Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[741]

Nr. 44.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (6. Fortsetzung.)

8.

Nach der Verlobung gab es viel Arbeit im Brücknerschen Hause. Elfe fand nichts zu schön für sich, aber ihre Mithilfe bei der Besorgung ihrer Ausstattung beschränkte sie darauf, daß sie die neuesten Muster zusammentrug, nach denen man das Erforderliche arbeitete.

Walden verlebte jede Freistunde neben seiner Braut und stellte dadurch die ganze Einrichtung des Haushaltes auf den Kopf, so daß er nun für seinen Wunsch, die Hochzeit bald anberaumt zu sehen, an der Frau Geheimrätin plötzlich eine Bundesgenossin gewann.

Seinen einflußreichen Verbindungen hatte er es zu verdanken, daß ihm ein Urlaub von drei Monaten gewährt wurde, den er mit seiner jungen Frau in Italien verleben wollte, und Elfe schwelgte in dieser Aussicht. Sie ging mit denselben Gefühlen in die Ehe wie etwa zu einem Feste, von dem sie sich ein ganz besonderes Amüsement versprach. Ihre Wünsche in Bezug auf die Reise wie die Einrichtung und Gestaltung ihres eigenen Haushaltes wurden von ihrem Bräutigam stets ohne weiteres angenommen; es war für ihn selbstverständlich, daß er dieselben erfüllte, und hätte er es allein zu bestimmen gehabt, so würde vermutlich auch die Hochzeit so großartig und glänzend gefeiert worden sein, wie Elfe es sich in ihrem Köpfchen zurechtgelegt hatte. Aber in dieser Frage lag das Bestimmungsrecht doch in erster Reihe bei ihren Eltern, und die Frau Geheimrätin erklärte von Anfang an, niemand außer der Familie und den Trauzeugen solle der Feier beiwohnen. Davon ging sie auch trotz allen Bittens, Bettelns und Schmollens ihres Lieblingstöchterchens nicht ab.

Wenn sie auch nie mehr von dem Mißerfolge Leos sprach und Fernstehende es ihr nicht anmerkten, wie dieser sie getroffen hatte – die Ihren wußten es, daß der Gram über diese Enttäuschung fortwährend an ihrem Herzen nagte. Sie hatte ihm auf jenen Brief, in welchem er ihr – ganz in dem burschikosen Ton, in dem er immer mit ihr unter vier Augen verkehrte – den Ausfall des Examens mitteilte, gar nicht geantwortet. Dadurch waren nun seine regelmäßigen Briefe an sie auch unterblieben, denn die kurzen Zuschriften, meistens geschäftlichen Inhaltes, die von ihm ins Haus kamen, richtete er jetzt immer an den Vater. Und wie sehr sie darunter litt, wie sehr sie sich nach diesen Briefen sehnte, das sah ihr Gatte, sahen ihre Töchter an ihren blassen Wangen, die an den Sonntagmorgen, an welchen sonst nie das ersehnte Schreiben gefehlt hatte, noch farbloser wurden.

Lisbeth hatte sie erst mit allen Mitteln der Überredungskunst zu veranlassen versucht, dem Sohne ein verzeihendes Wort zu schreiben, aber sie erzielte nichts als eine neue Erregung, so daß sie schließlich davon abstand und ihre Hoffnung auf die Zukunft setzte. Der neugebackene Herr Assessor würde sich schon seinen Platz am Mutterherzen wieder erobern, das wußte sie gewiß. – Was die beiden trennte, war ja nur der verletzte Stolz der Mutter, und wenn er ihr erst wieder das Recht gab, sich in diesem Gefühl zu wiegen, dann war die Scheidewand zwischen ihnen gefallen.

Und eben dieser gekränkte Stolz verbot der Geheimrätin auch den lebhaften, geselligen Verkehr, den sie sonst gepflegt hatte, und sie pries im stillen oft den glücklichen Zufall, der ihre fortgesetzte Ablehnung aller Einladungen durch die Ausstattungsarbeiten und Elfes nahe Hochzeit erklärlich, ja selbstverständlich erscheinen ließ.

Das Denkmal der Brüder Grimm in Hanau.
Entworfen von S. Eberle.

[742] Wenn schon kein glänzendes Fest, so hatte Elfe wenigstens eine öffentliche Trauung in der Kirche bei Bräutigam und Eltern durchgesetzt. Wozu hatte Walden ihr sonst wohl die Robe von Silberbrokat geschenkt, wenn niemand sie sehen sollte? Was ihr besonders wertvoll war, von aller Welt angestaunt, bewundert und beneidet zu werden – darauf konnte sie doch nicht verzichten; dem Tage wäre ja sonst der Hauptreiz genommen gewesen! Und daß es dem feineren Gefühl ihres Bräutigams ganz und gar entgegen war, sich und seine Braut gewissermaßen zu einer Schaustellung herzugeben, darauf nahm sie keine Rücksicht weiter.

Und eine Schaustellung wurde es denn auch. Sonst pflegte man Karten für die Kirche an Freunde und Bekannte auszugeben, hier wurde auf Elfes ausdrückliches Verlangen der Eintritt jedem gestattet, und die halbe Stadt, wenigstens der weibliche Teil derselben, machte davon Gebrauch und ging hin, um die schöne, junge Braut und ihre großartige Toilette zu bewundern und dann freilich auch einige leise Bemerkungen über den Bräutigam und über das unpassende Paar überhaupt zu machen. Walden, der sich das Geflüster um ihn ganz richtig deutete, geriet dadurch in eine peinliche Stimmung, die wenig zu dem weihevollen Augenblicke paßte; Elfe aber, die vielleicht bei diesem ernsten Akte in anderer Umgebung zu einem tieferen Gedanken gekommen wäre, ließ sich durch den unverkennbaren Beifall, der ihr aus den vielen tausend Augen entgegenleuchtete, so hinnehmen, daß nur die Sorge, ob auch Schleppe und Brautschleier den richtigen Faltenwurf hätten, in ihrem Denken Platz gewann.

Nach dem im engsten Familienkreise eingenommenen Diner trat das junge Ehepaar sofort seine Hochzeitsreise an, und Elfe ging ohne irgend eine tiefere Empfindung aus dem Elternhause, in dem sie so viel thörichte, aber doch innige und aufopferungsfähige Liebe empfangen hatte. –

Nach diesem Tage trat im Brücknerschen Hause eine verhältnismäßig ruhige Zeit ein, die allen Familienmitgliedern gleich angenehm und ersehnt war. Der März war nun auch da, linde Lüfte wehten schon in der Mittagsstunde und erweckten Lenzeshoffnungen und Frühlingsgedanken, die doch am schnellsten allen winterlichen Freuden und dem Geschmack daran ein Ende machen. So war auch von dieser Seite keine Störung der häuslichen Stille zu befürchten, und sowohl das Elternpaar als Lisbeth genossen die eingekehrte äußere Ruhe mit rechtem Behagen.

Für Lisbeth sollte die kommende wärmere Jahreszeit ohnehin die große Freude bringen, Frau Gertrud und ihr Kindchen wiederzusehen. Auf den dringenden Wunsch der alten Frau Römer hatte ihr Sohn sich entschlossen, Frau und Kind ins Elternhaus zu längerem Aufenthalte zu bringen, da sein Beruf ihn jetzt viel von Hause fern hielt und die junge Frau nicht frisch und kräftig genug war, um in der fremden Stadt sich einen Kreis zu schaffen, der ihr auch nur entfernt die Beziehungen, die sie in der Heimat zurückgelassen hatte, ersetzte.

Wenn ihr Gatte bei ihr war, vermißte sie nichts und täuschte durch die freudige Erregung, in welcher sie sich in den wenigen Tagen seiner Anwesenheit befand, auch ihn über ihren Zustand. Aber sein Amt hielt ihn fast immer von seinem Amtssitze fern, und die Einsamkeit, in der sie lebte, die Sehnsucht nach ihm und den Ihren war dann so stark, daß ihr ohnehin zarter Körper darunter litt. – Die alte Frau Römer schüttelte immer sorgenvoller das Haupt, wenn ihr solche Nachrichten zukamen.

„Gertrud,“ sagte sie dann, „giebt sich wieder gar zu sehr ihren schwärmerischen Neigungen hin, die sie zur Sentimentalität führen. Wie darf eine Frau, die ihren eigenen Haushalt zu versehen hat und solch ein süßes Kind besitzt wie klein Lieschen, sich in so krankhafter Weise nach ihrem Manne sehnen! Das kann nur mit ihrem körperlichen Befinden zusammenhängen.“

„Bringe sie uns nur her,“ sagte sie zu ihrem Sohne, „sie kann wieder ihr Mädchenstübchen beziehen, und wir wollen sie schon gesund pflegen, wenn Du sie den Sommer über uns lassen willst.“

Arnold hatte eifrig beigestimmt und den Tag der Reise so früh als möglich festgesetzt. Da gab’s für Lisbeth wieder Arbeit bei Römers. Sie ließ es sich nicht nehmen, Gertruds Zimmer selbst einzurichten, und die alte Wiege, in der die Frau Rektor einst ihr Söhnchen geschaukelt und die nun dessen Töchterchen bergen sollte, wurde von ihr mit einem grünen Kranze umwunden. Noch waren beide damit beschäftigt, es für die lieben Gäste so bequem und behaglich wie möglich zu machen, als bereits der Wagen vorfuhr, der diese brachte, und groß war die Freude des Wiedersehens, zumal das liebliche Kindchen sich gar herzerfreuend entwickelt hatte und die heitere Erregung und fröhliche Geschäftigkeit auch seine Mutter gesund und frisch erscheinen ließ.

Am anderen Morgen freilich, als Lisbeth hinüber gelaufen kam, um nach Gertrud zu sehen, die nun schon wieder Abschied von ihrem Gatten genommen hatte, fand sie diese recht blaß und so schmal und mager geworden, wie sie es kaum in ihrer schweren Krankheit gewesen war, und Frau Römer flüsterte ihr bekümmert zu: „Es ist doch nicht so gut um Gertrud bestellt, wie ich gestern abend hoffte. Aber die Ruhe und Pflege, die sie hier haben soll, beugen hoffentlich einem größeren Uebel vor.“

Und Gertrud meinte, als sie mit Lisbeth allein war: „Rede doch nur Mama zu, daß sie mich nicht zu sehr mit Vorsichtsmaßregeln plagt; ich liebe das gar nicht. Man wird dadurch nur ängstlich und nervös. Im Grunde fehlt mir gar nichts; ich war schon als Mädchen schwächlich und bin es auch jetzt, aber darauf braucht niemand Rücksicht zu nehmen. Jetzt fragt sie mich immer, seit wann ich huste, und ich weiß es gar nicht; wer achtet denn groß auf eine kleine Erkältung!“

Und Lisbeth redete auch in diesem Sinne mit den beiden Alten, und es gelang ihr, die Sorgen, die sie fühlten, zu mildern.

In erster Reihe war es freilich das Werk der kleinen Liesel, daß trübe Gedanken im Römerschen Hause jetzt keinen Raum einnehmen konnten, denn so jung Liesel noch war, so lebhaft verstand sie es schon, alle um sich festzuhalten und zu beschäftigen, und ihr Lachen und Jauchzen hörte man so lange, als ihre Aeuglein offen standen. Die Großeltern waren förmlich verliebt in dieses süße kleine Menschenkind und beeifersüchtelten sich gegenseitig, wenn es einmal besonders herzlich seine Aermchen dem einen oder anderen hinstreckte. Der Herr Rektor trug jede Minute, die er seinem Dienste abmüßigen konnte, sein Enkelchen auf dem Arm, und wenn es schlief, saß er ruhig neben der Wiege, um auf des Kindes Erwachen zu warten. Ebenso drehten sich natürlich der Großmutter Gedanken vor allem um dieses kleine Geschöpfchen, das ganz besonders in dieser Zeit, durch die kleinen Wunder der Entwicklung, die ja stets neu und staunenswürdig sich in jeder Kinderstube ereignen, eine Merkwürdigkeit ersten Ranges war.

Die Sorge um die junge Frau trat darüber um so leichter in den Hintergrund, als diese wirklich sich zunächst infolge der Befriedigung ihres Gemüts, die sie über dem allen genoß, zusehends erholte und rosiger und frischer erschien als seit lange.

Lisbeths liebewarmes Herz hegte ohnehin seit längeren Wochen eine innige Teilnahme mit einer anderen, die sie allmählich immer mehr ihre kindliche Fröhlichkeit verlieren sah. Mit welcher Wonne, mit welchem Interesse hatte Fräulein Annie von Giersbach ihr Debüt als Ballnovize im Herbste gefeiert, und in welchem strahlenden Lichte waren ihr alle die ersehnten Herrlichkeiten erschienen, denen sie schon nach wenigen Monaten mit unverhohlener Gleichgültigkeit den Rücken wandte. Sie hatte nicht mehr nötig, dem Papa den Besuch eines Balles abzuschmeicheln; es war schon wiederholt geschehen, daß er einen solchen in Vorschlag gebracht, sie aber darauf dankend, unter dem Beifall der Brüder, geantwortet hatte: „Es ist doch zu Hause viel schöner.“

Freilich war es bei Giersbachs sehr schön. Der Oberst, der in Wahrheit der Herr im Hause war, kannte auch nichts Besseres als eben dieses Haus. Für ihn gab es nichts Wichtigeres – nächst seinem Dienste natürlich – als die Interessen seiner Familie, und obwohl seine brummige und polternde Art Fernstehende täuschen konnte und vielleicht auch die Seinen ab und zu erschreckte – im Grunde wußten sie doch, welch ein weiches warmes Herz sich in dieser rauhen Hülle verbarg. Das engste Zusammenleben der Familienmitglieder war ihm Bedürfnis; er machte durchaus Anspruch darauf, bei allen kleinen häuslichen Ereignissen Mitberater zu sein, und zögerte auch nicht, einen dienstlichen Aerger oder Verdruß, den er gehabt, mit den Seinen zu teilen, um sich die Sorgenfalten von der Stirn streicheln zu lassen. Gesellschaftliche Rücksichten kamen bei ihm erst in zweiter Linie, wenn er es auch verstand, seiner Stellung Rechnung zu tragen. Er nahm das auf sich, wie er jede Pflicht erfüllte, und er hatte seine Gattin gelehrt, auch so zu denken und danach zu handeln; der Schwerpunkt seines Lebens lag aber nicht in diesen äußeren Dingen. Seinen Söhnen sprach er täglich davon, daß der Adel der Gesinnung mehr wert sei als der älteste ererbte adlige Name, und daß Redlichkeit und [743] Lauterkeit des Charakters in den Augen braver Leute mehr gelte als Reichtum und Vornehmheit. – Und wenn er auch nie genug sie zum Fleiße und zur Tüchtigkeit ermahnen konnte, stets setzte er hinzu: was ihr auch erreicht im Leben, der Erfolg allein kann nicht das maßgebende Urteil über euch sein, die Hauptsache ist, daß ihr tüchtige, brave Männer werdet, denkende, strebende Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft, und daß ihr mit eurem Sein und euren Thaten vor eurem eigenen Gewissen und allen Edeldenkenden bestehen könnt!

