem Eifer dabei, dieselbe zu verfolgen. Zugleich verschwand der Arbeiter Neubert, der schon zweimal Urlaub erbeten und erhalten hatte, um seine in Mecklenburg wohnende kranke Mutter zu besuchen, von neuem ganz plötzlich und ließ tagelang nichts von sich hören.

Ob da nicht etwas dahinter steckte? Grüblerische Köpfe – und es gab auch solche in der Arbeiterkolonie Josephsthal – fingen an, über diesen Neubert nachzudenken. Ein fideler Kumpan war er gewesen, ein Spaßvogel, wie die Kolonie noch nie einen aufzuweisen gehabt hatte. Sie hatten ihn eigentlich alle gut leiden können, die Kameraden, den fixen kleinen Kerl mit dem bartlosen Knabengesicht und der pfiffig treuherzigen Miene, der sie so gut zu unterhalten verstand. Aber, wie der „Berliner“ zu reden wußte, so wußte er auch andere zum Reden zu bringen und dann sehr aufmerksam zuzuhören. Am häufigsten hatte er das Gespräch auf den verstorbenen Baron gelenkt; wer zu dessen nächster Umgebung gehört hätte, mit wem er wohl am vertrautesten gewesen sei, wer denn die Drohbriefe geschrieben haben könne, und wer das wohl in Erfahrung gebracht haben möge, daß der Baron gerade an jenem achtzehnten Februar eine so große Geldsumme bei sich gehabt habe, um sie an einen der Direktoren auszuzahlen – diese Fragen hatte er immer wieder aufs neue aufgeworfen. Auch für den Monteur Kraßna hatte er besonderes Interesse gezeigt, der für eine kurze Zeit in der Kolonie Josephsthal gearbeitet hatte, bis ihn Baron Hofmann wegen seiner aufreizenden Wühlereien entließ. Die Gefragten hatten nur selten bestimmt zu antworten gewußt, aber sie hatten ihre Mutmaßungen gehabt, der eine diese, der andere jene. Der „Berliner“ hatte da ganz besonders scharf hingehorcht. Dazu kam sein häufiges Verschwinden – dreimal schon Urlaub in so kurzer Zeit, und immer bloß, um die kranke Mutter zu besuchen! Andere Leute hatten auch kranke Mütter, aber die Herren Direktoren würden sie schön angesehen haben, wenn sie so oft um Urlaub nachgesucht hätten! Der „Berliner“ bekam ihn jedesmal unbeanstandet – hm! – Nun er fort war, nun die Leute nicht mehr sein lustiges, harmloses Gesicht sahen, sein frohes Lachen hörten, kam es ihnen nicht mehr so recht geheuer vor mit dem fidelen Kameraden – einer hatte im Gespräch die Bemerkung fallen lassen: „Am Ende haben sie uns den bloß hergeschickt, um uns auszuhorchen, denn, wenn man’s sich recht überdenkt – – ausgehorcht hat er uns doch!“ Das fiel wie der Funke in ein Pulverfaß. Die Mehrzahl war freilich darüber einig: „Was aushorchen! Wir haben nichts Böses gethan, unser Gewissen ist rein, keiner kann uns was anhaben!“ Viele aber waren doch da, die das Verfahren des „Berliners“ eine Niederträchtigkeit nannten, die sie ihm gehörig eintränken wollten, wenn er sich wieder zeigen würde.

– – Vorläufig zeigte er sich nicht! –

Daß etwas in der Luft schwebte, war aber ganz sicher. Warum standen die Direktoren, die Ingenieure, die Buchhalter und Kassierer so oft jetzt in kleinen Gruppen beisammen und sprachen mit gedämpften Stimmen und wichtigen Mienen aufeinander ein, um, sobald die Arbeiter in ihre Nähe kamen, kurz abzubrechen und ganz unbefangen zu thun, was ihnen schlecht gelang? Weshalb thaten die Monteure, die Obermaschinisten geheimnisvoll, als wüßten sie allerlei, hielten es aber für ihre heilige Pflicht, zu schweigen? Kein Zweifel, die Justiz hatte eine neue Spur gefunden oder eine alte aufgenommen, und das wollte man den Arbeitern möglichst verheimlichen – ein Verfahren, das die Arbeiter offenbar übelnahmen. Ein paar von ihnen, die sich auf die Beobachter hinausspielten – sie waren es auch gewesen, die die Geschichte mit dem „Berliner“ nicht für geheuer hielten – hatten herausgefunden, daß die „Herren“, womit alle höheren Beamten der Kolonie Josephsthal schlechthin gemeint waren, ihre kleinen vertraulichen Konferenzen jedesmal erst dann hielten, wenn der Oberingenieur Harnack noch nicht gekommen oder wenn er wieder gegangen war.

Ingenieur Harnack war nie besonders gut gestimmt erschienen, hatte nie einen Freund in den Werken gehabt, stand immer isoliert und war bei den Leuten seiner Wortkargheit und Unfreundlichkeit wegen besonders unbeliebt. Den „Schwarzen“ nannten sie ihn, und sein Erscheinen war allemal das Signal, daß etwaige Scherze oder sorglose Unterhaltungen der Leute verstummten und jeder von ihnen doppelt emsig bei seiner Arbeit [731] war. Nicht einmal der „Engländer“, der doch jetzt Herr über die ganzen Werke war und alles zu bestimmen hatte, war den Arbeitern so unbehaglich wie der „Schwarze“. Sie machten sich wohl gelegentlich ein bißchen lustig über Mr. Whitemores geschniegelten Anzug, seine steife englische Würde, aber seine Gegenwart fiel ihnen doch nicht so „auf den Magen“, wie sie das nannten. Harnacks beständig finstere, unfrohe Miene, der brütende Ausdruck seiner dunklen Augen war den Leuten unbehaglich, und seine Manier, jeden Befehl, jede Anordnung nur mit einzelnen hervorgestoßenen Worten zu erlassen, die Betreffenden nie dabei anzusehen und jeden kleinsten Fehler, jede leiseste Abweichung von seinen Verfügungen aufs strengste zu rügen, alles dies trug nicht dazu bei, die Abneigung der Arbeiter zu mildern. Oberingenieur Harnack war die unpopulärste Person der gesamten Werke, und alle wären froh gewesen, wenn man ihm hätte etwas „am Zeug flicken“ können, was seine bevorzugte Stellung erschüttert oder gar aufgehoben haben würde. Davon war aber keine Rede, er war hochbegabt und tüchtig für zehn, das mußten ihm selbst seine vielen Feinde lassen.

Daß Jngenieur Harnack einen jüngeren Bruder hatte, der nichts taugte, hatten einige schon früher in Erfahrung gebracht und es selbstverständlich den Kameraden mitgeteilt, so daß es wie ein Lauffeuer herum gewesen war. Die Leute waren schadenfroh genug gewesen, diesen Familienschatten dem unbeliebten Vorgesetzten von Herzen zu gönnen: es war ihm sehr gesund, daß er es an seinem eigenen Leibe erfuhr, wie es thut, Kummer und Schande zu erleben.

Nach Josephsthal, das wußten die Eingeweihten, durfte dieser jüngere Harnack nicht kommen, wenigstens nicht zu Baron Hofmanns Lebzeiten – der verstand keinen Spaß in Bezug auf zweifelhafte Redlichkeit und schlechten Lebenswandel! Einmal war das Gerücht aufgetaucht, der junge Mensch wäre flüchtig in der Kolonie gesehen worden; da es aber fast zugleich hieß, der Oberingenieur habe Urlaub erbeten, um seinen Bruder von Hamburg auf Nimmerwiedersehen nach Amerika zu spedieren, so glaubte man, die Betreffenden, die ihn hier gesehen haben wollten, müßten sich geirrt haben, und das Gerücht schlief alsbald wieder ein. Doch neuerdings war auch dieses wieder neu aufgelebt. Vielsagende Worte, die von einzelnen aufgefangen wurden, wie „Nur angeblich nach Amerika gegangen“ – „Bruder keine Ahnung gehabt“, wurden auf den Bruder Harnacks bezogen. Ein Arbeiter von der Walzmühle wollte sogar Genaueres aus einem Gespräche erlauscht haben, das vor kurzer Zeit Justizrat Ueberweg mit Herrn Hagedorn auf offner Straße geführt hätte, wobei wiederholt von Harnack dem jüngeren die Rede war. Die Herren wären so erregt gewesen, daß sie sein Vorübergehen gar nicht gemerkt hätten. –

Es war Feierabend. Die großen Glocken in den verschiedenen „Werken“ hatten ihre Schuldigkeit gethan und den ermüdeten Arbeitern verkündet, daß es für heute genug sei an Fleiß und Anstrengung. Die immer gern gehörten Glockenstimmen wurden heute mit besonderer Freude begrüßt, denn es war ein überaus schwerer Tag gewesen. Drückende Schwüle lagerte draußen, die Sonne sengte unbarmherzig, die Hitze war in die Fabrikräume gedrungen und machte den Aufenthalt sowohl in denjenigen Sälen, wo die großen Dampfmaschinen in Thätigkeit waren, als auch in denen, wo mit riesigen Mengen grob- oder feingemahlenen Mehles hantiert werden mußte, beinahe unerträglich. Ein paar schwächliche blutarme Frauen waren von Schwindel befallen worden und mußten die Arbeit einstweilen aussetzen – – auch die robusten und die größeren Mädchen, die schon zur Fabrikarbeit zugelassen wurden, klagten über Flimmern vor den Augen und Stechen in den Schläfen. Große Kübel mit Wasser standen in den Gängen bereit, aber das häufige Waschen wollte nichts helfen – im Gegenteil, es vermehrte nur noch die Glut!

Jetzt strömten die ermatteten Scharen in hellen Haufen ins Freie. Die von der Schneidemühle thaten es am langsamsten und verdrossensten. Sie hatten die Kunde zugetragen bekommen – man erfuhr immer alles in der Kolonie Josephsthal! – daß das Personal von der Walzmühle wie von der Oelmühle heute lange Pausen während der Arbeitszeit hatte machen, später als sonst nach Tisch hatte anfangen dürfen; die betreffenden Direktoren hatten das so verfügt. In der Schneidemühle, wo Oberingenieur Harnack regierender Herr war, hatten es die Leute nicht so gut gehabt. Wenn es möglich war, daß der Ingenieur sich noch finsterer, unzugänglicher und strenger zeigte als sonst, so war es an diesem Tage der Fall gewesen. Kaum ein Wort fiel von seinen Lippen, aber sein wachsames Auge lag unausgesetzt auf den Leuten, ließ sie gleichsam nicht los, er selbst stand mitten im glühenden Dampf und betäubenden Lärm neben der großen Treibmaschine, die Hitze schien ihm nichts anzuhaben, und der unerbittliche Zug um seinen Mund, die tief eingegrabene Falte auf seiner Stirn sprach deutlicher als Worte: Was ich kann und leiste, das müßt ihr ebenfalls können! Ich halte aus und arbeite, thut ihr desgleichen! – – – Sie thaten es, die in Schweiß gebadeten, abgespannten Menschen, aber jetzt, da es Feierabend war, kam die lange unterdrückte Entrüstung zum Ausbruch, und Worte, wie „Nichtswürdige Schinderei“ – „Nicht gefallen lassen“ – „Beim Engländer beschweren“ fielen hageldicht von den Lippen der mühsam atmenden, keuchenden Leute, die begierig die Luft im Freien einsogen, ohne doch besondere Erquickung zu spüren, denn es war auch jetzt noch drückend heiß. Ein schwüler Brodem lastete über der Landschaft, kein Blatt rührte sich, die Sonne stand in einem Dunstkreise von stechendem Gelb, darunter baute es sich auf wie ein schieferblauer Wall. Vielleicht kam zur Nacht ein Gewitter!

Ingenieur Harnack verließ als der letzte die Schneidemühle. Die Maschinen waren abgestellt, er machte, wie gewöhnlich, die Runde, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war.

Indem er aus dem gewaltigen, langhingestreckten Gebäude hinaustrat, schweifte sein finsterer Blick über die Leute, die in größeren und kleineren Gruppen in bereits ziemlich beträchtlicher Entfernung vor ihm hergingen, und es war, als wüßte er genau, was und über wen sie jetzt sprachen, denn sein Mund verzog sich verächtlich und seine niederhängende Linke ballte sich. Aber nicht den Arbeitern allein galt dieser düstere Blick, diese geballte Faust. Etwas anderes noch war es, was in der Seele dieses Mannes vorging, ihn diese letzten Stunden hindurch schwer bedrückt hatte, etwas, wofür er sich Gewißheit zu verschaffen trachten mußte, Gewißheit – und käme hinterher, was da kommen wollte!

