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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[773]

Nr. 46.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Die Lampe der Psyche.

Roman von Ida Boy-Ed.

     (6. Fortsetzung.)

7.

Unter all den vielen Gaben, welche die Natur so verschwenderisch in Renés Wiege gelegt, befand sich eine ganz prosaische. Und doch war sie es vielleicht, dank deren er in immer gleicher Frische und Fröhlichkeit seine anderen entfalten konnte. Er besaß einen köstlichen Schlaf! Ob er nach lustigem Gelag spät nachts heimkam, ob er beim Morgengrauen erst sich von seinem Schreibtisch erhob, ob er im Coupé der Eisenbahn saß oder in dürftigen Sennhütten nächtigte – sowie er sich hinlegte und die Augen schloß, schlief er felsenfest und traumlos.

In der Nacht aber, welche der Unterredung mit Magda folgte, fand er zum erstenmal in seinem Leben keine Ruhe.

Er grübelte immer wieder über ihr Benehmen nach. Seine energische Natur konnte nicht fassen, daß man so stillzuhalten vermochte, daß Magda sich nicht wild aufgebäumt, daß sie ihm nicht Worte der heftigsten Anklagen gesagt.

Zuweilen zog etwas durch seine Gedanken, was einer leisen Geringschätzung gleichkam, und er sagte sich: welch eine Passivität!

Aber dann wieder wuchs eine unbestimmte Angst in seinem Innern. Der Schlag war so jäh für Magda gekommen, daß er sie vielleicht nur betäubt hatte. Aus der Betäubung erwachend, würde sie die Kraft zum Zorn, ja zum Haß finden!

Nicht nur die Gedanken, auch die Gefühle mancher Menschen leiden an „Treppenwitz“. In einer ersten Großmutsaufwallung können solche Naturen vergeben, was sie nachher doch mit immer wachsenden Bitterkeit erfüllt. Oder die Ueberraschung, das völlig Unerwartete erstickt zunächst die richtende und kritisierende Stimme, die sich nachher um so lauter erhebt. So konnte es auch Magda geschehen. Mit stillem Duldermut, ohne Anklage, ohne Schmähwort hatte sie das für sie Unerhörte hingenommen. Wer wußte, ob die Bitterkeit nicht nachwuchs und ob nicht jetzt schon ihr Herz voll von Anklagen und Mißachtung für ihn war?

Die Vorstellung, daß sie gering und feindlich von ihm denken könne, glich einer Demütigung für ihn.

Er war gewohnt, ungerechter Feindschaft und wirklichen Antipathien keck die Stirn zu bieten. Sie freute ihn, denn er hätte gar kein Mensch sein mögen, der von jedermann verstanden und „nett“ gefunden worden wäre.

Aber gehaßt zu werden, geringer geachtet zu werden, wo er geliebt worden war, das ertrug er schwer, von Männern wie von Frauen. Von Magda, schien es ihm, würde es ihm so unerträglich sein, daß es ihm das Dasein vergiften könne.

Ihre herzzerreißende Bitte klang ihm im Ohr nach: „Laß es schnell sein – schnell.“

Und diese Mahnung machte ihm sein Vorhaben nicht leichter und freudiger. Er hatte geglaubt, Magda in furchtbaren Kämpfen seine Freiheit abringen zu müssen und von ihr allmählich zu ertrotzen, daß sie die Notwendigkeit seiner Vermählung mit einer andern begriff. Dadurch, daß sie selbst ihn nun

Sigrid Arnoldson
als Nedda in Leoncavallos „Pajazzi“.
From copyrighted photo by N. M. Morrison in Chicago.

[774] antrieb, diese zu beschleunigen, ward ihm die Pflicht noch beängstigender. Der Reiz des größten Hindernisses war gefallen. René hatte ganz allein in Magdas Liebe für ihn solches erblickt. An Hindernisse äußerer Art dachte er gar nicht. So über alle Maßen er auch in Lilly verliebt war, die Notwendigkeit, sie zu heiraten, erfüllte ihn nicht mit fraglosem Jubel. Ihm bangte davor, seinem Leben eine feste Gestalt zu geben.

In der heimlichen Verlobung mit Magda hatte er gar keine Fessel gefunden, der Termin ihrer endlichen Vereinigung schwebte in so unbestimmten Zeitfernen. Und dann war Magdas ganzes Wesen und ganze Persönlichkeit so gar nicht aufdringlich oder störend. Es war ihm vom ersten Augenblicke an gewesen, als seien sie vertraut zusammen aufgewachsen, als habe er sie von je gekannt, als könne sie nie etwas thun, das sich nicht in vollkommener Harmonie den Bedürfnissen und dem Geschmack seiner Seele anschlösse.

Die kleine Lilly war ein aufregendes Persönchen, und alles, was sie umgab, die glänzende Familie, die vielen Standesrücksichten, verhieß viel Störung in seiner Arbeit.

„Laß es schnell sein – schnell!“ Ja, gewiß. Nun war es am besten, sich ohne Besinnen in die Ereignisse hinein zu stürzen. Morgen schon. Nein, morgen abend hatte er eine große Oper zu dirigieren. Da durfte er seine Nerven nicht mit anderen Dingen aufregen, da hieß es, sich still halten.

Aber Montag mittag – gewiß. René kannte die Hausordnung bei Lillys Großmutter genau. Von vier bis fünf nachmittags schlief die alte Dame. Er wollte dann zu Lilly gehen und mit ihr besprechen, ob er seinen Antrag unvermittelt bei der alten Dame anbringen oder erst ihren Bruder dafür gewinnen solle, der ihn, daran zweifelte er nicht, mit offenen Armen als Schwager aufnehmen würde. Und Magda sollte dann sofort und von ihm selbst erfahren, daß die Sache in Ordnung sei.

Plötzlich fiel ihm ein, daß sie gesagt hatte: ich weiß, wer es ist. Sie hatte ihn doch nie mit Lilly zusammen gesehen. Wie wunderbar! „Ja,“ sagte er sich, „Frauen, die wahrhaft lieben, haben noch einen Sinn mehr als andere Menschen.“

Er erinnerte sich der Qual, die so deutlich in Magdas Angesicht zu lesen stand. Und in der Dunkelheit der Nacht verbarg er noch sein Gesicht in der Hand.

Er hatte zum erstenmal in seinem Leben eine edle Frau wahrhaft leiden und durch sich selbst leiden sehen. Eine große Scham kam darüber in seine Seele, denn ihm war, als habe er eine Rohheit begangen, indem er in das Innerste eines Herzens sah.

Leiden, das war ihm etwas, das man verbarg, daran man weder mit Blick noch Wort rührt. Er selber war einer von denen, die lieber in stummer Qual vergehen, ehe sie einem Menschen ihr Leid enthüllen. Und so war ihm, als begehe er brutale Zudringlichkeit, wenn er ein anderes Wesen leiden sah. –

Die Nacht verging ihm so und auch der andere Morgen, den er thatenlos in grübelnden Gedanken in seiner Wohnung verbrachte.

Als er am Abend den Orchesterraum betrat, vergaß er, daß Lilly im ersten Rang saß und einen Blick von ihm erwartete. Es fiel ihm erst während der Ouverture ein, als er in der Doppelthätigkeit, die jedes Menschen Hirn in besonderen Momenten hat, wahrnahm, daß da oben ein großer heller Fächer sich immer hin und herbewegte. Ohne hinzusehen nahm sein Auge doch von seitwärts den lichten Punkt und die Bewegung wahr.

Es erregte ihn unwillig. So viel Takt und Kunstverstand sollte sie doch haben, daß man nicht während der „Oberon“-Ouverture lebhaft den Fächer gebraucht.

Seine Truppen merkten bald, daß er nervös war. Aber sie waren wohlgeschult und ihm ergeben und erzwangen sich ihrerseits die Aufmerksamkeit des Dirigenten. René vergaß, der Kaspari ein Zeichen zu geben; sie aber mit ihrer nie versagenden Sicherheit setzte trotzdem richtig ein. Er bemerkte nun seine Unterlassungssünde, lächelte dankbar zur Sängerin hinauf und war fortan ganz bei der Sache.

Für einige Zeit kehrte seine unbefangene Fröhlichkeit ihm ungetrübt wieder und er grüßte auch mit aufstrahlendem Blicke zu den Wallwitzens hinauf.

Dennoch war es ihm am Montag morgen unmöglich, zu arbeiten; er zählte die Stunden, bis es halb vier war und er sich auf den Weg zu Lilly machen konnte.

Die Sonne verschwand schon hinter den westlichen Höhen, aber der Himmel war taghell und lichtblau. Ein herber Wind fegte durch die Straßen, Renés Mantel flatterte und er mußte seinen Hut halten.

Da er Lilly am Morgen durch einen Boten hatte sagen lassen, daß er komme – sie verkehrten durch Notensendungen, denen ein verstecktes Zettelchen beigefügt ward – empfing ihn ihre Jungfer schon im Flur und meldete mit halb vertraulichem Lächeln, daß das Fräulein im Spielzimmer sei. Es war das kleine Gemach, wo die Gräfin ihre Whistpartien hielt. Dort stand ein grünbezogener Spieltisch mit den in seinen Rand eingelassenen Geldnäpfen vor einem altmodischen Sofa. Glasschränke mit alten Silberstücken und seltenem Porzellan hinter den Scheiben hatten an der Wand gegenüber Platz. Von der Decke hing ein merkwürdiger Kronleuchter herab, aus gläsernen grünen Blättern und weißen Callablüten, in denen immer frische Lichter steckten.

René trat ein. Lilly saß am Fenster in einem riesigen Ohrenlehnstuhl und las in einem französischen Roman. Sie legte das Buch umgewandt mit offenen Seiten auf das Fensterbrett, hielt sich mit auseinander gebreiteten Armen an den Lehnen, legte den Kopf zurück und spitzte die Lippen. Das hieß so viel als: komm her, gieb mir einen Kuß und sag’ mir guten Tag.

René kam heran und folgte der stummen Einladung flüchtig.

Sie rückte dann in die eine Ecke des Lehnstuhls. Es konnten ganz wohl zwei Menschen darin nebeneinander sitzen. René zwängte sich an ihre Seite, umfaßte sie und sagte:

„Weißt Du, liebes Kind, daß ich Dich eigentlich um Verzeihung bitten sollte?“

„Wofür? für große Sünden? Wir wollen ’mal sehen, ob wir gnädig sein dürfen. Also los mit der Beichte!“

„Es ist nur eine Unterlassungssünde. Ich hätte schon vor drei Wochen, weißt Du, nach jener Stunde, da Du wie eine schöne Fee aus dem Märchenland in mein armes Zimmer tratest, thun müssen, was nun nicht länger aufgeschoben werden soll. Aber – Gründe – –“ Er stockte. Ihm verbot ein starkes Gefühl, davon zu sprechen, daß er nicht frei gewesen. Wenn auch Magdas Name nicht genannt wurde – so schien sie ihm doch schon entweiht, wenn er nur in unbestimmten Ausdrücken von dieser Liebe sprach.

„Nun was denn, was denn?“ fragte sie sehr ungeduldig.

„Bei Deiner Großmama um Dich anhalten,“ sagte er.

Sie sprang auf. Aber sie fiel ihm nicht um den Hals, sondern lachte nervös. „O Du meine Güte, was für pedantische Ideen. Unser heimlicher Liebesfrühling ist ja so reizend,“ rief sie.

„Nein, mein Kind,“ sprach er ernst und stand in stolzer Haltung vor ihr, „ich darf Dich und Deinen Ruf keinen Gefahren aussetzen. Ich will nicht, daß der in Leopoldsburg immer wache Klatsch sich unserer Namen bemächtigt. Ich will nicht, daß Deine Großmama nachher sagt: die Leute hatten schon zuviel davon gesprochen, ich mußte mich darein finden. Ich will freudig von ihr als Enkelsohn angenommen sein, das bin ich Dir und mir schuldig. Es handelt sich nur darum, daß wir besprechen, ob ich Deiner Großmama schreiben soll, oder ob wir Walfried als unseren Freiwerber gewinnen.“

Lilly stand verlegen da. Sie hielt die eine Hand mit der anderen erfaßt und strich mit dem Daumen der Rechten an den Fingernägeln der Linken herunter, als wollte sie diese blank polieren.

„Ach,“ sagte sie leichthin, „laß doch das! Wie kommst Du auf den Einfall? Das verlange ich ja gar nicht. Du bist ein Künstler und brauchst noch Freiheit.“

René sah sie erstaunt und unsicher an. Soviel Selbstlosigkeit hatte er hier nicht erwartet. Und der Ton klang auch nicht, als entstamme das Wort liebevoller Rücksicht auf ihn.

Ein merkwürdiges Gefühl kam über ihn. Es war, als gehe er auf Sumpfboden, als könne die Erde unvermutet unter ihm hinwegweichen. Er war nicht der Mann, sich auf solchen Unsicherheiten tastend vorwärts zu schleichen.

„Du liebst mich?“ fragte er plötzlich scharf.

„Ueber alle Maßen,“ rief sie und fiel ihm um den Hals, „ich habe es Dir tausendmal gesagt und so innig bewiesen.“

Sie küßte ihn, einmal, mehrmals, wie toll. Aber seine Lippen blieben geschlossen, seine Haltung erwartend.

„Also was meinst Du,“ fragte er, „soll ich direkt an Großmama schreiben?“

Sie hielt ihre Hände noch in seinem Genick gefaltet und wiegte seinen Kopf im Uebermut ein bißchen hin und her.

„Du lieber, dummer Mensch,“ sagte sie zärtlich, „als wenn [775] das so einfach wäre. Ich sage Dir, Du würdest auf den fürchterlichsten Widerstand bei Großmama stoßen.“

„So bitten wir Walfried, unser Bundesgenoß zu sein.“

„Ach – das ist alles so kompliziert! Walfried weiß ja auch, daß ich wegen des dummen Geldes und aus Gott weiß was sonst noch für Rücksichten übers Jahr Gräfin Ponsdorff werden soll,“ erzählte sie in klagendem Ton.

Von all diesen Hindernissen hatte René nichts geahnt. Ihre Aufzählung, noch mehr aber, daß Lilly sie ihm gegenüber nicht gleich, nicht längst erwähnt, beleidigte seinen Stolz.

„Nun“ sagte er, „so werden wir es gegen Großmama, gegen Walfried und gegen alle Welt durchsetzen. Ich habe keine Grafenkrone und keine Million. Aber ich heiße René Flemming.“

Seine Augen flammten und sein Mund verschloß sich herb. In dieser Minute durchglühte ihn stolz das Bewußtsein seiner Begabung und ihm war, als könne er dem Mädchen da schon alles greifbar bieten, was er doch erst der Zukunft abgewinnen sollte.

„Ja,“ sprach sie und umschlang ihn fester, „Du bist ein großer Mann und ich bin fabelhaft stolz auf Dich. Aber siehst Du, so schlankweg mit der Heirat – das geht nicht so – Großmama wird sagen: einen Künstler liebt man, aber heiratet ihn nicht.“

René stieß sie zurück. Alles in ihm spannte sich an zu einer furchtbaren Aufmerksamkeit. Er bohrte seine Blicke in ihr Gesicht. Er beugte sich vor und sein Atem ging schwer.

„Und Du?“ fragte er, „und Du?“

Vor seinen Blicken gab es kein Entrinnen und kein Lügen.