Seine Frau, die, sehr viel jünger als er, an ihrem Manne mit einer an Verehrung grenzenden Zuneigung hing, war gewiß die erste, die seine Worte unterstützte und seinen Wünschen nachlebte. Er war ihr die höchste Instanz, und sie hatte den festen Glauben, daß er alles am besten wisse und beurteile. Deshalb fügte sie sich auch stets bedingungslos seinen Bestimmungen und verlangte dasselbe von ihren Kindern, wodurch sie bei ihren Knaben oft einen recht schweren Stand hatte. Für sein einziges Töchterchen, das neben den drei wilden Jungen wirklich wie eine liebliche Blume erwuchs, hatte der Oberst natürlich eine viel zartere und innigere Empfindung als für jene, sie ahnte selbst nicht, was sie dem Herzen des Vaters war und wie ihr anmutiges Wesen seine Tage verschönte.

Auch als sie dann gesellschaftsfähig geworden war, freute er sich an ihrer kindlichen Fröhlichkeit und sah mit Stolz in ihr vor Glückseligkeit gerötetes Gesichtchen, wenn sie im Ballsaal an ihm vorüberflog. Und wenn es ihm jetzt einerseits auch bequem war, daß die Anziehungskraft solcher Festlichkeiten für sie ganz unerwartet schnell verschwand, so empfand er es bei ihrer großen Jugend doch als etwas Ungewöhnliches und beobachtete seinen Liebling daraufhin mit sorgenden Augen.

Sie war so flink und tüchtig im Haushalt wie sonst, immer zärtlich um Vater und Mutter, immer freundlich um die Brüder bemüht, aber ihr jubelndes Lachen war verstummt, der kleine sonst so geschwätzige Mund konnte jetzt lange schweigen, und oft schauten die früher so lebhaft und interessiert um sich blickenden Augen jetzt gedankenvoll in die Ferne. Was war dem Kinde nur? Ob er wohl mit dem Arzte darüber sprach? – Zunächst hätte er es wohl gern mit seiner Frau erwogen, aber vielleicht sah sie die Veränderung Annies nicht, und in ihr Sorgen zu erwecken, indem er sie auf ein Uebel aufmerksam machte, ehe er eine Abhilfe ersonnen, das ließ seine Rücksicht für sie nicht zu.

Aber er behielt es immer im Auge, was seinem Töchterchen wohl gesund sein, was sie erfreuen könne, und legte sich selbst Entbehrungen auf, indem er seine Gattin zu Spaziergängen und Theaterbesuchen mit Annie beredete, von welchen er sich Anregung für sie versprach. Und wenn die beiden wiederkehrten und das kleine Fräulein dann lebhafter und rosiger als gewöhnlich ihm von den gehabten Genüssen erzählte, dann atmete er erleichtert auf, um freilich sofort seine Gedanken aufs neue nach einem ähnlichen Kurmittel auf Suche zu schicken.

An einem Morgen, nachdem er drüben in seinen Räumen die eingegangenen Postsachen durchgesehen, kam er mit einem offenen Briefe in der Hand ins Wohnzimmer, ging ein paarmal hastig auf und ab, und als er die Augen seiner Frau mit fragendem Ausdruck auf sich gerichtet sah, blieb er neben ihrem Nähtischchen, an dem sie, mit einer Handarbeit beschäftigt, saß, stehen und sagte: „Ich muß auf ein paar Tage nach Berlin. Es liegen jetzt gerade im Kriegsministerium die Pläne und Entwürfe für die neue Kaserne meines Regiments vor, und man schreibt mir hier, Excellenz wünsche meine Ansicht über einige Punkte zu hören.“

„Wann willst Du fahren, Männchen?“

„Ich überlege es eben: – reise ich allein, so werde ich den Nachtkurierzug benutzen, im anderen Fall –“

„So, es ist noch jemand dorthin befohlen? Das ist schön! Ich weiß Dich bei der langen Fahrt so viel lieber in bekannter Gesellschaft.“

„Befohlen ist niemand mit mir, und die Reisegesellschaft möchte ich mir nach meiner Neigung wählen. Ich dachte nämlich, daß es für Annie gewiß recht gut wäre, wenn sie ein wenig hinauskäme – und wenn ihr beide mich begleiten wolltet –“

In lebhafter Freude erhob sich Frau von Giersbach.

„Aber Männchen, das ist ja ein ausgezeichneter Gedanke – natürlich, Annie begleitet Dich – wie wird sie sich freuen! Ich kann leider nicht mitfahren, Du weißt ja, daß übermorgen die neue Köchin eintritt! Aber Annie kann doch ganz gut allein mit Dir reisen! Es ist wirklich lieb von Dir, daß Du daran gedacht hast!“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie innig.

„Ich fürchte nur, sie wird dann viel auf sich angewiesen sein – vermutlich werde ich ziemlich fest hinter den Zeichnungen und Anschlägen sitzen müssen, denn länger als ein Paar Tage bin ich hier nicht abkömmlich.“

„Ach, das thut nichts, Männchen, solch’ ein junges Menschenkind ist bald befriedigt. Und dann findet sie ja Anschluß bei meiner Cousine Emma!“

„Richtig!“ rief er vergnügt. „Daran dacht’ ich noch gar nicht. Nun bin ich ganz unbesorgt!“

„In die Museen und das Königliche Schloß kann sie auch ganz gut allein gehen. Und wenn Du dann abends frei bist, besucht ihr zusammen ein Theater!“

„So hab’ ich’s mir auch gedacht. Aengstlich ist sie ja nicht, sie wird sich schon zu helfen wissen; denn mit ihr einen Besuch zu machen, dazu bin ich wirklich außer stande.“

„Das brauchst Du auch nicht und dann – Annie ist ja sehr selbständig und wirklich ganz vernünftig. Du wirst sehen, sie macht Dir keine Ungelegenheiten und Unbequemlichkeiten. Auf der langen Fahrt hast Du an ihr gute Gesellschaft, und für sie wird die Reise wirklich Medizin sein. Wollen wir es ihr nun sagen – darf ich sie jetzt rufen?“

Die Frage war noch nicht verklungen, da öffnete sich die Thür; Annie guckte ins Zimmer und sah sehr verwundert auf den Papa, der um diese Stunde sein Arbeitszimmer nur in außerordentlichen Fällen verließ, und dann auf die Mama, auf deren Gesicht sie eine fröhliche Neuigkeit zu lesen meinte.

„Mama?!“ –

„Komm nur herein, Kind, und bedanke Dich bei Papa! Er reist auf ein paar Tage nach Berlin und nimmt Dich mit!“

„Nach Berlin – und nimmt mich mit?“ Sie wiederholte die Worte, als müßte sie sich das Verständnis für dieselben erst zum Bewußtsein bringen. Dann stieß sie einen Jubelschrei aus, sprang in die Höhe und flog dem Oberst um den Hals.

„Papa, Papa – himmlischer Papa, das ist ja gar nicht auszudenken! Nach Berlin – nach Berlin!“ – Sie ließ von ihm ab und walzte in der Stube herum, um gleich danach wieder ihre Arme um den Hals der Mutter zu werfen.

„Liebste, beste Mama, dazu hast Du Papa angestiftet – nicht wahr? Aber Du – Dich nehmen wir nicht mit?“

„Nein, das ginge doch nicht, Annie. Eins von uns beiden muß bei den Knaben bleiben. Dann bedenke – die neue Köchin! Und einen Gewinn habe ich doch davon: wir können hernach zusammen von Berlin plaudern!“

„Ja, das wollen wir! Was werde ich nicht alles sehen, und dann erzähle ich Dir davon, und wie köstlich wird es sein, zu denken, daß ich es für Dich mit genieße!“

Sie wirbelte wieder im Zimmer herum, hochrot im Gesicht, und rief immer von neuem aufjauchzend: „Nach Berlin – nach Berlin!“ bis die Mutter sie mahnte, sie müsse nun gleich an Tante Emma schreiben, um ihren Besuch anzumelden.

Der Oberst, der solche Ausbrüche ihres übersprudelnden Gefühls, seit sie erwachsen war, noch nie gesehen hatte – denn der Respekt vor ihrem Vater hielt sie doch immer in gewissen Schranken – war ganz beglückt. So hatte er also wirklich das Richtige für sie gefunden, sie war ja jetzt schon wie ausgetauscht durch diese Aussicht; wie mußte da erst die Reise selbst wirken!

Nun erwog man eifrig den Reiseplan. Von der nächtlichen Fahrt wollte er jetzt nichts wissen, obwohl Annie immer bat, auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen; aber er blieb dabei, schon am frühen Nachmittag reisen zu wollen: dann würde man immerhin noch einige Stunden Schlaf in der Nacht retten, und wenn sie am Morgen im Gasthof erwachten, wären sie gestärkt, er für die Arbeit, sie für das Vergnügen des Bekanntwerdens mit der Kaiserstadt.

Jetzt ging es hurtig an die Vorbereitungen für diese Reise. Papa brauchte einen Koffer für die Uniform zur dienstlichen Meldung, aber Annie sollte nichts mitnehmen als das neue Frühlingskleid, das sie erst mit so gleichgültigen Augen angesehen hatte und dessen Besitz sie jetzt der Mutter als ein „Glück“ pries. Sie holte es hervor, hielt das Leibchen gegen ihr Gesicht und vergewisserte sich, ob ihr die Farbe wohl auch kleidsam sei. Derselbe prüfende Eifer bei der Erwägung, welchem Hute sie den Vorzug geben sollte – und das alles in des geliebten Vaters Gegenwart, der früher stets so [744] streng dazwischen gefahren war, wenn sein junges Töchterchen einmal einen Blick in den Spiegel geworfen hatte.

Geschäftig flog sie nun durch die Wohnung, trug zusammen, was ihr für die lange Fahrt gut dünkte, und behielt bei aller Hast doch immer die Uhr im Auge, damit man es ja nicht verpasse, zur rechten Zeit nach dem Wagen zu schicken. Sicher war es doch erst, daß sie nach Berlin kam, wenn man im Coupé saß.

Aber auch dieser Augenblick kam. Strahlend vor Freude lag sie in dem Fenster des Waggons und winkte der Mutter und den Brüdern den Abschiedsgruß zu, während mit schrillem Pfiff, stöhnend und prustend, das Dampfroß sich in Bewegung setzte. Und immer länger zog sich die Rauchfahne, immer kürzer wurden die lauten Atemzüge der Lokomotive, und nun flog der Zug dahin – nach Berlin – nach Berlin!! Annie richtete sich in die Höhe und drückte die Hand auf das laut klopfende Herz, da knisterte es leise bei dieser Berührung wie von steifem Papier – ein feiner, nur ihr hörbarer Ton – aber ihr Auge suchte doch erschrocken den Vater: ob er ihn wohl auch vernommen? – In dem Couvert, das sie in ihrem Mieder verborgen, lag ihr Schatz, ihr Heiligtum: eine kleine Visitenkarte, und darauf stand mit großer, kräftiger Männerschrift: Auf Wiedersehen! – Und sie war jetzt auf dem Wege nach Berlin, jeder Augenblick führte sie dem Ziele näher, das ihr diese Hoffnung erfüllen konnte: auf Wiedersehen – auf Wiedersehen!! (Fortsetzung folgt.)


Es kommt ein Tag, der der letzte ist.

Verschwendrische Fülle beglückender Zeit,
Vom Morgen des Lebens gespendet,
Die lockenden, blühenden Wege so weit,
Ein Frühling, der nimmermehr endet!

5
      Wer denkt je, wo Jugend die Flagge gehißt:

      Es kommt ein Tag, der der letzte ist!

Aufsteigende Sonne mit zündendem Licht
Die Rose der Liebe entflammte;
Wo wäre der Frost und der Sturm, der sie bricht,

10
Da ewigem Lenz sie entstammte!

      Doch wie auch die Lippe der Liebe dich küßt –
      Es kommt ein Tag, der der letzte ist!

Die Liebe verblaßt, es entlodert der Zorn,
Von Hast wird umdüstert die Seele;

15
Doch am Herzen reifst dir der Neue Dorn,

Nagt Schuld dir und eigene Fehle.
      Wohl dem, der zu spät nicht vergiebt und vergißt!
      Es kommt ein Tag, der der letzte ist!

Nie rastend wirk’ für die Deinen, die Welt!

20
Denn plötzlich stehst du sich neigen

Die Sonne, welche dein Dasein erhellt,
Und Nebel weben und steigen.
      Ob nah’ deinem Ziel dann, ob fern du ihm bist –
      Es kommt ein Tag, der der letzte ist!

25
Und hat dir das Schicksal die Fäden verwirrt,

Magst kämpfen du nicht mehr und werben,
Ward müde dein Fuß, der in Nächten verirrt,
Blieb nichts als der Wunsch dir, zu sterben
      Harr’ aus, harr’ aus noch die kurze Frist:

30
      Es kommt ein Tag, der der letzte ist!

 Ernst Scherenberg.


Die Eröffnung des Eisernen Thores.

Von Paul Lindenberg.0 Mit Originalzeichnungen von V. Schramm.