Absichtlich zögernd und langsam, um den vor ihm herschlendernden Arbeitern einen weiten Vorsprung zu lassen, ging der Ingenieur weiter die Dorfstraße entlang und schlug dann einen Querweg ein, der zu der Häusergruppe führte, in welcher Hagedorn seine Wohnung hatte.

Es war ein ganzes Stück bis dorthin zu gehen. Harnack aber war derartig in seine Gedanken versunken, daß ihm der Weg viel kürzer als sonst erschien, und er stutzte, als plötzlich die Klänge eines Klaviers an sein Ohr trafen. Er war an dem Hause, in welchem sein alter Widerpart wohnte. Die Fenster im Erdgeschoß standen offen. Der durchsichtige Store war beiseite geschoben, man konnte von draußen ungehindert in das mäßig große Zimmer hineinblicken. Der Flügel war quer gegen das breite Fenster gestellt, auf Kosten der übrigen Möbel und der Symmetrie des Zimmers – man sah, das Pianoforte hatte hier die erste Rolle, und alles andere war Nebensache.

Raimund Hagedorn, in einem leichten Rock von heller Bastseide, Blusenhemd und Tennisgürtel, spielte ganz selbstvergessen, aller Hitze zum Trotz.

Der Oberingenieur zog hastig die Thürglocke, und ihr greller, profaner Mißton ließ den Spieler aufspringen, wie wenn ihn eine Kugel getroffen hätte. In seinen blauen Augen wetterleuchtete es zornig über den „Kunstbanausen“, der nicht einmal hatte warten können, bis der Satz beendet war. Mit raschen Schritten ging Raimund vom Klavier fort, zur offenstehenden Stubenthür hinaus und durch den schmalen Korridor. Er riß den Flügel der Hausthür mit Heftigkeit zurück und sah dem unwillkommenen Störenfried mit einer Miene ins Gesicht, die deutlich genug von seinen Empfindungen Zeugnis ablegte.

„Herr Oberingenieur Harnack!“ stieß er erstaunt heraus. „Was verschafft mir die – das –“

Raimund stockte. Denn er empfand diesen Besuch, gerade diesen, weder als eine Ehre, noch als ein Vergnügen, und es widerstrebte ihm, auch eine dieser landläufigen Redensarten, die niemand wörtlich nimmt, die längst zur hohlen Formel herabgesnnken sind, hier in Anwendung zu bringen. Er vollendete daher den begonnenen Satz damit, daß er mit einer einladenden Handbewegung zum Zimmer hin sagte: „Darf ich Sie ersuchen, näher zu treten?“

[732] Der andere verbeugte sich mit äußerster Knappheit und trat ein. Es sah nicht sehr ordentlich in dem Zimmer aus, aber heiter und freundlich, und das Ganze hatte einen künstlerischen Anstrich. Auf dem Fensterbrett stand ein reichblühender weißer Rosenstock, rechts und links daneben auf den Dielen erhoben sich üppige, mit rosigen, mandelduftenden Blüten übersäte Oleanderbüsche in großen Kübeln; ein Kelchglas mit abgeschnittenen Blumen schmückte den Schreibtisch, auf dem allerlei Photographien in Moraständern und Makartrahmen umherstanden. Die ganze dunkle Platte des Flügels war mit gebundenen und ungebundenen Notenheften bedeckt; beschriebene Notenblätter, über die ein Stift quergelegt war, lagen dazwischen, ganze Stöße von Noten waren unter dem Klavier aufgeschichtet. Von den Wänden sahen überall größere und kleinere Büsten berühmter Tonkünstler herab: der bedeutende Beethovenkopf mit der Löwenmähne, das scharfgeschnittene Profil Chopins, die schlichten Züge Schumanns und Schuberts, und Mozarts sonniges Antlitz. In einem kleinen Käfig aus Weidenruten, wie ihn die Kinder flechten, hüpfte eine Schwarzamsel umher, die jetzt, da das Klavier verstummt war, sich verpflichtet glaubte, die Stille zu unterbrechen, und ein paar volle melodische Locktöne zum besten gab.

Der Blick des Eintretenden überflog den lichten, sonnendurchfluteten Raum, der ein so ganz anderes Gepräge trug wie seine eigene nüchterne, peinlich geordnete Häuslichkeit. Was er hier sah, schien ihm Spielerei und Firlefanz, nichts weiter – und auch die Bücher dort hinten im Glasschrank mochten den Geschmack ihres Eigentümers widerspiegeln und nichts von dem enthalten, was eines ernststrebenden Mannes würdig war.

Die blauen und die dunklen Augen tauchten ineinander und maßen sich, wie vor dem Kampf. Diese beiden Männer, so grundverschieden in ihrem ganzen Typus wie in ihrer Lebensauffassung, waren einander von der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft unsympathisch gewesen, und sie hatten beide kein Hehl daraus gemacht.

Raimund wies stumm auf einen in seiner Nähe stehenden Stuhl. Harnack lehnte den Sitz ab und blieb stehen.

„Ich bin zu Ihnen gekommen,“ brach er endlich das Schweigen, „um Sie zu fragen, ob es wahr ist, daß Sie bei Gericht eine Anzeige gegen meinen Bruder erstattet haben, der zufolge man ihn wegen Mordverdachtes in Haft genommen hat.“

Raimund zuckte zusammen.

„Wer hat Ihnen das gesagt?“ fragte er nach einer Pause mit bedeckter Stimme.

Harnack warf den Kopf hoch.

„Darauf kommt es nicht an; die Thatsache genügt wohl. Ist sie wahr?“

In dem offenen Gesicht des jungen Mannes malte sich Schreck und Mitleid. Wenn dieser Mann seinen Bruder liebte – und sie hatten ihm gesagt, daß er dies that! – welches mußten seine Empfindungen sein gegenüber demjenigen, der ihn der Justiz auslieferte, ihn ihr wenigstens verdächtig machte? Hätte er schweigen sollen? Aber der Justizrat hatte ihm ausdrücklich gesagt, daß man ohnehin auf den jüngeren Harnack Verdacht geschöpft hatte, daß man ihn seit geraumer Zeit suchte – er hatte nichts weiter gethan als den Ort angegeben, wo der Gesuchte mutmaßlich zu finden sei. Und Ueberweg hatte ihm so dringlich seine Verpflichtung dazu klargemacht.

„Ist es wahr?“ wiederholte der Ingenieur mit harter Stimme.

„Ja!“ entgegnete Raimund fest, und ehe noch der andere weiterzusprechen vermochte, setzte er hastig, sich fast im Sprechen überstürzend, hinzu: „Hören Sie mich! Ich kenne Ihren Bruder nicht, habe ihn nie gesehen, ich habe nicht den geringsten persönlichen Verdacht gegen ihn. Aber dieser Verdacht ist von verschiedenen Seiten gehegt worden, auch die Justiz hatte ihn bereits gefaßt. Der Ermordete war mein Oheim, sein Tod ließ mich nicht gleichgültig, der Fingerzeig wurde mir gegeben, der Auftrag mir erteilt – was blieb mir zu thun übrig, wenn ich mein Gewissen –“

Er kam nicht weiter.

„Ihr Gewissen?“ Harnack stieß es hart und höhnisch hervor. „Mußten Sie sich gerade bei dieser Gelegenheit darauf besinnen?“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Daß ich Sie für einen feigen Denunzianten halte – weiter nichts!“

Raimund war sehr bleich geworden, seine Augen blitzten gleich geschliffenem Stahl.

„Ich nehme Rücksicht auf Ihre Gefühle als Bruder. Aber gehen Sie nicht zu weit! Wählen Sie Ihre Ausdrücke besser! Es ist mir wahrlich nicht leicht geworden, zu sagen was ich wußte – ich habe mit mir gerungen –“

Der Ingenieur ließ ein heiseres spöttisches Lachen hören.

„Ihr Ringen hat zu einem guten Resultat geführt! Man hat meinen Bruder in Untersuchungshaft genommen, auf Ihre Denunziation hin – meinen Bruder, der unschuldig ist – unschuldig sein muß, denn er war zur Zeit des Mordes in Amerika!“

„Wenn sich das nachweisen läßt, ist seine Unschuld klar am Tage, und er wird sofort aus der Haft entlassen!“

„Für sein ganzes Leben mit einem Makel behaftet, durch einen – Schurken!“

Raimunds Rechte zuckte empor und umspannte die Hand, die sich zum Schlag gegen ihn erhob, mit starkem Griff um den Knöchel.

„Nun ist’s genug! Auf diesen Schimpf giebt’s nur eine Antwort. Doch nicht hier – – “

Mit ganz leiser, tiefer Stimme hat er gesprochen, aus seinem Gesicht ist jeder Blutstropfen gewichen, eine eigentümliche wilde Schönheit liegt über den entfärbten Zügen. Seine Rechte hält noch immer die Hand des Ingenieurs umspannt und drückt sie nieder.

„Gut denn!“ sagt Harnack und sieht unter den zusammenstoßenden Brauen hervor finster auf seinen Gegner. „Lassen Sie mich los! – Wann? Und wo?“

Raimund zieht seine Hand zurück und zuckt die Achseln.

„Es ist mir alles gleich. Bestimmen Sie!“

„Bei den Kesseltannen? Früh um fünf Uhr – und morgen?“

„Meinetwegen!“

„Ich werde Ihnen noch heute abend jemand schicken –“

„Auch Sie hören noch von mir im Lauf dieses Abends!“

Es wird kein weiteres Wort, kein Abschiedsgruß mehr zwischen ihnen gewechselt. Draußen fällt die Thür ins Schloß, Raimund ist allein. Er schüttelt ein klein wenig den Kopf, dreht sich um und schließt mechanisch die Klappe der Klaviatur. Die letzten Takte des Schumannschen Intermezzos, das er gespielt, klingen in ihm nach – – und ihm ist, als wäre es vor Tagen gewesen, daß er das gespielt. Sein Blick streift über die Büsten an den Wänden – goldene Sonnenstrahlen umspielen Beethovens Titanenhaupt, küssen Mozarts jugendfroh lächelnden, weichen Mund. Sie tanzen auch über die auf dem Piano hingestreuten Notenhefte hin, auf den losen Blättern, über denen der Stift sorglos hingeworfen liegt, wie eben aus der Hand gelegt – seine neueste Komposition, mehr als zur Hälfte vollendet, „Frühlingsphantasie“ hatte er sie genannt – und wie sie ihm leicht und schön und mühelos entstanden war nach der letzten Unterredung mit seinem Vater! Die hatte jene ganze Mißstimmung, die ihm sein Bekenntnis dem Justizrat gegenüber geschaffen, fast ganz beseitigt – er hatte wieder komponieren können – nein, komponieren müssen, die Harmonien drängten sich ihm förmlich auf, es sang und klang in ihm – war doch in sein Leben seit Jahren zum erstenmal wieder ein Hoffnungsschimmer gefallen, der ihm zeigte, es könne doch noch eine Zukunft für ihn geben, und dieser Hoffnungsstrahl war ihm entglommen, bald, nachdem er das Weib gefunden hatte, das er liebte!

Wie grenzenlos er sie liebte und für sich ersehnte, das durchschauerte ihn jetzt wieder, da alle Fibern in ihm angespannt waren, jeder Nerv wie unter dem Hochdruck seiner Gefühle in ihm erzitterte. Er sah sie vor sich – zum Greifen deutlich! – aber nicht nur das schöne, stolze Gesicht, die schlanke Gestalt, die sein Staunen, sein Entzücken gewesen war, schon beim erstenmal, da er sie sah – auch ihr Lächeln, ihr Zustimmen oder Abwehren, das rasche Verständnis in ihren Augen, die warme Anteilnahme – alles, was ihm von ihrer Seele sprach. – – – Eine Zukunft in seiner Kunst – und dies Mädchen! Wohl war es Vermessenheit von ihm gewesen, das zu denken, denn noch lag sein neuer Beruf und das, was er in ihm schaffen, leisten wollte, wie hinter einem Schleier, der lockt, verheißt, aber immer noch verhüllt! Gesetzt auch, sie empfand mehr für ihn als freundschaftliche Zuneigung …. durfte er vor sie, die gefeierte Schönheit, die verwöhnte Erbin, hintreten und sagen: „Ich glaube

[733]

Pommersche Fischer in Göhren.
Nach dem Gemälde von Eduard Spoerer.


jetzt an meine Zukunft und an meinen guten Stern. Ich will hingehen und aus all meinen Kräften versuchen, mir einen Namen, eine Stellung zu schaffen. Willst du auf mich warten, bis ich mir beides errungen habe? Hast du mich lieb genug dazu?“

Wohl war’s ein Wagnis, aber in dem Rausch, der über ihn gekommen war, in der Schaffensfreudigkeit und Siegeszuversicht, die ihm in allen Adern pochte, hätte er es unternommen, hätte er die Würfel geworfen um sein Lebensglück ....