„Wir können es ja im Lauf des Winters überlegen – man muß – nichts – überstürzen ..“ stammelte sie.

Und ein tiefes Rot stieg ihr ins Gesicht. Da begriff er.

Ein heiserer Laut entfuhr ihm.

Sein Antlitz ward grau und sein Mund verzerrte sich. Seine Augen waren mit so fürchterlichem Ausdruck auf sie gerichtet, daß sie zitternd einen Schritt zurückwich.

Diese Auseinandersetzung fand sie so fatal und überflüssig. Was fiel ihm denn ein? Es war doch so reizend gewesen, mit dem Bewußtsein der heimlichen Liebe lustig in den Tag hineinzuleben und alle steifleinenen Leopoldsburger innerlich auszulachen. Daß man, wenn man Lilly von Wallwitz heißt und kein Vermögen hat, nicht einen jungen Kapellmeister heiratet, der vielleicht eines Tages sehr berühmt wird, das war doch eine so grenzenlos selbstverständliche Sache, daß es nur verwunderlich blieb, wie ein so gescheiter Mann überhaupt andere Ideen fassen konnte.

Sie sah ihn an, halb furchtsam, halb neugierig. Sein Gesicht hatte sich furchtbar verändert; von Zorn entstellt sah es beinahe häßlich aus. In ihr regte sich Mitleid.

„Um Gotteswillen“ dachte sie, „der arme René hat es tragisch genommen! Er wird sich nicht vorstellen können, wie er ohne mich leben soll. Er wird jeden anderen Mann übern Haufen schießen, der sich mir naht. Oder er wird sich selbst ein Leids anthun“

Es überrann sie schaurig angenehm. Ihre Eitelkeit schwelgte in hoher Wonne. Doch zugleich erwachte in ihr die Klugheit, die zur Vorsicht mahnte. Ein so heftiger Mensch wie René, der sie offenbar so rasend liebte, konnte eine That begehen die einen Eklat hervorrief. Und das wäre ja gräßlich gewesen – wegen Großmama und wegen der Welt! Ein Ausdruck zärtlicher Nachsicht trat in ihr Gesicht. Er, dem keine Wimper zuckte und der sie immerfort beobachtete, sah diesen beinahe gnädigen Ausdruck.

„Sprich!“ rief er, „wage zu sagen, was Du dachtest.“

Der Ton empörte sie. Ein hochmütiger Trotz wachte in ihr auf und ließ sie alle Klugheit vergessen.

„Ich dachte mir, Du wüßtest das mit Ponsdorff. Und deshalb bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, daß Du die Eitelkeit haben könntest, eine Wallwitz ….“

Sie kam nicht weiter. Er hatte ihr Handgelenk gepackt und schüttelte es, daß ihre ganze Gestalt bebte.

„Wenn Du gedacht hast, daß ich ein Schurke bin …“

Er konnte sich die Worte kaum abringen.

„Und hast mich geküßt – und hast mir gesagt, Du liebst mich – pfui, pfui!“

Er ließ sie los. Vor Entsetzen und Angst halb ohnmächtig, fiel sie in die Kniee.

„René!“ stammelte sie.

„Ich verachte Dich!“ sagte er laut und ging hinaus. –

Sie blieb einige Minuten liegen und bohrte ihre Blicke in das Teppichmuster. Dann stand sie auf, warf sich in den Lehnstuhl und dachte nach. Ihre Augen funkelten.

Ein Mensch hatte gewagt, ihr zu sagen, daß er sie verachte!

Dieser Mann, zu dem sie mit ihrer Liebe großmütig herabgestiegen war, hatte sich unterfangen, sie zu mißhandeln.

Anstatt dankbar zu sein, daß er in dem sterbenslangweiligen Leopoldsburg ein romantisches Abenteuer erleben durfte, leitete er aus demselben einen albernen kleinbürgerlichen Anspruch auf ihre Hand her.

Als ob man immer den oder die heiratete, in die man verliebt war. Das ging ja leider nicht an in dieser verzweifelten Welt! Das hätte René sich doch sagen müssen, anstatt mit seinem tragischen Benehmen ihre so amüsante Heimlichkeit ein für allemal zu beenden!

Von nun an konnte man ja in dem dummen Leopoldsburg umkommen vor Langweile.

Aber wie fein von ihm: er hatte eine große, vornehme Partie machen wollen, glaubte sie am Ende gar reich! Das hätte seiner Eitelkeit wohl gepaßt.

Sie atmete befriedigt auf. Seine Enttäuschung hierüber, das war wenigstens eine Strafe für ihn.

„Wie er mich wohl haßt von nun an,“ dachte sie, „der verzeiht keine Demütigung! Aber gedemütigt hat es ihn,“ schloß sie triumphierend.

Plötzlich zuckte ein Schreck durch ihr Herz. „Er wird sich an mir rächen,“ sagte sie sich, „er hat mich in der Hand, er hat Briefe von mir!“ Ihre Glieder bebten. Eine namenlose Angst kam über sie. Ihre Gedanken, die immer so erfinderisch waren, begannen eine förmliche Jagd nach rettenden Einfällen.

Dabei wurde ihr körperlich ganz elend. Thränen der Feigheit rannen ihr aus den Augen.

Wenn er sie verriete – sich einem Freund anvertraute – oder gar Walfried – – Großmama würde sie verstoßen, sie müßte zurück auf das armselige, väterliche Gut, Ponsdorff konnte davon hören und sich zurückziehen!

Lilly zitterte am ganzen Körper. Ihr ward sehr übel. Sie schloß die Augen.

Ja, das war es: Walfried und er durften sich nie mehr, oder nur als Feinde begegnen! Das war Rettung. Mochte er irgend einem andern sich vertrauen, oder durch kleine Blicke und Andeutungen auf hinterlistige Art ihrem Ruf schaden – o, Lilly wußte, wie das gemacht wurde – das war egal! Klatsch wird geglaubt und auch nicht geglaubt und läßt sich nicht beweisen.

Nur Walfried durfte nichts erfahren! Oder doch?! Vorbeugend, gruppiert, die Wahrheit unwahr sagen?!

Ihm einen Roman erzählen, daß sie René geliebt, daß sie mit sich gekämpft, kurz, unterlegen sei und sich dann mutvoll und groß zu der doch nötigen Entsagung durchgezwungen, daß er sie aber wegen dieser beschimpft habe – – ja, so würde es gehen.

Walfried würde ihn fordern, man würde ein paar Kugeln in die Luft schießen und die erwünschte Feindschaft war zwischen den beiden hergestellt. Und René war nachher in Leopoldsburg unmöglich.

Der Gedanke versetzte sie in einen wahren Rausch.

Die Ausführung verhieß Leben und Sensation. Nur etwas erleben, erleben! Das war ihr steter, durstiger Wunsch. Und konnte es nichts Lustiges sein, mußte es etwas Spannendes, Aufregendes, Gefährliches sein!

Wenn ein Mann wie Walfried sich plötzlich und feindselig von dem Verkehr mit René zurückzog, wenn dunkle Gerüchte entstanden, daß er irgend etwas Unschönes begangen haben müsse – – ja, dann würde er unmöglich werden und begreifen, daß man einer Lilly Wallwitz nicht sagt: ich verachte dich.

Sie baute sich ein ganzes, thörichtes Gerüst von Vorstellungen auf, dessen Fundament der Wahn war, René sei aus sich selber nichts, sondern nur infolge der gnädigen Laune der „Gesellschaft“, welche an seiner interessanten Erscheinung Gefallen gefunden, ein Modegegenstand, den eben diese Gesellschaft jeden Augenblick in das Nichts zurückfallen lassen könne.

Sie rechnete auf den Geist der Kameradschaft unter den Offizieren und glaubte zu wissen, daß, wenn einer von René abfiel, keiner mehr mit ihm verkehren würde. Und wenn erst die Offiziere ihn verfemt hatten, war es – nach Lillys Idee – aus mit einem Menschen.

[776] Es galt aber, keine Zeit zu verlieren – jede Stunde brachte Gefahr. Wer konnte wissen, ob René Flemming nicht schon unterwegs zu Walfried war, um diesem zu sagen: „ich habe ein Recht auf Deine Schwester, ich will sie zum Weibe, ihr müßt sie mir geben, oder …“

Sie lief zur Thür, neben welcher sich ein Glockenzug befand, und riß daran. Die Jungfer kam.

„O Gott, gnädiges Fräulein, fehlt Ihnen ’was?“ fragte das Mädchen und sah die blassen entstellten Züge ihrer jungen Herrin an.

„Ja, mir ist nicht wohl. Ich will meinen Bruder sprechen. Fahren Sie mit einer Droschke nach der Kaserne – er soll gleich kommen – aber sagen Sie nichts – an – Großmama.“

Lilly schwankte. Ihr war in der That sehr elend. Die innerliche Aufregung, die ohnmächtige Wut zusammen mit der Angst, hatten ihre Wangen und ihre Lippen entfärbt.

„Soll ich nicht lieber zum Doktor laufen?“

„Nein – nein – mein Bruder soll kommen.“

Die Jungfer, die sich über dies plötzlich veränderte Aussehen ihres Fräuleins ihre Gedanken machte und annahm, daß ein Streit mit Herrn Flemming dahinter stecke, rannte davon.

Lilly kauerte sich wieder in ihren Stuhl. Im Vorbeigehen hatte sie sich in der Spiegelseitenwand des Glasschrankes angeschaut. Zwischen den silbernen Theetöpfen und Tafelaufsätzen sah sie ihr Gesicht und empfand fast eine Genugthuung, wie bleich es aussah.

Nun war die heftigste Spannung vorbei – der erste Schritt geschehen, um sich zu retten und zu rächen. Eine gewisse Erschlaffung kam über sie und sie fing an zu weinen.

Mitten in ihre, aus Sorge und Wut gemischten Gefühle kam dann ein Bedauern darüber, daß nun alles aus sei. Es war doch riesig nett und lustig gewesen und er hatte so etwas Bezauberndes an sich. Sie rechnete es ihm als Schuld an, daß er durch seine alberne Heiratsidee alles geendet. Daran schloss sich die Vorstellung, daß er sie gar nicht geliebt habe, sondern daß bei ihm nur alles Berechnung gewesen, um eine große Partie zu machen.

Und sie preßte ihre Stirn gegen die Polsterlehne und ballte vor immer wachsendem Zorn die kleinen Fäuste. „Walfried soll kommen, Walfried!“ sagte sie sinnlos vor sich hin.

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René ging zur Thür hinaus und auf die Straße. Mit großen, stetigen Schritten ging er vorwärts. Bekannte grüßten, er sah es nicht. Die Equipage Seiner Hoheit fuhr vorbei, er machte nicht Front. Er ging vorwärts, immer vorwärts.

Der Himmel war jetzt weiß geworden, aber seine klare Farblosigkeit mußte sich bald mit der Dunkelheit der nahen Dämmerung vollsaugen. Es war die licht- und schattenlose kurze Zeit zwischen Tag und Abend, in welcher René aus der Stadt und in den Wald hineinschritt. Er bemerkte nicht, daß ein starker Sturm hinter ihm her wehte und seinen Mantel zu einer Muschel formte, in der er, halb schreitend, halb geschoben, sich vorwärts bewegte. Sein Hut flog ihm vom Kopfe, er fühlte es nicht.

Ein Peitschenschlag hatte seine stolze Seele getroffen und sie erzitterte noch von der Schmach und dem Schmerz.

Mit tiefen Zweifeln, nicht ohne das Bewußtsein, wie viel er opfere und wage, nur der Stimme der Ehre und Dankbarkeit gehorchend, hatte er diesem Mädchen sein Leben dargeboten und sie – sie hatte es gar nicht gewollt! Sie forderte und verdiente diese Dankbarkeit für ihre Liebe gar nicht. Er war in ihren Augen gar nicht der Mann gewesen, von dem man eine ehrenhafte Haltung erwartet. Er war ihr gerade gut genug erschienen zu einem – Roman.

Diese jähe Entdeckung fiel wie ein Wassersturz auf ein Strohfeuer. Jedes Fünkchen von Empfindung für Lilly war in ihm erloschen. Nur eine ganz brutale Lust durchbebte ihn, die Freude, grenzenlos verachten zu dürfen, und die Genugthuung, es ihr gesagt zu haben.

Ein Schauer, der an Angst grenzte, durchrann ihn, als er daran dachte, welches Herz er um dieser willen gekränkt hatte. Daß er das reinste und zuverlässigste Glück, welches sein Geschick ihm bisher gegönnt, daß er Magda hätte für immer verlieren können um einer Lilly willen!

Jeder Zug des Leides, den er in Magdas Angesicht gesehen, ward ihm gegenwärtig und ward eine Ursache mehr, die andere zu verachten.

Langsam gewann die Vertiefung in Magdas Seelenzustand die Oberhand über seine häßlichen Gedanken an Lilly. Er versuchte, sich ganz in dies gebeugte, schmerzgeprüfte Frauenherz hineinzudenken.

Er wußte ja unerbittlich klar, daß es durch ihn gemartert worden war. Aber dennoch sah er ihr Schicksal als etwas Unpersönliches, Allgemeines an und empfand nicht sowohl Reue, als ein ernstes, beinahe andachtsvolles Interesse an diesen Leiden.

„Sie ist ein völliges Weib,“ sagte er sich, „und Weib sein, heißt eine Märtyrerin sein.“

Er prüfte sich mit einer Klarheit, die gar keine Selbsttäuschung zuließ, über seine Empfindungen für Magda. Diese Aufwallung für Lilly, die wie ein Sturmwind gekommen und vorübergegangen war, hatte keinen höheren Wert gehabt als ähnliche kleine Abenteuer, die sein Jugendleben schon mit sich gebracht. Nur, weil es soviel Flitterwerk um sich gehabt: weil es eine junge Dame aus der großen Welt gewesen war, seines Freundes Schwester, nur deshalb hatte er geglaubt, dies Abenteuer anders ansehen und anders enden zu müssen.

Er wusch es fort aus seiner Erinnerung, so gänzlich, daß nur die heimliche Wunde blieb, die sein Stolz durch Lillys Auffassung seiner Persönlichkeit erfahren. Er stellte bei sich fest, daß es eine von den schönklingenden Phrasen sei, die sich im Gebrauchsfall nicht bewähren, wenn man sagt: „Jemand, den ich verachte, kann mich nicht verwunden.“

Eine so grenzenlose Verachtung wie die für Lilly hatte er noch nie gefühlt und dennoch, dennoch überrann es ihn immer neu, wenn er sich sagte, sie habe sich nur mit ihm amüsieren wollen. Jemand zu verachten und es ihm nicht fort und fort zeigen und sagen zu dürfen, das war ihm ein schreckliches Gefühl, weil es nach immer neuer Sättigung vergebens lechzte. Alle bösen Instinkte wurden in ihm wach und er wünschte zehnmal in aufwallender Wut, sie hier vor sich zu haben, um ihr fürchterliche Sachen sagen zu können.