Dereinst suchten die Völker sich gegenseitig abzusondern und zwischen ihren Reichen Schranken aufzuführen, heute ist man bestrebt, diese Hindernisse fortzuräumen und die Länder mehr und mehr mittels des emsigsten Handels und Wandels und eines regsten Verkehrs zu verbinden. Als eine der Völkerschranken galt Jahrtausende hindurch das Eiserne Thor, jene gefährliche Stelle der südöstlichen Donau, welche bis vor kurzem noch die Grenze zwischen dem Orient und Occident bedeutete. Unheimliche Stromschnellen, spitze, unmittelbar unter dem Wasserspiegel verborgene Klippen, zackige, tief in den Fluß hineinreichende Vorsprünge waren die unzählige Opfer erheischenden Feinde der Schiffer, die schon in grauer Vorzeit diesen Teil der Donau fürchteten; bereits Julius Cäsar trug sich mit weitgehenden Plänen, die gefahrbringenden Hindernisse fortzuräumen, dann suchte Kaiser Trajan dieselben zu umgehen, indem er längs des rechten Ufers für seine Legionen eine Straße anlegte, deren Spuren noch heute erhalten sind und uns mit Bewunderung erfüllen ob der Ausdauer und Kühnheit der römischen Baumeister und Ingenieure, denn der Weg mußte zum Teil in die Felsen hineingehauen werden, zum Teil lief er auf schweren Balken dahin, die zur Hälfte in das Gestein getrieben waren. Auch später noch versuchte man mehrmals, die Tücken des Stromes, die größeren Schiffen nur bei hohem Wasserstande die Fahrt gestatteten, zu besiegen, aber es blieb bei wenig ersprießlichen Anfängen, bis 1878 infolge eines Beschlusses des Berliner Kongresses das am meisten mit seinem Handel und Verkehr hierbei beteiligte Ungarn die Beseitigung der obenerwähnten Hindernisse auf sich nahm und sie nach Erledigung der jahrelangen Vorarbeiten von 1889 bis heute mit einem Kostenaufwande von über acht Millionen Gulden, zu denen sich für die noch ausstehenden, letzten Arbeiten noch weitere vier Millionen gesellen werden, durchführte. Schon vor einigen Jahren (vgl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1893, Seite 7) sind unsere Leser durch einen reich illustrierten Artikel über die landschaftliche Lage des Eisernen Thores und die Tragweite der damals rüstig fortschreitenden Regulierungsarbeiten unterrichtet worden. Es handelte sich dabei wahrlich um ein schwieriges Unternehmen, das nur mit Anspannung aller Kräfte zu einem guten Abschluß gebracht werden konnte; mußten doch viele Hunderttausende Kubikmeter Felsen unter dem Wasser im freien Strome und ebenso viele oberhalb desselben an den Ufern weggesprengt werden, galt es doch ferner, einen achtzig Meter breiten Kanal in die Felsen des Strombettes einzusprengen und ihn durch sechs Meter hohe und gegen zwei Kilometer lange Steindämme zu schützen! Ferner mußte man den Strom an anderen Stellen einengen und endlich eine ganze Landspitze abtragen. Besondere Maschinen, Fahrzeuge, Geräte etc. wurden zu diesem Behufe konstruiert, und nicht weniger als zehntausend Menschen waren unausgesetzt acht Jahre hindurch thätig, um den gewaltigen Plan verwirklichen zu helfen. Mit Anspannung aller Kräfte gelang dies, und als glänzendes Schlußstück der ungarischen Millenniumsfeierlichkeiten konnte die festliche Einweihung des Kanals am 27. September dieses Jahres stattfinden.

Die österreichische Grenzstadt Orsova, Hauptstation der Donaudampfschiffahrt und der Knotenpunkt des Handelsverkehrs mit den unteren Donauländern, bildete den Ausgangspunkt der Einweihungsfeste. Der Glanz derselben wurde durch die Gegenwart des Kaisers von Oesterreich und der Könige von Rumänien und Serbien erhöht, und so groß war der Fremdenandrang, daß viele der geladenen Gäste in den Häusern der Stadt keine Wohnung erhalten konnten, sondern in Eisenbahnwagen und auf den Schiffen der Donauflottille Nachtquartier nehmen mußten. Kaiser Franz Joseph kam bereits am Sonnabend den 26. September nach Orsova, wo er mit lautestem Jubel von den zahlreich herbeigeströmten Volksscharen empfangen wurde. Leider trübte das launische Wetter durch strömenden Regen diesen

[745]

Die Feier der Eröffnung des Eisernen Thores: die Monarchen auf der Landungsbrücke in Orsova.
Nach dem Leben gezeichnet von V. Schramm.

[746] Vorabend der Festlichkeiten. Doch der nächste Morgen brachte hellen Sonnenschein und prachtvolles Herbstwetter, so daß der Glanz der zahlreichen Uniformen und die bunte Pracht der in ihrem Nationalkostüm erschienenen Ungarn zur vollen Geltung gelangen konnten.

Um 8 Uhr 20 Minuten fuhr König Alexander von Serbien in einem Extrazuge in den Bahnhof ein, wo er von Kaiser Franz Joseph herzlich begrüßt wurde. Eine Viertelstunde später wurde der Zug des Königs Karl von Rumänien signalisiert. Kaiser Franz Joseph umarmte und küßte zweimal seinen hohen Gast, und auch bei dieser Begrüßung kam es deutlich vor aller Welt zum Ausdruck, wie herzliche und freundschaftliche Bande die ruhmreichen Häuser Habsburg und Hohenzollern zum Glück der Völker und Schutz des Weltfriedens aneinander knüpfen. Nun waren die drei Monarchen vereint und fuhren in Hofequipagen zur Landungsbrücke. Unsere Abbildung anf S. 745 stellt dieselben dar, wie sie sich zu dem Dampfer „Franz Joseph I.“ begeben. Voran schreitet der Kaiser von Oesterreich in der ungarischen Kavalleriegeneralsuniform mit dem Bande des Savaordens; neben ihm erblicken wir König Karl von Rumänien in der Oberstuniform seines österreich-ungarischen Infanterieregiments mit dem Großkreuze des Stefansordens; König Alexander von Serbien, der den beiden Monarchen folgte, trug die serbische Generalsuniform.

Der Dampfer „Franz Joseph I.“ eröffnet den Kanal am Eisernen Thor.

Um halb 10 Uhr setzte sich das kaiserliche Schiff in Bewegung und ihm folgte eine ganze Flotte anderer Fahrzeuge. Vom rumänischen und serbischen Ufer dröhnten grüßend Böller und Kanonen, während zahlreiche Menschenmassen in Jubelrufe ausbrachen. Der Himmel zeigte sein freundlichstes Gesicht und die mächtigen Berge waren vom goldigen Sonnenlicht überflutet. Am Anfang und Ende des neugesprengten Kanals erhoben sich vier weiß schimmernde, fahnengeschmückte Säulen, die über das Wasser hinweg durch Ketten verbunden waren. Dieselben sollten durch das kaiserliche Schiff zerschnitten werden. Unsere obenstehende Abbildung zeigt das Zerreißen der Kette am Eingang des Kanals. Nachdem dieselbe erfolgt war, weihte Bischof Dessewfy, der sich an Bord des Monarchenschiffes befand, den Kanal in lateinischer Sprache ein. Darauf hielt Kaiser Franz Joseph eine kurze Ansprache, und mit goldenen Pokalen, die zu diesem Zwecke von der ungarischen Regierung gewidmet waren, stießen die drei Monarchen auf das Glück und Wohl ihrer Völker an. Donnernd grüßten von den Ufern die Batterien herüber, in deren Dröhnen sich die brausenden Hurras der am linken Ufer aufgestellten rumänischen Truppen und der das rechte einsäumenden Tausende und Abertausende von Ungarn, Serben, Walachen mischten. Einen besonders günstigen Eindruck machte eine Division rumänischer Dorobanzen oder Landwehrtruppen. In einer Stärke von sechs Regimentern war sie auf einer Strecke von zwei Kilometern am Ufer aufgestellt. Auch sechs rumänische Kriegsfahrzeuge waren zur Begrüßung der Monarchen erschienen. Von allen Anhöhen wehten österreichische, ungarische, rumänische und serbische Flaggen. Nur drei Minuten währte die pfeilschnelle Fahrt durch den Kanal, während die Zurückleguug derselben gegen den Strom über eine halbe Stunde in Anspruch nahm. Die Schiffe durchmaßen dann noch den oberhalb Orsovas liegenden Kasanpaß, in welchem sich in großartigen Formationen die Felsen dicht an den Fluß heranschieben, dessen Wogen wirbelnd und strudelnd dahinschießen in brandender Hast, als ob sie möglichst schnell der gefährlichen Umarmung der Gebirgskolosse entrinnen wollten. Die Ufer sind an dieser Stelle von höchstem malerischen Reiz und überraschen durch immer neue Ausblicke infolge der Schlangenwindungen der Donau, deren landschaftliche Schönheiten hier ihren Gipfelpunkt erreichen.

Die drei Herrscher kehrten zur Mittagsstunde nach Orsova zurück und begaben sich von dort nach dem nahen Herkulesbad, wo Kaiser Franz Joseph nochmals in markigen Worten des großen Werkes gedachte, welches unter den friedlichen Thaten der Völker stets seinen bedeutsamen Platz behaupten wird!

Eine Illumination beschloß den Festtag. Der Badeort schimmerte in tausend Lichtern und auf den Berggipfeln verkündeten lodernde Feuer die hehre Freude der Menschen über eine Großthat der Kultur, über einen Sieg friedlicher Arbeit!


[747]

Die Saline zu Lüneburg.

An der Quelle des Lüneburger Salzes.

Von Gustav Kopal. Mit Illustrationen von H. Haase.

Brrrrr! Also das ist Lüneburger Sole, und so schmeckt sie – alle Hochachtung!“ und mein Antlitz verzog sich in ähnlicher Weise wie dasjenige des freundlichen Herrn auf unserem Bilde, das als eine Durchschnittsdarstellung der Züge aller Besucher der Lüneburger Saline gelten kann, wohlverstanden in dem denkwürdigen Augenblick, da ihr Wissensdrang sie zum Nippen aus dem dargereichten Glase verleitet.

Der wackere alte Beamte aber, dem soeben die Erlaubnis der Königlichen Salinendirektion zur Besichtigung der Werke vorgezeigt worden war, lächelte sehr vergnügt, und über die Züge des mich begleitenden Lüneburger Freundes ging es wie ein Sonnenschein stolzer Freude – „Nicht wahr, prachtvoll salzig … haben Sie jemals etwas Aehnliches an Stärke des Gehalts geschmeckt?“

„Ich gestehe Ihnen gern, daß auch die verliebteste Köchin solche Musterleistung nicht zustande bringen könnte. Beim Baden auf Helgoland habe ich einige Versuche auf diesem Gebiet gemacht, oder richtiger, machen müssen, aber daß selbst das Salzwasser der Nordsee nicht entfernt an Ihre verehrte Sole heranreicht, will ich jederzeit vor Gericht beschwören.“

„Das glaube ich,“ lachte der Lüneburger. „Das ist auch unser Stolz, denn darauf beruht seit vielen Jahrhunderten der Wohlstand und das Gedeihen unseres Gemeinwesens, ja überhaupt das Entstehen und Emporblühen dieser ehemaligen Hansestadt. Meerwasser – pah! Das enthält ja nur 3,5 % an Salzen, davon etwa 2,5 % reines Kochsalz, und Lüneburger Sole bietet 25 bis 26 % des vorzüglichsten Kochsalzes; wo finden Sie Aehnliches? Doch ich will auf den Ocean nicht schelten; trägt er doch unser Erzeugnis bis in die fernsten Zonen.“

„Beispielsweise nach Kanada, nach Südafrika,“ ergänzte der alte Beamte. „Fern und nah’ ist es berühmt; die ausgezeichnete Meiereibutter Schleswig-Holsteins verdankt ihm einen wesentlichen Teil ihrer Güte. Und gar in Dänemark, Schweden, Norwegen! Da spricht man im allgemeinen vom „Lüneburger“, auch wenn das Salz aus anderen Bezugsorten stammt, gerade wie beim Kaffee der vermeintliche Stammort Mokka zur Gesamtbezeichnung geworden ist. Freilich, rund 500 000 Centner Salz gehen alljährlich von hier aus in alle Welt!“

„Damit läßt sich in der That manche Speise würzen.“

„Hm, das schon. Aber für den wesentlichsten Verbrauch sorgt doch der Gewerbefleiß. Wie viel Salz ist nicht allein erforderlich zur Erzeugung dreier Gegenstände, deren in gesitteten Ländern jedermann benötigt ist: Soda, Seife, Glas! Daneben sind unsere guten Kunden die Gerber, Färber, Töpfer, Handschuhmacher, Feilenhauer, Gelbgießer, Seiler, Schnellbleicher, Schiffbauer, Kürschner, Darmhändler, die Bäcker und gar die Zuckerbäcker – denken Sie an Gefrorenes! – die Eisen- und die Zinkhütten, die Fabrikanten von Papier, Dünger, Kunstwolle, Saiten, Oel, Tuch, Cement …“

„Und noch einige andere.“

Als wir dieses Gespräch führten, standen wir auf altehrwürdiger Stätte, die von unseren Vorfahren wohl schon zu den Zeiten, da Hermann den Varus schlug, nur mit frommem Schauder betreten wurde. Galt doch jeder Ort, wo man Salz fand, den alten Deutschen als heilig. Daß sie hierin dem Beispiel so mancher anderer Völkerschaften des grauen Altertums folgten, für die das Salz symbolische Bedeutung hatte, braucht wohl kaum erwähnt zu werden; bedeutet doch noch heutzutage die Darreichung von „Salz und Brot“ in Rußland und anderen östlichen Ländern die Zusicherung schützender Gastfreundschaft.

Die Erinnerung an jene Anschauungen unserer deutschen Altvordern mag den Anlaß gegeben haben, daß man das auf unserem Bilde oben vorgeführte Gebäude mit säulengeschmückter Pforte und Kuppelüberbau in seiner Gesamtform einem Tempel einigermaßen ähnlich gestaltet hat. Sein Dach beschirmt die segensreiche Solquelle, die den eigentlichen Mittelpunkt des Lüneburger Salinenbetriebes bildet. Das Bergmannswappen, Hacke und Schlägel, sowie der bergmännische Gruß „Glück auf!“ über dem Eingange erklären sich aus dem Umstande, daß die Saline unter Oberaufsicht des Oberbergamtes zu Clausthal steht. Verwaltet wird sie durch die Königliche Salinendirektion unter Mitwirkung des Salineausschusses; diesen wählt die Jnteressentenschaft der Saline, bestehend aus den Nachkommen oder den Rechtsnachfolgern der alten „Sülfmeister“, von deren einstigem Wirken und Schaffen Julius Wolff in seiner gleichnamigen Erzählung den weitesten Kreisen Kunde gegeben hat. „Die Solquelle,“ so berichtet da Gilbrecht, der Sohn eines Sülfmeisters, seinem Wandergenossen Timmo, „gehörte in alten Zeiten den Landesherren, aber die brauchten Geld, viel Geld und immer wieder Geld; da verkauften sie nach und nach die Solquelle an Klöster und Stifte und reiche Prälaten diesseit und jenseit der Elbe bis nach Walkenried hin. Den geistlichen Herren wurde aber der Betrieb des Salzwerkes zu unbequem, darum verpachteten sie die Einkünfte daraus in ganzen Pfannen oder in Pfannenteilen an Bürger unserer Stadt auf lange Jahre, zumeist in Erbpacht. Die Pächter heißen Sülfmeister und bilden eine eigene hoch angesehene Gilde. Im Reiche nennt man sie spottweise auch Salzjunker. Als ich auf Wanderschaft ging, gab es jährlich über 25 000 Wispel Salz, und zum Eindampfen brauchten sie nahe an 30 000 Klafter Holz. Solche Zahlen vergißt kein Lüneburger.“ –

Doch kehren wir nach diesem Abstecher in die Vergangenheit zur Gegenwart zurück!

