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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[201]

Nr. 13.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Echt.

Erzählung von R. Artaria.

     (5. Fortsetzung.}}

Es waren viele in dem Garderobezimmer, die es jetzt eilig hatten, hier das bunte Kostüm unter Mänteln und Kopfhüllen zu verbergen, um sich in dichten Gruppen zur Treppenthür hinauszudrängen. Immer neue folgten, lauter Unbekannte, während Toni angelegentlich die offene Saalthüre im Auge behielt und sich ganz im geheimen vorstellte, wie wundervoll es sein müßte, wenn Schwager und Schwester aus irgend einem Grunde nicht aufzufinden wären, und Er sie heimführte, ganz allein in der funkelnden Sternennacht! … Lange Minuten träumte sie diesem Phantasiebild nach, endlich aber kam es ihr doch zum Bewußtsein, daß sie schon mindestens eine Viertelstunde hier saß, und sie begann, unruhig zu werden. Warum kam niemand? … Pereda nicht und die Schwester auch nicht? … Vielleicht hatte ihn diese – ähnlich genug sah es ihr! – kurzer Hand verabschiedet und suchte sie nun im unrechten Garderobezimmer. Von diesem Gedanken bewegt, erhob sich Toni und trachtete, durch die dichten Menschengruppen steuernd, in den Nebenraum zu dringen. Auch hier keine Spur der Gesuchten. Toni wollte zurück, aber durch das Herumgeschobenwerden war sie nicht mehr sicher, zu welcher der drei Thüren sie hereingekommen war, und zögerte unschlüssig, bald hier-, bald dorthin blickend, um vielleicht ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Es wurde ihr immer unheimlicher in dieser Einsamkeit unter denn vielen fremden Menschen, sie eilte in den nächsten Raum, setzte sich auf eine rote Bank nieder und war doch nicht sicher, ob es die gleiche sei, auf der Pereda sie verlassen hatte. Ganz unglücklich fühlte sie sich jetzt, sie wünschte, ach wie sehnlich! ihren Retter herbei oder wenigstens die Resi, den Schwager, Hachinger sogar – nur irgend jemand, der sie kannte, mit dem sie reden konnte!

Und siehe da! Kaum gedacht, sollte dieser Wunsch sich erfüllen. Durch die Saalthüre trat jetzt eine längliche braune Gestalt mit weißem Kopftuch, zog aus den Rockfalten ein Portemonnaie, entnahm demselben den Garderobezettel und näherte sich mit ihm dem Tische. Toni vermochte nicht zu erkennen, ob Fräulein Panke sie nicht sah oder nicht sehen wollte, sie kämpfte mit sich, bis dieselbe ihr Kleid hochgeschlagen und mit verschiedenen Nadeln festgesteckt, den großen grauen Mantel sowie die Ueberschuhe angezogen hatte und sich zum Gehen anschickte. Dann aber, in der Angst, hier allein zurückzubleiben, trat sie schüchtern auf sie zu.

„Fräulein Panke!“ …

Diese hob scharf die Nase in die Höhe und betrachtete Toni mit einem niederschmetternden Blick.

„Sie wünschen, mein Fräulein?“

„Ach,“ stammelte das Mädchen in tödlicher Verlegenheit, „ach, bitte, seien Sie mir doch nicht böse! Es ging vorhin alles so rasch … ich konnte nicht … ich wollte gerade aufstehen …“

Allweil fidel!
Nach einem Gemälde von Oskar Gräf.
Photographie im Verlag von Franz Hanfstaengl in München.

[202] „Strengen Sie sich nicht mit Unwahrheiten an,“ schnitt ihr die Schriftstellerin das Wort ab, „das verfängt bei mir nicht. Ich habe meine guten Augen und sah wohl, daß Sie mich nicht kennen wollten. Nun, Freunde sind wir ja nicht, Sie haben gegen mich so wenig Verpflichtungen wie ich gegen Sie, also brauchen wir die Sache nicht weiter zu erörtern. Ich empfehle mich Ihnen, mein Fräulein!“ Und sie machte eine Bewegung, um den sturmbewährten grauen Mantel, welchen Toni wie ein bittendes Kind am Zipfel gefaßt hielt, feindselig um ihre hageren Glieder zusammenzuziehen. Aber die Kleine ließ nicht los.

„Ach, gehen Sie nicht so weg!“ flehte sie von neuem. „Ich bitte Sie herzlich um Verzeihung, wenn mein Benehmen Sie gekränkt hat. Es thut mir gar zu leid und ich möchte es gerne gutmachen, wenn ich könnte!“

Fräulein Panke sah noch immer abweisend genug drein, aber wenigstens blieb sie stehen. Prinzipiell war sie gegen Weichherzigkeit jeder Art und empfand stets eine große Genugthuung, wenn es ihr gelungen war, ihr Recht irgendwo durchzufechten und unverschämter Anmaßung einen Wink mit dem Zaunspfahl zu erteilen. Aber einer dringenden Bitte widerstand sie erfahrungsgemäß schlecht, so ärgerlich ihr dies in jedem neuen Falle war. Zu dumm, als reiner Verstandesmensch solchen Anwandlungen ausgesetzt zu sein! Aber es half nichts – auch diesmal fühlte sie, widerwillig zwar, aber ganz deutlich, den umgenommenen Eispanzer unter Tonis bittenden Blicken schmelzen, und außerdem – wie bildhübsch stand sie da, die kleine Ungezogene in ihrer weißen Schlankheit mit dem reuevoll zur Seite gesenkten lockigen Köpfchen!