Ihm war auch, als sei die ganze Welt ihm zuwider und als sei in ihr nichts Achtens- und Liebenswertes als Magda allein. Er dachte immer inniger an sie. Er sah ihre treuen klugen Augen vor sich. „Jede Qual vermehrt unser Wissen,“ sagte er sich, „so wird auch Magda hiernach das Leben gereifter ansehen. Sie wird vielleicht künftig, wenn ich in Gefahr wäre, von einem neuen Rausch erfaßt zu werden, mich anlächeln und sagen: ‚Weißt Du noch – damals – wie schnell das verflog?‘“

An ihrem treuen, wissenden, geduldigen Herzen mußte es sich köstlich ruhen lassen. Nur eines – eines durfte sie nicht erfahren – später vielleicht – jetzt brannte die Wunde der Demütigung noch zu tief. Er konnte ihr nicht sagen, daß Lilly ihn nicht zum Gatten gewollt habe! Mochte Magda mit ihrem feinen Gefühl selbst erraten, daß er auf irgend eine Weise die Erkenntnis gewonnen, Lilly habe nur gespielt.

Er fühlte sich so völlig mit Magda vereinigt, daß ihm gar nicht mehr zum Bewußtsein kam, es sei ein Trennungswort zwischen ihnen gesprochen worden, und noch weniger wandelte ihn die Furcht an, sie könne es als ein ewig geltendes ansehen. –

Seit langem war es völlig Nacht geworden. Am schwarzblauen Himmel standen Sterne, aber der rasende Sturm trieb manchmal lockere, tiefhängende Wolken darüber her, welche die Luft mit feuchtem Atem sättigten. Der Weg, dem René mechanisch folgte, war zwischen den schwarzen Wänden des Waldes ganz gut erkennbar.

Der Sturm tobte in dem kahlen Geäst der Buchen, es war ein beständiges Knistern und Knattern in der Luft über seinem Haupt, doch René nahm es nicht mit Bewußtsein wahr. Das Geräusch war ihm wie eine selbstverständliche Begleitung seiner Gedanken. Er merkte erst auf, als sich die Töne über ihm plötzlich veränderten. Aus dem Buchengehege war er in den Tannenwald gekommen, und die Natur stimmte plötzlich eine ganz andere, eine majestätisch rhythmische Musik an.

Ein Rauschen, wie von andonnernden Meereswogen, ging durch den Tannenwald, und wie beim Zurückfluten der Wasser in dem tosenden Lärm immer eine Pause bangen Schweigens entsteht, so ließ auch der stoßweise daherfahrende Sturm den Wipfeln knappe Atempausen, um ihr Nadelgefieder zu schütteln, das er scharf nach West gestrichen.

Dazwischen ein unheimliches Knarren und Krachen. Die biegsamen Stämme der jungen Bäume wurden klappend gegeneinander

[777]

Die Schleglerkönige ergeben sich Eberhard dem Milden von Württemberg. 1395.
Nach einer Originalzeichnung von G. Adolf Cloß.

[778] geschlagen, das Holz der alten bog sich stöhnend und richtete sich knarrend wieder auf.

René horchte, versuchte seine Gedanken auf Magda zurückzulenken, horchte wieder und sah sich plötzlich in einer anderen Welt. –

Durch die Säulenhallen des Tempels der heiligen Margarete zog eine Nonnenschar. Tief und mächtig brauste die Orgel, aber klar gegliedert hob sich ein achtstimmiger Doppelchor von ihren Tonwogen ab. René hörte genau die Frauenstimmen und zwischen ihnen die seiner Heldin, der Lucrezia Buti. Wuchtige Posaunenklänge trugen den Chor. Das Ganze stand vor ihm wie ein lichter Bau mit schlanken Säulen und farbigen Glasfenstern, auf dem monumentalsten Fundament.

Doch jäh zerriß die fromme Stimmung: Filippo Lippi, der bebend hinter einer Säule geharrt, trat vor. Er hörte die Tenorstimme des Mönchs ganz deutlich deklamieren. Die Geigen und Oboen stimmten ein vibrierendes Motiv an, und verzehrendes Liebesverlangen bebte in der Musik.

René hatte Thränen in den Augen; eine tiefe Rührung hatte ihn ergriffen.

Brausend rauschte hoch über ihm der Sturm weiter.

Die Naturgewalt einer übermächtigen Liebe, die das Leben und den Tod besiegt, durchglühte ihn. War es eigenes Fühlen, war es die Liebe seines Helden? Unentwirrbar verschmolz sein Dasein in eins mit dem jener Geaalt, der sein Schaffen Leben gab.

René ging immer hastiger. Seine Gedanken arbeiteten mit unerhörter Sammlung und Schnelligkeit. Er unterschied nicht mehr, ob das wogende Tönen um ihn Stimmen der Luft waren, oder ob sie ganz allein in seiner Vorstellung erklangen.

So verflossen Stunden.

Und plötzlich merkte René auf: ein mattes Licht blinkte nahe vor ihm, ein Pferdewiehern und ein Hundegebell hob laut an und verflog schnell in der Luft, denn der Sturm stieß den Schall vor sich her. Von einem Kirchturm schlug es mit blechernen Tönen zehn – mit ungleicher Stärke kamen die Schläge bis zu René.

Er war fünf Stunden gewandert, der Schweiß rann ihm von der Stirn, seine Kniee bebten von der großen Anstrengung. Er wußte nicht, wo er war.

Aber wohl war ihm! Und frei, weit, groß war’s ihm in der Brust.

Nur fünf Stunden? Es war ihm, als seien Tage verflossen, als habe der Herbststurm, der über ihn daherbrauste, eine neue Jahreszeit auch in seine Seele geweht. Er fühlte sich unbeschreiblich reich.

Als er dem Licht näher kam, begriff er, wo er war. Oft im Sommer fuhr er mit guten Bekannten hier hinaus. Der große Marktflecken war mit Leopoldsburg durch eine Sekundärbahn verbunden, die sich durch Hügeleinschnitte hierher wand. Im Wirtshaus „Zum Posthorn“, das vor dem Ort am Walde lag, ward bei solchen Ausflügen fröhliche Einkehr gehalten.

(Fortsetzung folgt.)

Vor der Berufswahl.

Warnungen und Ratschläge für unsere Großen.
Die Tierheilkunde.

Sie war lange verachtet und ist doch endlich zu Ehren gekommen, die alte und neue Schwester der Medizin – die Tierheilkunde. Im Altertume und Mittelalter als unbeachteter Nebenzweig mit ihr verbunden, litt sie an gleichen Fehlern und zeigte nur hier und da die Spur einiger Selbständigkeit. Auch noch lange in der Neuzeit kam sie nicht über die Stufe der tastenden Versuche hinaus, was erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts geschah; von da ab entwickelte sie sich selbständig auf rein wissenschaftlichem Boden und so erfreut sie sich zur Zeit einer wissenschaftlichen Abgeschlossenheit, welche zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

Ueber den eigentlichen Beginn der Tierheilkunde wissen wir nichts Bestimmtes; doch dürfen wir annehmen, daß sie von der Zeit an bestand, wo sich der Mensch nutzbare Haustiere hielt und noch als Nomade auf der Erde umherzog. In geschichtlicher Zeit finden sich die ersten Andeutungen ihrer Existenz bei den Aegyptern, Hebräern und Indern, von welchen uns Darstellungen über Verabreichung von Arzneien an Rinder, Gesetze über Fleischgenuß und tierärztliche Schriften erhalten blieben. Bei den Griechen und Römern erfreute sie sich in der Zeit vor Christus keiner nennenswerten Blüte; nur ein ihr zugehöriger kleiner Teil, die Anatomie, wurde wissenschaftlich von Aerzten behandelt, da damals Untersuchungen menschlicher Leichen nicht üblich waren. Gelegentlich finden sich Notizen über Tierkrankheiten und tierische Operationen bei Schriftstellern und Philosophen, so bei Xenophon, Aristoteles, Cato und Varro. Die praktische Tierheilkunde lag wohl ausschließlich in den Händen abergläubischer Hirten. Uebrigens schlich sich das Element der Fabel vielfach auch in die tierärztlichen Mitteilungen der genannten Autoren ein.

In den ersten vier Jahrhunderten nach Christus bildete sich, wenn auch nur in sehr beschränkter Weise, ein tierärztlicher Stand aus, dessen Vertreter wie Columella, Apsyrtus und Vegetius umfangreiche Schriften hinterließen. Aus der Zeit des Kaisers Constantinus Porphyrogeneta (912–959) stammen mehrere Sammelwerke, die uns das gesamte Wissen des Altertums auf dem Gebiete der Tierheilkunde überliefern. Die tierarztlichen Schriften des Mittelalters sind fast ausschließlich abgefaßt von Stallmeistern und Pferdeliebhabern, betreffen nur das Pferd und haben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Bedeutung. Auch die Anatomie des Pferdes von Carlo Ruini blieb ohne Einfluß auf die Tierheilkunde, die selbst in der Neuzeit noch lange daniederlag, bis in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein Wendepunkt eintrat.

Durch die verschiedenen internationalen Kriege (Spanischer Erbfolgekrieg 1701–1713, Nordischer Krieg 1700–1721, Siebenjähriger Krieg 1756–1763) hatte sich die Rinderpest fast über ganz Europa verbreitet. Unglaublich klingen die Verluste, welche diese verheerende Seuche verursachte: 1711–14 verendeten 1½ Mill., 1745–52 an 3 Millionen, in Dänemark allein 1745–52 über 2 Millionen Rinder. Der Gesamtverlust an Rindern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland wird auf 30 Millionen, in ganz Europa auf 200 Millionen Stück geschätzt und kommt einer Summe von 30 Milliarden Mark gleich. Hierdurch wurden die verschiedenen Staatsregierungen auf die Wichtigkeit der Tierheilkunde aufmerksam, und es entstanden zuerst in Frankreich, bald darauf in vielen anderen Staaten die damaligen Tierarzneischulen. In Deutschland gingen verschiedene dieser Anstalten im Laufe unseres Jahrhunderts wieder ein; zur Zeit besitzen wir davon noch 6, die 1887 zu Hochschulen erhoben wurden. Bei weitem die größte unter ihnen ist die tierärztliche Hochschule zu Berlin mit über 400 Hörern, dann folgen München, Hannover, Dresden und Stuttgart. Direkt mit der Universität verbunden ist allein das Veterinärinstitut zu Gießen. Außerdem bestehen in Deutschland noch an verschiedenen Universitäten veterinär-medizinische Lehrstühle, die aber hauptsächlich nur für Landwirte bestimmt sind.

In früheren Jahren war die erforderliche Vorbildung zum Beginn des tierärztlichen Studiums überall nur sehr gering; sie wurde allmählich gesteigert, ist aber noch jetzt in den einzelnen europäischen Staaten eine sehr verschiedene. In Deutschland wird seit 1878 das Zeugnis für die Prima eines Gymnasiums oder Realgymnasiums verlangt. Gleichzeitig wurde eine Studienzeit von 7 Semestern festgesetzt; doch kann hiervon keines zur Absolvierung der Militärzeit benutzt werden, wie dies bei den Medizinern der Fall ist.

Die tierärztlichen Disciplinen sind so verteilt, daß in den drei oder vier ersten Semestern die naturwissenschaftlichen Fächer erledigt werden; die übrige Zeit bleibt nach einem bestandenen „Physikum“ für die klinischen Abteilungen. Die Vorlesungen und praktischen Kurse, sowie der klinische Unterricht sind ganz nach dem Muster des medizinischen Studiums an den Universitäten eingerichtet, ebenso das im Beginne des 8. Semesters abzulegende Approbationsexamen.

Ein nach zwei oder drei Jahren praktischer Thätigkeit zu bestehendes Staatsexamen berechtigt den approbierten Tierarzt zum Eintritt in den Staatsdienst.

[779] Die einzelnen medizinischen Lehrfächer der Tierheilkunde nehmen Bezug auf alle unsere Haustiere, bei deren prinzipiell verschiedenem Bau und mannigfaltigen Krankheiten die Tierheilkunde ein viel weiteres und verwickelteres Gebiet umfaßt als die Medizin. Man erstrebt deshalb gegenwärtig mit Recht für das tierärztliche Studium die gleiche Vorbildung (Reifezeugnis eines humanistischen Gymnasiums) wie für die Medizin, eine Forderung, deren Erfüllung nicht ausbleiben wird. Nur so kann dem Zudrang zur tierärztlichen Laufbahn als Not- und Brotberuf dauernd Einhalt gethan werden.

Die heutigen Aufgaben der Tierheilkunde sind im Laufe der Zeit sehr umfangreich geworden. Die frühere Forderung, die Heilung kranker Tiere, stellt zur Zeit nur noch einen Teil ihrer heutigen Aufgaben dar. Seit Inkrafttreten des Reichsseuchengesetzes hat jeder deutsche Staat eigene Kreistierärzte mit Ueberwachung und Verhütung der Viehseuchen betraut; an den Grenzen des Reiches haben sogenannte Grenztierärzte die Einfuhr von Tieren zu kontrollieren und die Einschleppung der Viehseuchen zu verhindern.

Da eine Anzahl von tierischen Infektionskrankheiten durch Fleisch- und Milchgenuß auf den Meuschen übergeht und so für ihn gesundheitsschädigend wird und andere Krankheiten den Wert des Fleisches bedeutend herabsetzen, so haben viele Städte bereits seit Jahren öffentliche Schlachthäuser mit Schlachtzwang und obligatorischer Fleischbeschau durch tierärztliche Sachverständige eingerichtet. Es verbreiten sich diese für die menschliche Hygieine so hochwichtigen Anstalten erfreulicherweise in Mittel- und Kleinstädten immer weiter. Ja, es dürfte die Zeit nicht mehr fern liegen, wo im ganzen Reiche obligatorische Fleischbeschau auch auf dem platten Lande, wenn auch dort nur von unter tierärztlicher Leitung ausgebildeten empirischen Fleischbeschauern, allgemein durchgeführt wird, wie es bereits jetzt in verschiedenen deutschen Staaten der Fall ist. Es sind diese Wünsche, die ja hauptsächlich vom Publikum ausgehen, schon aus Gerechtigkeitsgründen billigenswert; denn niemand will schlechtes Fleisch für gutes kaufen, sodann aber auch wegen der Gefährlichkeit des Genusses von Fleisch mit ansteckenden Krankheiten behafteter Tiere (Milzbrand, Tuberkulose etc.) mit Nachdruck zu unterstützen.

Will der Staat den nationalen Reichtum an Haustieren erhalten, dann muß er auch Sorge tragen für eine rationelle Nachzucht. Dieses haben große Staatsmänner schon lange erkannt, und so geht die Errichtung von Gestüten zur Nachzucht von Pferden bereits auf geraume Zeit zurück. Während nun früher die Gestütsdirektoren nur aus pensionierten Offizieren, die sich hierfür interessierten, gewählt wurden, ist man neuerdings hiervon abgewichen und besetzt diese Posten, wenn bis jetzt auch nur in beschränkter Weise, gleichfalls mit Tierärzten, die auf diesem Gebiete wohl nicht mit Unrecht größeres Verständnis beanspruchen dürften. Uebrigens werden an allen Gestüten die tierärztlichen Geschäfte von sog. Gestütstierärzten oder Gestütsinspektoren ausgeführt.

Zur Erzielung leistungsfähiger Rinder sind von hoher Bedeutung die in den verschiedenen Staaten bestehenden Körordnungen, welche auf den Lehren der Tierzucht beruhen und durch Einführung passender Zuchttiere den rechten Weg zur Erreichung gesunder Nachkommen angeben. Kurz, mit Hilfe der Veterinärwissenschaft kann auch zu gunsten der Landwirtschaft noch viel Gutes geschaffen und der heutzutage viel besprochene landwirtschaftliche Notstand gemildert werden.