[748] Das Innere des tempelartigen Gebäudes birgt ausschließlich das gewaltige Pumpwerk, getrieben durch Uebertragung der in der Nähe erzeugten Dampfkraft, die übrigens demnächst durch Elektrizität abgelöst werden soll; elektrische Beleuchtung ist jetzt schon vorhanden. 50 Fuß tief ist der Schacht, dessen Mündung der Besucher erblickt, und auf 82 Fuß Tiefe ist die „Pfahlquelle“, so nannte sie der alte Beamte, angebohrt, aus der durch die Pumpe die salzhaltige Flüssigkeit heraufbefördert wird. Völlig lichtweiß, etwa wie die Schaumkrone perlenden Sektes, braust die Sole stoßweise empor; in unterirdischen Röhrenleitungen fließt sie dann nach den Siedehäusern, 26 an der Zahl, die zusammen 1400 Centner Salz täglich liefern.

„Besondere Pumpwerke verhüten das Eindringen des Oberwassers in den Schacht,“ bemerkt noch der Beamte.

„Auf daß die Sole ungetrübt bleibe in ihrer fünfundzwanzigprozentigen Vollkommenheit,“ fügt mein Lünebnrger Freund hinzu. „Daher brauchen wir auch keine Gradierhäuser.“

„Was versteht man hierunter?“

„Eigenartige Vorrichtungen, wie man sie in denjenigen Salzwerken findet, deren Sole ihres mäßigen Salzgehaltes wegen das unmittelbare Sieden nicht lohnt. Stellen Sie sich etwa eine Doppelwand aus Holzbalken vor, mit einem Lattenspalier benagelt und mit dornigem Gestrüpp gefüllt. Auf dieses wird die geringhaltige Sole gesprengt. Beim Abfließen des Wassers verdunstet namentlich durch die Einwirkung des Windes so und soviel Feuchtigkeit, und da das Salz nicht mit verdunstet, nimmt das Wasser bei fortgesetztem Gradieren schließlich derart an Salzgehalt zu, daß die Sole siedewürdig wird. Das ist sie, wenn sie in 100 Gewichtsteilen 16 Teile Salz enthält, oder, wie man es nennt, ,sechzehnlötig‘ ist. Den Salzgehalt bestimmt das Areometer, auch Salzspindel genannt. Als einfachstes Areometer diente in älteren Zeiten ein rohes Ei; schwamm es auf der Sole, so war sie genügend gradiert und siedewürdig.“

Im Siedehause.

Wir hatten mittlerweile das Brunnenhaus verlassen und waren, nach flüchtiger Besichtigung des Dampfmaschinenraumes, der nichts besonders Erwähnenswertes enthält, zu einem der Siedehäuser gelangt. Eisig pfiff von der braunen Heide herüber der scharfe Ostwind, um so angenehmer war der Eindruck, als wir den auf dem untenstehenden Bilde dargestellten Raum betraten. Hier betrug die Temperatur etwa 36° R. Bei dieser Wärme ist es den hier beschäftigten wackeren Männern nicht zu verargen, daß sie ihr schweres Werk in derjenigen spärlichen Gewandung verrichten, die unsere Abbildung zart andeutet.

Das Gewinnen des Salzes aus der Sole ist so äußerst einfacher Art, daß es sich selbst in der Gegenwart mit allen ihren weltbewegenden Erfindungen auf dem Gebiete der Maschinentechnik kaum von der zu den Tagen der „Sülfmeister“ üblichen Methode unterscheidet. Wie rasch sich durch Verdampfen des Wassers das Salz freimachen ließ, wußten schon die alten Deutschen; sie schütteten die Sole auf glühende Kohlen, und das sich dadurch bildende, selbstverständlich ziemlich unreine Salz genügte ihren bescheidenen Bedürfnissen. Als die Menschheit das Kochen erfunden hatte, machte sich dieser Fortschritt auch bei der Salzgewinnung geltend. Anno 1453 standen, wie Wolff erzählt, 54 Siedehütten mit Strohdächern ringsum den Sod (Brunnen): „Unter der Aufsicht der Beamten, des Barmeisters und des Fahrtmeisters, der Ober- und Untersogger, der Stiege- und Flodschreiber, hantierten dort die Sülzknechte, die Gestängewärter und Brunnenmacher, die Pfannengießer und Büttenträger, die Sieder und Hüter, die Holzträgerinnen und die Salzführer, weit über 300 fleißige Menschen. In jedem Hause brodelten vier Bleipfannen mit der flüssigen Sole über dem Feuer, und das Innere der Hütten schimmerte und glänzte wie Silber von den feinen, blitzenden Krystallen, die sich mit dem Wasserdampf noch verflüchtigt und an Wänden und Gebälk niedergeschlagen hatten.“ Von diesem Silberüberzug der Wände ist, nebenbei bemerkt, heutzutage wenig oder gar nichts sichtbar; es dürfte also von der edlen Sole etwas weniger verspritzt werden als Anno dazumal.

[749] Auf unserem Bilde stehen die Sieder vor der auf ebener Erde ruheuden eisernen Pfanne, in welcher die durch eine unterirdische, hier nicht sichtbare Röhrenheizung erhitzte Sole brodelnd kocht und qualmt. Zunächst erhalten sie die Flüssigkeit im Sieden und lassen immer frische Sole nachfließen, bis sich auf der Oberfläche ein dünnes, aus kleinen Salzkrystallen gebildetes Häutchen zeigt. Dann wird dieser Vorgang (das „Stören“) unterbrochen und der Zufluß wird abgestellt. Nun läßt der Sieder bei mäßiger Hitze das Salz auskrystallisieren, das sich dabei am Boden der Pfanne ansammelt, bis die Flüssigkeit zum größten Teile verdampft ist. Dieser Teil der Arbeit heißt „das Soggen“. – Will man feines Salz haben, so unterhält man das Wasser in gelindem Sieden; will man grobkörniges Salz, so erniedrigt man die Temperatur.

Im Trockenraum für grobes Salz.

In der vordersten Pfanne auf unserem Bilde ist nur noch wenig Flüssigkeit, die „Mutterlauge“, vorhanden, denn der Sieder schaufelt bereits das gewonnene Salz auf den über der Pfanne befindlichen schrägen Holzkasten, der bis zum Dache hinanreicht. Auf dieser Bretterunterlage tröpfelt noch ein Teil der Flüssigkeit aus dem Salze ab, wieder in die Pfanne zurück, die dann aufs neue mit Sole gefüllt wird.

Jede Sole enthält Gips. Dieser scheidet beim Sieden aus und bildet den auf dem Boden der Pfanne sich ansetzenden „Pfannenstein“, der stets noch einen Teil Kochsalz enthält. Er dient in gepulvertem Zustande als ein vorzügliches Düngemittel, liefert auch die sogenannten „Lecksteine“, eine dem Landwirte für sein liebes Vieh sehr schätzbare Ware, da sie allen Grasfressern zur hochwillkommenen „Leckerei“ im buchstäblichen wie im bildlichen Sinne des Wortes dient.

Daß die Arbeit des Sieders keine leichte ist, liegt auf der Hand; schon der in diesen Räumen herrschende hohe Wärmegrad bedingt das. Es muß ununterbrochen Tag und Nacht geschafft werden, denn bekanntermaßen dulden Krystallisationsvorgänge keine Unterbrechung, und daher gab es hier früher auch an Sonntagen keine Pause. Die Arbeiterschutzgesetzgebung der Neuzeit hat bewirkt, daß jetzt alle drei Wochen ein Sonntag vorkommt, an dem die Feuer erlöschen und die Pfannen erkalten.

Das soeben im Siedehause gewonnene Salz ist durch das Abtröpfeln noch lange nicht genügend trocken geworden. Es wird daher auf Karren geladen und nach den Trockenräumen geschafft.

Unsere obenstehende Abbildung der Darre für grobe Salze bedarf kaum der Erläuterung: auf einer fast den ganzen Raum einnehmenden eisernen Pfanne, unter der sich die mit heißer Luft gefüllten eisernen Röhren entlang ziehen, verliert das Salz auch noch den letzten Rest Feuchtigkeit. Hier herrschen etwa 40° R, und wenn draußen Hundstagsschwüle obwaltet, mag der Aufenthalt im Trockenraume wohl nur äußerst frostigen Leuten gemütlich vorkommen.

Gleiches gilt für den Trockenraum für Tafelsalz, den unser Bild nebenan veranschaulicht. Hier dient die unmittelbare Einwirkung der stark erhitzten Luft zum Darren des auf sogenannten Holzhorden ausgebreiteten Salzes. Das Austrocknen wird denn auch so gründlich hierdurch besorgt, daß, wie unser Führer mit Genugthuung betonte, Lüneburger Tafelsalz in den zierlichen Näpfchen, die auf wohlgedeckter Tafel den Gästen beim Mahle zur Hand stehen, sich nicht zusammenballt, sondern unübertrefflich locker bleibt.

Im Trockenraum für Tafelsalz.

Die fertige Ware wandert in die Niederlagen, wo sie in Säcke zu 75 kg oder in Fässer zu 150 kg gefüllt wird, um dann hinauszuziehen, zum kleineren Teil auf der Ilmenau, zum größeren auf den Schienenwegen, und weiter von den Hafenplätzen aus über das Meer in alle Welt. – In den Niederlagen wacht ein uniformierter Beamter darüber, daß mittels der Salzsteuer auch der Staat seinen Anteil empfange vom Segen der Lüneburger Solquelle.

Wir wanderten nunmehr nach den ein Viertelstündchen Weges von der Saline entfernten, in der Stadt belegenen Geschäftsräumen der Königlichen Direktion; sie tragen an der Thür die bescheidene, wohl althergebrachte Inschrift: „Salzschreiber“.

Hier prangt im Zimmer der leitenden Herren eine reichhaltige Sammlung aller Arten des erzeugten Salzes in schmucken hohen Krystallgefäßen, dem Prunkgewand für Ausstellungszwecke. Zunächst schneeweißes Salz in feiner, gröberer und großer Körnung, dann eine schwach ziegelrötlich schimmernde Mischung mit Wermut und Eisenoxyd, nämlich Viehsalz, sowie in hellbläulicher Masse das Gewerbesalz, Zusätze von Kupfervitriol und Ultramarin enthaltend. Die beiden soeben genannten Salze sind „denaturiert“, von welcher Eigenschaft die Befreiung von der Salzsteuer bedingt wird. Noch zu einer erwähnenswerten Nebenverwendnng dienen Sole und Mutterlauge: mit der Saline ist eine Solbadeanstalt verbunden, die 4000 bis 5000 Bäder jährlich verabfolgt; sie wirken günstig bei skrophulösen Krankheitszuständen, chronischen Rheumatismen, Gicht, Bleichsucht und manchen anderen Leiden.

„Und all diesen Segen,“ fügte mein Freund hinzu, „verdankt die hier geheilte Menschheit im allgemeinen und unser Lünebnrg im besonderen dem nützlichen Haustiere, das auch die Bäder von Teplitz entdeckt haben soll; es ist nicht zu verwundern, daß es in der Sprache der Herren Studenten die Fülle des Glücks bedeutet!“

[750] „Die Sage von der Auffindung der Lüneburger Solquelle ist mir nicht unbekannt; besitzt sie eine geschichtliche Grundlage?“

„Das weniger. Der älteste historische Nachweis ist eine Urkunde vom 13. August 956, in der Kaiser Otto dem Kloster St. Michaelis bei Lüneburg den damals bereits sehr beträchtlichen Zoll von den Salzwerken schenkt. Doch ich will einen Chronisten reden lassen. Die Herren hier sind im Besitz eines ehrwürdigen Buches, in welchem auch das in unserm Rathause aufbewahrte Schinkenbein nebst Schulterblattknochen erwähnt wird.“

Das Buch wurde gebracht; es ist 1710 bei Johann Georg Lippen in Lüneburg erschienen; der Titel lautet: „Der Ursprung, Güthe und Gerechtigkeiten der Edlen Sültzen zu Lüneburg“, und der Verfasser Henricus Samuel Macrinus sagt unter § 6:

„Auf was Art die Saltz-Quelle erfunden sey, davon kan man noch weniger die Gewißheit berichten, jedoch will man auch in diesem Stück die allgemeine tradition nicht verschweigen, nemlich es wird erzehlet, daß eine schwartze Sau sich in dem Saltz-Brunnen geweltzet, und darauf in der Sonne geleget habe; als nun die Sahle trucken geworden, habe man gar gutes Saltz an den Schweins-Borsten wahrgenommen, ja die Saue davon gleichsam angeweisset gefunden, darauf der Sache ferner nachgesuchet, die Saltzsiederey angeleget, und zum Gedächtniß solcher Erfindung einen Theil von solcher schwartzen Sau aufgehoben, daß dann in E. Edlen Rahts so genandter Küchen bißhero asserviret worden. Vor 3 Jahren aber, als Se. Churfürstl. Durchlauchtige Landesfürstliche Huldigung in dieser Dero Churfürstl. Erb-Stadt obhanden war, hat man solches uraltes Fragmentum dieses so wohl meritirten Schweines in einen gläsernen Kasten eingeschlossen, und solcher in des Rahts Küchen-Stube zum weiteren ewigen Gedächtniß aufgehenget.“

„Nun aber,“ mahnte der Freund, „müssen wir erforschen, ob es in Lüneburg neben der braven Sole auch noch andere Flüssigkeiten giebt, und zwar solche, die sich dazu eignen, den Nachgeschmack des vorhin in Ihrem Munde weilenden Pröbchens zu vertreiben.“ Nach schuldiger Danksagung für die liebenswürdige Aufnahme suchten und fanden wir bald einen guten Tropfen, und die Gläser klangen aneinander bei dem Trinkspruch aus Wolffs „Sülfmeister“:

„Heil allweg Lüneburger Salz!
Gott hat’s gegeben, Gott erhalt’s!“


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

 (Schluß.)
Vroni nahm den Knaben an die Hand, Schorschl hob das Zenzerl auf seine Arme, und so stiegen sie durch die sinkende Nacht in die Simmerau hinauf. Der Mond kam über die Berge gestiegen und übergoß ihren Weg mit seiner silbernen Helle.

Der Kinder wegen sprachen sie mit keiner Silbe von dem doppelten Tod, dem dort unten die flackernden Kerzen leuchteten. Doch unermüdlich mußten sie Antwort geben auf all die Fragen der beiden Kleinen, für welche diese Wanderung durch die träumerische, vom Rauschen der Bäche erfüllte Mondnacht zu einem märchenhaften Ereignis wurde, das ihre kindlichen Herzen mit scheuer Lust und wohligem Gruseln erfüllte. In jedem kahlen Busch, dessen Zweige sich im fahlen Zwielicht bewegten, in jedem Felsblock, den der Mondschein umwebte, und im schwarzen Schatten jeder Bodenschrunde erblickten sie irgend etwas Geheimnisvolles. Der schwermütige Ruf eines Käuzleins machte sie zittern, und das muntere Geplauder der Bäche weckte ihre Neugier auf „die G’schichtln, die ’s Wasser erzählt“.