Fräulein Panke räusperte sich also einmal und sprach dann mit ernstem Blick, aber bedeutend milderem Ton:

„Na, es ist wahr, ich habe mich über Sie geärgert, und das tüchtig, denn Sie haben uns in einer wahrhaft schnöden Weise verleugnet. Ich sage das nicht allein um meinetwillen. Sie haben ein gutes, treues Herz bitter gekränkt, Fräulein Toni. Und das war ein großes Unrecht.“

Das Köpfchen sank um einen Zoll tiefer. „Ach – ich weiß! Aber in diese Gesellschaft hätte er nicht gepaßt – sagen Sie selbst …“

„So! Warum denn nicht? Ein stiller und bescheidener Mensch kann an jedem Tisch sitzen. Sie sind ja schon recht hochmütig geworden in den paar Tagen Künstlerleben. Aber sehen Sie sich vor, mein Kind! Hochmut kommt vor dem Fall, und wenn die Herrlichkeit hier ein Ende hat, so sind Sie wieder, was Sie vorher waren, und bereuen es vielleicht bald, um der Courmachereien dieser Herren Maler willen sich einen Mann verscherzt zu haben, der Sie herzlich liebte und besser zu Ihnen gepaßt hätte als Sie selbst vielleicht zu Ihrer heutigen Gesellschaft!“

Diesen letzten Schuß um der guten Sache willen abzufeuern, hatte sich die gestrenge Mahnerin nicht versagen können; er entbehrte aber sichtlich der gehofften Wirkung. Um die Mundwinkel der Kleinen zuckte es verräterisch, sie bezwang sich aber und gab die Erwiderung nicht, die ihr auf den Lippen brannte. Nur einen Seitensprung machte sie, um das gefährliche Thema etwas ins allgemeinere zu ziehen, und fragte möglichst harmlos:

„Woher kennen denn Sie eigentlich den Lorenz?“

„Wir wohnen in demselben Gasthof und sind miteinander hergekommen. Nein – Sie brauchen sich nicht so erschrocken umzusehen, er ist schon lange nicht mehr hier, er hatte genug und ging gleich nach dem Abendessen … Mich hielt die Pflicht,“ fügte sie gemessenen Tones hinzu, „ich würde sonst auch schon früher gegangen sein. Aber –“ Fräulein Panke erhob kritisch Augen und Nase – „warum stehen Sie denn so verlassen hier in der Garderobe ohne Schutz und Begleitung?“

„Ach,“ erwiderte Toni, „ich weiß ja selbst nicht, wie das zugeht. Herr Pereda ist schon lange da hinein, um meine Schwester zu suchen und den Schwager auch, es kommt aber niemand von ihnen und ich fürchte mich so unter all’ den fremden Leuten.“

„So! hm … sehr rücksichtsvoll kann man das nicht nennen. Aber jedenfalls: Sie allein hier stehen lassen, das kann ich doch entschieden nicht!“

„Ach, Sie sind so gut …“ schmeichelte Toni.

„Ich bin gar nicht gut,“ schnitt ihr die andere streng das Wort ab. „Das ist pure Verstandessache. Hier allein bleiben können Sie nicht. Ich will Sie heimbringen, das wird unter den gegebenen Umständen wohl das Richtigste sein!“

„Tonerl!“ rief’s in demselben Augenblick, und Frau Volkhard kam erhitzt und etwas aufgeregt herbei. „Wo in Gottesnamen steckst Du denn? Der Pereda sagte mir, Du seiest in der ersten Garderobe“ – sie sah sich um – „ja, wo ist er denn? Ich denke, er ist gleich wieder zu Dir zurückgegangen …?“

„Ich habe ihn nicht mehr gesehen,“ erwiderte Toni etwas kleinlaut. „Vielleicht hat er mich in dem andern Zimmer gesucht, während ich hier nach Euch sah.“

„Unsinn! So geht’s allemal, wenn man nicht fest am Platz bleibt. Ich hab’ soviel Zeit gebraucht, um den Hans aus dem Bierstübel loszukriegen. Wen ich nach ihm geschickt habe, der ist nicht wiedergekommen, endlich bin ich selbst gegangen und habe ihm das Gewissen erweckt. Aha, da kommt er ja! So, jetzt nur schnell unsere Sachen und dann in einen Wagen, ich bin zum Umfallen müde.“ Während Volkhard die Mäntel holte, stellte Toni die Schriftstellerin so warm beflissen vor, daß Frau Resi ihr mit freundlichen Augen und Worten für die Beschützung der Schwester dankte. Und der mit Pelzen und Ueberwürfen beladen zurückkehrende Volkhard fügte, als er hörte, wovon die Rede war, hinzu, während die Schwestern in ihre Hüllen schlüpften: „Dann mußt Du halt das Fräulein bitten, Tonerl, daß sie einmal bei Tag nach Dir schaut, statt sich jetzt unser Haus in der Stockfinsternis zu betrachten. Nicht wahr, Gnädige?“

„Oh“ – erwiderte Fräulein Panke mit plötzlich verklärten Gesichtszügen – „ich werde glücklich sein – ich würde nie gewagt haben –“

„Na, also, dann ist ja alles in schönster Ordnung!“ schloß er leichtherzig. „Seid Ihr’s?“ wandte er sich an seine Damen. „Dann macht’s voran und kommt herunter, daß ich Euch in einen Wagen setze!“

Uns?! …“ rief Frau Resi empört. „Ich denke, Du fährst mit, Hans!“

„Fällt mir ja gar nicht ein!“ erwiderte er mit großer Seelenruhe.