Jetzt aber –

Er war vielleicht in zehn Stunden schon ein toter Mann! Harnack würde ihn sicher nicht schonen! Er witterte in ihm einen Nebenbuhler um Alix’ Gunst, er sah in ihm den Ankläger und Verderber des Bruders, und er hatte von Anbeginn an schon eine tiefgehende Antipathie gegen ihn gefaßt! Es half nichts, um den Gedanken vorsichtig herumzugehen, er war immer wieder da: Raimund Hagedorn – es geht um dein Leben!! –

Und dazu schien die Sonne draußen so herrlich, und wie die glühende Hitze allgemach ein wenig nachließ, kam wohliges Genießen über alle Kreatur. „Leben!“ zwitscherten die Schwalben, die in Schraubenwindungen hin und her schossen und blitzschnell unter den Dachfirst des Hausdaches schlüpften. „Leben!“ flötete die kleine Amsel im Käfig, wie sie von Sprosse zu Sprosse sprang und ihr Köpfchen dem Licht zukehrte. „Leben!“ säuselten die Blätter der Bäume, die jenseit des Weges ihren Wipfel in der Abendsonnenglut wiegten, und „Leben!“ jauchzten die Stimmen der spielenden Kinder fernher vom Dorf. Und er hatte das Leben immer geliebt – als kleines Kind schon, das sich jubelnd ohne Veranlassung daheim im Garten in Wien ins hohe Gras warf – als Knabe, der in unbändiger Lust tobte und sprang – als junger Mensch, der mitten in dem leisen Grauen, das seine tollkühnen Reiterkunststücke ihm erregten, deutlich genug die aufquellende Daseinslust empfand, die ihn gerade solche waghalsigen Unternehmungen geflissentlich suchen ließ – als Mann, der trotz einer aufgezwungenen Arbeit immer noch unzählige Augenblicke aufflackernder Begeisterung, selbstvergessenen Genusses gekannt hatte, denen freilich zu leicht nur der Schmerz sich gesellte. Sie waren nicht ausgeblieben, die Stunden, in denen Raimund sich voll Groll gesagt hatte, daß Nichtsein für ihn bester wäre als Sein, daß er diese Existenz nur wie eine Schuld ansehe, die er seinem alten Vater abtragen müsse – dennoch rang sich Jugend und Genußfähigkeit immer von neuem in ihm empor, und namentlich die Freuden, die er seiner Musik verdankte, tönten wie glockenrein gestimmte Accorde in seinem Innern wieder.

Er stand immer noch am Schreibtisch neben dem geöffneten Fenster, hielt selbstvergessen das Bild seiner Mutter in der Hand und horchte auf die Töne, die das Leben ihm zurief!

– – – Zuletzt raffte er sich zusammen – er mußte handeln.

Eine Zeit lang kramte er zwischen Papieren umher, zerriß viele und schichtete die Fetzchen zu einem Stoß zusammen, um den er ein großes Zeitungsblatt schlug, und ging damit vorsichtig zum Kaminofen. Er legte das Papier in die sorgfältig gefegte Oeffnung und setzte es mit einem Zündholz in Brand. Gedankenvoll sah er zu, wie die rasch auflodernde Flamme um sich griff und die Blätter bis zu einem Häufchen grauschwarzer Asche verzehrte.

Hierauf ging er zum Schreibtisch zurück, legte sich weißes Papier zurecht, und nach wenigen Minuten flog seine Feder im schnellsten Tempo darüber hin.


20.

Alix war vor ihrer Uebersiedlung nach Josephsthal keine Frühaufsteherin gewesen. Hier aber führte sie ein ungleich ruhigeres, regelmäßigeres Leben. Hatte sie auch häufig Besuch aus der Nachbarschaft, so fuhr derselbe, mit Rücksicht darauf, daß das junge Mädchen noch in Trauer war und dem offiziellen Verkehr ihr Haus noch nicht geöffnet hatte, meistens gegen zehn oder elf Uhr abends davon, für Alix sonst eine sehr frühe Stunde. Jetzt hatte sie sich’s angewöhnt, zeitig zu Bett zu gehen, und die natürliche [734] Folge davon war, daß sie früher aufwachte und, halb gegen ihren Willen, den Reiz der Morgenstunden kennenlernte. Freilich nicht der allerfrühesten Morgenstunden, aber auch das wollte sie jetzt zuweilen thun. Die Majorin hatte ihr erklärt, so alt sie geworden sei, habe sie, die Großstädterin, noch nie einen Sonnenaufgang mit angesehen, und nun hatten beide Damen beschlossen, sich einmal dies herrliche Schauspiel zu gönnen.

James hatte Befehl erhalten, die Damen zeitig zu wecken, wenn der nächste schönes Wetter verheißende Tag anbräche. Zweimal hatte der vortreffliche Diener das nicht können, denn am Montag regnete es in der Nacht, und am Dienstag sah das Wetter zweifelhaft aus. Heute, Mittwoch, war der Horizont ganz klar, ein kaum merkbarer Wind fächelte in den Zweigen, das Wetterglas war gestiegen.

Françoise hatte es sich nicht nehmen lassen, dabei zu sein, obschon sie Naturschauspielen keinen besonderen Wert beizulegen vermochte – schöne Läden und elegant geputzte Menschen waren ihr lieber. Indessen, wenn Mignonne sich diese Marotte in den Kopf gesetzt hatte, mußte Françoise sie mitmachen.

Innerlich ziemlich schlechter Laune, mit sehr kleinen, verschlafen blinzelnden Augen, erschien Françoise im Gartensaal und war nicht wenig erstaunt, Alix daselbst schon vorzufinden, und zwar vollständig frisiert und im Reitkostüm.

„Ah, Sie wollen reiten?“

„Gewiß! Ich will im Anschluß an den genossenen Sonnenaufgang einen Ritt durch den Wald unternehmen!“ sagte das junge Mädchen in resolutem Ton. „Nun bitt’ ich mir aber eine freundliche Miene aus!“ fügte sie gutlaunig hinzu. „Wir bekommen einen herrlichen Tag, und James wird uns noch eine Tasse Kaffee servieren, ehe wir zum Birkenhügel gehen!“

Frau von Sperber, welche jetzt, von James mit den Kaffeetassen begleitet, erschien, war gleichfalls erstaunt über Alix’ Toilette.

„Gehen Sie ruhig, nach gehabtem Naturgenuß, wieder zu Bett, liebe Frau von Sperber,“ bat das junge Mädchen, „nur gönnen Sie mir meinen Waldritt.“

„In Gottes Namen, liebste Alix. Falls Sie nur nicht von mir verlangen, daß ich mich auch zu Roß schwinge und mit Ihnen reite, gönne ich Ihnen alles und jedes. Eine Bedingung freilich hab’ ich dabei: Sie dürfen nicht ohne Begleitung in den Wald!“

„Wenn ich ,Rebell‘ mit mir nehme –“

„‚Rebell‘ ist ein sehr starker und sehr treuer Hund, aber durchaus kein genügender Schutz. Wenn Sie nicht James mithaben wollen, so muß es der Groom sein. Sie müssen mir schon erlauben, Sie daran zu erinnern, daß ich hier die Stelle einer Mutter einnehme – – wenigstens, was Fragen wie diese betrifft. Glauben Sie, daß Ihre Mutter Ihnen diesen einsamen Ritt durch den Wald, unmittelbar nach Sonnenaufgang, gestattet hätte?“

„Nein!“ erwiderte Alix unmutig. „Wenn es sein muß ...“

Frau von Sperber sagte kein Wort weiter. Alix erschien ihr unbegreiflicher als je! Hatte denn die Erinnerung an das Ende ihres Vaters alle Schrecken für sie verloren? Sie drängte den peinlichen Gedanken zurück, goß anscheinend heiter den Kaffee aus der zierlichen Silberkanne in die Tassen, bot den Zucker herum, sprach von der erfrischenden Morgenluft und daß es doch kein Gewitter in dieser Nacht gegeben habe, so drückend es gestern gewesen.

Man sah nach der Uhr, fand, daß es gleich Zeit sei, und beeilte sich mit dem Trinken, um rechtzeitig beim Birkenhügel zu sein. Alix ließ sich von James das flache Reithütchen, die langen weichen Lederhandschuhe und die Reitpeitsche reichen, während sie ihr Kleid zum Gang durch den Park hochzog. „Rebell“ wurde hereinbeordert und sprang wie toll an seiner Herrin empor.

Als Alix dem zurückbleibenden James, halb über die Schulter zurückgewendet, im Gehen zurief: „Also an der kleinen Pforte soll der Groom mit ,Primrose‘ und dem Braunen auf mich warten!“ sagte Frau von Sperber wiederum nichts, aber ein freundliches, warmes Licht kam in ihre klugen Augen, die beifällig auf Alix sahen.

Draußen webte ein zartes, weißliches Licht um die Baumstämme. Verschlafene Vogellaute tönten hier und da aus dem Blätterdach, aber noch saßen die kleinen Sänger zusammengeduckt im Gezweig und rührten sich nicht.

Keiner von den drei Dahinwandelnden sprach. Einmal während des Gehens neigte sich die Majorin über ein Blumenbeet und brach eine köstliche, halb erblühte weiße Moosrose, neben der noch ein paar Knospen waren, sowie grüne, herbduftende Blätter. Der Tau lag in dicken Perlen darauf. Die alte Dame hielt das Sträußchen einen Augenblick von sich zurück, wie um sich an dem lieblichen Anblick zu erfreuen, und steckte es dann ohne weiteres zwischen zwei Knöpfe des Reitkleides an Alix’ Brust, Was diese lächelnd geschehen ließ.

Françoise wollte zu reden beginnen – ihre Herrin gab ihr einen bittenden Wink mit den Augen, sie möge es lieber unterlassen. Wozu denn immer sprechen? Es war so viel schöner, in sich selbst hineinzuhorchen und zu staunen! Und jetzt war man beim Birkenhügel angelangt. Alix selbst hatte diesen schönen, hochgelegenen Platz entdeckt, einige Bäume fällen, eine kleine Laube herrichten und die Aussicht frei legen lassen; sie war sehr stolz auf diese That und konnte es sein, denn der Blick von hier war überraschend schön. Der Birkenhügel beherrschte den Fluß, der sich hier verengte, so daß man das jenseitige Ufer bequem übersehen konnte. Es waren nur die neuerbauten Arbeiterhäuser zu erblicken; die Fabrikschlote wurden durch eine Krümmung des Flusses dem Auge entzogen. Rechts dehnte sich eine mäßig hohe Hügelkette in anmutigen Wellenlinien hin, zur Linken schloß dunkler Waldbestand, der sich in weitem Bogen herumzog, das Rundbild ab.

Schon färbte sich’s glühend rot im Osten. Kein Wölkchen, so weit das Auge reichte – nur in langhingezogenen sanften Linien die Streifen, die den Osten umsäumten. Diese begannen jetzt eine seltsame purpurbläuliche Farbe anzunehmen, während unmittelbar über dem Horizont in wunderlich abgeplatteter Form der obere Rand der Sonne hervorsah – Helios fuhr in seinem goldenen Wagen herauf! Und wie sich die Sonne mehr und mehr hob und zu strahlen begann, da goß sich ein Meer von rotem Licht über Wald und Berge und Häuser und spiegelte sich – ein entzückender Anblick – im ruhig gleitenden Fluß.

Frau von Sperber, ganz hingenommen von dem prächtigen Schauspiel der aufgehenden Sonne, kann doch nicht umhin, rasch und verstohlen immer wieder auf Alix zu blicken. So schön und so bewegt! Ein mitfühlender Seufzer hebt die Brust der alten Dame. Ach, es ist doch etwas Köstliches um Jugend und um Liebe! Gott wolle alles zum besten lenken!

Françoise hat es auch recht schön gefunden, was sie da gesehen hat, aber nun hat sie es satt – überdies blendet sie all die Farbenpracht. Auch daß so viel Nässe von den Zweigen auf sie herniedertropft, findet sie nicht gerade angenehm; wenn man jetzt heimginge und sich wieder zu Bett legte! Aber Mignonne steht wie verzaubert da und rührt sich nicht!