Geduldig schwatzte Schorschl mit ihnen und erzählte, was der Augenblick ihm eingab, harmlose Dinge, unter die sich zuweilen ein ernstes Wort mischte, dessen versteckten Sinn die Kinder nicht verstanden.

Das schwarze, verschobene Dach der Scheune tauchte hinter dem letzten Hügel hervor, den sie noch zu übersteigen hatten.

Da legte Vroni die Hand auf Schorschls Arm und flüsterte: „O mein Gott … schau, da droben steht er schon und wart’t!“

Das hatte sie kaum gesagt, als es wie ein erstickter Schrei über den Hügel herunterklang: „Vroni?“

Die Kinder erkannten die Stimme, winkten mit den Händen und schrieen in jubelnder Freude durch die Nacht hinauf: „Mathes! Grüß Dich Gott, Mathes! Ja! Wir kommen schon!“

Vroni nahm das Zenzerl von Schorschls Armen. „Gelt, Schorschl, bist mir net harb … aber jetzt thust mich allein lassen mit ihm?“

„Aber gern, Schatzerl! Schau, das begreif’ ich doch … könntst ja gar net aufrichtig reden mit ihm, wenn ich dabeisteh’. Gut’ Nacht halt, Schatzerl, gut’ Nacht für heut!“ Er wollte sie küssen.

Aber sie entzog sich ihm und flüsterte: „Geh, wart’ noch ein bißl … und nachher kommst noch ein Sprüngerl zu mir ans Fenster! Magst?“

„Ob ich mag? Da kannst noch fragen? Aber hörst! Acht Tag’ lang hock’ ich mich her da und wart’, wenn’s sein muß!“

Er ließ sich auf einen Felsblock nieder und trocknete sich die Stirn; so leicht das kleine Dirnlein auch war – bei dem langen, steilen Weg über die Halden herauf hatte ihm das Kind doch warm gemacht.

Als er Vroni mit den Kindern auf der Höhe des Hügels verschwinden sah, machte ihn der Gedanke an Mathes ganz beklommen. Aber verliebte Herzen schlagen flinke Purzelbäume über alle Tiefen weg – und so war auch der Daxen-Schorschl bald wieder mitten drin in seinem träumenden Glück. Das erste, was er sich ausdachte, war das Brautgeschenk, mit dem er Vroni am Hochzeitsmorgen überraschen wollte: eine silberne Halskette – eine ganz dünne, die nicht teuer ist, denn jetzt mußte er sparen! Aber an dem Kettlein sollten, schön in Silber gefaßt, jene dreißig Pfennige hängen, die er sich damals an jenem ersten Arbeitstag von Vroni verdient hatte. Diese drei Nickel, die er in all seinen Sorgen krampfhaft festgehalten, hatten ihm das Glück ins Haus gebracht!

Und die Bäckenmahm’ – das war sein zweiter Gedanke – die sollte es gut haben bei ihm! Der hatte er ja so viel zu danken! Denn eigentlich war doch sie es, die ihm geholfen hatte, indem ihr Unglück ihn zur Arbeit zwang. „Wenn die net so warm ’kriegt hätt’ in derselbigen Nacht, ich mein’ schier, es wär’ ein bißl kalt blieben bei mir in der Schmieden!“ Und gerade zur richtigen Zeit war die Hilfe gekommen – als er in seiner „Wildheit“ den Karren seines Glücks recht übel verfahren hatte! Bei diesem Gedanken durchlebte er in der Erinnerung wieder jene Begegnung am Rand des Straßengrabens – er hörte das Plumpsen und Kollern der Brotlaibe, sah Vronis zornblitzende Augen und hörte den sausenden Schwung der blauen Schürze.

Lachend duckte er den Kopf und wischte mit den Händen über die Wangen, als hinge ihm noch der Mehlstaub um die Ohren. „Sakra! Sakra! Das Madl hat die richtige Schneid’! Bei der muß ich mich gut aufführen … oder es kracht!“

So spann er in seinem warmen Glück einen fröhlichen Gedanken an den anderen und guckte mit lachenden Augen in den Mond. Als er nach geduldigem Warten endlich emporschlich über den Hügel, sah er, daß alle Fenster an dem kleinen Haus schon dunkel waren.

„Mar’ und Josef! Sie wird doch net schon warten auf mich?“

Da machte er lange Sprünge – und als er durch den verwüsteten Garten atemlos zur Mauer kam, an welcher der [751] angeschwemmte Schutt fast bis zur Höhe der Kreuzstücke lag, fand er richtig das kleine Fenster schon offen.

Ein „Bußl“, das kaum enden wollte, leitete die zärtliche Zwiesprach’ ein, die mit Lispeln und Flüstern durch das eiserne Fenstergitter gehalten wurde. Und schließlich gab es für den Daxen-Schorschl noch eine ungeahnte Ueberraschung.

„So, Schorschl! Jetzt is’ aber g’nug! Jetzt geh’ schön heim, gelt, und schlaf Dich g’hörig aus!“ so hatte Vroni gemahnt. „Hast Dich ja auch müd g’rackert den ganzen Tag über! Und morgen mußt wieder an d’ Arbeit! Gut’ Nacht, mein Liebster Du!“

„Gut’ Nacht, mein Schatzl, mein lieb’s!“

„Tausendmal gut’ Nacht!“ Erst noch ein Kuß, und dann kam der Nachsatz: „Aber wart’ ein bißl, jetzt kriegst noch was!“

„Was denn?“

„Paß nur auf!“

Vroni verschwand vom Fenster, und als sie wieder kam, sah Schorschl im Mondschein etwas blinken wie Gold.

Seine C–Trompete!

„Die hab’ ich g’funden und hab’ Dir s’ aufg’hoben, daß nix passiert dran!“

„Jesses na!“

In der ersten Freude dieses Wiedersehens wollte Schorschl die Trompete gleich an die Lippen setzen. Doch erschrocken griff Vroni mit beiden Armen zum Gitter heraus und stotterte: „Aber Schorschl! Was fallt Dir denn ein!“

„Meiner Seel’! Jetzt hätt’ ich schier gar vergessen …“

Da ging nun das Geflüster von neuem an, bis Vroni, um ihres Liebsten Schlaf und Ruhe besorgt, einen Gewaltstreich übte und jählings das Fenster schloß.

Schorschl plauderte noch eine Weile seine Zärtlichkeiten an die im Mondlicht blinkende Scheibe hin; aber die wollte sich nicht wieder öffnen.

„No also, in Gott’snamen! Gut’ Nacht halt, Schatzer!! Vieltausendmal gut’ Nacht!“

Seufzend nahm er die Trompete unter den Arm und trat mit hurtigen Schritten den Heimweg an.

Als er in die Nähe des Dorfes kam, konnte er der Versuchung, die ihn auf dem ganzen Weg gequält hatte, nicht länger widerstehen – er mußte seine Trompete hören, mußte das selige Glücksgefühl, das in ihm sprudelte und kochte, mit hellen Tönen hinausschmettern in die Nacht.

Lachend setzte er die Trompete an den Mund, und um der jubelnden Freude, die sein Herz erfüllte, so recht den passendsten Ausdruck zu geben, blies er mit schmachtenden Klängen, aber mit aller Kraft seiner gesunden Lunge in den stillen Mondschein:

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Das ich so trau–au–rig bin …“

Klingend warfen die Wälder und Berge das Echo zurück, als stünde am Fuß jeder Felswand und in jedem Waldwinkel ein Trompeter, der „so traurig“ war!

*               *
*

Tage und Wochen vergingen, der Frühling wandelte sich in Sommer, auch auf den höchsten Zinnen war längst das letzte Flecklein Schnee geschwunden, das Almrausch blühte in leuchtendem Rot, und gleich einem gestickten Fürstenmantel schmiegte sich in wechselnden Tönen das satte Grün der Halden und Wälder um die Flanken aller Berge.

Da war es an einem Tag in der zweiten Juliwoche. In der vergangenen Nacht hatte sich ein schweres Ungewitter über den Bergen entladen. Die Bäche waren noch gelb vom Regen und rauschten mit verdoppelter Macht; doch der Himmel leuchtete in reinem Blau – nur ein paar kleine kugelige Wölklein noch, die letzten Nachzügler der verschwundenen Wetterwolken, schwammen sacht und in silberweißem Glanze über die Berge hin. Alle Farben an Wald und Wiesen hatten gesteigerte Leuchtkraft, und die Luft war so rein und frisch, daß sich auch in den heißeren Mittagsstunden noch jeder Atemzug wie eine Erquickung genoß.

Alle Gehänge des zur Ruhe gekommenen Berges waren belebt; bald hörte man lachende Stimmen, bald einen Jodelruf oder die muntere Weise eines Liedes. Auf den tiefer liegenden Halden, welche durch die Erdbewegung und Überschwemmung weniger gelitten hatten, war schon die Heuernte im Gang, und mehr in der Höhe, auf den zerrissenen Wiesen, arbeiteten die Leute mit Pickel und Spaten, füllten die tiefen Bodenschrunden aus und bestreuten den geebneten Grund mit Grassamen. Von einzelnen Gehöften, die seit dem Herbste verlassen gestanden, hörte man Hammerschläge und das Geräusch der Säge; da waren die Maurer und Zimmerleute bei der Arbeit, um die übel zugerichteten Gebäude wieder in wohnlichen Stand zu bringen.

Aus dem Gärtlein der Simmerau hallten die schweren Schläge einer Axt, und zu diesem eintönigen Pochen gesellte sich mit drolliger Disharmonie die Weise des Liedes, das die beiden Kinder mit lustig kreischenden Stimmchen sangen:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!
Zwitschert Wald aus und ein,
Wo mag mein Schatzerl sein?
Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so hell!“

Die Kinder saßen, von lindem Sonnenglanz umzittert, mitten im hohen Gras einer Wiese und banden einen Blumenstrauß für den „Daxen-Vetter“ und die „Daxen-Mahm’“ – für Schorschl und Vroni, die vor drei Tagen fröhliche Hochzeit gehalten hatten.

Schorschl hätte sich freilich die junge Frau am liebsten schon im Mai in seine Schmiede geholt; aber der Simmerauer hatte sein Mädel bei der Arbeit gebraucht und wollte nichts von der Hochzeit wissen, ehe nicht sein Häuschen wieder so schmuck und freundlich dastand wie im vergangenen Sommer, ehe der Berg sein „närrisches Laufen“ begonnen hatte.

Nun blinkten aber auch die frisch getünchten Mauern wieder so weiß wie Schnee; Hausthür und Fensterläden waren mit grüner Oelfarbe neu angestrichen, die Scheiben spiegelten, und auf allen Gesimsen blüthen die roten Nelken. Auf dem Dache waren die neuen Ziegel so verteilt, daß sie zwischen den älteren, schon gebräunten Platten die Anfangsbuchstaben von Michels Namen zeigten, die Jahreszahl und die verschlungenen Initialen I. H. S. „Jesus, Heiland, Seligmacher.“

Der Brunnen war wieder in Ordnung, der Hofraum mit feinem Kies überstreut, der Zaun ohne Lücken. Auch die Scheune war gründlich repariert und Michel kränkte sich nur darüber, daß sein „schöner Stadel“ durch das Gemisch der alten und neuen Bretter einen so „schecketen“ Anblick bot!

Im Garten freilich sah es noch übel aus. Der brauchte Jahre, um sich ganz zu erholen. Wohl hatte man allen Schutt entfernt, den die Erdbrüche und das Wasser bis an die Mauern geworfen; auch die Beete waren neu hergerichtet und schon mit Gemüse und Blumen angepflanzt. Aber an die zwanzig Obstbäume waren zerstört, und die jungen Wildlinge, auf welche Michel schon im Mai die Edelreiser gepfropft hatte, wollten in dem steinigen Boden nur langsam vorwärts kommen und hatten noch kaum die ersten Blättchen getrieben. Jene Bäume, die nur zu kränkeln schienen, hatte der Alte all die Wochen her gepflegt wie leidende Kinder, hatte gute Erde um ihre Wurzeln gelegt und die Stämme, von denen die Rinde abgeschunden war, mit wachsgetränkten Lumpen umwickelt. Ein Paar dieser Patienten hatte er auch glücklich durchgebracht – aber die anderen waren abgestorben, als die Sommerhitze begonnen hatte. Und nun mußten sie umgeschlagen werden, damit doch das Holz sich noch verwerten ließe!

Seit dem Morgen waren Michel und Mathes mit den Aexten bei der Arbeit – und so oft von den dürren Bäumen einer mit Krachen niederstürzte, rollten dem Alten ein paar Zähren über die runzligen Wangen. Und von jedem fallenden Baum beteuerte er: „Der hat die besten Aepfel ’tragen! Solchene giebt’s fein nimmer in der ganzen Gegend!“ Bei diesem Kummer war es ihm aber doch ein Trost, wenn er von einem der jungen Stämmchen zum andern ging und die kleinen blaßgrünen Blättchen musterte, welche die zarten Pfropfreiser getrieben hatten.

„Ich sag’ Dir, Mathes, die strecken sich mit jedem Stündl! Weißt, jetzt spüren s’ halt die warme Sonn’! Und allweil mein’ ich, daß ich von denen noch ein’ guten Apfel erleb’!“

„Ja, Vater! Der soll Dir noch schmecken!“ sagte Mathes, während er die Axt aus den Händen legte und nach der Säge griff, um einen gefällten Stamm in Stücke zu schneiden.

Sein Aussehen hatte sich gebessert seit dem Frühjahr. Wohl [752] war bei der schweren Arbeit seine Gestalt so hager geblieben, wie sie immer gewesen; doch seine Bewegungen waren nicht mehr so eckig wie sonst, viel weicher und geschmeidiger. In seinem Antlitz hatten sich alle die harten Züge gemildert, und unter der sonnverbrannten Stirne leuchteten die Augen wie zwei klare Sterne.

Rastlos stand er bei der Arbeit; doch sein ganzes Wesen war, so sehr er sich dem Vater gegenüber auch zur Ruhe zwang, von einer ungeduldigen Erregung befallen, die sich mit jeder Minute noch zu steigern schien.

Als die Turmuhr drunten im Thal die dritte Nachmittagsstunde schlug, legte Mathes tiefatmend die Säge nieder.