„Es ist ja schon halb vier Uhr!“

„Na, dabei ist doch nichts Auffallendes. Wenn’s einmal drei ist, wird es auch bald halb vier!“

„Aber Hans – was hast Du mir versprochen …?!“

„Ich bitt’ Dich, mach’ nur jetzt keine langen Sprüch’ mehr!“ erwiderte er, ihren Arm nehmend und mit den beiden Frauen dem Saalausgang zusteuernd. „Hachinger!“ rief er den gerade über den Vorplatz Kommenden an, „sinds so gut und lassens drunten eine Droschke vorfahren, wir kommen gleich nach.“

Frau Resi stellte daraufhin das weitere Reden ein, sie hatte diesen Ausgang schon zu oft erlebt, um sich noch einmal darüber aufzuregen, stieg also an des Gatten Seite die Treppe hinab, als Ziel manches Bewunderungsblickes, den Kopf stolz aus dem silberhellen Vließ ihres Plüschmantels gehoben, und Toni, in Schleier und Tücher verpackt, folgte ihnen, nicht ohne zögernd noch ein paarmal umzuschauen.

Nun hieß es einsteigen. Volkhard schob sehr dienstfertig die Decken zurecht und klappte den Schlag zu. „Fort, Kutscher! – So“, wandte er sich dann an den dabei stehenden Hachinger, „nun hätt’ man einmal seine Ruh’. Gehen Sie mit ins Bierstübel?“

Der andere nickte, und Volkhard fragte weiter, während sie wieder in den hellen Treppenraum eintraten: „Wo steckt denn eigentlich der Pereda? Meine Frau sagte, er sei so plötzlich verduftet. Haben Sie ihn nicht gesehen?“

„Den – Herrn – von – Pereda?“ entgegnete Hachinger, indem er näselnd mit langgezogenem Ton dessen Sprechweise nachzuahmen suchte, „ja, den hab’ ich freilich gesehen, vorhin, wie er seiner schönen Ungarin das Geleit gab.“

„Nicht möglich! Ich denke, die sind gesprengt! Sie hat ihn ja mit der ‚Phantasie‘ sitzen lassen, das war doch ein infamer Streich. Wie soll er ihr trotzdem wieder so schnell beigegangen sein?“

„Trotzdem?! … Eben deswegen!“ lachte der andere. „Die kennt ihren Mann und weiß ihn zu behandeln. Teufelmäßig hübsch sah sie aus, das muß man sagen, ich bin ihr im Anfang nachgegangen, um zu erfahren, wer hinter der Maske steckt, und hernach, als ich’s wußte, erst recht. Denn jetzt beobachtete ich die beiden; ich sage Ihnen, das war wirklich interessant. Erst wütende Blicke und Ignorieren, dann Auflauern, wenn sie so recht von Herzen mit andern kokettierte, und schließlich große Scene drinnen in der Muschelgrotte. Es ging heiß her mit Blicken und heftigen Redensarten, ungarisch oder spanisch, was weiß ich? Der Kerl spricht ja alle Sprachen. Die Versöhnung habe ich nicht gesehen, es kamen andere dazu, und sie wurden verscheucht, aber das Finale vor einer halben Stunde in der Garderobe: Mantelumlegen, verklärte Blicke, Arm in Arm die Treppe hinunter und weg! … Die zwei sind einander wert, sage ich Ihnen, die kommen so bald nicht voneinander los!“

[203] „So, so!“ meinte Volkhard. „Ja, da begreife ich schon warum er keine Zeit hatte, sonstige Ritterdienste zu thun. Na – trinken wir jetzt noch eins, Hachinger!“




Obwohl Fräulein Toni Burghofer im allgemeinen sich eines guten zehnstündigen Schlafes erfreute und im besondern Ursache gehabt hätte, ihn am Morgen nach dem Ball bis Mittag fortzusetzen, fuhr sie doch, als kaum das erste Tagesgrau zwischen den Vorhängen hereinfiel, auf, als ob sie jemand gerufen hätte, und öffnete ihre Augen mit dem Gefühl wie die Kinder am Weihnachtsmorgen. Und da stand es denn auch gleich wieder klar und hell, was ihr letzter Gedanke beim Einschlafen gewesen war: das neue schwindelnde Glück und die Erwartung, was nun heute noch folgen werde. Am liebsten wäre sie mit gleichen Füßen aus dem Bett gesprungen, um sich anzuziehen, nur die Erwägung, daß an diesem Ausschlafemorgen auch die Küchengeister einer ziemlich verlängerten Ruhe pflegen würden, hielt sie zurück. So kreuzte sie denn die Arme unter dem Kopf und gab sich, warm und behaglich in ihrem Nestchen liegend, den lieblichsten Zukunftsträumen und Erinnerungen an gestern hin. Alles lebte sie noch einmal durch: die heimlichen berauschenden Blicke und beziehungsreichen Worte, den Augenblick, wo Pereda sie einem andern, der gerade mit ihr tanzen wollte, sozusagen aus den Armen wegnahm und, sie stürmisch an sich drückend, im Triumph mit ihr dahinflog – und dann dachte sie wieder an jenen Kuß in der Grotte, durch welchen er sie für immer zu der Seinigen gemacht hatte, und fühlte neu den süßen Schauer durch ihre Nerven rieseln.