„Rebell“ denkt ähnlich wie die Französin. Müde ist er zwar nicht, und von Ruhe will er nichts wissen – im Gegenteil! Aber dies stumme Ausharren wird ihm unerträglich. Er hat sich dem gebieterischen „Nieder – nieder! Süll sein!“ seiner jungen Herrin bisher gefügt, hat seinen großen, schönen Kopf auf die Vorderpfoten platt hingelegt und mit einem blinzelnden Blick den Sonnenaufgang über sich ergehen lassen. Nun aber ist’s genug! Er beginnt sich zu dehnen, gähnt gewaltig, springt mit einem entschlossenen Ruck auf und bellt zweimal in kurzen, auffordernden Lauten mit seiner groben Bruststimme.

„Ja – ja!“ sagt Alix, wie aus tiefen Gedanken heraus. „Man muß sich losreißen – der Groom wird mit den Pferden schon warten. Also Adieu, liebe Frau von Sperber – war’s nicht wunderschön? Und du, Françoise, kriech’ nur schleunigst wieder in dein Lager zurück, du siehst polizeiwidrig müde und verschlafen aus. Komm, ,Rebell‘!“ Sie nimmt den Hund, der freudig vorausspringen will, beim Halsband, nickt den Zurückbleibenden zu und steigt den Hügel hinab.

An der kleinen Pforte wartet der Groom. Er reitet denselben Lichtbraunen, den Raimund Hagedorn damals bei seinem Spazierritt mit der schönen Cousine hatte; jetzt ist der Mensch wie ein Blitz aus dem Sattel und führt „Primrose“ vor, die ihre Nüstern bläht und den Kopf aufwirft, zum Zeichen, daß ihr der Gedanke an den bevorstehenden Ausflug behagt.

Im Nu ist Alix oben; sie setzt sich zurecht und ordnet die Zügel, während „Rebell“, jetzt unbehindert, mit großen Sprüngen Roß und Reiterin umkreist und dazu bellt, daß es weithin schallt.

„Wir nehmen zunächst im Bogen herum flaches Land, und dann erst links hinüber in den Wald,“ spricht Alix über die Schulter zurück zum Groom. „‚Primrose‘ ist unruhig, und ich [735] will ihr etwas Bewegung verschaffen. Allez, toll’ dich aus!“

Das läßt sich die arabische Schimmelstute nicht zweimal gesagt sein; sie macht noch ein paar verwegene Kapriolen, die ihr einen leichten Peitschenhieb eintragen – jetzt, wie der Pfeil von der Sehne, ist sie davon, sie soll und sie will „sich austollen“. Gestreckte Carriere! In Gottes Namen!

Schon rückt die dunkle Linie des Waldes näher – jetzt ein Stück Landstraße, breit, gut gehalten und ganz unbelebt. Wiederum freier Weg – wie wonnig! Der Graben, der hinüberführt, ist nur ein Kinderspiel. Alix hebt sich ein wenig im Sattel, die Peitsche ist unnütz! „Primrose“ weiß ganz genau, was man von ihr erwartet, sie streckt sich und trägt die Reiterin im Flug hinüber. Alix muß an Raimund und seine Rennen denken. Ob er zufrieden mit ihr wäre, wenn er sie jetzt sähe?

Aufatmend hält sie endlich still am Saume des Waldes, der morgenkühl, mit tiefen bläulichen Schatten überspielt, vor ihr liegt. Sie wendet sich im Sattel und blickt nach dem Groom, der dort hinten am Horizont wie ein Pünktchen erscheint. Ja, ja, der Hellbraune ist ein ganz wackeres Tier, aber mit ihrem Vollblut hält er den Vergleich nicht aus.

„Sehr schön gegangen, ,Primrose‘, sehr schön!“ Alix klopft den schlanken, glatten Hals, beugt sich zu „Rebell“ nieder, der sich eifersüchtig herandrängt: „Und du auch – ja, du auch! Ihr seid beide brav – ich kann stolz sein auf euch!“

Jetzt kann der Groom sie schon erkennen – er soll nur wissen, wo sie bleibt. Alix liebt es nicht, wenn er ihr auf dem Fuß folgt, und das weiß er auch gut genug; wenn er nur die Richtung kennt, welche die Baroneß genommen hat, und ihrem etwaigen Ruf erreichbar ist!

Langsam reitet Alix unter den hier dichtgedrängt stehenden Bäumen hin. Die Schimmelstute hebt vorsichtig die zierlichen Hufe; der Boden ist weich von vermodertem Laube, das hier seit Jahren lagert und dicke Schichten gebildet hat. Niederhängende Tannenzweige bedrohen Alix’ Gesicht und greifen nach ihrem Hut. Altersschwache Fichten mit langen, eisgrauen Bärten von wirrem Moosgeflecht neigen sich vornüber, als drohten sie jeden Augenblick zu stürzen, knorrige Eichen stehen dazwischen. Am Stamme der einen, dicht vor Alix, läuft ein Eichkätzchen blitzgeschwind empor, bleibt in gesicherter Höhe hängen, die rotbraunen, haarigen Pfötchen um einen Ast geklammert, und blickt neugierig auf die fremden Eindringlinge nieder. Das junge Mädchen sieht deutlich seine schwarzen Aeuglein von spöttischer Freude glänzen. Husch! Da ist es im Wipfel!

Weiter, „Primrose“, – es muß sich doch zuletzt ein wenig lichten!

Sehr allmählich geschieht das! Hier muß selten oder nie ein Mensch gehen, es ist ganz, ganz einsam, und das Laubholz, das nun wieder vorherrscht, bildet ein Dach, so dicht, daß man kaum den Himmel durchleuchten sieht und den Raubvogel, der droben im Aether seine Kreise zieht und seinen schrillen Schrei ausstößt, nicht entdecken kann. Ein Kuckuck ruft ganz in der Nähe unermüdlich, und träumerisch klingt es im stillen Wald!

Ein Rascheln in den Büschen – näher – ganz nahe – sieh da, ein kleiner Junge, neunjährig etwa, barfüßig, mit Hemd, kurzer Hose und grauem Tragband angethan, einen weißen Spankorb in der braunen Hand, kommt zwischen den Haselnußsträuchern zum Vorschein, und sein Gesicht will Alix bekannt erscheinen. Er fährt zusammen, als er Roß und Reiterin und Hund, die lautlos herangekommen sind, plötzlich vor sich sieht. Der Schreck geht ihm so in die Glieder, daß ihm sein Körbchen, das halb voll Erdbeeren ist, aus der Hand fällt, die Augen sich angstvoll weiten und das kleine gebräunte Gesicht ganz fahl wird.

„Erschrick doch nicht so, Junge!“ sagt Alix freundlich und nickt ihm zu. „Es ist ja nichts Böses, daß du Erdbeeren im Wald gesammelt hast, und zur Schule kommst du doch noch zeitig genug; es ist noch früh! Kennst du mich? Weißt du, wer ich bin?“

Es brauchte Zeit, bis er die Frage verstand. Endlich nickte er.

„Nun? Wie heiß’ ich denn?“

„Die gnä’ – die gnä’ Baroneß vom – vom Schloß!“

„Nun also! Ist das etwas so Schreckliches? Bist du nicht auch bei meinem Kinderfest dabei gewesen?“

Ein heftiges Nicken, aber immer noch dieser verstörte Blick.

„Wie heißest du?“

„Paul – Paul Semmling!“

„Aha!“ Alix weiß nun, warum ihr just dieser Junge so bekannt erscheint. Das ist derselbe Schlingel, den damals Raimund Hagedorn dicht vor seinem Zweirad vom Weg aufgehoben und so derb am Kragen zurechtgeschüttelt hat! Mit einem ganz neuen Interesse sieht das junge Mädchen in das verzagte, braune Kindergesicht. „Ich thu’ dir wirklich nichts, Junge!“ redet sie ihm zu. „Heb’ dein Körbchen auf und lauf’, wenn du willst. Hast du vielleicht Angst vor meinem Pferd oder vor dem Hund? Du schüttelst den Kopf. Ja, vor wem in aller Welt fürchtest du dich sonst so sehr? Doch nicht vor mir?“

„N – – nein!“ ermannt sich Paul Semmling endlich, hervorzustottern. „Vor Baroneß fürcht’ ich mich gar nich!“

„Schön! Sehr lobenswert! Aber du siehst ganz erschrocken aus, ich sehe es ja! Was hat denn das zu bedeuten?“

Der Junge schaut aus seinen runden, weitoffenen Augen wiederum hilflos zu ihr auf, ehe er antwortet.

„Da – dort – haben zwei auf sich geschossen!“ sagt er endlich. „Und das hab’ ich gesehen!“

Was hast du gesehen?“ ruft Alix so heftig, daß „Primrose“ unruhig wird und „Rebell“ zu knurren beginnt.

„Zwei – zwei – von unsern Herren – hier – hier im Wald – und noch ’n paar andere waren ’bei. Und die schossen auf sich – mit – mit zwei solche Pistolen, und das hab’ ich gesehen und hab’ es gehört, wie ich – wie ich Erdbeeren holen ging aus ’m Schlag, wo die Kesseltannen sind.“

Alix zügelt ihr Pferd mit ungeduldiger Hand und ruft „Rebell“ ein herrisches „Ruhig!“ zu, dann sagt sie mit stockender Stimme: „Weißt du, Junge, wer die Herren gewesen sind, die da – die mit Pistolen geschossen haben? Kennst du sie bei Namen?“

„Ja!“ sagt Paul Semmling ohne Zögern. „Kennen thu’ ich sie alle beide. Und der eine von ihnen, wie zum zweitenmal würd’ geschossen – der eine von ihnen, der fiel um!“

„Und wer war das?“ fragt Alix mit Anstrengung.

„Das ist der Herr Hagedorn gewesen, wo früher bei der Schneidemühl’ war und ist jetzt bei der Oelmühl’ – und ich kenn’ ihn – und er hat mir manchmal was gegeben. Und der fiel um – aber der andere blieb ganz steif stehen!“

„Wer – wer war der andere?“

„Der Herr Oberingenienr Harnack.“

Eine Pause. Durch die Zweige der Buchen und Ahornbäume rieselt das Sonnengold, kein Wind bebt in den Zweigen: es ist, als hielte der schöne grüne Wald in Schrecken den Atem an. In die tiefe Stille hinein tönt plötzlich der Ruf des Kuckucks, ganz nahe und so dringend, wie wenn er warnen wollte.

„Ist es weit von hier?“ fragt Alix tonlos.

Der Junge zeigt mit der Hand rückwärts in den Wald hinein, als ob damit alles gesagt sei.

„Ob es weit von hier entfernt ist, will ich wissen!“

„Wo die Kesseltannen sind.“

Sie zieht zornig die Brauen zusammen und schwingt sich gewandt vom Sattel. Die Schimmelstute am Zügel haltend, späht sie angestrengt den Weg zurück, den sie gekommen ist. Es schimmert etwas zwischen den Bäumen in ziemlicher Entfernung.

„Tommy!“ ruft sie laut in den Wald hinein.

„Gnädige Baroneß!“ klingt es schwach zurück.

„Hierher!“

Das Etwas zwischen den Tannen und Buchen dort hinten bewegt sich, wird deutlicher, kommt näher. Mit der Gewandtheit einer Schlange windet sich der Groom, der den Lichtbraunen meisterlich lenkt, durch das Dickicht vorwärts. Jetzt ist er gleich heran.

„Absitzen, Tommy, und ,Primrose‘ und Ihr Pferd langsam mir nachführen – immer so, daß Sie mich sehen können …. und warten, bis ich rufe!“

„Zu Befehl, gnä’ Baroneß!“

„Komm’ jetzt, Junge!“

Paul Semmling in seinem primitiven Anzug, mit den nackten Füßen, gleitet aalglatt voran – Alix rafft mit der einen Hand ihr Reitkleid, das fortwährend vom Gestrüpp festgehalten wird, und hält mit der andern den Hund, der ungeduldig vorwärtsstürzen will, am Halsband. Sie setzt zum Reden an – wagt es noch nicht – findet die Worte nicht – zuletzt doch:

„War denn kein Arzt zur Stelle?“

[736] „Ja!“ nickt Paul Semmling wichtig. „Unser Doktor war da!“

„Doktor Petri? Und was – was that er?“

„Er kniete sich bei ’n Herrn Hagedorn auf die Erde, und dann riß er ’m den Schlips auf und oben die West’ und das Hemd – und dann hat er ’n behorcht, ob er noch Leben hat!“

„Und – und – fand er noch Leben?“

„Weiß nich! Der Herr Hagedorn lag man so da, ganz für tot, und regt und rippt sich auch kein bißchen. Und die Augen waren ihm ganz zu.“

Alix fragt nichts weiter. Sie stößt ungeduldig die herabhängenden Zweige beiseite und zerrt den Hund am Halsband zurück, aber das geschieht ganz mechanisch. Sie ist kaum fünf Minuten gegangen, und doch ist es ihr, als ginge sie schon stundenlang durch den Wald, Raimund Hagedorn zu suchen, der im Duell gefallen ist, und als wüßte sie es schon seit Tagen, daß er einen Zweikampf gehabt mit Ingenieur Harnack.