„Vater … schau, es leid’t mich nimmer … jetzt muß ich ein bißl ’nunterschauen!“

Michel nickte ihm lächelnd zu. „Ja, Mathes! Wenn D’ meinst, so geh halt! Es plagt mich schon selber, daß ich erfahr’, wie der Hof auf der Gant heut weg’gangen is und wer ihn eing’steigert hat … und ob ihr ein bißl was blieben is.“

Mathes schwieg, und seine Lippen zitterten.

„No also, Bub! So geh halt! Und b’hüt’ Dich Gott!“

„B’hüt Dich Gott, Vater!“

Mathes ging ins Haus, um die Arbeitskleider gegen sein Sonntagsgewand zu vertauschen. Als er, zum Ausgang fertig, wieder ins Freie trat, sah er die Mutter bei der Scheune stehen. Sie hatte die Hände auf dem Rücken liegen und blickte träumend ins Thal hinunter, aus welchem, wenn der Wind ein wenig schärfer bergwärts zog, mit halbverwehtem Klang das Hammer-Trio der Daxenschmiede herauftönte.

Als Mutter Katherl den Schritt des Sohnes hörte, blickte sie auf. „Hörst ihn, wie er dreinschlagt da drunten?“ sagte sie lächelnd; aber dabei hatte sie feuchte Augen. „Er, natürlich, er hammert den ganzen Tag!“ Sie seufzte leis. „Aber was wird wohl jetzt mein Madl treiben?“

„No mein, arbeiten halt!“

„Ja freilich, in so ein Hauswesen mit sechs g’wachsene Leut’, da heißt’s ordentlich schaffen! … Und meinst, sie hat’s gut bei ihm?“

„Ja, Mutterl! Besser hätt’ sie ’s net treffen können!“

„Gott sei Dank fürs Madl, ja!“ Wieder seufzte Mutter Katherl. „Aber mich kommt’s hart an, weißt! An das leere Stüberl da drin kann ich mich halt gar net g’wöhnen!“

Dunkle Röte huschte über die gebräunten Wangen ihres Sohnes, und es schien, als wollte er sprechen; doch er schwieg und rückte nur den Hut.

„Wo gehst denn hin?“

„Ein bißl ’nunterschauen halt!“

„So so! … B’hüt Dich Gott!“

Der forschende Blick der Mutter machte ihn ganz verlegen. Mit schwankender Stimme erwiderte er den Gruß und ging; doch nach wenigen Schritten kehrte er wieder um, faßte die Hand der alten Frau und sagte: „Mutterl! Wenn’s gut geht … ’leicht bring’ ich Dir wen … ins leere Stüberl ’nein …“

„Mathes! Jesus Maria! Bub! Mein lieber Bub!“

Aber da hatte er sich schon von der Hand der Mutter losgerissen und eilte mit langen Sprüngen davon.

Während sie ihm freudig betroffen nachblickte, sangen in der Wiese die beiden Kinder:

„Vogerl im grünen Wald
Zwitschert so süß,
Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab’!
Vogerl am kühlen Bach
Zwitschert so süß!“

Mathes konnte die fröhlichen Stimmchen des kleinen Paares noch hören, und während er thalwärts eilte, murmelte er die Worte des Liedes mit. Er selbst hatte ja, als er noch ein Knabe war, dieses Liedlein gesungen da drüben unter den Haselnußstauden, nicht weit vom Gaßnerhäuschen. Und als ihm diese Erinnerung kam, war es ihm plötzlich, als klänge dicht an seiner Seite eine zarte, weiche Mädchenstimme:

„… Zwitschert Bach auf und ab,
Bis ich mein Schatzerl hab’ …“

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, und seine Schritte wurden langsamer. Mit heißen Blicken spähte er über all die Pfade aus, die vom Dorf über den Berghang emporführten. Doch niemand kam aus dem Thal heraufgestiegen. Er sah nur die Leute, die auf den Halden mit Schwatzen und Lachen bei der Arbeit waren.

Als er das letzte Wäldchen erreichte, ließ er sich im Schatten einer alten Wetterfichte nieder. Von hier aus konnte er die Straße vor dem Purtschellerhaus und einen Teil des Wirtschaftshofes überblicken.

Die Versteigerung, welche Purtschellers Gläubiger erwirkt hatten, mußte schon vorüber sein; denn Mathes sah dort unten ein fortwährendes Kommen und Gehen von Leuten; Möbelstücke wurden aus dem Haus geschleppt und auf bereitstehendes Fuhrwerk geladen; die Scheunen wurden geleert und die Pferde und Rinder davongeführt.

Immer wieder mußte Mathes mit der Hand über die Augen wischen, so umflort war ihm der Blick. Dieses Treiben dort unten sehen zu müssen, das schnitt ihm in die Seele. Es war ja Karlin’s Habe, die von diesen hundert fremden Menschen vertragen wurde in alle Winde! Und es hing doch an dem Gut, das hier verschleudert wurde, seine eigene Arbeit und sein Schweiß, ein Teil seines Lebens und ein Stück seines Herzens!

Mit brennenden Wangen, die Fäuste auf den Knieen, saß er an den Stamm der Fichte gelehnt. Stunde um Stunde verging; vor dem Purtschellerhof fuhren die hochbeladenen Wagen davon und die Leute begannen sich zu verlaufen.

In wachsender Unruhe wartete Mathes; plötzlich sprang er auf, mit erblaßtem Gesicht und zitternd an allen Gliedern.

Dort unten war eine schwarz gekleidete Frau aus der Hausthür getreten, mit einem weißen Bündel in der Hand. Im Garten blieb sie stehen und blickte lange auf das Haus zurück. Mathes konnte sehen, wie sie sich bückte, um eine Blume zu brechen. Dann trat sie auf die Straße, und hier stand sie wieder still, als wüßte sie nicht, welchen Weg sie nehmen sollte.

Mathes streckte in jäher Bewegung die Arme aus, als möchte er der Verlassenen dort unten seine Hände reichen, um sie zu führen.

Da schlug sie den Pfad ein, der von der Straße gegen den Berghang lenkte. Das gewahrte Mathes, und von seinen Lippen rang sich ein stammelnder Laut – wie erstickter Jubel, der sich nicht zu äußern wagt.

Eine Viertelstunde verging.

Dann kam sie müden Schrittes über den steilen Weg emporgestiegen. Sie trug ein schwarzes Wollkleid und hatte um den Kopf ein schwarzes Tuch geknüpft, aus welchem schmal und bleich das verhärmte Gesicht hervorlugte. An der Brust hatte sie eine rote Nelke stecken.

Ein Paar Schritte ging ihr Mathes entgegen. „Grüß Dich Gott, Linerl!“

„Mathes! … Du?“ Dünne Röthe stieg ihr in die bleichen Wangen, und ihre Augen wurden feucht. Ohne ihm die Hand zu reichen, sagte sie leise: „Grüß Dich Gott auch!“

Seit jenem Abend, an welchem Mathes mit zornigem Griff den zum Schlag erhobenen Arm Purtschellers gefesselt hatte, waren das die ersten Worte, die sie miteinander sprachen.

Scheu blickte sie zu ihm auf.

„Mathes?“

„Was, Linerl?“

„Wie kommst denn jetzt da her?“

„G’wart’t hab’ ich auf Dich! Weißt, weil ich mir ’denkt hab’: es könnt’ doch sein, daß kommen thätst!“

Sie nickte. „Hätt’ ich ein’ andern Weg denn g’habt?“ Eine Weile schwieg sie. „Schau, d’ Vroni hat mir zug’red’t … und so will ich halt jetzt ’naus zu Deine Leut’ und will s’ drum anreden, daß s’ mir ein’ Unterstand geben, bis ich was anders find’.“

„Ja, Linerl, da hast recht g’habt! Und der Vroni ihr Stüberl wart’t schon auf Dich! Aber so viel müd’ schaust aus …“

Die Stimme versagte ihm, „geh, magst Dich net ein bißl niedersetzen?“ Mit beiden Händen kratzte er im Schatten der Fichte die dürren Reiser aus dem Moos und stäubte mit seinem Hut das Plätzchen ab. „Schau, Linerl, da hast ein guts Rasten jetzt!“

„Ja, Mathes! Vergeltsgott!“ Seufzend legte Karlin’ das Bündel ab und ließ sich nieder.

Nun saßen sie wortlos nebeneinander und blickten ins Thal hinunter. Leuchtend drangen einzelne Sonnenstrahlen durch die dichten, schwarzgrünen Zweige, die sich im Winde sacht bewegten –

[753]

Amerikanische Wasserotter auf Froschjagd.
Nach einer Originalskizze von F. Specht gezeichnet von A. Specht.

[754] und das gab auf den Händen und Gesichtern der beiden ein zitterndes Spiel von Lichtern und Schatten.

Nach einer Weile fragte Mathes: „Is drunten schon alles aus?“

„Ja, Mathes! Alles!“

„Und wie is er denn weg’gangen, der Hof?“

„Grad’ um d’ Hypothekenschuld.“

„Jesus Maria! Wie kann denn so was geschehen! Wenn auch droben der Wald halb ausg’schlagen und halb versunken is … der Hof allein is ja doch seine Hunderttausend und drüber wert!“

„Ja! Das hat mir gestern der Rufel auch g’sagt! Und er hat mir ’s Geld an’boten, daß ich mitsteigern könnt’!“ Karlin’ lächelte müd’ und schmerzlich. „Aber was thät’ denn ich allein mit so ein’ Hof!“

„Aber schau, ich hätt’ Dir ja g’holfen!“

Mit nassen Augen blickte sie zu ihm auf. „Und hätt’st Dir d’ Finger blutig g’arbeit’t … für andere Leut’!“ Ruhig schüttelte sie den Kopf. „Na, Mathes! Lieber net! Und schau, für mich is ja eh’ kein Platzl nimmer g’wesen in dem Haus da drunten!“

„Und gar nix is Dir ’blieben?“ stammelte Mathes mit erstickten Worten.

„Nix!“

„Aber ’s Inventari, und d’ Roß’ und ’s Vieh … das muß doch auch was ’bracht haben!“

„Ja! Siebentausend Mark! Aber da haben dem Toni seine Verwandten gleich d’ Hand drauf g’legt und haben g’sagt: ich hätt’ kein Recht net, weil kein Kind nimmer da is … und sie thäten Prozeß machen! Hätt’ ich streiten sollen, Mathes? Na! Ich hab’ ihnen alles zug’standen und hab’ g’sagt: ich will nix! Hab’ ich net recht g’habt, Mathes?“

Er drückte ihre Hände, und seine Stimme klang, als wäre ihm leichter und mutiger ums Herz geworden. „Ja, Linerl, ja, da hast recht g’habt!“

„Und schau, das is noch’s einzig’, was mir lieb is an allem Unglück: daß ich ’nausgeh’ aus dem Haus, grad’ so, wie ich ’nein’gangen bin … und schau, nix anders trag’ ich mit mir fort als wie den Kummer um mein Kindl!“ Die Thränen rollten ihr über die Wangen, und zitternd bedeckte sie die Augen.

Da rückte Mathes dicht an ihre Seite und zog ihr mit scheuer Zärtlichkeit die Hände nieder.

„Linerl … geh, sag mir … was willst denn machen jetzt?“

„Was bleibt mir denn über? Ein’ Dienst muß ich halt suchen. Und ich thu’s ja gern! D’ Arbeit fürcht’ ich net!“

Er schüttelte den Kopf und atmete schwer.

„Linerl …“

„Ja, Mathes?“

Es wollte kaum über seine Lippen: „Schau, Linerl, ich thät Dir was wissen!“

„Was denn?“

„Der Gaßner baut jetzt drunten im Ort … und sein Häusl am Berg droben, das könnt’ man jetzt billig haben. Gut schaut’s freilich net aus … aber ich mein’, es thät sich doch wieder herrichten lassen! Was meinst?“

Heiße Röte färbte ihre bleichen Züge. Das Gaßner-Häuschen! Das Haus ihrer Eltern! Das Dach, unter dem die Mutter sie geboren hatte! Die Mauern, zwischen denen ihr die Kindheit verflossen war in stillem, sonnigem Glück!

„Geh, Linerl, sag’ mir: thät’s Dich net freuen, das Häusl da droben?“

Karlin’ zitterte. Und obwohl sie verstand, wie er es meinte, sagte sie doch: „Verschenken thut’s ja der Gaßner net … und ich hab’ doch nix!“

„Aber schau, ich hab’ ein bißl was! Ja, Linerl, ich hab’ mir ein schöns Geldl z’samm’ g’raspelt die ganzen Jahr’ her! Siebenhundert Markln hab’ ich in der städtischen Sparkass’ drin. Das thät grad’ langen, mein’ ich. Vierhundert könnten wir dem Gaßner anzahlen … und mit dem andern thäten wir ’s Häusl einrichten. D’ Maurerarbeit mach’ ich selber, und aufs Zimmern versteh’ ich mich auch net schlecht! Wenn ich mich den Sommer über ein bißl rühr’, könnt’ ’s Häusl im Herbst wieder ausschauen, daß Dein’ Freud’ d’ran haben thät’st!“ Seine Stimme klang heiser und mit scheuem Bangen hing sein Blick an ihren Lippen. „Was meinst denn, Linerl?“

Da nahm sie seine Hände und sah ihm in die Augen. „So gut wie Du bist, Mathes, so gut is keiner nimmer!“ Sie löste die Nelke von ihrer Brust, und während ihr die Thränen über die Lippen rannen, reichte sie ihm die Blume hin: „Schau, das Nagerl hab’ ich mir noch ’brochen drunt’, weil mein Kindl die roten Nagerln so viel gern g’sehen hat … magst das Blümerl haben, Mathes?“

Heiß leuchtete ihm die Freude aus den Augen, und verlegen sagte er: „Ja, Linerl … da sag’ ich Dir fein Vergeltsgott dafür!“ Mit zitternden Händen nahm er den Hut ab und steckte die Blume achtsam hinter die Schnur. „Weißt, das Blümerl heb’ ich mir auf … und gut! Ja! Und sag’ Linerl …“ vorsichtig drückte er den Hut aufs Haar. „Wenn wir jetzt gleich ’naufgehen thäten, das Häusl ein bißl anschauen? Was meinst?“

„Ja, Mathes! Wie D’ willst!“

Mit festem Druck umspannte er ihre Hand. „So komm, Linerl, komm!“

Ein paar Schritte ließ sich Karlin’ von ihm führen; doch ehe der Pfad um die Ecke des Waldes lenkte, blieb sie stehen.

„Komm, Linerl!“

„Geh, laß mich noch ein bißl ’nunter schauen!“

Mathes sah, wohin ihre Blicke gingen, und da legte er den Arm um ihre Schultern. So standen sie lange schweigend und blickten zum Kirchhof hinunter, auf dessen Gräbern sich die eisernen Kreuze wie dünne schwarze Striche zwischen Grün und Blumen unterschieden.