So vergingen ein paar Stunden zwischen wachen und wirklichem Träumen, endlich schlug es halb zehn Uhr, und aus dem Treppenhaus drang ein kräftiges, frühstückverheißendes Rumoren. Flink schlüpfte Toni aus dem Bett, plätscherte wohlig im frischen Wasser herum, zwängte die braunen Kraushaare unter ein Häubchen und stieg endlich, mit einem netten Morgenkleid angethan, die Treppe hinunter. Im Eßzimmer fand sie noch niemand vor als den Sonnenschein, der zwischen den schneebelasteten Zweigen draußen vom blauen Himmel hereinfiel und den behaglich warmen Raum mit seinem Licht erfüllte. Die dunkeln Eichenschränke, die alten Bilder und Gobelins, alles sah heute so besonders hübsch aus und Toni betrachtete, an dem gedeckten großen Tisch sitzend, diese ganze prunklose Apartheit, als sähe sie sie zum erstenmal. Sie rückte eine Schale mit italienischen Anemonen, welche zwischen dem Frühstücksservice stand, ins volle Sonnenlicht und dachte, während sie die hübsche Wirkung der bunten Farben zwischen dem blauen Porzellan und den Silbergeräten beobachtete: So muß es auch einmal bei uns aussehen! Mit dem angenehmsten Behagen machte sie sich dann daran, den von dem Mädchen gebrachten Theekessel anzuzünden und eine kleine Kanne für sich zu füllen, da von den Andern doch noch nichts zu merken war.

Auf dem Tisch lag die Morgenzeitung. Toni entfaltete sie und sah auf die dritte Seite. Richtig! – da stand bereits das ganze Künstlerfest schwarz auf weiß. Neugierig vertiefte sie sich in die langen Spalten und genoß, nachdem der erste Schrecken über ihre hier mit Vor- und Zunamen in die Oeffentlichkeit geratene Person überwunden war, mit großer Befriedigung die schönen Worte, welche der Herr Zeitungsschreiber zu deren Preis gefunden hatte. Wieder und wieder las sie den Absatz – das, was von andern handelte, bekümmerte sie nicht besonders – und als sie ihn ziemlich auswendig wußte, legte sie das Blatt nieder, um sich nun das Frühstück schmecken zu lassen. Dabei fielen ihre Augen auf einen Brief, welchen vorhin die Zeitung verdeckt hatte, und sie erschrak. Von Lorenz! …

Es gab ihr einen gewissen Stoß, als sie die Handschrift erkannte. Was hatte er ihr jetzt noch zu schreiben, nachdem ja, was? … sein Brief war ja noch unbeantwortet! … O Himmel, wie hatte sie nur das so ganz vergessen können! … Und jetzt, nach gestern abend vollends, jetzt wird er schön wild sein! … Sie hielt das blaue Couvert unschlüssig ein paar Augenblicke in der Hand, endlich schnitt sie es mit dem Frühstücksmesserchen auf und las:

 „Geehrtes Fräulein!

Sie sind mir noch die Antwort schuldig auf meinen Brief, den ich Ihnen in gutem Glauben vor acht Tagen geschrieben habe. Aber es brauchts jetzt nicht mehr, daß Sie antworten, was ich heute nacht habe sehen und erleben müssen und erst gar nicht glauben konnte, das zeigt mir, daß Sie jemand ganz anderes sind als die Burghofer Toni, an welche ich den Brief geschrieben habe. Ich ersuche Sie also, denselben als ungeschehen zu betrachten.

 In aller Achtung
 Lorenz Käsmayer.“

Doni saß regungslos mit dem Blatt in der Hand. Eine heiße Röte stieg ihr in die Stirne empor und dabei war es ihr ganz so zu Mute wie früher, wenn sie in der Schule einmal etwas recht Arges angestellt hatte. Nach einigen Augenblicken versuchte sie zwar mit einem verächtlichen Pah! über den hingeworfenen blauen Bogen zu anderem überzugehen, goß sich Rahm ein, strich Brötchen und begann zu frühstücken, las auch jetzt den ganzen Festbericht von Anfang bis zu Ende aufmerksam durch, aber das bewußte Gefühl wich nicht und Toni war recht froh, als jetzt die beiden Mädchen mit dem Kleinen hereinstürmten und die Eltern ihnen nachkamen. Frau Resi hatte den Gatten mit Gewalt aus dem Bette geholt, weil ein fürstlicher Besuch heute zu erwarten war. Der betreffende Standesherr, ein großer Freund der Kunst und warmer Bewunderer von Volkhards Bildern, hatte dessen persönliche Bekanntschaft gestern gemacht und sich im Bierstübel mit ihm festgekneipt, dann war er zu Frau Resi gegangen, um ihr sein Entzücken über Volkhards urwüchsige Derbheit auszusprechen. „Ich muß Ihr berühmtes Haus auch sehen,“ hatte er hinzugefügt, „und das Atelier – alles! Kann ich morgen kommen – sagen wir um zehn Uhr?“

„Ja, Durchlaucht,“ hatte die schöne Frau sehr gemütsruhig geantwortet, „kommen können Sie schon, aber Sie finden ihn halt dann noch im Bett.“

Der Fürst hatte sehr gelacht und dann seinen Besuch auf elf Uhr verschoben. Aber noch später dürfte es nicht werden; er müßte um ein Uhr schon abreisen!