Zu demselben Ziele führt eine weitere sehr wichtige Aufgabe der Tierheilkunde. Schon Vegetius (im 5. Jahrhundert) sagt, es sei wichtiger, Gesundheit zu erhalten als Krankheit zu heilen. Auch hier giebt die Tierheilkunde durch die Lehre der Diätetik die erforderliche Anleitung. Heute sind die Krankheitserreger vieler tierischen Infektionskrankheiten bekannt, ebenso ihre Lebensbedingungen. Es kann deshalb oft durch hygieinische Einrichtung der Stallungen mit genügender Ventilation, durch diätetische und rationelle Fütterung, sowie Verbesserung des Heus durch Entwässerung sumpfiger Wiesen viel Unheil verhütet werden. – Ferner wurde auf Grund der Lehren der tierischen Physiologie schon vor Jahrzehnten die Fütterungslehre geschaffen, die sich bereits seit Jahren bei einsichtigen Landwirten mit großem Erfolge eingebürgert hat. Doch herrscht gerade auf diesem Gebiete unter der Mehrzahl der kleinen Landwirte, die an dem vom Großvater Ererbten mit eiserner Energie festhalten, noch viel Unkenntnis und Vorurteil. Sollte da nicht der Tierarzt berufen sein, belehrend durch Rat und That einzugreifen und so die zur Zeit so viel beklagte niedrige Rente des landwirtschaftlichen Besitzes bessern und erhöhen zu helfen?

Nur kurz erinnern wir an die Thätigkeit der Militärtierärzte, die zum größter Teil an der Berliner und Dresdner Hochschule in Anstalten, wie die sog. „Pepinière“ der Mediziner, ausgebildet werden und welche für Gesundheit des Pferdebestandes der deutschen Armee zu sorgen haben.

Weiterhin liegt tierärztlichen Sachverständigen die Beaufsichtigung des Hufbeschlages ob. Durch Reichsgesetz ist den Schmieden die Ablegung einer Prüfung als Hufschmied vorgeschrieben; sie werden in vielen Kreisstädten von beauftragten Tierärzten hierzu vorbereitet und ausgebildet. Dies geschieht gleichfalls in den sog. Lehrschmieden, die mit den tierärztlichen Hochschulen verbunden sind.

Zum Schluß gedenken wir noch der gerichtlichen Bedeutung der Tierheilkunde. Ueber Kauf und Tausch von Haustieren bestehen zur Zeit in allen deutschen Staaten, ja in vielen Kreisen und Landschaften zahlreiche im Prinzip ganz verschiedene Gesetze und Ausnahmebestimmungen. Oft ist dadurch geriebenen Händlern Gelegenheit zu Betrug geboten. Hier fällt der Tierheilkunde die Aufgabe zu, für das der Vollendung nahe bürgerliche Gesetzbuch einheitliche und leicht verständliche Gesetze zu schaffen, durch deren sachgemäße Anwendung Tierärzten Gelegenheit geboten ist, zur Vereinfachung umständlicher Prozesse und Ersparung hoher Klagekosten beizutragen.

So sehen wir denn, daß die verschiedenen Aufgaben der Tierhilakunde weit über das hinausgehen, was man unter dem Begriff der einfachen Heilkunde versteht. Aus diesem Grunde hat man vielfach für den Namen Tierheilkunde den umfassenderen Tiermedizin oder Veterinärmedizin in Vorschlag und Anwendung gebracht.

Zur Erledigung der großen Annzahl von Lehrfächern, welche oben nur in kurzen Zügen angedeutet sind, scheint zur Zeit ein Studium von sieben Semestern nicht mehr zu genügen, und es wird deshalb von tierärztlichen Autoritäten eine Studienzeit von acht Semestern, welche übrigens schon jetzt die meisten Schüler zurücklegen, erstrebt. Die Studienkosten berechnet Dr. G. Schneidemühl in seiner Schrift „Die tierärztliche Laufbahn im Deutschen Reiche“, die wir Interessenten zur Belehrung empfehlen, für das Jahr auf mindestens 1500 Mark, wobei aber Bücher, Instrumente, Prüfungsgebühren und Kleidung nicht berücksichtigt sind. Hierzu kommen noch die Ausgaben für das Militärjahr.

Trotz der mit jedem Jahrzehnnt erhöhten Ansprüche ist die Zahl der Studierenden mit jedem Jahre gestiegen. Sie betrug z. B. im Wintersemester 1876/77 im ganzen Reiche 266, 1890/91 dagegen 1002! Dementsprechend vermehrte sich auch die Anzahl der approbierten Tierärzte, so daß der alte Ruhm, der tierärztliche Beruf gewähre verhältnismäßig früh eine auskömmliche Stellung, gegenwärtig beträchtlich gesunken ist. Infolge des allgemein vermehrten Andranges zum tierärztlichen Studium wird es auch erklärlich, daß die früher besonders in Süddeutschland üblichen Unterstützungen an Schüler verschwunden sind. Immerhin wird aber auch jetzt für tüchtige Tierärzte besonders durch die in weiten Gegenden neu entstehenden Schlachthäuser neuer Raum zu ersprießlicher Thätigkeit eröffnet.

Leider ist trotz Fortschreitens der Wissenschaft und Erhöhung der Ansprüche die finanzielle Stellung der Tierärzte in Deutschland die alte geblieben. Im Gegensatz zu Preußen, das beamteten Tierärzten nur 600 bis 900 Mark festes jährliches Einkommen gewährt, stehen die meisten übrigen Staaten, wo die Verhältnisse besser liegen. Hieraus erhellt, daß die beamteten Tierärzte in der Hauptsache auf Privatpraxis angewiesen sind. Für Privattierärzte haben viele Gemeinden sog. Wartegelder von 300 bis 900 Mark jährlich ausgesetzt. Die Besoldung der Schlachthaustierärzte, denen Privatpraxis meist untersagt ist, ist sehr verschieden und richtet sich besonders nach dem Dienstalter; doch dürften 2000 Mark das Mindeste darstellen. Mit Pensionsberechtigung angestellt sind die beamteten Tierärzte in Preußen nicht, dagegen in den meisten übrigen Staaten, was auch wohl überall in den Schlachthöfen der Fall ist. Ebenso verhält es sich bei den Militärtierärzten, denen neben ihrem Gehalt noch Privatpraxis gestattet ist.

Sollten diese wenigen Zeilen dazu beitragen, alte Vorurteile besonders unter den gebildeten Klassen zu beseitigen, vor leichtfertigem Beginn des tierärztlichen Studiums zu warnen und ihm junge tüchtige Leute zu gewinnen, dann haben sie ihren Zweck nicht verfehlt. Dr. H. Lungershausen.     


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Tänze der Südseeinsulaner.

Von C. Falkenhorst.0 Mit Illustrationen von F. Müller-Münster.

Kakala.

Zum Tanz! Ertönt diese Aufforderung, wie schlagen da alle jungen Herzen, gleichviel ob sie unter weißer, gelber, roter oder schwarzer Haut verborgen sind! Die Tanzlust ist ja dem Menschen angeboren und der Tanz bildet zweifellos die urälteste aller Belustigungen. Man springt auf vor Lust und Freude, das gilt von dem civilisiertesten und von dem wildesten Menschen – ja, der Wilde, das Naturkind, ist noch mehr als der von des Gedankens Blässe angekränkelte Kulturmensch zum pantomimischen Ausdruck seiner Gefühle geneigt. Darum ist der Tanz um so mehr beliebt, je mehr ein Volk auf der untersten Stufe der Entwicklung geblieben ist. Naturvölker schwärmen bei weitem mehr fürs Tanzen als die Träger der Kultur!

Es ist geradezu erstaunlich, wie viel z. B. in unseren afrikanischen Kolonien getauzt wird. Ein Tanzverbot würde dort zweifelsohne eine Revolution hervorrufen. Der Afrikaner braucht nicht einmal einen besonderen Tanzboden, um seinen Ball zu arrangieren; er tanzt auf jedem Terrain, und wenn die Karawane den ganzen Tag über marschiert und schwere Lasten geschleppt hat, so tritt die Mannschaft des Abends im Lager zu frohem Tanz zusammen. Die rhythmische Bewegung erquickt ihr die müden Glieder.

Auch in dem fünften Weltteil und auf den Inseln, die so zahlreich über den Stillen Ocean wie Sterne am Himmel ausgesät sind, nimmt der Tanz im Leben der Eingeborenen einen höchst wichtigen Platz ein. Und wie auf den verschiedenen, oft weit voneinander getrennten Inseln sich ganz eigenartige Sitten ausgebildet haben, so sind auch die Tänze einzelner Volksstämme einander nicht gleich.

Man begegnet unter den Südseeinsulanern einer schier unermeßlichen Fülle von Tanzweisen und ein Ballettmeister, der dort von Insel zu Insel eine Studienreise machen wollte, würde seine Freude an den fröhlichen Leuten haben und manchen Stoff für ein nettes Ballett heimtragen. Die Eingeborenen suchen ja alles mögliche durch Tänze zu verherrlichen. Obenan steht der Tanz natürlich im Dienst der Minne; die Liebessehnsucht, das heiße Werben, das kokette Fliehen – sie werden realistisch derb oder auch mit feineren, verschämten Gesten in den meisten dieser Tänze wiedergegeben. Man schwingt dort aber den Körper auch im Dienste des harten Kriegsgottes und in wildem Aufputz vollführeu die Krieger „schreckenerregende“ Aufzüge. Selbst im Angesichte des Todes pflegt man in jenen Ländern zu tanzen. Wundersame Tänze bilden oft einen Bestandteil der Begräbnisfeier. Daß bei solchen Gelegenheiten die Wilden Larven aufsetzen und regelrechte Maskeraden aufführen, ist nicht zu verwundern, ist doch unser europäischer Mummenschanz ein Erbstück aus alter Zeit, in welcher unsere Vorfahren gleichfalls noch ein Naturvolk waren. Maskentänze stehen häufig mit dem Dämonenkultus in Verbindung, werden von Priestern geleitet und die Volksmenge erfährt dabei, wie etwa die Teufel aussehen. Die Südseeinsulaner sind aber heitere Menschen und sie kennen auch lustigere Maskeraden, bei denen man kein Gruseln empfindet, sondern herzlich lachen kann. Scenen aus dem Tierleben bieten einen dankbaren Stoff für derartige Ballette. Da erscheinen das Känguruh oder der Kasuar, der Hund und das Schwein auf der Schaubühne. Auf manchen Inseln kennt man einen Rattentanz, der den flinken Nagern abgelauscht wurde, auf anderen wieder stehen Hahnentänze im Flor, in welchen komische Scenen aus den auch dort üblichen Hahnenkämpfen wiedergegeben werden.

Bereitung der Kawa-Kawa.

Damit ist die Mannigfaltigkeit der australischen Tanzvergnügungen noch lange nicht erschöpft. Die Südseeinsulaner haben der Terpsichore alle möglichen Künste abgelaunscht. So kann man dort Solotänzer und Solotänzerinnen sehen, die im Kreise der Zuschauer und Kritiker ihre Fertigkeit entwickeln und bis zur Atemlosigkeit sich einen rauschenden Beifall zu ertanzen suchen. Auch Paare treten dort zum Reigen an und sehr beliebt sind die bei einem rhythmischen Gesang ausgeführten Gruppentänze. Neben würdigen Gehtänzen gewahrt man auch allerlei tolle Hüpferl, gegen die unser Galopp ein Kinderspiel ist. Die glücklichen Leutchen unter

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Tanz im Sitzen.   Der Kriegstanz.   Der Hundetanz.
Tanz der Samoaner.
Nach einer Originalzeichnung von F. Müller-Münster.

[782] dem ewig warmen tropischen Himmel haben eben viel Zeit, um sich in solchen Künsten zu üben, die ihnen auch das dort unbekannte Turnen ersetzen. Als besondere Spezialitäten sind noch Tänze zu nennen, die im Stehen ausgeführt werden, bei welchen die Tanzenden sich gar nicht vom Flecke bewegen, sondern nur den Körper rhythmisch hin und her neigen, die Arme schwingen und mit den Beinen strampeln. Diese Tänze bilden eine ungemein starke Muskelübung und könnten diesem und jenem Stubenmenschen zur Nachahmung empfohlen werden, falls ihm die Stubengymnastik zu langweilig erscheint. Bequemer sind schon Tänze, die – im Sitzen aufgeführt werden.

Ob aber trotz aller dieser Mannigfaltigkeit und trotz aller Gliederfertigkeit diese Tänze der Wilden schön sind, ob sie gleich unsern Tänzen das Auge eines kritischen Beschauers entzücken oder befriedigen können – das ist eine andere Frage. Die Bevölkerung jener ewig smaragdgrünen Eilande, die Vulkanen und Korallentierchen ihre Entstehung verdanken, ist gar bunt zusammengesetzt. Man begegnet dort scheußlichen Menschenfressern, sittenlosen Völkern, deren Belustigungen den Stempel der Roheit tragen und abstoßend auf uns wirken. Das Widerwärtige macht sich aber nicht überall breit. Auf einzelnen Inselgruppen leben noch friedfertige, lebenslustige Menschen, denen die Natur den Schmuck äußerer leiblicher Schönheit nicht versagt hat, und inmitten dieser Volksstämme fühlt sich auch der Europäer leidlich wohl. Zu den Besseren unter den Südseeinsulanern zählen zweifellos die Samoaner. Die Inseln der Samoagruppe, deren wichtigste Upolu mit den: Hafen Apia ist, zeichnen sich durch reiche Kokospalmenhaine, Baumwoll- und Zuckerrohrpflanzungen aus; begehrenswert erscheinen sie den Kulturvölkern in Europa und Amerika, so daß die samoanische Frage wiederholt die Diplomaten beschäftigt hat. Von jenen Inseln kam nun jüngst eine Gruppe von 41 Samoanern, darunter 7 Männer und 34 Frauen, nach Deutschland, um sich hier, und zwar zunächst in dem Berliner Passage-Panoptikum, sehen zu lassen.