Tief atmend trocknete Karlin’ ihre Thränen. Dann stiegen sie Hand in Hand über den steilen Hang empor, vom warmen Gold der Sonne umleuchtet. Die Drosseln schlugen in den Haselnußbüschen und die Luft war erfüllt von dem würzigen Wohlgeruch, der dem frischen Heu entströmte.

Es wollte schon Abend werden, als sie das einsame, verlassene Gehöft erreichten. Das kleine Haus, in welchem ihr Glück sich heimisch machen sollte, lag vor ihnen wie eine öde Ruine: die Mauern brüchig, das Dach verschoben, die Fenster ohne Kreuzstöcke, der Eingang ohne Thür und Balken. Und wie ein Schuttfeld waren Hof und Garten anzusehen, übergossen von Geröll und schweren Steinen.

Dennoch hingen ihre Augen mit leuchtendem Blick an dem kahlen Gemäuer – denn ihre Herzen sahen, was hier werden sollte. In Karlin’s Seele erwachte bei jedem Schritt ein Gedenken an die Kinderzeit, und diese Erinnerung belebte alles, was tot und verwüstet vor ihren Füßen lag.

Als sie die öden Räume durchwandert hatten und wieder ins Freie traten, nahm Mathes den Zollstab aus der Tasche und maß die Lichtung der Fensterhöhlen.

„Gleich morgen, wenn ich mit ’n Gaßner g’redt hab’, fang’ ich mit die Kreuzstöck’ an und laß vom Glaser d’ Scheiben einschneiden … weißt, damit’s nimmer ’neinregnet in d’ Stuben! Sonst fangt der Fußboden ’s Faulen an!“

„Ja! Und ich mach’ mich gleich über’n Garten her!“ sagte Karlin’. „Da müssen d’ Steiner aus’klaubt werden, eh’ man noch mit der Schaufel anfangt.“ Sie legte ihr Bündel nieder, hob einen schweren Stein vom Boden auf und trug ihn zu der aus Felsbrocken aufgeschichteten Mauer, die sich um den Garten zog.

Als sie den zweiten holen wollte, der noch gewichtiger war, so daß sie ihn kaum von der Erde emporbrachte, rief ihr Mathes zu: „Aber geh, Linerl, der is Dir ja z’ schwer! Den laß für mich!“ Er kam gesprungen, nahm ihr den Stein aus den Händen und trug ihn zur Mauer.

Nun sammelte Karlin’ das minder grobe Geröll, während Mathes sich mit den großen Brocken schleppte.

So begannen sie den Bau ihres Glückes! Und bei dem Eifer, mit dem sie schafften, bemerkten sie kaum, daß die Sonne zur Ruhe ging, daß drunten im Thal der Abendsegen geläutet wurde und aus dem dämmerigen Blau des Himmels die ersten Sterne leuchteten.


[755] 0


Blätter & Blüten.


Graf August von Platen-Hallermund. Neben den volkstümlichen Dichtern, welche in sinnigen und innigen Klängen aus dem Herzen des Volkes heraussingen, hat es stets Poeten gegeben, welche sprachgewaltig der dichterischen Schönheit huldigten und ihre Verse gleichsam mit unvergänglichen Zügen in den Marmor gruben. Unsere klassischen Dichter Goethe und Schiller stehen in der Mitte zwischen beiden: ein großer Teil der Goetheschen Dichtungen gehört den Meisterwerken dieser poetischen Skulptur an. Ein Dichter, dessen Säkulartag auf den 24. Oktober d. J. fällt, hat sich gerade durch die Formenschönheit seiner Poesien seinen Ruf und ein dauerndes Andenken erworben; er bleibt ein glänzendes Muster auch für die Volkspoesie; wenn diese allzusehr zu verlottern droht und allzubequem in ausgetretenen Pfaden dahinschlendert: da mag sie emporschauen zu den strengen Linien seiner meisterlichen Dichtung und von seiner Muse den ernsten graziösen Gang erlernen! Graf August von Platen war nicht bloß ein Verskünstler und Sprachbändiger ersten Ranges: er war auch ein Dichter, der eines hohen begeisterten Schwunges fähig war. Zu Ansbach am 24. Oktober 1796 geboren als Sohn eines bayrischen Oberhofmeisters, schlug er anfangs die militärische Laufbahn ein und nahm als Unterlieutenant an dem Feldzuge des Jahres 1815 teil. Nach der Beendigung desselben ließ er sich beurlauben und studierte, einem regen wissenschaftlichen Triebe folgend, in Würzburg und Erlangen, wo er sich an den Philosophen Schelling anschloß. Gegenstand seines Studiums waren Philosophie, Philologie und die orientalischen Sprachen, die ihm die Anregung zu Nachdichtungen, wie seine „Ghaselen“ (1821), gaben. In Deutschland fühlte er sich indes auf die Länge nicht heimisch; es zog ihn nach Italien, von wo er nach seiner ersten Reise seine schönen „Sonette aus Venedig“ (1824) mitbrachte, während er nach einem zweiten Besuch des klassischen Landes, das ja auch zwei der herrlichsten Dichtungen Goethes gereift, sich 1826 dauernd in demselben niederließ und von dort nur zweimal auf kurze Zeit nach Deutschland zurückkehrte. Erst in den Jahren 1832 bis 1834 hielt er sich wieder in München und Augsburg auf. Im Sommer 1834 kehrte er nach Italien zurück, flüchtete vor der Cholera nach Sicilien und starb dort am 5. Dezember 1835. Sein Grab ist im Garten der Villa Landolina bei Syrakus.

Graf August von Platen-Hallermund.

Unter Platens Oden und Hymnen finden sich einige, die, trotz mancher Verkünstelung der Form, tief aus der Zeit herausgegriffen sind und sich im Lapidarstil mit dem Schwung eines Lord Byron gegen die Machthaber wandten, welche die Freiheit der Völker gefährdeten und unterdrückten. In volkstümlicherem Ton ist diese Tendenz ausgeprägt in den „Polenliedern“, welche die ganze Energie der späteren politischen Lyrik atmen. Georg Herwegh kann in vieler Hinsicht als ein Jünger Platens betrachtet werden. Ebenso volkstümlich sind viele seiner Balladen, mag der Dichter nun den Einsiedler von St. Just oder Kolumbus und Alarich feiern. Was seine großen satirischen Komödien „Die verhängnisvolle Gabel“ und den „romantischen Oedipus“ betrifft, so werden darin litterarische Richtungen gegeißelt, die der Vergangenheit angehören. Dennoch sind diese Dichtungen nicht veraltet; sie atmen eine so schöne Begeisterung für echte Kunst, daß sie eine dauernde Mahnung bleiben müssen für alle Zeiten dichterischer Verwahrlosung. Hier lockt Platen in der That „der Sprache Zierden ab, daß alle Welt erstaunet“:

„Weltgeheimnis ist die Schönheit, das uns lockt in Bild und Wort;
Wollt ihr sie dem Leben rauben, zieht mit ihr die Liebe fort:
Was noch atmet, zuckt und schaudert, alles sinkt in Nacht und Graus,
Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus!“

G.     

Das Denkmal der Brüder Grimm in Hanau. (Zu dem Bilde S. 741.) Als der hundertjährige Geburtstag Jakob Grimms, der 4. Januar 1885, in weiten Kreisen des Vaterlands zum festlichen Anlaß wurde, sich der nationalen Bedeutung seines Wirkens wie des seines Bruders Wilhelm zu erinnern, fand die begeisterungsvolle Dankbarkeit ihren Ausdruck in dem Beschlusse, den beiden Bahnbrechern der deutschen Altertumsforschung, den Wiederbelebern der deutschen Volkspoesie, ihrer Märchen und Sagen ein gemeinsames Denkmal zu setzen. Ist doch die Gemeinsamkeit ihres Forschens eine so innige gewesen, daß sie ihre Sammlung der deutschen Volksmärchen geradezu als das Werk der „Brüder Grimm“ der Nation übergaben, in deren Bewußtsein diese Brüder seitdem eine litterarische Einheit bilden, aus welcher die Verdienste des einen nicht loszulösen sind von den Verdiensten des anderen. Und in dieser idealen Eintracht der Geister und der Gemüter ist es auch dem Künstler, der dann siegreich aus der Konkurrenz um den besten Denkmalsentwurf hervorging, dem Münchener Bildhauer Professor Eberle, gelungen, das kerndeutsche Gelehrtenpaar darzustellen. Das nunmehr in ihrer Vaterstadt Hanau enthüllte Denkmal zeigt den jüngeren der Brüder, Wilhelm, sitzend, mit einem Buch auf dem Schoß, während Jakob stehend die Linke auf die Lehne des Stuhls stützt und nachdenklich über die Schulter des Bruders auf die Blätter herabschaut, in denen dieser forschend liest. Die feine Sinnigkeit Wilhelms, die energischere Geisteskraft Jakobs ist in den Gesichtern gar lebensvoll charakterisiert. In die vorzügliche Ausführung der Figuren in Bronzeguß haben sich die Ruppsche und die Millersche Erzgießerei in München geteilt. Das schöne Bildwerk, das sich jetzt hochragend auf dem Hanauer Marktplatz erhebt, ruht auf einem Stufenunterbau von schwarzem Granit. Auf der Stirnseite desselben stellt ein Bronzerelief eine reizende Gruppe dar, ein Mütterchen, das der Jugend Märchen erzählt; demselben entspricht auf der Rückseite ein zweites Reliefbild: ein Gelehrter unterrichtet die Jugend. P.     

Erwerbsmöglichkeiten für deutsche Frauen in Amerika. Viele deutsche Mädchen richten, seitdem die Frauenarbeit auf der Weltausstellung in Chicago einen so ehrenvollen Erfolg errungen hat, ihre Blicke auf Amerika und möchten dort eine einträgliche Stellung finden. Aber sie sind gewöhnlich ganz im unklaren über die Wege dazu sowie über die Art der Leistung, welche dort Aussicht auf gute Bezahlung hat. Sie alle seien hierdurch aufmerksam gemacht auf einen älteren, aber noch völlig zutreffenden Aufsatz, welchen C. Wenckebach, Professorin am Wellesley College, Massachusetts, in der bekannten Zeitschrift „Die Frau“ (Verlag von W. Moeser in Berlin) veröffentlicht hat. Die erfahrene und urteilsfähige Verfasserin stellt darin zunächst fest, daß die Arbeit suchende junge Deutsche aus guter Familie den Begriff „standesgemäß“ zu Hause lassen muß, weil in Amerika nicht ein Unterschied zwischen Arbeiterinnen aus höheren oder niederen Ständen, sondern nur zwischen unausgebildeten und ausgebildeten Arbeiterinnen gemacht wird. Nur die letzteren haben Aussicht auf lohnende Arbeit, sie müssen aber beim Suchen derselben die in Deutschland so hochgeschätzte mädchenhafte Bescheidenheit mit einem ruhigen Selbstbewußtsein vertauschen, welches ohne Untertänigkeit die eigenen Leistungen ins rechte Licht setzt und dafür einen möglichst hohen Lohn zu erlangen sucht.

Diese Leistungen müssen bestimmte, den amerikanischen Bedürfnissen angepaßte sein. Gar keine Aussicht hat die in Deutschland so vielbeliebte „Stütze der Hausfrau“, das heißt, das junge Mädchen mit hilfsbereiten, aber ungeübten Händen, das mit geringem Lohn zufrieden ist, aber „völligen Familienanschluß“ als erste Bedingung stellt. Letzterer wird in keiner guten amerikanischen Familie einer Unbekannten gewährt, außerdem erfordert die Art des dortigen Haushalts keine „Stützen“, sondern Köchinnen, Kindermädchen, Haushälterinnen etc.

Da der Lohn dieser sämtlichen Dienstboten ein für unsere Begriffe sehr hoher ist (40 bis 160 Mark monatlich bei freier Station), da außerdem in den Häusern gebildeter und wohlhabender Amerikaner die Dienstboten hübsch möblierte Zimmer mit einer kleinen Bibliothek, häufig mit Nähmaschine und Klavier ausgestattet, bewohnen und die Behandlung durchaus höflich ist, so besteht gar kein Hindernis für eine junge Deutsche, auch aus besserer Familie, sofort in Dienst zu treten und allmählich zur hochbezahlten Hausaufseherin aufzurücken, ja noch weiter, wenn sie den Gehalt von ein paar Jahren zusammenlegt, um eine Industrieschule zu besuchen, und sich dem gewerblichen Leben zuwendet.

Glänzend bezahlt werden geschickte Schneiderinnen und Putzmacherinnen; einfache Arbeit nach dem Modejournal wird mit 25 bis 75 Mark für das Kleid berechnet, wer aber „Originaldichtungen in Seide und Spitzen“ zu machen versteht, kann mit der Zeit ein Vermögen erwerben.

Die deutsche Krankenpflegerin findet gleichfalls Arbeit und guten Verdienst, die geprüfte Aerztin muß den amerikanischen Studiengang nachholen.

Die deutsche geprüfte Lehrerin hat als Gouvernante nur dann Aussichten, wenn sie fließend französisch und englisch spricht, Musik und Zeichnen versteht. Kann sie statt der beiden letzteren Fächer Latein oder Griechisch lehren, so besitzt sie damit auch eine Anwartschaft auf guten Erwerb. Eine Schulstelle ist indessen jeder Privatstelle vorzuziehen, weil sich von ihr aus die Bahn zu den höheren Schulen, zu College und Universität eröffnet, wenn Talent und Charakter vorhanden sind.

Möchten doch recht viele Eltern junger Mädchen, die sich später ihr Brot verdienen sollen, diese vortrefflichen Winke beachten. Die Ausführungen von C. Wenckebach gelten nicht für Amerika allein: auch bei uns führt eine bestimmte Fachausbildung viel sicherer zum Erfolg als die verschiedenen halben Fähigkeiten, welche leider noch so oft die ganze Mitgift unserer Mädchen ausmachen! Bn.     

[756] Korsett und Bleichsucht. Warum erkranken wohl unsere jungen Damen so gar häufig an der Bleichsucht? Weil sie nicht naturgemäß leben, sich zu wenig in frischer Luft bewegen, lautet gewöhnlich die Antwort auf diese Frage. Die Bleichsucht des jugendlichen Alters ist darum eine Kulturkrankheit. Gewiß, das ist sie, sie war wenigstens den Aerzten des Altertums und des Mittelalters nicht in dem Maße bekannt, wie dies in unserm Zeitalter der Fall ist, aber sie befällt keineswegs nur Damen, die müßig dasitzen, sondern auch Dienstmädchen, die sich ausarbeiten, und zwar nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Lande in durchaus frischer Luft. In unsrer Kultur muß also ein besonderes Ding stecken, das sowohl auf dem Lande wie in der Stadt zur Vermehrung der Bleichsucht beiträgt. Und in der That hat man dieses Kulturding, den Hauptverursacher der Bleichsucht, ermittelt – in dem schon so oft verpönten Korsett.