Dieser in Aussicht stehende Besuch nun nahm die Gedanken des Ehepaars ziemlich ausschließlich in Anspruch, so daß nicht viel für die Erinnerung von gestern übrig blieb. Der Fürst war sehr reich und ein guter Käufer, sein Besuch hatte also größere Wichtigkeit als der mancher andern hochgestellten Schaulustigen. Es wurde hastig gefrühstückt, dann verschwand Frau Resi, um eine ihrer raffinierten Besonderheitstoiletten zu machen, und Volkhard nahm nach ein paar kurzen Bemerkungen gegen Toni die Zeitung vor. Hachinger kam und sah seine Hoffnung auf einen gemütlichen Ballschwatz getäuscht, denn Toni entschwand gerade durch die andere Thüre, der nachkommende Scholz wartete gleichfalls umsonst auf das Wiedererscheinen der Damen und beide zogen nach einer Viertelstunde miteinander ab.

Wieder klingelte es und wieder. Droben am Treppengeländer stand Eine und beugte sich jedesmal vor, um hinabzusehen. Aber der Erwartete kam nicht.

„Er wird auch ausschlafen,“ dachte sie, „und wird denken, wir thun es ebenfalls. Heute nachmittag! …“

Der das nächste Mal klingelte, war der Fürst, und sie mußte mit den Kindern in den Salon zur Vorstellung. Daß es ein ganz einfach aussehender junger Mann war und so ohne Umstände sprach und lachte wie andere auch, gewährte Toni eine große Beruhigung, denn nun getraute sie sich, herzhaft zu antworten. Daß sich aber offenbar kein Erinnerungsband zwischen ihrem heutigen Gesicht und der gestrigen „Phantasie“ knüpfte, das fand sie doch, aufrichtig gesprochen, unbegreiflich!

Es war auch nicht schön von Resi und Volkhard, daß sie gar nichts darüber sagten.

Letzterer machte statt dessen den Besucher auf seinen größten Schatz aufmerksam. Es war dies ein stark nachgedunkelter Tizian, der in schwerem Prachtrahmen über dem Kamin hing, eine flüchtige Studie zum Porträt Karls V., „schreckbar garstig“, wie Toni im stillen das bleiche Gesicht im dunkeln Sammetpelz bezeichnete. Die Durchlaucht wagte es, derselben Ansicht Ausdruck zu geben.

„Das muß ich nun ehrlich sagen, daß mir Ihre Bilder viel besser gefallen, lieber Herr Volkhard,“ sagte er lachend.

„Das zeigt nur, daß Sie gar nichts davon verstehen, Durchlaucht!“ erwiderte jener mit der größten Unbefangenheit.

„O, er ist köstlich!“ rief der hohe Herr voll Vergnügen. „Zur Strafe zeigen Sie sie mir jetzt gleich samt und sonders, Ihr ganzes Atelier mit allem, was darin ist.“ Er zog die Uhr. „Noch eine halbe Stunde! Begleiten Sie uns, gnädige Frau?“

Und die Drei stiegen die Treppe zum Atelier hinauf.

*      *      *

[204] Es war vier und fünf und halb sechs Uhr geworden, der weite Abendhimmel hinter den Bäumen begann, sich golden und purpurn zu färben, man unterschied von dem Erkerfenster des Fremdenzimmers im Oberstock nicht mehr deutlich, wer unter den Alleepappeln der Schwabinger Landstraße draußen sich dem Gartenthor näherte. Toni, welche in diesem Erker still hinter den großen Vorhängen saß und hinausspähte, begann allmählich müde zu werden und legte ihren Kopf rückwärts gegen das hohe Gesimse. Sie spürte eine Art von Bangigkeit im Herzen. Warum kam er nicht …?! So viele waren heute schon dagewesen, um nachzufragen, wie den Damen der Ball bekommen sei, es ging ja den ganzen Nachmittag hier im Hause zu wie in einem Taubenschlag, nur einer ließ sich nicht blicken …! Vielleicht hielt ihn etwas ab, er konnte auch unwohl sein … Toni stellte sich alle Möglichkeiten vor und wurde doch mit jeder verrinnenden Viertelstunde unruhiger und niedergeschlagener. So oft das Gitterthor ging, hob sie schnell den Kopf, um ihn sogleich enttäuscht wieder sinken zu lassen. So wartete sie schon eine geraume Weile, sie hatte sich, nachdem die letzten Gäste der starkbesuchten Kaffeestunde gegangen waren und man ihrer nicht mehr bedurfte, hierher zurückgezogen, um nach dem vielen ermüdenden Gerede auszuruhen und ihren Gedanken nachzuhängen. Allmählich aber wurde ihr dies immer unerfreulicher und sie verfiel auf die altbewährte Erfahrung, daß etwas Erwünschtes um so eher eintreffe, wenn man nicht darauf zu warten scheine. Schnell sprang sie auf und sah sich nach irgend einer Beschäftigung um. Sie brauchte nicht weit zu suchen: auf dem Sofa lag noch das ganze Phantasiekostüm von gestern und dicht daneben auf einem Stuhl ein zweiter Kleiderpack, den die Schwester heute früh hatte heraufschaffen lassen, um in der Garderobekammer neben dem Atelier verwahrt zu werden. Ueber den sonstigen Anforderungen des Tages war dies dann in Vergessenheit geraten.