Die Samoaner sind, was ihren Wuchs anbelangt, den Europäern gleich; ihre Muskulatur ist gut entwickelt, so daß sie, im Gegensatz zu so vielen stelzbeinigen und dünnarmigen Afrikanern, einen durchaus angenehmen Eindruck machen. Ihre Hautfarbe ist ein helles Braun, in dem der gelbliche Ton hervortritt. Und das Gesicht, in dem sich die Seele des Menschen widerspiegelt und das für die Schönheit der Erscheinung besonders maßgebend ist? Dieses kann allerdings mit unserm Typus nicht in Wettbewerb treten, seine Bildung erinnert vielfach an japanische Züge, für unsern Geschmack sind die Lippen zu voll, die Nasen zu platt gedrückt, die Backenknochen zu sehr hervorstehend. Schönheiten im europäischen Sinne giebt es auf Samoa kaum, aber trotzdem recht viele hübsche Erscheinungen, und recht anmutig sind dort die Mädchen und Frauen, so lange sie noch in der Blüte der Jugend stehen, so lange sie noch frisch sind wie die farbigen Blumen, mit denen sich diese Töchter der Tropen so ungemein gern schmücken. Die Kleidung der Damen, die sich in Berlin sehen lassen, ist in ihrem Schnitt, wie unsere Bilder zeigen, dem europäischen Geschmack etwas angepaßt, aber der Stoff ist ein Erzeugnis einheimischen Fleißes. Wandert man durch den polynesischen Busch, so vernimmt man zuweilen ein taktmäßiges Schlagen, das dem Lärm des Dreschens in unsern Dörfern nicht unähnlich klingt. Diese Laute zeigen dem Wandrer an, daß er sich in der Nähe eines Dorfes hefindet, und folgt er ihnen, so kommt er vor die Hütten der Eingeborenen und sieht, wie die Frauen die Rinde des Papiermaulbeerbaumes bearbeiten, um aus ihr Kleiderstoffe zu fertigen. Diese Stoffe, Tapa genannt, werden oft in wunderbarer Feinheit, gleich unserm Musselin, hergestellt und sie lassen sich auch bunt färben. Daraus kann man wohl schmucke Ballkleider oder, richtiger gesagt, – Ballettröckchen nähen. Kakala, die schöne Figur aus der Samoatruppe (vergl. ihr Bild auf S. 780), dürfte wohl beweisen, wie gut ein solches Kostüm dem Naturkinde steht.

Die Samoanerinnen sind wie die meisten Töchter Evas keine Schmuckverächterinnen; sie tragen Halsketten und Armbänder und Ohrringe, aber sie sind nicht anspruchsvoll, das Material ihrer „Juwelen“ ist nicht kostspielig, diese braunen Schönen begnügen sich mit Ketten und Kettchen aus Glaskorallen, Muscheln des Meeresstrandes, Hunds- und Schweinezähnen. Auch das Schmücken der Haut durch Tättowieren ist dort Mode. Früher war dies wohl ein Teil religiöser Ceremonien, heute, wo die Samoaner „Christen“ sind, wird die Tättowierung aus Gewohnheit fortgesetzt. Allerdings huldigen ihr weniger die Frauen, sondern sie wird vor allem von den Männern geübt. Diese lassen ihren Leib vom Nabel bis an die Knie mit dichten Figurenmustern beritzen, bei einem der Tanzführer auf unseren Abbildungen bemerkt man diese Tättowierung an den Oberschenkeln.

Den Glanzpunkt der Aufführungen der Samoatruppe bilden allerlei Tänze und da kann man, ohne nach der Südsee dampfen zu müssen, sich wohl überzeugen, wie hoch entwickelt die Kunst der Terpsichore auf jenen paradiesischen Eilanden sein muß. Unser Maler hat einige dieser originellen Tänze getreu wiedergegeben. Obenan steht eine Scene aus dem samoanischen Kriegstanze, ein Triumphumzug der Frauen. Die Schönen schwingen buntbebänderte längere und kürzere Stäbe, mit denen sie Takt schlagen. Diese Stäbe sind die einfachsten „Musikinstrumente“ der Südseeinsulaner. Das darunter stehende Gruppenbild giebt einen pantomimischen Tanz wieder, der dem Tierleben abgeguckt ist, ein Ballett, das den Namen „Hundetanz“ führt, weil dabei das Bellen der Hunde nachgeahmt wird und die Tänzerinnen nach Art der Kläffer aufeinander losgehen. Die dritte Gruppe führt uns endlich eine samoanische Specialität, einen Tanz im Sitzen, vor. Um ihn zu würdigen, muß man ihn in Wirklichkeit schauen und dann erfährt man, wie lebhaft er sich gestalten kann; das lebendige Mienenspiel, der lachende Mund, die feurigen Blicke der dunkeläugigen Tänzerinnen erhöhen seine überraschende Wirkung.

Die Samoaner sind ein heiteres Völkchen, der Frohsinn ist ihnen angeboren, aber auf dem Tanzboden will er überall noch durch anregende Mittel gesteigert werden. Bei den meisten Völkern erhöht der Alkohol die rauschenden Tanzvergnügen; Wein und Bier perlen in Krügen; gleichviel ob sie nach der Landessitte aus dem Blut der Reben oder dem süßen Saft der Palmen gekeltert, ob sie aus Gerste oder reifen Bananen gebraut sind – ihr erheiternder Bestandteil ist derselbe, ist Alkohol. Die Südseeinsulaner kannten früher keine gegohrenen Getränke, den Branntwein haben sie erst von den Europäern erhalten und trinken ihn jetzt mitunter mehr, als es ihnen gut ist. Aber diese Naturkinder lebten auch früher nicht ohne ein erregendes Genußmittel. Es wächst auf ihren Inseln ein Halbstrauch, in dessen Wurzeln ein berauschendes Gift enthalten ist, Rauschpfeffer heißt darum der Strauch, der von den Botanikern Piper methysticum genannt wird. Aus dieser Wurzel wurde in Polynesien seit uralter Zeit ein erregendes Getränk gebraut, das auf Samoa unter dem Namen Kawa-Kawa bekannt ist. Die Bereitung derselben ist nach europäischen Begriffen keine appetitliche; denn die Wurzel wird vorher gekaut. Die Mädchen oder Jünglinge, welche damit beauftragt sind, reinigen sich sorgfältig den Mund und machen sich an die ihnen zugeteilten, zerschnittenen Wurzelstücke, In ihrer Mitte steht auf vier Füßen eine große hölzerne Bowle, deren Inneres durch langen Gebrauch wie emailliert aussieht. Ist ein Stück Wurzel gekaut, so wird das Ergebnis dieser Arbeit in die Bowle gelegt; dann gießt man Wasser aus Kokosschalen darauf, rührt die Mischung mit den Fingern um und entfernt die holzigen Reste der Wurzel durch häufiges Eintauchen von Bastfasern, die man zwischen den Fingern auspreßt. Während des Brauens wird ein Gesang angestimmt, der erst aufhört, wenn alles fertig ist.

Es giebt noch eine reinlichere Bereitungsart der Kawa-Kawa, bei der das Kaugeschäft wegfällt und die Wurzel einfach mit Wasser angerührt wird; einheimische Kenner behaupten jedoch, daß die nach dem zuerst genannten Rezept bereitete Mischung bei weitem besser munde. Im Berliner Panoptikum wird die Wurzel von den Samoanern zwischen Steinen zerrieben.

Die Kawa-Kawa ist nun eine trübe, gelbe Flüssigkeit, die etwas herb und nach Seife schmeckt. Gewohnheitstrinker haben ein unbezähmbares Verlangen danach; ein übermäßiger Genuß zerrüttet aber den Körper, wie dies bei allen erregenden Genußmitteln der Fall ist.

Wie interessant auch die Tänze der Schautruppe sind, reizvoller tanzen die Schönen in ihrer sonnigen Heimat. Wenn dort eine Feier stattfindet, wenn der Häuptling heiratet, dann geht es hoch her auf dem Faletele, dem Gemeindcplatz in der Mitte des Dorfes; die edlen Brotfruchtbäume, die ihn beschatten, werden reich geschmückt und den Boden belegt man über und über mit Matten. Dort in der Heimat tönen freudiger die Lieder, schlagen eifriger die Taktstäbe und ausgelassener geben sich die blumengeschmückten Jungfrauen der Tanzlust hin, rauschenden Beifall [783] von den Festteilnehmern erntend. Da jauchzt alles in Lust und Freude, unbekümmert um Tag und Nacht, und der stille Mond schwebt über den gerundeten Bergkuppen und verklärt das bunte Bild der fröhlichen Naturkinder mit seinem feenhaften silbernen Glanze. – Aber seltener und seltener werden solche Feste auch auf diesen fernen Inseln; auch dort hat die weltumspannende Kultur ihren Einzug gehalten; die Wilden schmücken sich mit dem Firnis der Civilisation; legen ihre Nationaltracht ab; die Tapaklöppel erklingen seltener und seltener, alte Sitten und Bräuche geraten in Vergessenheit, der gelbe Mensch ahmt den weißen nach und wie der Schnee im Scheine der Frühlingssonne schwinden die Naturvölker dahin.


 – Jungwinter. ––

Sage, Winter, was ist das nur,
Daß du heuer so faul und träge?
Nebelverschleiert sind Wald und Flur,
Triefend die Bäume, grundlos die Wege.

Murrend am Thor steht der Buben Troß –
Wasser und Regen auf allen Seiten!
Möchten lieber auf stählernem Roß
Auf der blitzenden Eisbahn gleiten.

Raffe doch, Fauler, vom Schlaf dich auf,
Feg’ von dem Boden Morast und Pfütze,
Laß Deinen Zauberkräften den Lauf,
Schleudre vom Kopfe die Nebelmütze!

      Rüttle dich, schüttle dich, daß umher
Lustig wirbeln die schneeigen Flocken,
Schwing’ deinen blitzenden Demantspeer,
Schüttle den Reif dir von Mantel und Locken!

Blase mit mächtigem Odem durchs Land,
Wandle den Nebel zu Eiskrystallen,
Laß dein glitzerndes Schneegewand
Nieder auf Wälder und Fluren fallen!

Schmücke mit funkelndem Edelweiß
Felder und Wälder, Thäler und Hügel,
Wandle die Lachen zu blitzendem Eis,
Jeden Tümpel zum Demantspiegel!

Streu auf die Erde mit voller Hand
Reif und Perlen in leuchtendem Schimmer –
Weck’ in den Lüften, blau überspannt,
Schellengeläute und Sonnengeflimmer!

 Franz Beckert.


Sterben.

Novelle von Eva Treu.

O mein Gott – o mein Gott!“

Die junge Frau richtete sich ein wenig auf und nahm die schmalen, blassen Hände vom Gesicht. Lange hatte sie vornübergebeugt an dem Tisch gesessen, die Ellbogen aufgestützt und das Gesicht von den schlanken Fingern bedeckt, zwischen denen die Thränen hervorquollen. Nun trocknete sie langsam Augen und Wangen. Nein, sie wollte nicht mehr weinen, es nützte ja zu nichts! Freilich – wie oft schon hatte sie sich dies gesagt! Und doch überkam sie das Leid zuweilen mit so unbeschreiblicher, unsäglicher Trostlosigkeit aufs neue, daß sie vergeblich den Thränen Einhalt gebot, die doch ihr geheimes Weh nicht zu lindern vermochten.

Ja, hätte sie den Kopf in solchen Stunden an irgend eines treuen Menschen Schulter lehnen und ihm alles aussprechen können, was sie so elend machte, das hätte ihr helfen mögen. Aber das konnte sie nicht. Sie wußte niemand, der sie so angehört haben würde, wie sie es brauchte. Es giebt nicht viele Menschen, denen ein Unglücklicher sein Herz mit dem sicheren Gefühl ausschütten kann, nicht lästig zu fallen und verstanden zu werden. Und selbst dann! Welche rechte Frau möchte sich so weit demütigen, über ihre unglückliche Ehe zu Dritten, zu unbeteiligten Menschen zu sprechen, die bei aller Freundschaft doch nur dann Verständnis haben könnten, wenn ihnen die tausend kleinen Einzelheiten, deren man sich selbst nur mit Widerstreben und Bitterkeit erinnerte, dargelegt wurden, und die dann doch nur den Mann, den man einst so grenzenlos lieb gehabt hatte, aufs härteste tadeln würden? Nicht das – o nein, nicht das! Wenn sie ihm auch zürnte, Fremde sollten auf ihn keinen Stein werfen. Sie mußte es eben allein tragen, mit sich selber abmachen, wie elend sie war.

Ja, sie war elend! Sie schlug die zitternden Hände noch einmal vor das Gesicht, aber nur für einen Augenblick. Dann strich sie das weiche, wellige Blondhaar, das sie schlicht gescheitelt trug und von dem ein paar Strähnen sich losgelöst hatten, aus der Stirne, schüttelte sich ein wenig, als fröre sie, atmete tief und stand auf, die feine Gestalt wie mit einem Ruck emporrichtend.

Der letzte Lichtblick, den der kurze Novembertag zu vergeben hatte, fiel in das trauliche Wohngemach, das zwar nicht übermäßig elegant, aber doch so behaglich eingerichtet war, wie nur die Hand einer feinsinnigen Frau es versteht. Ein Hauch von vornehmer Eigenart wehte einem entgegen, wenn man diesen Raum betrat, obschon er nichts enthielt, was sich durch besondere Kostbarkeit auszeichnete. Und in das Gemach hinein paßte die Erscheinung der jungen Frau, die jetzt mit rastlosen leisen Füßen in der Dämmerung hin und her schritt. Das Gesicht, obschon blaß und verweint, war von ungewöhnlicher Anmut, die selbst von dem herben Zug nicht beeinträchtigt ward, der um die feingeschwungenen Lippen lag und den die Natur dort sicherlich nicht gewollt hatte.

Jedoch das Leben hatte nicht danach gefragt, was die Natur beabsichtigte, und jetzt hatte jener herbe Zug sicherlich ein Recht, da zu sein.

Die Ehe, die erst vor kaum drei Jahren geschlossen war und von der sie alles Glück erhofft hatte, das vom Leben gewährt werden kann, hatte ihr kaum etwas anderes gebracht als Herzeleid; wenigstens meinte sie dies jetzt, nun sie auf die Zeit zurückblickte. Wie grenzenlos, wie beneidenswert glücklich war sie sich anfangs vorgekommen. Den Mann, dem sie folgte, liebte sie von ganzer Seele, und er – ja, er hätte sie, das vermögenslose Mädchen, doch gewiß nicht erkoren, wenn er sie nicht liebgehabt hätte. Die ersten Monate des neuen Lebens erschienen ihr auch jetzt noch wie ein wunderschöner Traum.

Aber dann kam eine Zeit, wo die zarte junge Frau Rücksicht auf ihre Gesundheit zu nehmen hatte; sie mußte still und zurückgezogen leben, durfte weder Gesellschaften besuchen, noch viele Gäste bei sich sehen, und mußte sich abends früh zur Ruhe begeben. Und es hatte nicht lange gedauert, da war dem lebenslustigen Manne das Bedürfnis nach Zerstreuung gekommen und er hatte es unerträglich gefunden, nach einem Tage voll Arbeit einsam daheim hinter der Lampe zu sitzen.

Zuerst hatte sie selbst ihn gebeten, doch dann und wann auszugehen, freilich mit dem stillen Wunsche, den sie sich aber nicht eingestand, er möge es dennoch nicht thun. Aber er hatte es [784] gethan. Und so ganz nach und nach, gleichsam wie von selbst, war es gekommen, daß er endlich Abend für Abend das Haus verließ, auch dann, wenn sie ihm ganz gut daheim hätte Gesellschaft leisten können. Mancher Tag war vergangen, an dem sie ihn nur bei den Mahlzeiten sah, fast war es, als hätte er sein altes Junggesellenleben vollständig wieder aufgenommen.