Vor ihnen liegt eine ziemlich steile Anhöhe, von dunklem, dichtem Tannenbestand umsäumt. Der Junge klimmt wie eine Gemse da hinauf. Alix ist es einmal, als höre sie Stimmengemurmel.

„Ist es hier?“

„Ja. Das sind ja doch die Kesseltannen!“

Wenn man sich in die Höhe gearbeitet hat, steht man in Wahrheit vor einem regelrecht gebildeten Kessel, den rund herum hohe und meist schön gewachsene Tannen umziehen. Den Boden dieses sogenannten Kessels bildet eine hübsche blumige Waldwiese; das Gras wächst üppig darauf und ist reich mit Blumen durchwirkt.

Zwei Männergestalten sind von oben in dem „Kessel“ zu erblicken. Die eine liegt auf den Knieen und hantiert am Boden, die zweite steht in gebückter Haltung daneben.

Alix wird es schwindlig, ihr ist, als drehten sich die Kesseltannen in einem wilden Reigen um sie her, als käme die Waldwiese ihr entgegen. Sie beißt die Zähne zusammen und steigt mit wankenden Knieen den Abhang hinunter.

Natürlich bemerken die beiden Herren, die ihr den Rücken wenden, ihr Nahen auf dem weichen Waldboden nicht. Auch dann nicht, als sie dicht neben dem Knieenden steht und auf die regungslose Gestalt, die er in den Armen hält, heruntersieht.

„Doktor Petri!“ sagt Alix’ Stimme, die seltsam verändert klingt, leise.

Der Kopf des Arztes fährt überrascht herum – seine Hände lassen den hilflosen Mann nicht los.

„Baroneß – Hofmann! Wie kommen Sie denn hierher?“

Alix winkt nur mit der Hand ab, zum Zeichen, daß dies ja ganz gleichgültig sei. Sie beachtet es auch nicht, daß der gebückt stehende Herr sich hastig emporrichtet und sie ehrerbietig grüßt.

„Ist Gefahr da? Lebensgefahr?“

„Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen,“ antwortet Doktor Petri. „Ich habe mich damit begnügen müssen, die Wunde möglichst sorgsam zu verbinden, ich kann hier den Sitz der Kugel nicht feststellen und sie nicht ohne die nötigen Hilfsmittel und Vorkehrungen entfernen. Eine leichte Wunde ist es wohl keinesfalls – er hat eine tiefe Ohnmacht. Herr Amelung, Herrn Harnacks Sekundant, ist zum Wagen gegangen, Polster und Decken, sowie ein paar Stangen zu holen, damit wir ihn bequemer tragen können. Er muß bald zurück sein. Unterdessen habe ich unserm Verwundeten den Verband angelegt, und Herr Lieboldt, der ihm als Sekundant diente, hat mich dabei unterstützt!“

Der junge Techniker verneigte sich abermals tief vor Alix und erhielt ein zerstreutes Kopfnicken zum Dank.

„Und wo ist sein –“ sie hatte sagen wollen „sein Mörder“, unterdrückte das Wort aber noch rechtzeitig, „wo ist der – andere?“

Doktor Petri hob ein wenig die Schultern. „Natürlich fortgegangen. Dieser Anblick mußte ihm doch recht peinlich sein!“

Alix sah, ohne zu antworten, auf das sonst so lebensvolle, bewegliche Gesicht nieder. Wie aus Marmor gemeißelt war es anzusehen, die edlen, feinen Linien zeichneten sich scharf ab, das lockige Haar lag wirr über die Stirn gebreitet.

Alix fühlte die aufquellenden Thränen kommen und wandte sich hastig ab.

„Baroneß sollten lieber nicht hier bleiben und dies mit ansehen,“ sagte Doktor Petri mitleidig. „Zu helfen giebt es vorläufig nichts –“

Das junge Mädchen schüttelte nur den Kopf; sprechen konnte es nicht. Der Ruf des Kuckucks klang abermals durch die Waldesstille. Sollte er Antwort geben, wenn man ihn fragte, wie lange der wunde Mann, der hier am Boden lag, noch zu leben hätte? – „Mein Groom ist hier in der Nähe mit den Pferden!“ brachte sie endlich mühsam hervor. „Ich hatte einen Frühritt durch den Wald unternommen. Wenn er sich irgendwie nützlich machen kann –“

„Gewiß! Er kann uns helfen, den Patienten zu tragen. Je mehr Hände dabei zufassen, um so mehr wird der Transport erleichtert.“

„Lauf’ hin, Junge, und hol’ den Reitknecht hierher!“ gebot Alix dem dicht hinter ihr stehenden Paul Semmling, der mit weitgeöffneten Augen die seltsamen Vorgänge verfolgte. „Du weißt, wo er steht. Er soll hierherkommen, so rasch er kann!“

Der Arzt blickte dem lautlos davonhuschenden Barfüßler mißbilligend nach.

„Wir haben ungewöhnlich viel Publikum!“ sagte er halblaut. „Die Geschichte wird in der Kolonie herum sein, ehe zwei Stunden vergehen. Na, schließlich ist es einerlei. Ein Geheimnis kann solch’ ein Duell niemals bleiben!“

Sie kamen fast gleichzeitig von verschiedenen Seiten an – Ingenieur Amelung mit seiner Last und der Groom. Doktor Petri traf sofort geschäftig seine Anordnungen. Die Stangen wurden zusammengebunden und große Tannenzweige von den zunächststehenden Bäumen darübergelegt. Sie legten alle mit Hand an, die drei Herren und Tommy, als sie den Bewußtlosen vorsichtig auf die improvisierte Tragbahre hoben und mit Kissen aus dem Wagen stützten.

Langsam setzte sich der kleine traurige Zug in Bewegung. Alix führte die beiden Pferde am Zügel nach. „Rebell“, der mit leisen Klagelauten die Tragbahre umkreiste, legte sich von Zeit zu Zeit platt auf den Boden und stieß ein langgezogenes Winseln aus.

Einmal hatte Alix Doktor Petri leise gefragt: „Wohin wollen Sie ihn bringen?“ und auf seine Antwort „Nach dem Josephsthaler Krankenhause“ hatte sie rasch und noch leiser, so daß nur der Arzt es verstand, erwidert: „Ich wünsche, daß er nach dem Schloß gebracht wird!“ Doktor Petri hatte nichts darauf gesagt, nur von der Seite einen Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens geworfen. Da war dies Gesicht plötzlich tief errötet. –

Durch Sonnenschein und Waldesduft trugen sie ihn, der beides so sehr geliebt. Die kleinen Vögel flatterten immer mit, als wollten sie ihm das Geleit geben, und als sie an der Grenze des Waldes angelangt waren, wo der Wagen sie erwartete, hörten sie immer noch den Ruf des Kuckucks zu sich herübertönen.

(Schluß folgt.)


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Nervenheilstätten für Unbemittelte.

Von Dr. P. J. Möbius.

Es sind recht viele Leute krank. Die einen Krankheiten kommen und gehen wieder, die andern dauern lange, enden unter Umständen erst mit dem Leben. Unter den letzteren, den sogenannten chronischen Krankheiten, gehören zu den wichtigsten die Tuberkulose einerseits und die Nervenkrankheiten im weitesten Sinne des Wortes anderseits. Beide machen im allgemeinen die Menschen arbeitsunfähig, beide werden vererbt, aber jene tötet, diese töten in der Regel nicht. Darum erscheint die Tuberkulose schrecklicher und man erstrebt mit besonderem Eifer ihre Bekämpfung, gründet für Tuberkulose zahlreiche Heilanstalten.

Für die Nervenkranken hat man bisher recht stiefmütterlich gesorgt. Zwar einem Teile von ihnen, den sogenannten Geisteskranken, gegenüber gilt das nicht; sie sind sogar diejenigen Kranken, für die in unserm Jahrhundert am meisten gethan worden ist: viele vortreffliche Heilanstalten sind ihnen gewidmet und es ist dafür gesorgt, daß auch der Aermste auf allgemeine Kosten so

[737]

Ein Kleeblatt.
Nach dem Gemälde von K. Weigand.

[738] gut behandelt wird wie der Reichste. Das hat nicht gerade die Liebe gethan, vielmehr die Not, denn die Geisteskranken sind eben in der Gesellschaft unerträglich, sie müssen versorgt werden. Ist man aber in Bezug auf sein Nervensystem nicht mehr gesund, jedoch nicht so krank, daß man zu den Geisteskranken gehört, so ist man recht übel dran, wenn man nicht viel Geld hat. Man kann und soll nicht in die Irrenheilanstalt, denn man wird nicht aufgenommen, den Nervenkranken im gewöhnlichen Sinne des Wortes würde ja in der Umgebung von Irren nicht besser, sondern schlimmer werden. In die allgemeinen Krankenhäuser passen die Nervenkranken auch ganz und gar nicht, hier finden sie nicht das, was sie brauchen, ja nicht wenige von ihnen werden durch den Anblick der Schwerkranken und die ganze geistige Atmosphäre des Hauses geschädigt. Die Schlechtgestellten, d. h. die, die kein Vermögen haben und nichts mehr bekommen, wenn sie aufhören zu arbeiten, können sich auch nicht durch einen einfachen Aufenthalt auf dem Lande erholen. Ja dieser ist meist auch den Minderbemittelten versagt, weil in der Regel Nervenkrankheiten eine lange Kurzeit erfordern, ein Sparpfennig aber rasch aufgebraucht, die Urlaubsmöglichkeit oft zu knapp bemessen ist. So kommt es, daß viele, die durchaus heilbar sind, nicht geheilt werden, daß viele sich lange Jahre quälen, denen wenigstens Erleichterung zu schaffen wäre, daß nicht wenige jämmerlich zu Grunde gehen durch Selbstmord, Trunk, Verlumpung. Daß der vorhandene Notstand im allgemeinen wenig beachtet wird, das liegt hauptsächlich daran, daß die meisten Nervenkranken nicht krank aussehen. Sie gehen herum, essen und trinken, haben oft ein gesundes Aussehen, und man glaubt danach nicht, wieviel Elend da ist. Doch leiden diese Kranken mehr als andere, weil in erster Linie ihr Gemüt krank ist, weil infolgedessen sie weder die Außenwelt, noch sich selbst in normaler Weise wahrnehmen, ihnen das Gewöhnliche und oft auch das andern Angenehme schmerzhaft wird und das wirklich Unangenehme übertrieben stark von ihnen empfunden Wird. Die Leute reden oft von „eingebildeten“ Schmerzen, aber ein gesunder Mensch bildet sich nichts Derartiges ein und die eingebildeten, d. h. ohne greifbare Gründe entstehenden Schmerzen thun grade so weh wie andere. Die Hauptsache aber ist die Unfähigkeit der Nervenkranken zur Arbeit. Teils liefern sie wenig oder schlechte Arbeit, teils sind sie ganz arbeitsunfähig. Wollte man oder könnte man zusammenrechnen, wieviel Arbeitstage durch nervöse Störungen ausfallen, so würde man über die Zahl erschrecken.

Nun liegt freilich die Sache nicht so, daß alle Nervenkranken der Behandlung in einer Anstalt oder doch außer dem Hause bedürftig wären. Viele können ruhig zu Hause bleiben und werden allmählich, mit oder ohne Behandlung, wieder gesund. Sehr oft aber ist gerade die Entfernung aus den gewöhnlichen Verhältnissen erwünscht oder nötig, da die Quellen der Krankheit sehr oft eben aus der Familie oder dem Berufe fließen. Es bleibt also auch nach Ausscheidung der zur häuslichen Behandlung geeigneten Patienten eine große Zahl übrig, die der Anstaltsbehandlung bedarf, sie aber unter den jetzigen Verhältnissen nicht findet.