Toni nahm die feinen Gewänder auf, in welchen sie gestern so glücklich gewesen war, sie drückte die Wange liebkosend an den duftigen Stoff, mit geschlossenen Augen ein Weilchen träumend. Dann aber legte sie alles sorgfältig zusammen, wickelte Sandalen und Spangen besonders in ein feines Seidenpapier, bis alles in schönster Ordnung war und nicht das Geringste fehlte. Das bißchen Thätigkeit erfrischte ihre Lebensgeister, sie machte sich also emsig an das weitere, indem sie die anderen Kostüme auf den Arm packte, um sie in die Garderobe zu tragen. Diese befand sich zwischen dem Fremdenzimmer und dem Atelier und bestand in einer abgeschrägten Dachkammer mit großen Wandschränken. Eine Tapetenthüre führte vom Fremdenzimmer hinein, welche Toni jetzt öffnete. Der Raum lag schon in tiefem Dunkel, nur drüben von der Atelierseite her fiel dämmeriges Licht durch eine angelehnte Thüre. Dort befand sich ein neben dem Atelier liegender und nur durch einen Vorhang davon getrennter kleiner Waschraum, der hier seinen Ausgang hatte.

Toni blieb horchend stehen: vom Atelier her schallten lebhafte Stimmen in heiterem Gespräch und Lachen. Einen Augenblick durchzuckte sie’s: wenn er dort drüben wäre! – Aber nein, das war ja Scholz (sie erkannte seine Sprechweise genau) und außer ihm noch Volkhard und Resi. Vermutlich gratulierte er diesem – der fürstliche Besuch heute morgen hatte mit einem großen Ankauf geendigt, und das Ehepaar befand sich deshalb in rosigster Stimmung. An solchen Tagen war Volkhard der zufriedenste Mann von der Welt und seine Resi die famoseste Frau – das wußte Toni bereits aus früherer Erfahrung und fühlte kein Bedürfnis, sich neu davon zu überzeugen. Schon war sie im Begriff, die Kleider in den geöffneten Schrank zu hängen und sich dann wieder zurückzuziehen, als sie deutlich: „Pereda –“ herüberklingen hörte und nochmals: „Pereda.“

Was wurde dort verhandelt? Das mußte sie mit anhören!

Leise legte sie ihre Last auf den Boden nieder, erweiterte behutsam den Thürspalt und betrat unhörbar den Zwischenraum. Der Vorhang nach dem Atelier war niedergelassen, durch seine Ritzen schien die große Helle des elektrischen Lichtes herein, Cigarrendunst und Cognacgeruch erfüllten die warme Luft.

„Er treibt es immer großartig,“ hörte sie den Kritiker sagen, „was mag ihn der Wagen allein gekostet haben. Nun, dafür war er denn auch die Hauptfigur, wenigstens in seiner Einbildung! Denn eitel ist er – maßlos. Man glaubt’s gar nicht, wenn man ihn so in seiner scheinbaren Unbefangenheit sieht.“

„Das macht auch gar nichts,“ sagte Frau Resi trocken. „Daß ein schöner Kerl eitel ist, das ist ganz natürlich. Nur bei den Häßlichen nimmt sich’s komisch aus!“

Toni hätte der Schwester um den Hals fallen mögen für diesen wohlgezielten Hieb. Sie fühlte einen furchtbaren Zorn über den Unverschämten, der so etwas zu sagen wagte. Und es war ihr eine wahre Erleichterung, als sie erkannte, daß er sich im Abschiednehmen befand. Die letzten Worte waren nahe der Thür gewechselt worden, er lachte noch einmal krähend auf über den Spaß und empfahl sich dann, baldiges Wiederkommen verheißend.

„Sag’ einmal, Hans,“ hörte Toni, unmittelbar nachdem die Thüre sich geschlossen hatte, die Stimme der Schwester wieder, „was er da vorhin angebracht hat von „Phantasie und Wirklichkeit“, das war nicht ohne. Ich glaube, der Pereda hat sich gestern ganz ernsthaft in das Tonerl verliebt. Fortwährend war er um sie herum – es ist den andern auch aufgefallen. Meinst Du, daß daraus am Ende ’was werden könnt’? Herrgott, so eine Partie – das wär’ ja ein Riesenglück für das Mädel!“

„Warum nicht gar!“ erwiderte jener sehr gemütsruhig. „Da bildest Du Dir wieder einmal ’was Schönes ein. Der und heiraten! Wenn er sogar die Liebschaft mit der ungarischen Baronin nicht hätte, würde es ihm schwerlich einfallen, aber so erst! … Die läßt ihn nicht aus.“