Es hatte sie verletzt, tief, bis ins innerste Herz hinein, aber sie hatte geschwiegen. Stets, so lange sie denken konnte, war es ihr eigen gewesen, nicht um etwas bitten zu können, was ihr von rechtswegen zukam und das man ihr doch vorenthielt. Nie hatte sie das gekonnt, am wenigsten, wenn die Liebe es hätte gewähren sollen. Wenn es ihm selbstverständlich war, sie sich selbst zu überlassen, in einer Zeit, wo sie liebevoller Teilnahme und Schonung besonders bedurfte, wenn er dies thun konnte – nun, so mochte er es thun! Sie sprach kein böses Wort, das wäre ihr wie die tiefste Demütigung erschienen, aber wenn er abends nach kurzem Gruß wohlgemut davon gegangen war, nachdem er im Laufe des Tages für sie kaum ein halbes Stündchen Zeit gefunden hatte, dann weinte sie bitterlich und ein herbes Gefühl gegen ihn schlich sich in ihr Herz, dem sie keinen Namen geben mochte.

Sie sprach kein böses Wort, nein, aber das eine konnte sie freilich nicht hindern, daß sie jetzt kühler und zurückhaltender zu ihm sprach als früher. Es war etwas zwischen ihn und sie getreten. Und er war es gewesen, der die Schuld trng, er ganz allein.

Wach lag sie im Bett, bis sie ihn spät heimkommen hörte. Doch wenn er dann leise und vorsichtig eintrat, um sie nicht zu stören, schloß sie die Augen, als schliefe sie. Was brauchte er zu wissen, daß sie sich um ihn gegrämt hatte!

Dann kam ein Tag, wo man der jungen Frau ein Kindchen in die Arme legte, ein zartes, winziges Ding, und ihr sagte, es sei das ihre, wo sie das kleine Wesen in grenzenlosem Entzücken an sich drückte – „mein – mein!“

Sie hatte vorher gehofft, dieser Tag würde vielleicht den Mann ganz zu ihr zurückführen und es würde alles wieder werden, wie es früher gewesen war. Und gewiß, Glück und Vaterstolz leuchteten hell aus seinen Augen, als man ihm das Töchterchen entgegenhielt und er das weiße Bündel vorsichtig und ungeschickt auf den Arm nahm. Gewiß, er küßte die weißen Finger der jungen Frau und streichelte ihre Wange – aber so wie einst wurde es doch nicht wieder.

Nein, nein, sie konnte nicht nachrechnen, wie alles gekommen war. Schritt für Schritt war es gegangen. Es war ja wahr, ihre eigene Gesundheit blieb lange schonungsbedürftig, sie blieb auf Haus und Zimmer angewiesen, das Kind war zudem ihrer Fürsorge unendlich bedürftig, mehr noch als andere Kinder in so zartem Alter, und es war ohne Zweifel nicht immer interessant daheim für den Mann, und doch – doch, so ganz, so vollständig hätte er seine Freuden nicht außer dem Hause suchen dürfen! Bald waren sie wie zwei Parteien, er aus der einen, sie und das Kind auf der anderen Seite. Er lebte für sich und sein Behagen, sie für das Kind. O, damals empfand sie es ja noch kaum. Das Kind füllte Zeit, Gedanken und Herz so völlig aus, und er hatte sie ja schon vorher daran gewöhnt, ohne ihn zu leben.

„Mein – mein!“ Ja, dies kleine, zarte, so ganz von ihr abhängige Wesen, das gehörte ihr, und ihr Eigentum, ihr einziges, sollte es sein und bleiben, wenn er ohne Frau und Kind fertig werden konnte.

Doch es hätte sich wohl alles tragen lassen, wenn es nur so geblieben wäre. Wenn er jetzt oft spät in der Nacht von irgend einem Orte heimkehrte, den sie keineswegs immer erfuhr, nicht selten ohne die einst geübte Behutsamkeit, sie nicht zu stören, so schlief sie nach den mancherlei Mühen des Tages für das Kind oft wirklich schon fest; sie hatte nicht wach gelegen und sich um ihn gegrämt wie einst. Wenn sie dann erwachte und seiner geräuschvollen Art anmerkte, daß er den Abend in einer Weise hingebracht hatte, die ihr Zartgefühl verletzte, so empfand sie nur einen augenblicklichen großen Widerwillen, nicht Bitterkeit. Mochte er seine lustigen Freunde haben, wenn er es durchaus so wollte; sie hatte ja das Kind.

„Mein – mein!“ dachte sie dann und streckte die Hand nach dem Töchterchen aus, das in seinem kleinen Bette neben ihr schlief. Es wurde ja mehr und mehr das ihrige allein, je weiter er sich von ihnen beiden fernhielt. Ja, hätte sie nur das Kind behalten, so hätte sie es wohl überwunden, daß er seinen eigenen Weg ging, der ihr nicht gefiel, und daß die Kluft zwischen ihnen von Tag zu Tag größer wurde. Selbst ohne ihn war sie noch reich.

Aber es sollte nicht sein. Ihr hatte das Schicksal bestimmt, arm zu sein. Einer jener tückischen Kinderkrankheiten, die plötzlich da sind, man weiß nicht woher, fiel das von Anfang an schwächliche kleine Wesen zum Raub.

Ein Tag nur der bangsten Sorge war es gewesen. Der Vater war natürlich nicht da. Er hatte einen arbeitsfreien Tag benutzt, um mit lustigen Freunden einen Ausflug zu machen. Allein hatte sie an dem Krankenbettchen gesessen, zu Gott geschrieen in ihrer Not und Verzweiflung, ihr dies eine, einzige, was sie besäße, zu lassen, allein hatte sie die brechenden, geliebten Augen zugedrückt und die erkaltenden Händchen in den ihren gehalten. Sie war nicht zusammengebrochen; bleich uud starr hatte sie die Wache bei ihrem toten Kinde gehalten bis in die Nacht hinein.

Und dann war er heim gekommen. Sie hatte die Hausthürglocke und dann sehr unsichere Schritte auf dem Flur gehört, nun öffnete sich die Thür und er trat ein mit gerötetem Gesicht und etwas glasigen Augen. Er war betrunken – zum erstenmal, seit sie ihn kannte, geradezu berauscht.

Oft im Laufe des letzten Jahres hatte sie ihn in etwas angeheiterter Stimmung gesehen, und schon das war ihr peinlich und abstoßend gewesen, so aber sah sie ihn zum erstenmal. Und was er nüchtern schon lange nicht mehr gethan hatte, das that er jetzt im Rausche; er kam schwankend auf sie zu, legte den Arm um ihre Taille und küßte sie mit einem Scherzwort.

Da hatte die junge Frau mit einer leidenschaftlichen Bewegung des Ekels ihre Schultern frei gemacht und ihm das todblasse Gesicht zugekehrt. „Hinaus!“ hatte sie rufen wollen, während die Hand gebieterisch nach der Thür wies, aber die starren Lippen hatten das Wort nur tonlos gebildet.

Hatte er es dennoch verstanden, oder hatte ihn ihr Gesicht und ihre Gebärde ernüchtert – der Rausch war plötzlich verflogen. Sich langsam über die Stirn streichend, kam der Mann zum Bewußtsein und sah, was hier geschehen war. Noch deutete die schmale Hand nach der Thür, und er wandte sich und ging hinaus wie ein Schuldiger.

Seit jener Stunde – es war nun über ein Jahr – gingen sie nebeneinander hin, beinahe wie fremde Menschen. Sie hatten das Kind begraben, ohne daß ihre Thränen sich vereint hätten, und sie waren dann langsam zurückgesunken in das Einerlei des Alltagslebens, ohne daß sich die Eiseskälte, die sie umfing, je gelöst hätte. Sie zankten nicht miteinander, nie war ein Scheltwort zwischen ihnen gefallen, aber das, was auf ihnen lag, war, weil es unausgesprochen blieb, schlimmer noch als Zank.

Der jungen Frau war in diesem verödeten Hause, seit das Kind tot war, zu Mut wie in einem Gefängnis. Den Mann hatte sie nie wieder in einem Zustand gesehen, wie in jener unglückseligen Nacht, aber er ging seinen Weg mehr als je für sich allein. Jetzt, vor wenigen Tagen erst, hatte ein Zufall sie auf die Spur von Dingen geleitet, die sie tief demütigten und erbitterten. Die Liebe, die er zu Hause weder suchte noch fand, schien ihm anderswo zu teil zu werden. Einen eigentlichen Beweis freilich hatte sie nicht dafür, aber der Schein sprach deutlich. Sie selbst, sie liebte ihn ja nicht mehr; es war ja nur ihr Stolz, der so tief verletzt wurde, aber der Schmerz war darum nicht minder scharf.

Nein, sie ertrug es nicht länger, dies Leben des Elends, das sie führte. Was war es denn? Ein Schattenleben nicht der Mühe des Atmens wert!

Sterben! o, wer es könnte, wer nicht so unbarmherzig gesund wäre trotz alles Harms! Wer vergehen könnte am gebrochenen Herzen, wie man es mitunter las und hörte und doch, bei aller Sehnsucht danach, nicht erlebte. Ach nein, es war so eingerichtet in dieser grausamen Welt, daß gerade die, welche am elendesten sind, sich am längsten in ihr dahinschleppen müssen, immer den langen, öden, trostlosen Sandweg dahin, bis das Haar weiß und Herz und Geist ganz stumpf und zermartert sind.

Sterben! – und dennoch, warum nicht? Andere vor ihr hatten einen Ausweg gefunden, hatten entschlossen mit eigner Hand ein Ende gemacht, wenn ihnen die Last zu schwer wurde.

Nur – nur – wie konnte man diese Welt eigenwillig verlassen, ohne den Ueberlebenden ein Gegenstand der Verachtung zu sein, oder den großen Jammer, der einen dazu trieb, den Müßigen und Neugierigen preiszugeben? Nicht ins Wasser – nur das

[785]

Meeresbucht an der Riviera di Levante.
Nach dem Gemälde von G. Schönleber.

[786] nicht! Nicht irgend eine Todesart, der man die Absicht gleich anmerkte! Es mußte auf eine Art geschehen, der niemand ansah, daß man mit eigener Hand ein Ende gemacht hatte.

Man konnte Gift nehmen. Die junge Frau strich sich mit der kalten, schmalen, zitternden Hand über die Stirn – gewiß, man konnte Gift nehmen. Gab es nicht Gifte, die schmerzlos und sanft töten, ohne das Gesicht zu verzerren und zu entstellen, ohne je im Körper nachgewiesen werden zu können? Man starb, und es hieß dann, ein Herzschlag, oder ein langsamer Kräfteverfall habe einen getötet. Sie hatte gehört, daß es dergleichen gebe. Aber ihr waren die Namen solcher Stoffe, um die sie sich nie gekümmert hatte, unbekannt, und hätte sie dieselben gewußt, was hätte es ihr geholfen? Man geht nicht in die Äpotheke, verlangt ein Gift und erhält es.

Und doch, ein Mittel gab es vielleicht, zu erlangen, was sie begehrte.

Ob er sie wohl verstehen würde, der alte, seltsame, einsiedlerische Mann mit den klugen, sanften Augen und dem Zug von schmerzlicher Resignation um den Mund, jener alte Mann, von dem man sich erzählte, daß er ein vor langen, langen Jahren zerschelltes Lebensglück immer noch nicht vergessen und verschmerzen könnte, daß er die Erinnerung daran mit sich geschleppt hätte, fast durch die ganze Welt auf seinen großen Reisen durch fremde, zum Teil noch kaum erforschte Länder, und sie unverändert, unverblichen und unverwischt wieder zurück gebracht hätte in die alte Heimat?

Einsiedlerisch und weltfremd lebte er nun schon seit vielen Jahren; nur ein Zufall hatte sie damals, als sie voll strahlenden Glücks als junge Frau hier einzog, seine Bekanntschaft machen lassen, die sich schnell zu einer Art von Freundschaft entwickelt hatte. Sie war zuweilen auch in seinem Hause, das abseits vom Wege in einem großen Garten lag, gewesen. Mancherlei Wunderliches hatte er ihr da gezeigt, und sie entsann sich jetzt, daß er ein Schränkchen von indischer Arbeit aufgeschlossen und, auf allerlei Fläschchen von seltsamer Form deutend, mit einem halben Lächeln gesagt hatte: „Das ist eine Sammlung seltener, den meisten Europäern ganz unerreichbarer Gifte.“

Sie hatte den Kopf abgewendet und mit der Hand abgewehrt, der kleine Schrank war ihr geradezu unheimlich gewesen. Nichts in der Welt konnte damals ihren Gedanken oder Wünschen ferner stehen als der Tod. Und der alte Mann hatte genickt und mit seinem ernsten Lächeln gesagt, daß dies allerdings Dinge seien, für welche sie, jung, schön und glücklich wie sie sei, keinerlei Interesse haben könnte. Dann hatte er schnell zugeschlossen, den Schlüssel abgezogen und ihr chinesische Elfenbeinschnitzereien gezeigt, welche sie mit vielem Vergnügen betrachtet hatte.

Ob der alte Mann mit dem weißen Haar und den sanften, traurigen Augen sie wohl verstehen würde, wenn sie ihm sagte, daß sie sterben möchte? Ob er sie verstehen würde ohne nähere Erklärung – sie verstehen, ihr helfen und schweigen?

Sie glaubte es.

Es war etwas Verwandtes in ihm und ihr, etwas, das ihn befähigen würde, sie ohne viele Worte zu begreifen, das fühlte sie. Dieser alte Mann würde wissen, daß, wenn eine Frau wie Agnes Berner zu sterben begehrte, sie das Weiterleben wirklich unmöglich finden mußte.

Ja, sie wollte es thun! Tief atmete sie auf. Was vergangen ist, kann man nicht zurück ersehnen; aber Ruhe, Ruhe, die kann man sich verschaffen, einen langen Schlaf und Vergessenheit alles dessen, was einen quält.

Rasch warf sie einen wärmenden Mantel um und drückte einen unscheinbaren Filzhut auf das schöne Haar. Als sie auf den Flur trat, stand die junge Magd mit der brennenden Lampe draußen.

„Die gnädige Frau geht aus?“ sagte das Mädchen verwundert, „es ist sehr häßliches Wetter draußen.“

„Es schadet nichts, Marie, in einer halben Stunde bin ich wieder da.“

Das Mädchen sah ihr kopfschüttelnd nach, als sie nun auf die Straße trat. „Bei dem Wetter!“ sagte sie vor sich hin, „und in den leichten Schuhen! Die gnädige Frau ist doch sonst so ängstlicb vor nassen Füßen.“

Der feine, kalte Novemberregen sprühte Frau Agnes in das Gesicht und setzte sich in tausend winzigen Tröpfchen in ihr Haar. Der Wind zerrte an ihrem Schirm und an dem faltigen Mantel, das feine Schuhwerk, dessen sie sich zu entledigen vergessen hatte, war nach den ersten hundert Schritten durchweicht. Sie achtete nicht darauf, wenigstens war es ihr nicht widerwärtig. Im Gegenteil, es that ihr eher wohl, gegen das Wetter ankämpfen zu müssen. Sie war nun ganz ruhig. Der Entschluß hatte ihre Thränen versiegen lassen und ihre Erregung gedämpft.

Aber als sie nun vor dem Hause stand, welches sie suchte, zögerte sie doch wieder. Wie sollte sie dem alten Manne sagen, was sie wünschte? Bis jetzt hatte sie nicht daran gedacht, in was für eine Form man eine so seltsame und ungewöhnliche Bitte kleiden könnte.

„Der Augenblick muß es geben,“ dachte sie nach kurzem Sinnen und zog an der Glocke.

Nun stand sie auf dem matt erleuchteten Flur, und jetzt öffnete sich die Zimmerthür für sie.