Abhilfe ist nur dadurch zu erlangen, daß Anstalten für unbemittelte und minderbemittelte Nervenkranke, Nervenheilstätten errichtet werden. Diese Forderung ist schon wiederholt ausgesprochen, aber erst neuerdings ist einiges Leben in die Sache gekommen. Auch hier hängt, wie überall, alles am Gelde. Natürlich wäre es am schönsten, wenn Staat und Gemeinde für die Sache einträten. Aber, wie die Dinge jetzt liegen, ist das so bald nicht zu erwarten. Ich hoffe zwar bestimmt, daß später die gesellschaftlichen Gewalten die Sache in die Hand nehmen werden, aber sie werden voraussichtlich der privaten Thätigkeit erst nachfolgen, und vielleicht ist es ganz gut, daß die Möglichkeiten erst einmal in Freiheit ausprobiert werden können. Man dürfte vielleicht denken, die Nervenheilstätte könnte ein Aktienunternehmen sein. Aber das wird nicht gehen, da von einer Anstalt für Minderbemittelte selbst mäßige Zinsen nicht zu erwarten sind. Es scheint, daß in einer Heilanstalt die Kosten für Kopf und Tag etwa vier Mark betragen und daß es nicht gelingen will, diese Summe wesentlich herabzusetzen. Es giebt zwar zur Zeit einige Unternehmungen, die weniger verlangen, aber entweder handelt es sich dann um ausnahmsweise günstige Verhältnisse, oder es werden den Anstalten Zuschüsse gewährt. Sollten die Minderbemittelten vier Mark bezahlen, so würde die Anstalt keinen oder doch nur einen ganz geringen Gewinn abwerfen, und doch wäre der Preis für die meisten Patienten viel zu hoch. Wer kann denn, wenn es sich um eine mehrmonatige Kur handelt, täglich vier Mark bezahlen? Doch nur Leute, die sich nicht schlecht stehen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als daß die Privatwohlthätigkeit eingreift. Eben jetzt wird ein Aufruf veröffentlicht, in dem eine Anzahl Teilnehmender zu Beiträgen für eine Nervenheilstätte bei Berlin auffordert.[1] Es hat sich in Berlin so glücklich gefügt, daß einige große Stiftungen für diesen Zweck zusammengelegt werden konnten. Daher hat das Berliner Unternehmen recht günstige Aussichten für das Zustandekommen. Schwieriger wird die Sache an anderen Orten sein und doch muß es gewagt werden. Ist einmal die allgemeine Teilnahme gewonnen, so wird das Geld schon kommen, denn es giebt manche verborgene Schätze, die nur auf das richtige Zaubersprüchlein warten.


  1. Anmeldungen zum Beitritt für den Verein, der die Heilstatte ins Leben rufen will, nehmen an E. J. Meyer, Berlin W, Voßstraße 16, und Ludwig Berl, Berlin W, Jägerstraße 9. Mitglied wird, wer einen einmaligen Beitrag von mindestens 200 Mark oder einen jährlichen Beitrag von 6 Mark leistet. D. Red.     



Blätter und Blüten.

Gedenktafel für Kaiser Friedrich III an der Villa Zirio in San Remo. (Zu dem Bilde S. 739.) Wehmütige Erinnerungen knüpfen sich an die Villa Zirio in San Remo. Hier weilte in den Wintermonaten 1887/88, mit der tödlichen Krankheit ringend, der damalige Kronprinz des Deutschen Reiches Friedrich Wilhelm. Zur Erinnerung an die Leidenszeit des ruhmvollen Mitstreiters für die deutsche Einheit hat der Verband deutscher Kriegsveteranen an der Villa Zirio eine Gedenktafel anbringen lassen. Die Enthüllungsfeier fand am 18. Oktober statt. Die Tafel, die unser Bild wiedergiebt, ist ein Werk des Architekten Carl Bauer in Berlin; die tiefeinpfundene poetische Inschrift wurde von Ernst von Wildenbruch verfaßt. Sie lautet:

Wandrer, der du aus Deutschland
Herkommst, hemme den Schritt.
Hier der Ort, wo dein Kaiser
Friedrich lebte und litt.

Hörst du, wie Welle an Welle
Stöhnend zum Ufer drängt?
Das ist die sehnende Seele
Deutschlands, die sein gedenkt. *

Frauenhilfe für Frauen. Zahllos sind heutzutage schon die sozialen Hilfsleistungen der Frauenvereine, und ihr wirtschaftlicher Nutzen darf hoch angeschlagen werden. Wenn wir aus der großen Reihe heute ein Beispiel herausgreifen, so geschieht es, um zu zeigen, wie eigenartig einzelne unter ihnen sich ganz besonderen Bedürfnissen anpassen und welch vortrefflichen Erfolg sie ernten. Vor einiger Zeit wurde in Frankfurt a. M. der Verein für Hauspflege gegründet, der in Berlin, Hamburg und anderen Städten Nachahmung fand. Er greift dort ein, wo die Familienmutter, die bisher fleißige Verfolgerin ihres Hauses, in Krankheit oder Wochenbett daniederliegt. Es ist ja bekannt, in wie kurzer Zeit ein Arbeiterhaushalt durch solche Zeiten herunterkommt, wie gerade gewissenhafte Frauen ohne Rücksicht auf ihre Krankheit und Schwäche sich noch abmühen, das Mögliche an Arbeit zu verrichten, und darüber schließlich ganz zusammenbrechen. Hier ist also Hilfe dringend nötig, und die Vereinsleiterinnen, bekannt mit der Abneigung der Familienmutter, ins Krankenhaus zu gehen, haben die richtige Veranstaltung gefunden. Man stellte erst wenige, dann mehrere zuverlässige Frauen an, die nicht gerade mehr schwere Arbeit, aber doch die Pflege nebst der nötigen Zimmerarbeit leisten können. Sie sind nur tagüber beschäftigt und gehen abends nach Hause, erhalten vom Verein Tagelohn und Kostgeld, falls sie nicht das Essen der Familie teilen können, versehen den Haushalt und leisten jede nötige Hilfe. Die abgearbeitete kranke Familienmutter aber kann sich beruhigt dem Schlaf und der Ruhe hingeben, da sie Haus und Kinder versorgt weiß, sie wird schneller genesen und übernimmt später geordnete Verhältnisse, statt einer traurigen Zerrüttung. So wird mit einem verhältnismäßig geringen Kostenaufwand vielen Familien in schwerer Zeit geholfen!

„Gott will es!“ (Zu dem Bilde S. 712 und 713.) Peter von Amiens, genannt der Einsiedler, hatte sich von der Welt zurückgezogen und eine Wallfahrt [739] nach Palästina zum Grabe des Erlösers allein unternommen. Das Schicksal der dortigen Christen erfüllte ihn mit tiefem Mitleid und mit glühenden Rachegedanken gegenüber ihren Peinigern. Dem Papst Urban II überreichte er Bittschriften des Patriarchen von Jerusalem und schilderte selbst den Plan, die abendländische Christenheit zur Befreiung des heiligen Grabes aufzurufen. Als seinen Sendboten schickte er den Einsiedler voraus und dieser verkündete in Italien und Frankreich, in Kirchen, an Kreuzwegen und auf der Heerstraße den heiligen Krieg. Papst Urban schrieb 1095 ein Concilium in Piacenza aus und berief später eine Versammlung nach Clermont in der Auvergne, wo Peter der Einsiedler ebenfalls erschien. Priester und Laien wurden von Begeisterung ergriffen, baten um die Erlaubnis, dem heiligen Zuge sich anschließen zu dürfen, und hefteten sich ein rotes Kreuz auf die Schulter; doch die Rüstungen der Fürsten währten der Ungeduld des Volkes zu lange, und so machte sich Peter von Amiens selbst im Frühjahr 1096 mit einem Heere ohne regelmäßige Bewaffnung, ohne Geld, selbst ohne Reiterei, auf den Weg nach Palästina. Der voreilige Kreuzzug verwandelte sich in einen wahren Plünderungszug; ein großer Teil dieser naturwüchsigen Kreuzfahrer wurde in Ungarn und dann in Bulgarien von der erbitterten Bevölkerung niedergemacht; doch kam ein Teil des Zuges, von dem Griechenkaiser in Konstantinopel beschützt, noch bis Bithynien, wo die große Mehrzahl von den Seldschucken erschlagen wurde. – Unsere Abildung stellt eine vom hohen Klerus zusammenberufene Versammlung dar, in welcher der Bote des Papstes durch seine Beredsamkeit die Herzen entflammt. In seinem schlichten Pilgergewand, den Strick um den Leib, abgezehrt von den Beschwerden seiner Wanderung, verkündet er der Menge, daß Christus selbst ihn im Traume berufen hat, zum heiligen Krieg aufzufordern. Er ist aus einer Abtei herausgetreten, in welcher soeben Gottesdienst abgehalten wurde – hinter ihm erscheinen die Würdenträger der Kirche, auf deren ernsten Gesichtern die Bedeutung dieser neuen geschichtlichen Wendung sich deutlich widerspiegelt, während die Ritter und Barone kampfesfreudig in den Ruf „Gott will es!“ einstimmen. Vor diesen Gruppen, welche begeistert die Schwerter schwingen, erblicken wir zu Pferde in langem Mantel Walther von Habenichts, den ersten kreuzfahrenden Genossen Peters von Amiens, der bald mit gesonderter Heeresmacht, bald mit dem Einsiedler zusammen den Zug nach dem Heiligen Lande vollführte. Im Vordergrunde sind einige Gestalten aus dem Volke dargestellt, die erst allmählich von der zündenden Rede Peters von Amiens fortgerissen werden. †      

Gedenktafel für Kaiser Friedrich III an der Villa Zirio in San Remo.

Deutsche Post im Togolande. (Mit Abbildung.) In allen unseren Kolonien hat die Reichspostverwaltung es sich angelegen sein lassen, den betreffenden Gebieten den Anschluß an den Weltpost- und Telegraphenverkehr zu ermöglichen. In dem deutschen Schutzgebiete Togo an der Küste von Westafrika wird dieser Verkehr durch die in Lome und Kleinpopo befindlichen Post- und Telegraphenanstalten vermittelt, die je mit einem Fachbeamten deutscher Herkunft besetzt sind, dem das nötige farbige Personal zur Unterstützung beigegeben ist.

Außerdem sind die genannten Anstalten unter sich noch mit einer Fernsprechleitung verbunden und mit öffentlichen Fernsprechstellen versehen, denen seitens der Europäer, aber noch mehr seitens der Eingeborenen eine rege Benutzung zu teil wird. Für ein Gespräch in der Zeitdauer von fünf Minuten wird eine Gebühr in der Höhe von 1 Mark erhoben.

Unser Bild veranschaulicht das Innere der Kaiserlichen Postagentur in Lome. Im Hintergrund steht eine Negerin, ihr Kind nach dortiger Sitte auf dem Rücken tragend, am Fernsprecher, um mit ihren Verwandten in Kleinpopo zu sprechen. Der links von ihr stehende Neger ist der Telegraphist, der gerade seinem englischen Kollegen in Kwitta ein Telegramm übermittelt, während im Vordergrunde der Vorsteher der Postagentur im Schweiße seines Angesichts seinen Pflichten obliegt. Rechts, ebenfalls im Vordergrunde, steht ein farbiger Telegraphenbote, der soeben von einem Telegrammbestellgang zurückkehrt. An dem Schrank sehen wir noch einen farbigen Unterbeamten, den Telegraphenleitungsaufseher, der die etwa auftretenden Leitungsstörungen zu beseitigen hat und außerdem im Telegramm- und Briefbestellungsdienst Verwendung findet. Dieses Momentbild aus der Thätigkeit der deutschen Post in Afrika kennzeichnet beredt die erfreulichen Fortschritte der Kultur in unseren Kolonien.

In der Postagentur zu Lome im Togoland.