„Aber er hat dem Tonerl ganz riesig die Cour gemacht, sag’ ich Dir!“

„Um die andere recht wütend zu ärgern, jawohl! Weil sie ihm das angethan hat mit der ‚Phantasie‘. Aber die Versöhnung ist nachgefolgt. Der Hachinger hat sie miteinander aufbrechen sehen zur selben Zeit, wo Ihr ihn in der Garderobe vergeblich erwartetet. – Hoffentlich hat sich das Mädel nichts in den Kopf gesetzt,“ schloß Volkhard mit lebhafterem Ton, „das wäre eine große Dummheit von ihr.“

„Hoffentlich,“ stimmte seine Frau etwas nachdenklich bei. „Aber ich muß schon sagen, wenn es so steht, wäre mir’s lieber, er hätte sich jemand anderen für seine ‚Phantasie‘ gesucht! …“

Toni stand regungslos, totenblaß mit weitgeöffneten Augen in dem dämmerigen Raum. Dann, in plötzlicher Angst, sie möchte hier gefunden werden, setzte sie langsam Fuß für Fuß rückwärts und schlüpfte, während Schwester und Schwager drinnen von anderen Dingen sprachen, geräuschlos hinaus, die Thüre leise ins Schloß drückend. Sie nahm auch noch tastend die Kleider vom Boden auf und schloß die Schrankflügel ganz mechanisch. Aber in ihrem Zimmer wieder angekommen, warf sie alles weit von sich und fiel mit dem Kopf in die Diwankissen, verzweifelt schluchzend und zugleich angstvoll bemüht, daß der Schall davon nicht draußen gehört werde. So lag sie lange, lange, während die Dunkelheit immer dichter hernieder sank und niemand im Hause daran dachte, sich nach dem jungen Geschöpfe umzusehen, das hier in der Finsternis mit dem ersten großen Leid seines Lebens kämpfte.

(Fortsetzung folgt.)


Formosa.

Der mutmaßliche Siegespreis der Japaner.
Von Dr. Adolf Fritze.


Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß das siegreiche Japan, nachdem es China eine gewaltige Niederlage nach der andern bereitet hat, sich nicht eher zum Frieden verstehen wird, als bis ihm von seinem Gegner auch eine Erweiterung seines Länderbesitzes zugestanden ist.

Der Zankapfel selbst, Korea, kommt hier wohl kaum in Frage, weil für die Japaner der Besitz des Landes aus klimatischen und anderen Gründen von keinem wesentlichen Vorteil wäre, es auch zu sehr gegen das Interesse Rußlands verstieße, wollte letzteres Japan gestatten, da festen Fuß zu fassen, wo es selbst noch einmal die Rolle des lachenden Erben zu spielen hofft, denn für Rußland ist der Besitz eines eisfreien Hafens in Ostasien von allergrößter Bedeutung. Auch ist nicht ernstlich anzunehmen, daß Japan nach einem Teil des eigentlichen China Gelüste tragen sollte. Das Land hat

[205]

Palmsonntag in Ragusa.
Nach dem Gemälde von M. Murat.

[206] für den Japaner herzlich wenig Verlockendes. Aber ein Gebiet giebt es, dessen Besitz für Japan von großem Wert ist, das ist die zwischen beiden Reichen gelegene und eine Fortsetzung der den Japanern bereits gehörenden Kette der Liu-Kiu-Inseln bildende Insel Formosa, die sich zur Zeit, wenigstens zum größten Teil, im Besitz der Chinesen befindet und der sich neuerdings auch die kriegerische Aktion der Japaner zugewendet hat.

Der Wunsch der Japaner, Formosa ihrem Inselreiche einzuverleiben ist nicht neu; einen Versuch in dieser Richtung haben sie bereits im Jahre 1874 gemacht. Die östliche Hälfte der Insel ist im Besitz von Wilden malayischer Abstammung, und seitens eines dieser Stämme, des Stammes der Butan im Nordosten der Insel, waren mehrfach Mordthaten an schiffbrüchigen Japanern und Liu-Kiu-Insulanern verübt worden. Daraufhin ging im Mai 1874 von Japan eine Expedition in der Stärke von 3000 Mann unter dem Befehl des Generals Saigo nach Formosa, angeblich nur, um die Uebelthäter zu bestrafen, in Wirklichkeit wohl, um womöglich die Insel ganz oder teilweise zu annektieren. Unter siegreichen Gefechten gegen die Eingeborenen drang die Expedition vor, da erklärten die Chinesen sich als Herren der Insel und drohten mit Krieg, wenn Japan seine Truppen nicht zurückzöge. Japan mußte sich fügen, Formosa räumen, und erhielt eine verhältnismäßig geringe Geldentschädigung, 500000 Taëls, also etwa 3 Millionen Mark.

Glücklicher waren die Japaner auf den Liu-Kiu-Inseln. Diese bildeten ein kleines Königreich, dessen Herrscher sowohl an Japan, als auch an China einen jährlichen Tribut entrichtete. Um nun die auf Formosa erhaltene Scharte einigermaßen wieder auszuwetzen, verbot Japan 1874 weitere Tributzahlungen an China, und im Jahre 1876 wurde trotz der Einsprache der Einwohner der König mediatisiert und sein Reich in eine japanische Provinz umgewandelt. –

Ehe wir nun näher auf die Natur und die Bewohner Formosas eingehen, wird es nötig sein, einige geographische und statistische Angaben über die ostasiatische Inselwelt, zu der es gehört, vorauszuschicken. Die sämtlicheu hier in Frage kommenden Inseln liegen innerhalb eines Quadrates, dessen Seiten durch den 30. und 22.° nördlicher Breite und durch den 120. und 130.° östlicher Länge von Greenwich gebildet werden. Die südlichen Liu-Kiu-Inseln liegen unter demselben Breitengrade wie der nördliche Teil von Formosa und nähern sich bis auf etwa 100 Kilometer der Ostküste dieser Insel. Dieser geographischen Lage entsprechend, ist denn auch das Klima und die Vegetation auf den verschiedenen Inseln eine sehr gleichförmige, während weiter nach Süden das tropische, weiter nach Norden das subtropische Element überwiegt.