Der alte Herr legte das Buch, in welchem er gelesen hatte, beiseite, stand auf und nahm den lichtdämpfenden Schirm von der Lampe. Der helle Lichtschein fiel auf sein weißes Haar und auf sein kluges, gütevolles Antlitz.

„Frau Agnes!“ sagte er, ihr mit einem liebenswürdigen und erstaunten Lächeln die Hand entgegen streckend. Sie hatte ihm gestattet, sie so zu nennen; er liebte den Namen.

„Frau Agnes – bei dem bösen Wetter!“

„Ach, das Wetter,“ sagte die junge Frau gleichgültig, aber sie nestelte zugleich unwillkürlich an den Schließen des schweren, nassen Mantels.

„Sie sind durchnäßt und Sie friert!“ sprach der alte Mann, nahm ihr den Mantel ab und rollte einen altmodischen Sessel für sie herbei, und dann, als das Licht voll in ihr weißes Gesicht fiel, fügte er langsam hinzu: „Sie sind mehr als das. Sie sind krank.“

„Krank – ach nein!“ Sie schüttelte den Kopf.

„Oder Sie bedürfen meiner Hilfe,“ sagte er fragend und sah ihr immer noch in das weiße Gesicht.

„Ja.“

„Und diese Hilfe kann Ihnen Ihr Mann nicht leisten?“

„Nein – er nicht.“ Ihr Gesicht wurde hart. Und plötzlich kamen sie ihr wieder, die Thränen, die sie schon alle ausgeweint zu haben meinte, sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und senkte den Kopf in die Hände.

Er ließ sie sich ausweinen, ohne sie zu stören, und nach einer Weile hob sie von selbst den Kopf wieder empor.

„Ich bin nicht krank,“ sagte sie ruhig, „ich bin nur sehr, sehr unglücklich.“

„Und Sie glauben, daß ich Ihnen helfen kann?“ sagte der alte Mann, sie aufmerksam und teilnehmend betrachtend.

„Ja!“ Dann wurde es wieder still.

„Können Sie mir sagen, was Sie bedrückt?“

„Nein, nein,“ sagte die junge Frau hastig, „das kann ich nicht. Es ist etwas – ich müßte jemand beschuldigen – nein, ich kann es nicht! Können Sie es nicht auch ohne das verstehen, wie einem das Leben so zur Last werden kann, daß man keinen anderen Wunsch mehr hat als den, es hinzuwerfen?“

Der alte Mann schwieg einen Augenblick. „Kind,“ sprach er dann, seine runzelige Hand auf ihre schlanke, weiße legend, „Kind, Sie sind so jung – und gesund, schön und begabt. Es stirbt sich nicht so leicht, wie Sie meinen.“

„Doch, es stirbt sich ganz leicht,“ sagte sie fest. „Können Sie nicht verstehen, daß einem so zu Mute sein kann?“

Er nickte langsam. In seine sanften Augen kam ein wunderlicher Ausdruck. „O ja, aber es geht vorüber, man lernt warten – und es war doch auch nicht das, mein Kind, wozu ich Ihnen helfen sollte?“

„Ja, das war’s.“ Nun war es heraus.

„Sie? Ich sollte –“ Der alte Mann erhob sich halb, „Sie sind krank, Frau Agnes, ich – ich sollte Ihnen helfen –?“

„Ja.“

Sie sahen sich ins Gesicht, Auge in Auge; es wurde wieder ganz still. (Schluß folgt.)


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Blätter und Blüten.


Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Nr. 13 dieses Jahrgangs.)

373) Seit Dezember 1891 wird vermißt der Zimmerthaler Christian Gottfried Roscher, welcher am 18. März 1870 zu Weiden in Bayern geboren ist.

374) Richard Julius Max Knopf, geb. am 6. Dezember 1863 zu Berlin, seines Zeichens Koch, ging im Jahre 1890 nach Buenos Aires, Rosario de Santa Fé, und von da ist er spurlos verschwunden.

375) Von dem Kaufmann Franz Josef Bergmann, geb. am 5. Dezember 1858 zu Pasek bei Rochlitz in Böhmen, kam im Januar 1886 aus Honolulu die Mitteilung, daß er nach Australien reisen wolle. In Sidney ist er dann auch mit dem Dampfer „Australia“ angekommen, hat aber von dort noch nichts wieder von sich hören lassen.

376) Seit seinem letzten Briefe vom Juni 1891 aus Wien, in welchem er ankündigt, daß er nach Budapest überzusiedeln gedenke, hat der Zimmermann und Bautechniker Jean Bernath, geb. am 19. Juli 1869 zu Thayingen, Kanton Schaffhausen, nicht wieder geschrieben. Im Jahre 1892, während der Cholerazeit, soll er sich in Hamburg aufgehalten haben.

377) Von seinen Eltern wird sehnlichst um Nachricht gebeten der Kaufmann Moritz Credé, geb. am 6. Febr. 1860 zu Kassel, der 1882 in Steinsburg (Kapland) und später in Brandfort (Oranje-Freistaat) gewohnt haben soll.

378) Seit 9. November 1893 ist die zu Hanau am 3. September 1878 geborene Pauline Mook verschollen. Sie hatte blonde Haare und schwarze Augen, deren linkes schielte.

379) Um Nachricht wird von seiner Mutter gebeten der im Jahre 1833 zu Königsberg in Pr. geborene Klempner Otto Kirschnick, der sich wahrscheinlich in England aufhält.

380) Der Buchhandlungsgehilfe Gerhard Vermaasen, geb. am 30. Okt. 1863 zu Materborn, Kr. Cleve, schrieb am 29. Sept. 1893 aus Ravensburg, daß er in Stuttgart eine Stelle als Reisender erhalten habe und als solcher nach Oesterreich gehen werde. Seitdem hat Vermaasen nichts wieder von sich hören lassen.

381) Die Schwestern Richter, Elisabeth, geb. am 8. Juli 1853, und Babette, geb. 25. März 1858 zu Nürnberg, werden von ihrem Bruder gesucht. Von Elisabeth kam im November 1892 aus Santos in Brasilien, wo sie verheiratet ist, von Babette im Mai 1891 aus Wien die letzte Nachricht.

382) Marie Elisabeth Hasselbacher, geb. Schleizer, die am 21. Juli 1847 zu Gera (Reuß) geboren wurde, schrieb zuletzt im März 1886 von Frankfurt a. M., Böhmerstr. 42, I; seitdem ist sie verschollen.

383) Am 19. April 1894 ging das schwedische Segelschiff „Slite“ (Kapitän J. Nyström), auf dem sich der Schiffsjunge Richard Eisenschmidt, geb. am 1. Juli 1879 zu Leipzig-Sellerhausen, befunden haben soll, von Harburg in See. Das Schiff wurde am 18. Mai 1894 auf der Fahrt nach Schweden vom englischen Dampfer „Horton“ überfahren. Die Eltern leben der Hoffnung, daß ihr Sohn gerettet und in Kopenhagen gelandet wurde, und bitten sehnlichst um ein Lebenszeichen von ihm.

384) Aus Worms, wo er sich das Diplom eines Braumeisters erworben hatte, ist der Brauer Robert Diestel, geb. am 24. Oktober 1866 in Podolien, seit März 1892 verschwunden.

385) Von seinem Neffen wird gesucht Georg Scheibel, welcher am 24. November 1813 zu Münchweiler geboren ist.

386) Schuhmachermeister August Heinrich Gabriel, geb. am 7. März 1834 zu Altdöbern bei Calau, ist seit 1864, zu welcher Zeit er in Calau lebte, verschollen.

387) Seit seinem Schreiben vom Mai 1878 aus London hat der am 27. Juli 1853 zu Luchshausen in Ostpreußen geborene Seemann Carl August Hermann Böhm nichts mehr von sich hören lassen.

388) Der Matrose Hellmuth Paul Burgeleit, geb. am 14. Aug. 1861 zu Kaukehmen in Ostpr., gab zuletzt Kunde von sich im Jahre 1886 aus Australien, im Jahre 1890 soll er sich dann in Amerika aufgehalten haben.

389) Der Buchhalter Adolf Streda, geb. am 21. Oktober 1869 zu Dobruschka in Böhmen, wird von seiner alten kranken Mutter sehnlichst um ein Lebenszeichen gebeten.

390) Ein hochbetagtes Elternpaar wünscht vor seinem Tode noch einmal seinen einzigen Sohn, den Schlosser und Uhrmacher Albin Friedrich Jsidor Köhler, geb. am 15. Oktober 1860 zu Hörselgau, zu sehen. Derselbe lernte zuletzt, im Jahre 1879, als Uhrmacher bei Hermann Köhler in Holzminden.

391) Von seiner Schwester um Nachricht gebeten wird der in Pest am 12. Juli 1860 geborene Zuckerbäckergehilfe Heinrich Walitschek.

392) Von seiner Mutter gesucht wird der Arbeiter Hermann Kromat, der am 28. Jan. 1878 zu Neukirch in Ostpreußen geboren ist. Kromat, welcher schwachsinnig ist, hat sich im Frühjahr 1894 von Hause wegbegeben und ist seitdem spurlos verschwunden.

393) Der Landwirt Wilhelm Balthasar Witte, geb. am 11. Juli 1832 zu Wittstock in Brandenburg, wird vermißt. Er schrieb am 29. Juni 1864 aus St. Joinville in Brasilien und soll später nach Curitiba verzogen sein.

394) Der am 22. September 1858 zu Schkölen, Kr. Weißenfels, geborene Maschinenbauer Friedrich Albert Jäger ging im Jahre 1888 nach Brasilien und später nach Nordamerika. Der letzte Brief Jägers datiert vom 19. April 1891 aus Milwaukee.

395) Ein Vater sucht seinen einzigen Sohn, den in der Provinz Posen am 23. Jan. 1874 geborenen Arbeiter Hermann Emil Scheel, welcher im Mai 1893 von Deutsch-Fordon bei Bromberg aus über Hamburg und Antwerpen nach New York gereist sein soll.

396) Der Kellner Gustav Hermann Richter, geb. am 25. Aug. 1868 zu Langburkersdorf in Sachsen, welcher noch im November 1892 in Berlin, Bergstraße 78, wohnte, ist trotz aller Nachforschungen nicht aufzufinden.

397) Ein bekümmertes Mutterherz sehnt sich nach einem Lebenszeichen von dem Gärtner Herrmann August Röben, geb. im November 1875 zu Oldenburg, welcher am 15. October 1893 von Westerstede in Oldenburg aus auf die Wanderschaft gegangen ist.

Wir hoffen von Herzen, daß auch diese Fortsetzung unserer „Vermißten-Liste“ in recht vielen Fällen ermöglicht, Freude und Versöhnung in Familien und vereinsamte Herzen zu bringen, wo jetzt Trauer und Herzeleid um verlorene Angehörige herrscht, die vielleicht doch noch am Leben sind.

Sigrid Arnoldson. (Zu dem Bilde S. 773.) In einer Knitik über Adelina Patti schrieb der berühmte Wiener Musikschriftsteller Eduard Hanslick: „Adelina Patti darf die erste unter den lebenden Gesangskünstlerinnen heißen.“ Und er fuhr fort: „Fast will es scheinen, als bleibe sie zugleich die letzte große Sängerin, die in der strengen Schule der Rossinischen Virtuosität und des Bellinischen bel canto aufgewachsen, also ausgerüstet mit den höchsten Errungenschaften italienischer Gesangskunst, sich modernen dramatischen Aufgaben zugewendet hat.“ Die Befürchtung, die er in diesen Worten ausspricht, ist glücklicherweise nicht eingetroffen: denn die „Diva“ hat in der Schwedin Sigrid Arnoldson eine durchaus ebenbürtige Nachfolgerin erhalten. Und dies ist wörtlich zu nehmen; denn im Frühjahr 1888 wurde Sigrid Arnoldson an Stelle der Patti am Coventgarden in London engagiert, wo sie das vollständige Rollengebiet der vergötterten Spanierin übernahm. Sie gleicht auch darin derselben, daß ihre Stimme nicht besonders groß ist, ihre nachhaltigsten Wirkungen vielmehr auf dem bestrickenden Wohllaut des Organs und der vollendeten Ausbildung desselben beruhen. Ihr Spiel ist voll echten dramatischen Feuers und von unwiderstehlichem Zauber. Sigrid Arnoldson ist 1868 als Tochter des berühmtesten Tenors Skandinaviens, Oskar Arnoldson, zu Stockholm geboren. Ihre gesangliche Ausbildung hat sie bei Madame Artôt de Padilla und dem unvergleichlichen leider so früh verstorbenen einzigen Lehrer der Patti, bei Maurice Strakosch, genossen. Ihr erstes Auftreten erfolgte 1886 in Moskau. Ueberall, wo sie sich seitdem hören ließ, flogen ihr die Herzen entgegen, und man ist in den deutschen Musikstädten, wo sie bisher gastierte, ebenso entzückt von ihr wie in St. Petersburg, Amsterdam, im Haag, in Paris, Rom, London, in den Vereinigten Staaten Amerikas und in ihrer Heimat Schweden. Wie schon in den letzten Jahren befindet sich die Künstlerin auch diesen Winter auf einer Gastspielfahrt: im Oktober machte sie auf derselben in Bremen die erste Station auf deutschem Boden. In ihrem Repertoire steht leider die französische und italienische Oper im Vordergrund, es umfaßt u. a. „Mignon“, „Carmen“, „Barbier von Sevilla“, „Dinorah“, „Traviata“, „Rigoletto“, „Fra Diavolo“, „Lucia“, „Romeo und Julia“, „Lakmé“ (von Delibes), „Mireille“ (von Gounod), „Manon“ (von Massenet), doch zählen auch Zerline in Mozarts „Don Juan“ und der Cherubin in „Figaros Hochzeit“ zu ihren erfolgreichsten Rollen. Die jungitalienische Oper, welche mit Mascagnis „Cavalleria rusticana“ zu so allgemeiner Geltung gelangte, hat ihr in der Nedda in Leoncavallos „Pajazzi“ neuerdings eine Aufgabe gestellt, die sie glänzend zu lösen weiß. Unser Bild zeigt sie im Columbinenkostüm dieser Rolle. W. Gareiß.     