Huzulin. (Zu dem Bilde S. 717.) Die nordöstlichen Abhänge der Karpathen werden von den Huzulen bewohnt. Sie gehören dem ruthenischen Volksstamm an und betreiben vor allem Viehzucht. Da in jenem Landstrich die Gebirgswege für Fuhrwerke meistens unpassierbar sind, werden zum Warentransport mit Vorliebe Lastpferde verwandt. Die kleinen aber kräftigen Huzulenpferde eignen sich für Gebirgstouren ausgezeichnet und werden auf den beschwerlichen Saumpfaden sowohl von Frauen wie von Männern auch als Reittiere benutzt. Unser Bild zeigt uns einen huzulischen Warentransport. In der Ferne schreiten, von einer Frau getrieben, zwei mit Landprodukten schwerbeladene Pferde. Am Schlusse des Zuges reitet ein Mann auf einem Schimmel. Die Hauptfigur in dem Vordergrunde ist eine junge Huzulin in der Nationaltracht. Sie füllt die stundenlange Reisezeit bis zum nächsten Marktflecken nützlich aus, indem sie, auf dem ruhig und sicher vorwärts schreitenden Pferde reitend, sich mit Spinnen beschäftigt. *      

Bethlehem. (Zu dem Bilde S. 725.) Die Reise des Deutschen Kaisers nach Palästina lenkt die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise auf die heiligen Stätten. Von Jerusalem aus wird Kaiser Wilhelm II auch Bethlehem besuchen. Auf hügeligen Anhöhen liegt diese alte berühmte Stadt, in welcher Christus geboren wurde. Wie eine Burg erhebt sich in ihrem Osten eine weite Klosteranlage, deren Bauten von einer mächtigen in Kreuzform errichteten Basilika überragt werden. Von der Kirche aus führen mehrere Treppen zu einer Grotte hinab. In einer ihrer Nischen bezeichnet ein silberner Stern auf dem Boden die Geburtsstätte des Heilandes. Marmor, Teppiche und Gemälde schmücken die Krypta, die durch den Schein goldener und silberner Lampen erhellt wird. Seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts pilgerten Christen in dankbarer Verehrung nach Bethlehem, und [740] schon zur Zeit des ersten Christenkaisers Konstantin wurde die Grotte mit der schönen, noch heute ziemlich gut erhaltenen Kirche überbaut.

Dem Wanderer, der durch den fruchtbaren Grund Rephaim von Jerusalem nach Bethlehem zieht, bietet das Städtchen einen lieblichen Anblick. Bethlehem zählt heute gegen 5000 Einwohner, die fast ausschließlich Christen sind. In strebsamem Fleiße haben sie die terrassenförmigen Abhänge des Kalkgebirges durch Anlagen von Baumpflanzungen und Ackerfeldern fruchtbar gemacht, so daß die Stadt von einem Kranze grüner Gärten umgeben ist. Auch Weinbau und Viehzucht werden hier betrieben, und in hoher Blüte stand seit langer Zeit in dieser Gegend die Bienenwirtschaft. Das Wachs fand einen guten Absatz, denn die zahllosen Pilger, welche die heiligen Stätten besuchten, verwandten viel Kerzen als Opferspenden. Die Wallfahrten riefen in Bethlehem auch ein Kunstgewerbe ins Leben: die Bewohner schnitzen aus Holz, aus Früchten der Dumpalme und Muscheln allerlei Gegenstände, die mit Ansichten aus Palästina oder Darstellungen aus der biblischen Geschichte geschmückt sind. Derartige Andenken werden gern von jedem Besucher der Geburtsstätte Christi mitgenommen, und im Süden sind mit solchen Darstellungen gravierte Muscheln, die an der linken Schulter getragen werden, Kennzeichen der Pilger von den heiligen Stätten. *     

Die Enthüllung des Storm-Denkmals in Husum. (Mit Abbildung.) An die Erinnerungsfeste, die in diesem Jahr Schleswig-Holstein im Gedenken an die nationale Volkserhebung des Jahres 1848 begehen durfte, hat sich am 14. September ein solches zu Ehren des Dichters gereiht, dessen Schicksal aufs innigste mit jener Bewegung verknüpft war und dessen unvergänglich schöne Dichtung aus ihren Kämpfen erblüht ist. Die Enthüllung des Denkmals von Theodor Storm, die am 81. Geburtstag des vor 11 Jahren entschlafenen Dichters in Husum, seiner Vaterstadt, vollzogen wurde, war ein Fest, an welchem alle Schleswig-Holsteiner im Herzen freudig teilnahmen: hat doch niemand die Poesie ihrer meerumrauschten Heimat in Landschaft und Volkstum, in Geschichte und Sitte so greifbar und ergreifend, so lebenswahr und stimmungsvoll zu gestalten gewußt wie Theodor Storm. Diese poetische Kraft erwuchs seiner Heimatliebe aber im Exil. In den Jahren, welche er fern von Schleswig, in Preußen, verbrachte, wohin er nach dem völligen Sieg der Dänen ausgewandert war, in der Zeit von 1853 bis 1864, während welcher er in Potsdam und Heiligenstadt als Kreisrichter wirkte, entstanden die ersten jener Novellen, welche den stillen Zauber der norddeutschen Heide, den altertümlichen Reiz seiner Vaterstadt, die Gewalt und Pracht des heimischen Meers, das tiefe Gemütsleben seiner friesischen Stammesgenossen ganz unmittelbar in ihrer Eigenart schildern. Das Heimweh nach den Stätten seiner Jugend führte ihm damals beim Schaffen die Feder, doch beseelte ihn zugleich der trotzige Glaube, daß einem Lande von so deutscher Vergangenheit auch eine deutsche Zukunft noch erblühen werde. Und als der Traum seiner Sehnsucht erfüllt war, als Schleswig-Holstein in den „Ring des großen Reiches“ zurückgekehrt war, da befand er sich unter den ersten, die freudig der befreiten Heimat zueilten. In der geliebten Vaterstadt, der „grauen Stadt am Meer“ seines Lieds, ward er zum Landvogt ernannt. Aus frischer Anschauung schöpfte er jetzt das kräftige Lokalkolorit für die novellistischen Meisterwerke seiner späteren Zeit, deren Motive er meist alten Stadt- und Schloßchroniken Schleswig-Holsteins und der Sagenwelt des deutschen Nordseestrandes entnahm.

Das Theodor Storm-Denkmal in Husum.
Nach einer Photographie von John Thiele in Hamburg.

Seitdem ist Theodor Storm von der ganzen Nation in seiner hohen Bedeutung erkannt und anerkannt worden und die Beiträge für die Errichtung seines Denkmals kamen aus allen Gegenden Deutschlands. Am Tage der Einweihung prangten die Straßen Husums mit ihren ehrwürdigen Giebelhäusern in Flaggenschmuck. Die Enthüllung erfolgte in Anwesenheit des Herzogs Ernst Günther von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, des Oberpräsidenten v. Köller, des Landtagsmarschalls und anderer Ehrengäste. Ein geborener Husumer, Professor Tönnies in Hamburg, hielt mit warmer Begeisterung die Festrede vor dem Denkmal, das einen schönen Platz im Schloßpark gefunden hat. Bürgermeister Menge übernahm es mit Worten voll Weihe. Der Theodor Storm-Gesangverein leitete die Feier mit Gesängen ein und gab ihr mit dem Vortrag von Storms Lied auf die Vaterstadt einen beziehungsreichen Abschluß. Das Denkmal selbst, eine Bronzebüste auf Marmorsockel, entspricht in seiner prunklosen Einfachheit dem Wesen des Dichters. Professor Brütt, auch ein Husumer, ist der Schöpfer desselben. Die Büste giebt den energischen Charakterkopf mit lebensvollem Ausdruck wieder; im Knopfloch trägt der Dichter einen Erikazweig, wie er es gern im Leben that; die schlichte Blüte, welche der norddeutschen Heide ihr Farbengewand giebt, war Theodor Storms Lieblingsblume.

Pommersche Fischer in Göhren. (Zu dem Bilde S. 733.) Göhren, auf der Insel Rügen, der Schauplatz unseres Bildes, ist seit langem schon eines der beliebtesten Seebäder. Aber obwohl die Fremden schönes Geld ins Land bringen, haben die Strandbewohner ihren ursprünglichen Beruf noch nicht aufgegeben. Hochsee- und Küstenfischerei werden gleicherweise mit glücklichem Erfolge betrieben. Gefangen werden Aale, Hechte, Barsche, Dorsche, Sprotten, Plattfische aller Art u. a. m., vor allem aber Heringe. Die geräucherten Flundern und Spickaale von der pommerschen Küste sind berühmt, ebenso die Stettiner und Stralsunder Heringe. Die verhältnismäßig kleinen Segelboote auf unserem Bilde zeigen, daß die Männer von einem Fang in der Nähe der Küste zurückgekehrt sind; die Schiffe sind auf den Strand gezogen, die Segel sind noch ausgespannt, damit sie in der Sonne trocknen; zum Trocknen sind auch die Netze über die auf Stangen ruhenden Querhölzer gelegt. Augenscheinlich ist man soeben beschäftigt, den Fang – es dürfte sich um Heringe handeln – zu sortieren. Was geeignet erscheint, wird eingesalzen und in Fässer gepackt, um so weiter verfrachtet zu werden.

Ein Kleeblatt. (Zu dem Bilde S. 737.) Fidel geht es zu in diesem anspruchslosen Kellerstübel, das muß man sagen! Die zwei Musikanten gehören zu den lustigen Brüdern, die nicht nur ums Geld ihre Kunst üben, sondern selbst ihre Freude daran haben und einen guten Trunk gern mit fröhlichem Schall begleiten. Kommt dann noch ein junger Springinsfeld als Zechkumpan dazu, der von schönen Abenteuern zu berichten weiß, so ist ein Kleeblatt fertig, das nicht sobald wieder aus dieser kühlen Trinkstube weichen wird. Es mutet’s ihnen auch niemand zu, im Gegenteil: die hübsche Kellnerin im weißen Kopftuch kommt, von dem fröhlichen Spektakel angezogen, und bringt einen Krug vom Guten mit. Ein schallendes „Hoch“ lohnt ihr solche Mildherzigkeit, und wenn sie etwa Lust haben sollte, sich auf dem freien Schemel für ein Weilchen niederzulassen als viertes Blatt, das Glück bringt – die anderen drei werden sicherlich nichts dagegen haben! Bn.     

„Aus Fritz Reuters jungen und alten Tagen“. Karl Theodor Gaedertz in Berlin, der Verfasser verschiedener Schriften über Fritz Reuter, die von Verständnis und Liebe für den Dichter zeugen, ist im Begriff, einen dritten Band seines biographischen Sammelwerks „Aus Fritz Reuters jungen und alten Tagen“ zu schreiben. Er bittet im Interesse der Vollständigkeit seines Werkes alle diejenigen, welche bisher ungedruckte Briefe, Gedichte oder sonst Handschriftliches von Fritz Reuter und seinem Freundeskreise besitzen, desgleichen Bilder und Zeichnungen von ihm und persönliche Erinnerungen an ihn bewahren, solche Reliquien ihm zur Benutzung leihweise anvertrauen zu wollen. Entsprechende Sendungen wären an Herrn Professor Dr. K. Th. Gaedertz, Königlichen Bibliothekar, in Berlin, S. W. Belleallianceplatz 14, I, zu richten. Die eben erschienene Denkschrift „Fürst Bismarck und Fritz Reuter“ von Gaedertz (Verlag von Hinstorff in Wismar) ist ein ansprechender Beweis für die besondere Begabung des Verfassers, derartige Denkwürdigkeiten in historischem Zusammenhang darzustellen.


Kleiner Briefkasten.

Fräulein K. L. in Hamburg. Die Adressen der genannten Schriftstellerinnen finden Sie sämtlich in dem „Lexikon deutscher Frauen der Feder“ von Sophie Pataky (Verlag von Carl Pataky in Berlin) verzeichnet. Das zweibändige Nachschlagewerk enthält eine Zusammenstellung aller seit dem Jahre 1840 in deutscher Sprache erschienenen Werke weiblicher Autoren nebst den Biographien der letzteren, soweit sie noch am Leben sind.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart.0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Allerlei Winke für Jung und Alt.

Zeitungstasche mit Gobelinmalerei.

Gobelinmalerei. Wer es einmal versucht hat, den jetzt so beliebten Wandschmuck – gemalte Gobelins – selbst herzustellen, wird bemerkt haben, welche große Schwierigkeiten es macht. Die Farbe will durchaus nicht auf dem Stoff haften, und besonders mißglückt es stets, auf dem rauhen Untergrunde saubere Konturen zu erlangen. Es giebt jedoch ein einfaches Mittel, den Stoff so zu präparieren, daß man darauf ebenso leicht wie auf Papier malen kann.

Man kocht etwas Weizenstärke, so daß eine ziemlich dünne und vor allen Dingen ganz klare Flüssigkeit entsteht. Um letzteres zu erlangen, empfiehlt es sich, die Flüssigkeit durch ein sauberes Tuch zu gießen. Nachdem die aufgelöste Stärke abgekühlt ist, wird sie mit einem sehr breiten Borstenpinsel auf den vorher zum Malen aufgespannten Gobelinstoff gestrichen. Durch dieses Verfahren kleben die kleinen Härchen, welche die Arbeit so erschwerten, fest, und die nun glatte Oberfläche eignet sich vorzüglich zum Aufnehmen der Farben. Sollte einmaliges Ueberstreichen noch nicht die gewünschte Wirkung haben, so kann es wiederholt werden, sobald der Stoff trocken geworden ist. Doch empfiehlt es sich nicht, die Masse gleich anfangs zu dick zu nehmen, weil dadurch das Aussehen des Stoffes leiden könnte. Verwendbar sind Aquarell- und mit Terpentin verdünnte Oelfarben.