Korsetttragen und Häufigkeit der Bleichsucht wandern Hand in Hand durch Zeit und Raum. So steht es fest, daß in den Städten Deutschlands Korsett und Chlorose erst zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zu größerer Verbreitung gelangten, unter der deutschen Landbevölkerung sogar erst um die Mitte dieses Jahrhunderts – daß nach den übereinstimmenden Zeugnissen der darüber berichtenden Aerzte auch unter der ländlichen Bevölkerung Schwedens die Bleichsucht erst in diesem Jahrhundert auftrat und schnelle Verbreitung gewann, daß die Perserinnen keinerlei den Brustkorb beengendes Kleidungsstück, aber auch keine Bleichsucht des Entwicklungsalters kennen und daß in Japan im allgemeinen nur die sich europäisch kleidenden jungen Damen bleichsüchtig werden. Diesen Zusammenhang des Korsetts mit der Bleichsucht hat Dr. E. Meinert im Heft 115/116 der „Sammlung klinischer Vorträge“ durch anatomische Untersuchungen in überzeugender Weise klargelegt. Leider ist diese Schrift nur für Aerzte verständlich. Denselben Gegenstand hat aber auch Prof. O. Rosenbach in einem Büchlein „Korsett und Bleichsucht“ (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt) gemeinverständlich behandelt, das fleißige Beachtung unsrer Frauenwelt verdient.

Durch diese Arbeiten wird wieder einmal klargelegt, wie unheilvoll das Korsett auf die Gesundheit des weiblichen Geschlechtes einwirkt, wie zweckwidrig und geradezu schädlich unsere Frauenkleidung ist. Möchten sie doch dazu beitragen, daß die oft versuchte und von allen einsichtsvollen Menschen gebilligte Kleidungsreform der Frauenwelt endlich zur Wahrheit werden möchte! Welches Verdienst um die Völker Europas würde sich eine Fürstin erwerben, die mit gutem Beispiel auf dieser Bahn vorgehen wollte. Die Nachwelt könnte sie preisen als eine Erlöserin des Kulturweibes aus schändlichen und schädlichen Banden. Aber auf diese Frauenemancipation werden wir allem Anschein nach noch ein gutes Weilchen warten können, obgleich es an Befürwortern derselben auch nicht in der deutschen Frauenwelt mehr fehlt. Bis dahin kann man der Frau, die in der modernen Tracht mit einhergehen zu müssen glaubt, nur den Rat geben, das enge Schnüren zu vermeiden und so wenigstens einen Teil der Schädlichkeit zu beseitigen.

Um festzustellen, welche Größe des Korsetts den individuellen Verhältnissen, also dem Bedürfnisse der Atmung, der Herzthätigkeit und Verdauung, entspricht, empfiehlt Professor Rosenbach folgendes Verfahren: Nachdem das Korsett nach Ablegung der Oberkleider von vorn völlig geöffnet ist, drückt man es mit zwei Fingern leicht gegen die Brustwand und läßt nun so lange tief einatmen, bis die entsprechende vollkommene Form der Atmung, das heißt ergiebige Erweiterung des Brustraums ohne angestrengte Mitwirkung der Halsmuskeln und ohne Beeinträchtigung der Magengegend erzielt ist. Die Größe des Abstandes der vorderen Korsettränder bei der tiefsten Einatmung giebt dann das Maß für den wahren – nicht der Mode, sondern den körperlichen Bedürfnissen entsprechenden Umfang des Schnürleibes. *      

Im Galopp.
Nach dem Gemälde von Ferd. Pacher.

Amerikanische Wasserotter auf Froschjagd. (Zu dem Bilde S. 753.) Unter den Giftschlangen Nordamerikas ist die Wasserotter oder Wasserlanzenschlange eine der gefürchtetsten. Das mächtige bis anderthalb Meter lange Reptil bewohnt Bäche und Flüsse, Teiche und Seen, Brüche und Sümpfe und macht hier nicht nur die kühle Flut, sondern auch das Land in der nächsten Umgebung des Wassers unsicher. Die Wasserotter zählt zu den Schlangen, die am Morden Lust empfinden; sie beißt, auch wenn sie gesättigt ist, und bedroht nicht nur ihre Angreifer, sondern jedes an ihr vorüberziehende lebende Wesen. Darum ist sie auch der Schrecken der Menschen, namentlich der Reisbauer, die in sumpfigen Gründen arbeiten. Das Gift dieser Schlange hat furchtbare Wirkungen, denn es tötet sowohl Warm- wie Kaltblüter, ja selbst Giftschlangen anderer Art. Ihre Lieblingsnahrung bilden Fische und Frösche, und auf einer Jagd nach diesen Tieren ist auch die Wasserotter begriffen, die unser Bild dem Leser vorführt. Die Schlange hatte bereits einen Fisch aus dem Wasser geholt, als sie eines Frosches ansichtig wurde. Sie läßt das eine Opfer liegen und packt mit sicherem Schlag das neue. Das Kleid der Wasserschlangen ist auf hellerem Grunde dunkel gebändert, aber die Färbung wechselt vielfach; denn gleich anderen Schlangen passen sich die Wasserottern der Umgebung an. So giebt es schwarze, erdbraune, kastanienbraune und olivenfarbige Spielarten. – Die Wasserottern können in Terrarien gehalten werden, denn sie nehmen in der Gefangenschaft Nahrung an und pflanzen sich ohne Schwierigkeit fort. Ihre Mordlust legen sie aber auch hier nicht ab und vergiften in kurzer Zeit alle Tiere, die man ihnen beigesellt; selbst die stärkeren Klapperschlangen werden von ihnen arg zugerichtet.

Im Galopp. (Zu dem nebenstehenden Bilde.) Ja, so sind die Mütter! … Eigentlich sollte sie zanken, wenn ihr Jüngster durch seine gar nicht mehr so leichte Persönlichkeit die Last auf dem Schubkarren noch mutwillig vermehrt. Aber statt dessen fährt sie noch „Galopp“ und lacht dazu – und hat ganz recht, denn um einen Prachtjungen wie dieser kleine Hans Ohnestrumpf könnte ja eine Königin die arme Frau beneiden: die Aehnlichkeit zwischen Mutter und Sohn trägt auch noch bei zu dem erfreulichen Eindruck des anspruchslosen hübschen Bildchens, das niemand ohne Vergnügen betrachten wird.

Die Zählung der Tierwelt. Die Zahl der gegenwärtig auf der Erde lebenden Tierarten beträgt Hunderttausende und wird immer größer, je genauer Länder und Meere durchforscht werden. Neuerdings wurden von Zoologen die bis jetzt bekannten Arten gezählt und es kam dabei die stattliche Summe von 366000 Tierarten heraus. Am reichhaltigsten sind die Insekten vertreten, denn sie allein umfassen 230000 Arten. Von Vögeln kennen wir 12500, von Fischen 12000, von Lurchen und Kriechtieren 4400 und von Säugetieren 2500 Arten. Der Rest entfällt auf die niederen Tiere, unter denen die Mollusken mit 50000 Arten obenan stehen. *      


Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (6. Fortsetzung). S. 741. – Das Denkmal der Brüder Grimm in Hanau. Bild. S. 741. – Es kommt ein Tag, der der letzte ist. Gedicht von Ernst Scherenberg. S. 744. – Die Eröffnung des Eisernen Thores. Von Paul Lindenberg. S. 744. Mit Abbildungen S. 745 und 746. – An der Quelle des Lüneburger Salzes. Von Gustav Kopal. S. 747. Mit Abbildungen S. 747, 748, 749 und 750. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (Schluß). S. 750. – Amerikanische Wasserotter auf der Froschjagd. Bild S. 753. – Blätter und Blüten: Graf August von Platen-Hallermund. Mit Bildnis. S. 755. – Das Denkmal der Brüder Grimm in Hanau. S. 755. (Zu dem Bilde S. 741.) – Erwerbsmöglichkeiten für deutsche Frauen in Amerika. S. 755. – Korsett und Bleichsucht. S. 756. – Amerikanische Wasserotter auf der Froschjagd. S. 756. (Zu dem Bilde S. 753.) – Im Galopp. Mit Abbildung. S. 756. – Die Zählung der Tierwelt. S. 756.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

[756 a] 0


Die Gartenlaube.

Beilage zu No 44. 1896.


Ein Senior der Wissenschaft – Moritz Wilhelm Drobisch. Eines der ehrwürdigsten Häupter der deutschen Gelehrtenwelt ist vor kurzem dahingegangen; am 30. September starb der Leipziger Professor Drobisch in seinem fünfundneunzigsten Lebensjahre, einem Alter, das zu erreichen in Deutschland kaum einem hervorragenden Gelehrten vergönnt war. Trotz dieses hohen Lebensalters hatte der Senior der philosophischen Fakultät und der Universität Leipzig sich eine seltene geistige Frische und Regsamkeit bewahrt; er war auch nicht in sein Zimmer, nicht an den Lehnstuhl gebannt, man konnte den ehrwürdigen Greis mit den scharfgeschnittenen Zügen, den stahlblauen Augen, den langen Silberhaaren oft über die Leipziger Promenade wandern sehen, und er machte durchaus nicht den Eindruck eines gebrochenen Alten. Drobisch war am 16. August 1802 in Leipzig geboren, hatte hier die Nikolaischule besucht und dann die Fürstenschule in Grimma. An der Leipziger Universität widmete er sich dem Studium der Mathematik und habilitierte sich 1824 daselbst mit einer mathematischen Arbeit, worauf er seine erste Schrift über die Trigonometrie herausgab. Im Jahre 1832 veröffentlichte er eine noch heute beachtenswerte kleine Schrift „Philologie und Mathematik als Gegenstände des Gymnasialunterrichtes“. Bis zum Jahre 1842 trug er Mathematik an der Universität vor; hin und wieder las er auch damals schon philosophische Kollegien. Dann aber wurde er ordentlicher Professor der Philosophie, und seine Vorlesungen über Logik und Psychologie versammelten stets einen ansehnlichen Hörerkreis. Drobisch vertrat in seinen Lehren die Herbartsche Schule, zu deren hauptsächlichsten Mitbegründern er zählte. Die Zahl der Jünger Herbarts hat sich inzwischen bedeutend gelichtet, doch gilt dies ebenso von den Jüngern Hegels, dessen Philosophie Jahrzehnte hindurch als eine große geistige Macht den Gedankenkreis der Zeitgenossen und selbst das preußische Staatswesen beherrschte. Die Systeme verwelken und blättern ab, und doch setzt die Philosophie immer neue Knospen an. Die naturwissenschaftliche Methode, welche Drobisch vertrat und namentlich in der Seelenkunde verwertete, ist nicht erstorben; in den Untersuchungen von Fechner und Wundt lebt sie fort. Und so konnte der Nestor der deutschen Gelehrten, der zugleich Ehrenbürger der Pleißestadt war, auf sein Wirken, das an der Universität, der er so lange angehört hatte, neue Wurzeln schlug und welches kein verlorenes war, mit stiller Genugthuung zurückblicken.

Der Regensburgerhof in Wien. Ein Meisterstück gotischer Architektur, der Stephansturm, ist bis zur Stunde das Wahrzeichen Wiens. Sonst ist die Kaiserstadt an der Donau nicht überreich an mittelalterlichen Bauwerken. Die Herrenschlösser und Monumentalbauten des Barocks walteten bis zur jüngsten Stadterweiterung in der Altstadt vor. Weit zurück in das 12. Jahrhundert jedoch reicht das Alter eines Gebäudes, das in seiner Anlage und Erscheinung kraftvoll das deutsche mittelalterliche Städtewesen verkörpert, der Regensburgerhof am „Lugeck“; mit Bedauern hat es daher alle Freunde von Alt-Wien erfüllt, als neuerdings der Abbruch des Bauwerks beschlossen wurde. Im Mittelpunkt des Handelsgetriebes entschwundener Jahrhunderte stehend, war dieser uralte Gebäudekomplex der Stammsitz der Regensburger Kaufleute, gleichwie der Kölnerhof dicht daneben die rheinischen Handelsniederlassungen in Wien umfaßte. Bis vor seiner letzten Restaurierung befand sich als Wahrzeichen auf seiner Front ein Bild der Stadt Regensburg mit dem Knüttelvers:

„Mich Regensburg bewahr allezeit
Die allerheiligste Dreifaltigkeit.“

Der Regensburgerhof in Wien.

Länger als das Gemälde erhielten sich zwei große Steinfiguren unterhalb der beiden Erker, rechts ein Weib, links ein Mann, beide mit vorgebeugtem Körper ausschauend, „lugend“: der Sage nach ein Bürgerpaar, das nach einem verlorenen Sohn ausblickt. Angeblich diesen trostlosen Eltern zu Ehren hat der Volksmund den Platz in „Lugeck“ umgetauft, in Wahrheit liegt nur Sprachverderbnis von „Laubeneck“ vor. Der Regensburgerhof hat große Feste erlebt; hier bewirtete in den bewegten Zeiten des 15. Jahrhunderts der begüterte Bürger Niklas Teschler als Besitzer dieses stolzen Hauswesens Kaiser Friedrich III. und den Ungarnkönig Matthias Corvinus. Hier befand sich auch das erste Wiener Pfandleih- oder Fragamt, 1707 von Kaiser Joseph I. gegründet, um gewissenlosem Wucher zu begegnen. Von all diesen für Wiens Handel und Wandel wichtigen Ereignissen hat der Regensburgerhof, baulich oft verändert, nur bescheidene Erinnerungen in die Gegenwart gerettet; das Zentrum des Wiener Geschäftsverkehrs befindet sich längst nicht mehr im „Lugeck“, das kaiserliche „Versatzamt“ ist unter Kaiser Joseph in die Räume des früheren Klosters in der Dorotheagasse verlegt worden. Dennoch galt der gemütliche Regensburgerhof bis heute als Sinnbild altwienerischer Häuslichkeit. Und als ein findiger Baumeister vor ein paar Jahren in der Wiener Theater- und Kunstausstellung ein Stück „Alt-Wien“ im Prater neu aufleben ließ, wies er einen Ehrenplatz einem „vernewerten“ Regensburgerhof zu, in dem sich gelegentlich seines damaligen Besuches in Wien auch Fürst Bismarck eine Weile wohlgefiel.

Professor Drobisch in seinem Studierzimmer.
Nach einer Aufnahme von Karl Bellach in Leipzig.


Auflösung des Bilderrätsels „In der Theatergarderobe“ auf der Beilage zu Nr. 42:
Fidelio
Man lese von Muff den 3. Buchstaben, von Schirm den 4. etc.

[756 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]