Die Schleglerkönige ergeben sich Eberhard dem Milden von Württemberg. (Zu dem Bilde S. 777.) Um dieselbe Zeit, da die Schweizer Eidgenossen ihre Freiheit und Unabhängigkeit in der Schlacht bei Sempach gegen die Ritterscharen Leopolds von Oesterreich siegreich behaupteten, standen in Schwaben die alten freien Reichsstädte im Kampf gegen die Herrschaftsansprüche des die Landvogtei ausübenden Grafen von Württemberg. Hier lagen die Verhältnisse verwickelter als in der Schweiz; der kriegslustige Eberhard, der sich auf die Bauernschaft stützte, hatte nicht nur die Städte, sondern auch einen großen Teil der Ritter zu Gegnern, die ihrerseits auf eigene Faust gegen die Städter zu Felde lagen. Die so volkstümlich gewordenen Balladen Uhlands, welche den „alten Rauschebart“, Graf Eberhard den Greiner, und seinen Sohn Ulrich als Helden feiern und das Auf und Nieder jener Kämpfe schildern, haben dafür gesorgt, daß die Hauptereignisse derselben auch unserer Gegenwart gar lebhaft im Gedächtnis stehen: der Ueberfall in Wildbad durch den Ritterbund der „Schlegler“ und andere ritterliche Feinde, welchem der Greiner nur mit Hilfe eines treuen Hirten entgeht (1367), die Schlacht bei Reutlingen, in welcher Ulrich und die zu ihm haltenden Ritter der Kraft der Städter unterliegen (1377), der Konflikt zwischen Vater und Sohn, dem jener diese Niederlage nicht verzeihen kann, und die „Döffinger Schlacht“, in welcher 1388 der Rauschebart die Städter besiegt und Ulrich die Liebe des Vaters zurückgewinnt, doch um den Preis seines Lebens. Auch die Rache, welche die Häupter des Schleglerbunds zu Heimsheim ereilte, bildet in dem Cyklus den Gegenstand einer besonderen Ballade:

„Drei Könige zu Heimsen, wer hätt’ es je gedacht,
Mit Rittern und mit Rossen, in Herrlichkeit und Pracht!
Es sind die hohen Häupter der Schlegelbrüderschaft,
Sich Könige zu nennen, das giebt der Sache Kraft.“

[788] Doch nur die berechtigte Freiheit des Dichters, die Uhland dafür in Anspruch nahm, hat auch diese Episode in das poetische Lebensbild Eberhard des Greiners hineinbezogen; die Gefangennahme der drei Schleglerkönige zu Heimsheim – der Gegenstand unsres Bildes – gelang erst dem Nachfolger des Greiners, Eberhard dem Milden, drei Jahre nach dessen Tode, 1395, so daß uns jetzt gerade ein Halbjahrtausend von dem Ereignis trennt. Mit dieser That vollzog der Enkel freilich ein Werk der Rache, das ihm vom streitbaren Großvater gleichsam als Vermächtnis überkommen war. Im übrigen verlief der sieggekrönte Handstreich ganz so, wie es Uhland geschildert hat. Die drei „Schlegelkönige“ – nach Wolfgang Menzels Deutscher Geschichte waren es Wolf von Stein, Reinhard und Friedrich von Enzberg – hatten sich in dem festen Städtlein Heimsheim verschanzt, aber Eberhard ließ Feuer anlegen und räucherte so die alten Feinde seines Geschlechts zum Thore hinaus.

„Ein Thor ist freigelassen, so hat’s der Graf beliebt.
Dort hört man, wie der Riegel sich leise, lose schiebt;
Dort stürzen wohl verzweifelnd die Schlegler jetzt heraus?
Nein, friedlich zieht’s herüber als wie ins Gotteshaus.

Voran drei Schlegelkön’ge zu Fuß demütiglich,
Mit unbedecktem Haupte, die Augen unter sich;
Dann viele Herrn und Knechte gemachsam, Mann für Mann,
Daß man sie alle zählen und wohl betrachten kann.“ – – –

Die Niederlage des stolzen Ritterbundes, der durch die Gefangennahme seiner Häupter besiegelt ward, erscheint heute dem historischen Blick als ein bezeichnendes Symptom für den großen historischen Prozeß, der am Ausgaug des 14. Jahrhunderts das Rittertum überhaupt einem unausweichlichen Untergang weihte.

Meeresbucht an der Riviera. (Zu dem Bilde S. 785.) Der von Norden, etwa über Turin oder Mailand kommende Reisende, der in den italienischen Süden hineinstrebt und voller Ungeduld ist, an das ersehnte blaue Meer zu kommen, wohl wissend, daß die Bahn, zunächst von Genua bis Pisa, dicht an der Küste dahingleitet, erfährt zunächst eine unangenehme Enttäuschung. Wohl heißt der vielgepriesene Küstenstrich Riviera di Levante und soll eine Menge der köstlichsten Perlen landschaftlicher Schönheit aufweisen, wie die eines europäischen Rufes genießenden Ortschaften Recco, Camogli, Santa Margherita, Rapallo, Sestri Levante und, allen voran, Nervi – aber insgesamt, erbarmungslos, werden sie für unsere Blicke verschlungen von den Ungeheuern, die ihre schwarzen Rachen schnappend öffnen, kaum daß der Reisende sich hier an einer Pinie, einem Landhaus, dort an einem Stück blauen Meeres im Sonnenstrahl erfreut hat: das sind die zahllosen abscheulichen Tunnels, an denen diese unglücklichste aller Bahnbauten krankt. Oeffnet nach Stunden der Qual der halberstickte, kohlengeschwärzte Reisende die Augen, so empfängt ihn flaches einförmiges Land.

Wer aber im Segelboot dahingleitet, wer von Genua her zu Fuß wandert, der bekommt des Herrlichen genug zu schauen. Oben an den Hängen und Hügeln hat der Gärtner Mensch seine Reben in den Boden gesenkt, seine Oelbäume und Rosen gepflanzt und mitten hinein seine schmucken Landhäuser gesetzt; drunten, um die Klippen und Felswände her, hat der urgewaltige Architekt Neptun Buchten gehöhlt, Grotten gebrochen und Höhlen gemeißelt zu Stallungen für seine brausenden weißmähnigen Rosse, zu Tanzsälen für die Nixen und silberglänzenden Hallen der mit goldenem Schmuck an goldenen Spindeln beschäftigten Nereïden und zu

 „Brautkammern der Meeressirenen,
Wo leiskichernd die Flut im Phosphor wallet, und heimlich
Webt die narkotische Luft ein azurnes verliebtes Gedämmer.“

Hunderte solcher Grotten hat der nie ruhende Werkmeister an dieser felsigen Küste gegraben und hundert neue werden entstehen. Das Werk der Menschen ist aber auch ihnen nahe getreten, und die schweigsamen Nereïden haben oft ihre Wohnung wechseln müssen, wenn ihr Reich vom Lande her mit Schaufeln und Hacke angefeindet ward, wo es galt, Küstenstraßen zu bauen und Strandpromenaden für die modernen Menschen zu schaffen.

Auch bei Nervi, wo das Meer jahrhundertelang an der kleinen Bucht gearbeitet hatte, hat die wegeebnende Menschenhand manche einsame schöne Strandpartie zerstört. Doch ist des Schönen noch so viel übrig geblieben, daß der fremde Wanderer aus dem fernen Norden sich mitten in die farbige Märchenpracht des Südens versetzt fühlt, wenn er auf diesen wogenumatmeten Klippen lagert, hinter sich und bis hoch hinauf die Gärten mit den sonnenüberglänzten Feigenbäumen, Orangen, Citronen und Pinien, den Oliven, Weinreben und den ernsten dunklen Cypressen, vor sich die an den Klippen hinrauschende Flut, deren belebender Algenduft sich mischt mit dem Balsamhauche der Nadelhölzer! Wold. Kaden.     

Künstlerischer Hausschmuck. Wer sein Haus mit hervorragenden Werken der Malerei schmücken möchte, ohne doch die erforderlichen bedeutenden Geldmittel zu besitzen, um sich Originalgemälde berühmter Meister zu kaufen, der sei auf die „Vereinigung der Kunstfreunde für amtliche Publikationen der Königl. Nationalgalerie“ in Berlin hingewiesen. Diese Vereinigung bietet ihren Mitgliedern gegen einen Beitrag von zwanzig Mark alljährlich ein in farbiger Lichtdruckmanier hergestelltes Werk der Malerei von tadelloser Schönheit, und zwar haben die Mitglieder die Wahl zwischen einer größeren Anzahl von Bildern verschiedener Künstler. Wenn man die aus Genrebildern, Landschaftsbildern, Geschichtsbildern bestehenden Blätter des laufenden Jahres durchsieht, so findet man Reproduktionen von trefflichen Werken der Maler G. v. Canal, Eduard Fischer, Carl Gräb, Ernst Hildebrand, Ferdinand Keller, Adolf Menzel, Karl Müller, Carl Saltzmann, Friedrich v. Schennis, Anton v. Werner und erhält den Eindruck, daß durch diese Vereinigung der Kunstfreunde eine Förderung und Hebung des Kunstverständnisses in weiten Kreisen in erfolgreicher Weise angestrebt wird.

Krank geschossenes Wild.

„Das ist des Jägers Ehrenschild,
Der treu bewahrt und hegt sein Wild,
Weidmännisch jagt, wie sich’s gehört,
Den Schöpfer im Geschöpfe ehrt.“

Es giebt eine dunkle Seite des edlen Weidwerks; sie läßt sich nicht hinwegleugnen, da jeder in Feld und Wald bewanderte Mann sie zur Genüge kennt. Nicht jedes getroffene Wild bricht im Feuer zusammen; alltäglich werden Tausende Stück krank geschossen und gehen dann unter haarsträubenden Qualen oft erst nach Wochen zu Grunde. Was da die Kugel anrichten kann, davon nur ein Beispiel.

„Als ich heute mittag gegen 12 Uhr von einem Ausritt auf den Hof kam,“ wurde vor einiger Zeit in der „Deutschen Jägerzeitung“ berichtet, „sagte mir einer meiner Leute, daß dicht beim Dorf, nahe der Chaussee in den Birken (ca. halber Morgen Birken) ein Rehbock stände, der wohl krank sein müsse, da er gar nicht fort wolle. Ich nahm mir also meine Büchsflinte und ritt, begleitet von meinem Kutscher, dorthin und fand einige hundert Schritt von den bewußten Birken zwei meiner Leute, die Wache hielten und mir die Stelle andeuteten, wo sie den Bock zuletzt gesehen hatten. Der Bock zog in den Birken langsam herum und ließ uns, mich, drei Leute und zwei Pferde, ungefähr bis auf 100 Schritt heran; da machten wir Halt, und ich wollte eben sehen, ob ich ihm die Kugel aufs Blatt setzen konnte, als er uns äugte und dann langsam direkt spitz auf uns zu wechselte. Nun wollte ich sehen, was er machen würde, und schoß nicht. Der Bock zog immer näher und ich gewahrte nun, daß ihm der Unterkiefer abgeschossen war und derselbe nur noch in der Haut hing. Es war ein Jammer mit anzusehen. Der Bock, ein starker Sechser, hatte sehr gut aufgesetzt. Ich überlegte, ob ich schießen solle oder noch abwarten. Inzwischen war der Bock im freien Felde bis auf 40 Schritt herangekommen, fast bei jedem Schritt stieß er einen abgebrochenen Klagelaut aus und äugte uns recht wehmütig an. Ich konnte diesen Jammer nicht länger mit ansehen und machte seiner Qual, als er bis auf 30 Schritt zu mir herangewechselt war, durch einen Fangschuß ein Ende. Ich kann mir das Benehmen des Bockes nur so erklären, daß er hilfesuchend zu der Gruppe von vier Menschen und zwei Pferden herankam. Der arme Kerl war gewiß fünf bis sechs Tage so, ohne Aesung zu sich nehmen zu können, herumgeirrt und wäre in sehr kurzer Zeit Fuchs und Krähen zum Opfer gefallen.“

Derartige Qualen des Wildes werden sich wohl niemals ganz vermeiden lassen. Ist doch selbst der unter den Bäumen ergraute Weidmann, der beim Gebrauch der Schußwaffe streng nach der Regel verfährt, niemals sicher, daß sein Schuß das Wild niederstrecken wird. Die Jagd ist ein rauhes Handwerk. Wohl! Wer aber weidmännisch jagt, wie sich’s gehört, der hat auch ein Herz für das Wild und erachtet es als Ehrenpflicht, die Qualen des krankgeschossenen zu verkürzen, indem er dessen Spuren nachgeht. Dieses Ziel kann er natürlich nur dann erreichen, wenn ihm ein entsprechend dressierter Hund zur Seite steht. Ein solcher Hund fehlt aber in unseren Tagen einer großen Zahl von „Jägern“, für die die Jagd nur ein „Schießvergnügen“ darstellt. Es ist darum dringend im Interesse der Menschlichkeit zu wünschen, daß unsere Jäger von einem vielseitig ausgebildeten Hunde begleitet würden, den der Weidmann einen Gebrauchshund nennt und der geeignet ist, zugleich als Vorsteher, Apporteur, Verlorenapporteur, Wasserhund, Raubzeugwürger und Schweißhund zu dienen. „Der routinierte Gebrauchshund,“ schreibt Oberländer in dem kürzlich erschienenen Buche „Die Dressur und Führung des Gebrauchshundes“ (Neudamm, Verlag von J. Neumann), „leitet den Jäger auf der Rotfährte hin zum Wundbett des angeschossenen Bockes; seine erfahrene Nase irrt nicht wie das Auge des Jägers, der ohne Hund die Nachsuche bewerkstelligt. Geschnallt hetzt er das kranke Stück und beendigt seine Qualen, indem er es an der Drossel niederzieht oder aber, wenn es sich um Hochwild handelt, stellt und verbellt. Wie anders ist das Gefühl des Jägers, wenn sein Hund, sein treuester Freund, sein unzertrennlicher Gefährte durch treue Arbeit wieder gut macht, was ein schlechter Schuß gesündigt hat, wenn er das angeschossene Stück, sei es Hoch- oder Rehwild, Haar- oder Federwild, Nutzwild oder Raubzeug, in seinem Besitze statt unsäglichen Qualen und dem Ludertode überliefert weiß!“

Es wurden allerdings Zweifel laut, ob man einen Vorstehhund zu einer derartigen Vielseitigkeit ausbilden kann. Die Erfahrung hat gelehrt, daß dies wohl möglich ist, wenn auch die Dressur des Gebrauchshundes Monate harter, gründlicher Arbeit erfordert. So haben sich auch in Deutschland Vereine für Prüfung von Gebrauchshunden zur Jagd gebildet, denen eine möglichst gedeihliche Entwicklung zu wünschen ist. Für den Weidmann, der sich seine Hunde selbst dressieren will, bietet das obengenannte Buch von Oberländer eine ganz vorzügliche Anleitung. Aus „Liebe zum Wilde“ wünschen wir dem Buch die weiteste Verbreitung. Wir stimmen dem Verfasser völlig bei in seinem Ausspruche: „Jagd ohne den vielseitig leistungsfähigen Hund ist kein Weidwerk, sondern brutale Schießerei.“ C. F.     



Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed (6. Fortsetzung). S. 773. – Sigrid Arnoldson. Bildnis. S. 773. – Die Schleglerkönige ergeben sich Eberhard dem Milden von Württemberg. 1395. Bild. S. 777. – Vor der Berufswahl. Warnungen und Ratschläge für unsere Großen. Die Tierheilkunde. Von Dr. H. Lungershausen. S. 778. – Tänze der Südseeinsulaner. S. 780. Mit Abbildungen S. 780 und 781. – Jungwinter. Gedicht von Franz Bechert. S. 783. – Sterben. Novelle von Eva Treu. S. 783. – Meeresbucht an der Riviera di Levante. Bild. S. 785. – Blätter und Blüten: Vermißten-Liste. S. 787. – Sigrid Arnoldson. Von W. Gareiß. S. 787. (Zu dem Bilde S. 773.) – Die Schleglerkönige ergeben sich Eberhard dem Milden von Württemberg. S. 787. (Zu dem Bilde S. 777.) – Meeresbucht an der Riviera. Von Wold. Kaden. S. 788. (Zu dem Bilde S. 785.) – Künstlerischer Hausschmuck. S. 788. – Krank geschossenes Wild. S. 788.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.