Unsere Abbildung zeigt eine Zeitungstasche aus einem Streifen von Gobelinstoff, der in obiger Weise zu behandeln ist. Am besten ist es, wenn man nach einem echten Gobelin arbeiten kann, doch läßt sich auch manches gute moderne Stoffmuster als Anhalt benutzen. Der Stoff ist an einem Holzstab durch eine Seidenschnur befestigt, die auch den Rand einfaßt und den Henkel bildet.

Nadelkissen.

Nadelkissen. Ein dreieckiges kleines Kissen, mit einem Fleckchen Seidendamast oder einem bestickten Stoff überzogen, gewinnt ein überaus zierliches Aussehen durch Garnierung mit den ganz schmalen, krausen Gazerüschen, die jetzt so viel znm Ausputz von duftigen Blusen und Krawatten verwendet werden. Ist das Kissen rötlich gemustert, so setzt man vielleicht nach innen eine creme oder blaßgrüne Rüsche, und ganz dicht daran eine rote etc. Auch schwarze Rüschen zu gelber Seide sehen apart aus. Zwei Bandschleifen auf die Ecken, oder auch drei – oder ein Band zum Aufhängen des Kissens gehören dazu.

Kleiderbordüre in Kreuzstichstickerei.

Kleiderbordüre in Kreuzstichstickerei. Sehr zierlich wirkt auf Kleidern aus waschbaren Stoffen eine kleine selbstgefertigte Stickerei, mit welcher das Unterteil des Rockes, sowie Brust und Aermel der Bluse besetzt werden. Man schneidet vom Stoffe des Kleides 8 cm breite Streifen, deren Zahl und Länge sich natürlich nach der Art des beabsichtigten Ausputzes richtet, heftet gleich große Streifen Stramin darauf und stickt über diese mit Garn oder Waschseide ein hübsches Muster. Das vorliegende Kleeblattmuster, im Original weiß auf hellblauem Leinen ausgeführt, macht sich sehr gut und ist nicht schwierig; andere ähnliche Muster sind in Modenzeitungen und Stickereigeschäften zahlreich zu finden. Nach vollendeter Arbeit zupft man den Stramin, den man nicht mit feststechen darf, aus, so daß das Muster nun direkt auf dem Stoffe haftet. H. R.     

Kopftuch.

Kopftuch oder Echarpe. Vor einigen Jahren waren Kopftücher aus Cigarrenbändern neu und beliebt, dann wurden sie durch Wolltücher mit eingewebten Seidenstreifen abgelöst, jetzt verfällt eine praktische junge Dame auf den Gedanken, beides zu vereinigen. Das Tuch wird je nach Bedarf etwas über 1 m lang und etwa 40 cm breit und besteht aus 7 cm breiten Streifen von maisgelbem Wollenkrepp oder „Virginie“, abwechselnd mit Streifen von gelber Seide, welche aus je drei Cigarrenbändchen zusammengenäht sind. An beiden Enden ist der letzte Wollenstreifen schmäler, und in diesen schlingt man gelbliche Wollfransen, die man mit goldgelber Seide knüpft. Beide Farben wirken sehr fein zusammen; die Bändchen werden etwas kraus beim Nähen, was sich aber ganz gut macht.

Halter für abzusendende Briefe. In einem größeren Haushalt, wo täglich mehrere Briefe abgesandt werden, ist es sehr zweckmäßig, für diese an bestimmter Stelle einen Halter zu befestigen, welcher die fertigen Briefe aufnimmt und dessen Inhalt jeder Angehörige, wenn er Besorgungen macht, leert und zur Post befördert. Man vermeidet durch diese Einrichtung das Verlegen oder gar das gänzliche Vergessen der Beförderung der geschriebenen Briefe. Einfach und originell, dabei sehr hübsch läßt sich ein großer, recht tiefer Holzrührlöffel zu einem solchen Briefhalter gestalten. Die Höhlung des Löffels wird mit einer beliebigen passenden Brandmalerei versehen und dann die Oeffnung kreuzweise mit etwa 21/2 cm breitem dunkelroten Atlasband bespannt, wobei man das Band auf der Rückseite des Löffels mit kleinen Reißzwecken gut befestigt. Auch der Stiel des Löffels wird mit kleinem Rankenmuster gebrannt, dann mit Band mehreremal umwunden und oben davon eine volle Schleife genäht, an der man den Briefhalter aufhängt. Das kreuzweis vor der Löffelhöhlung gespannte Seidenband vermag eine ziemliche Anzahl fertiger Briefe aufzunehmen.

Winke für Brandmaler. Wenn der Brennstift trotz kräftigen Tretens oder Drückens (Fuß- oder Handbetrieb) nicht mehr recht glühen will und leicht erkaltet, und doch nirgends an ihm ein Fehler zu entdecken ist, so trägt ihn der Besitzer oft zum Mechaniker zum Reparieren, erfährt dort, daß ihm gar nichts fehlt, probiert ihn daheim wieder – und der Stift erglüht so wenig wie vorher. Der Grund liegt dann oft an den Schläuchen, auch wenn kein Riß darin sichtbar oder durch Luftausströmen fühlbar ist; der ganze Schlauch wird im Laufe der Zeit etwas durchlässig, so daß nicht genug Luft in die Benzinflasche gelangt. Einreiben mit Glycerin soll dagegen schützen, aber am sichersten ist’s, alle paar Jahre die Schläuche zu erneuern und überhaupt nur beste Qualität zu nehmen. Um den Fehler an einem Apparat, der nicht mehr „geht“, zu finden, leihe man sich einen zweiten Apparat und ersetze nun Stück für Stück die Teile des eigenen mit denen des fremden, so muß der schwache Punkt sich zeigen.


Hauswirtschaftliches.


Neuer Petroleumkocher.

Neuer Petroleumkocher. Die Firma Graetz in Berlin stellt einen Petroleumkocher her, an dem die Neuerung darin bestellt, daß über der Flamme eine Art Herdplatte liegt, mit Löchern und Ringen versehen, welche Raum genug für mehrere Töpfe hat, während unten, dicht neben der starken Flamme, noch Teller gewärmt und Speisen warm gehalten werden können. Geheizt wird mit gewöhnlichem Petroleum, und zwar nicht durch die direkte Flamme, sondern durch das sich entwickelnde Petroleumgas. Sinnreiche und doch einfache Vorrichtungen dienen zum Regulieren und Sichern des Apparats, der in kleinen Haushaltungen etc. vorzügliche Dienste thut. Die Platte ist 48 cm lang, das Gestell mit der Platte 40 cm hoch; es läßt sich vom Brenner abnehmen.1

Zwischengericht aus Bratenresten. Bei unerwartetem Besuch geben übrig gebliebene kalte Kartoffeln und beliebige vorrätige Bratenreste in Verbindung mit etwas Fray-Bentos-Zunge und eingemachten Pilzen und Spargeln ein treffliches Gericht. Die Kartoffeln werden fein gerieben und mit einem eigroßen Stück schaumig gerührter Butter, 1 Ei und 1 Eigelb, etwas Mehl und Salz zu einem glatten Teig gerührt. Man drückt diesen Teig fingerdick fest in glatte, mit Mehl ausgestreute Backförmchen und stürzt ihn dann sofort. Die kleinen Hohlformen wendet man darauf behutsam in Semmel, dann in verquirltem Ei und danach nochmals in Reibbrot, worauf man sie in Schmalz goldbraun bäckt.

Die Bratenreste nebst einem Stück Zunge, den Pilzen und Spargeln werden ganz feinwürfelig geschnitten und man mischt sie mit einer braunen Sauce, wenn es sich um Rinder-, Wild- oder Lammbratenreste handelt, oder einer weißen Kraftsauce, wenn man Kalbfleisch- oder Geflügelüberbleibsel verwenden will. An die braune Kraftsauce thut man etwas Rotwein, kleine Perlzwiebeln, Kapern, einen Löffel voll Johannisbeergelee und 5 g Liebigs Fleischextrakt, der weißen Sauce dagegen setzt man Weißwein und Citronensaft zu und zieht sie mit einigen Eigelb ab. Die mit der Sauce vermischten Reste werden im Wasserbade erhitzt und, wenn die Kartoffelkrusten fertig sind. sofort in diese eingefüllt. Man richtet das Gericht aus zierlich gebrochener Serviette an.

Apfelkompott zur Gans. Statt wie gewöhnlich die Gans mit Aepfeln zu füllen, möchte ich bei festlichen Gelegenheiten raten, ein Apfelkompott extra zu kochen und nebenher zu reichen. Besonders das nach folgender Vorschrift bereitete Kompott eignet sich trefflich dazu und findet stets den ungeteiltesten Beifall. Eine runde oder ovale glatte Blechform mit niedrigem Rand wird dick mit Butter ausgestrichen und mit Semmel bestreut. Schöne Kastanien hat man vorher geschält und halb weich gekocht, auch Aepfel geschält und in Viertel geschnitten. Eine Schicht Aepfel wird zuerst in die Form dicht und glatt gelegt, worauf man wenige Butterstückchen und Kastanien als zweite Schicht folgen läßt, dann wieder Aepfel nimmt und so fortfährt, bis die Form voll ist, wobei man beim Einlegen die Aepfel so einschichtet, daß die Mitte gehäuft ist. Zuletzt streut man dicht feinen Zucker über die Aepfel und legt noch einige kleine Butterstückchen auf, bevor man die Schüssel in den Ofen schiebt und goldig braun bäckt. Man giebt das Kompott in seiner Form, die man mit einer Serviette umschlingt, heiß zur fertigen Gans zu Tisch. He.     

[740 b]

Allerlei Kurzweil.


Bilderrätsel „Die Insel“.
Von Alex. Weixelbaum.

Rösselsprung.


Zauberquadrat.

In ein Quadrat von 25 Feldern sind die Zahlen von 8 bis 32 so einzutragen, daß die Summe jeder wagerechten und senkrechten Reihe 100 beträgt. Dieselbe Summe muß jede der beiden Eckenlinien ergeben, und auch aus den Zahlen je zweier schrägen Reihen, die zusammen 5 Felder haben und auf entgegengesetzten Seiten einer Eckenlinie liegen, muß man 100 als Summe erhalten. Dabei sind folgende Bedingungen zu erfüllen:
1) in den wagerechten Reihen wachsen die Zahlen von links nach rechts um 3 oder um 8; um 8 nämlich, wenn die links stehende Zahl beim Dividieren durch 5 den Rest 3 oder 4 giebt; wenn man dabei die Zahl 32 überschreitet, folgt nicht die um 3 oder 8 größere, sondern die um 22 oder 17 kleinere Zahl;
2) in den senkrechten Reihen nehmen die Zahlen von oben nach unten um 9 zu oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, um 16 ab; nur unter den Zahlen, die beim Teilen durch 5 den Rest 3 ergeben, steht die um 14 größere oder, wenn man dabei 32 überschreitet, die um 11 kleinere Zahl;
3) in dem Eckfelde links oben steht 22. A. Stabenow.     

  Rätsel.
Eins, Zwei gebietet Halt,
Zwei, Eins zeigt dir der Wald.
  Oscar Leede.

  Ausschnitträtsel.
Das Dotter ranbe einem Ei
Und nimm davon der Zeichen zwei
(Je eins vom Anfang und vom Schluß),
Ich wette: draus entsteht gar schnell
Ein kleiner borstiger Gesell. –
Nun knacke mir die harte Nuß!


Auflösung der Damespielaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 22.

1. c 5 – b 6   a 5 – c 7 +
2. D a 7 – e 3       d 2 – f 4 +
3. D b 4 – a 5       D e 1 – b 4 +
4. D a 5 – b 6 + + + + und gewinnt.


Auflösung des Formrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 22.

Auflösung des Verwandlungsrätsels auf dem Umschlag von Halbhheft 22.
Patras, Patron, Perron, Hermon, Hermes, Herder, Verden, Bergen, Berlin.


Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Malbheft 22.
Finke, Funke.


Auflösung des Wechselrätsels auf dem Umschlag von Malbheft 22.
Eile, Eule, Elle, Erle.


Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 22.
Don



[ Verlagswerbung und Produktvwerbung für "Sapolio" und "Mrs. Winslow" - hier nicht dargestellt]



Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.