Formosa bedeckt einen Flächenraum von etwa 36000 Quadratkilometern, ist also etwas größer als Baden und Württemberg zusammengenommen.

Die Insel wird der ganzen Länge nach durchzogen von einer Gebirgskette, welche sich stellenweise bis zu einer Höhe von etwa 4000 Metern erhebt. Man schätzt die Zahl der Bewohner auf etwa 3 Millionen. Den Fremden sind geöffnet die Häfen Taiwansu, Takao, Tamsui und Kilung. Die erst kürzlich erbaute Hauptstadt ist Taipeifu, gelegen an der Nordspitze der Insel.

Die Liu-Kiu-Kette wird gebildet aus 36 bewohnten Inseln von teilweise vulkanischem Ursprung, deren Oberfläche man auf etwa 4000 Quadratkilometer berechnet hat, was ungefähr dem Flächeninhalt des Herzogtums Braunschweig und des Gebiets der freien Hansestadt Hamburg gleichkommen würde. Die vulkanischen Inseln, von denen eine Anzahl noch thätige Feuerberge besitzt, bilden die innere, dem Festland zugekehrte Reihe. Der Kern der äußern Reihe wird gebildet durch Gneis und Thonschiefer, welcher mehr im Innern der Inseln zu Tage tritt, während die dem Meere näher gelegenen Teile aus Korallenkalk bestehen. Die größte dieser Inseln, Okinawa, ist selbst ein in der Hebung begriffenes Korallenriff. Auf ihr ist auch die alte Königsstadt Shuri mit der Hafenstadt Nasa gelegen. Ganz Liu-Kiu, oder, wie es jetzt als japanische Provinz heißt, „Okinawa-ken“, besitzt eine Bevölkerung von etwa 400000 Seelen.

Das Klima in diesen Breiten ist im allgemeinen mild und gesund. Die Ostküste Formosas und die Gestade der Liu-Kiu-Inseln werden bespült von den warmen Wellen des auch unter dem Namen des japanischen Golfstromes bekannten Kuro-Shiwo, der, von den Marianen und Philippinen kommend, auch das Klima der Ostküste der großen japaniscken Inseln zu einem so milden und gesegneten macht. Während des Sommers wehen warme und feuchte Südwinde, welche verhältnismäßig reiche Niederschläge mit sich führen, im Herbst setzen dann kühle Nord- und Nordwestwinde ein, indes sinkt auch in den kältesten Monaten des Jahres auf den Liu-Kiu-Inseln die mittlere Temperatur nicht unter 15° Celsius.

Die Vegetation ist im Süden Formosas rein tropisch. Am Meeresufer bilden die Mangroven üppige dunkelgrüne Dickichte, welche mit ihrem undurchdringlichen Gewirr von Luftwurzeln bis weit in das Meer hinausreichen. Pandanus und Palmen bedecken das Ufer und die tiefer gelegenen Teile des Gebirges, während stolze Wälder immergrüner Eichen und Lorbeeren die mittlere Zone der Berge schmücken, und über diesen ragen in blendender Weiße die schneebedeckten Gipfel des Mount Morrisson und seiner Nachbarberge gen Himmel. Je weiter wir auf der Ostseite der Insel nach Norden fortschreiten, um so mehr ändert sich der Habitus der Vegetation. Formen von subtropischem Gepräge treten auf und ganz allmählich nimmt die Pflanzenwelt den Charakter einer Mischflora an, den Uebergang der tropisch-indischen zur subtropisch-japanischen Vegetation darstellend. Die Flora der Nordspitze Formosas gleicht dann schon fast völlig der der benachbarten südlichen Liu-Kiu-Inseln

Eine durchaus andere Beschaffenheit zeigt die ganze westliche Hälfte von Formosa. Hier ist wenigstens in der Nähe der Küste das Land fast vollständig eben. Die üppigen Urwälder sind verschwunden, gerodet von der Hand der Chinesen, der derzeitigen Herren dieses Teils der Insel, welche das ganze Gebiet in ein großes, reiches, stark bevölkertes Kulturland umgewandelt haben. Wohl bewässerte, terrassenförmig angelegte Reisfelder wechseln mit weit sich hinziehenden Aeckern, auf denen Zuckerrohr, Mais und Weizen gebaut werden. Die auf den Bergen wild wachsende Theestaude ist von den Chinesen veredelt, und bot auch die Kultur anfangs große Schwierigkeiten, so ist doch das Resultat derselben im Laufe der Jahre ein recht gutes geworden. Das Land weiter im Innern ist schön in seiner stetigen Abwechslung von Berg und Thal und von außerordentlichem Reichtum; Orangen, Bananen, Ananas gedeihen überall in Menge, und namentlich in der Nähe der Hafenstadt Tamsui bildet der Kampferbaum ausgedehnte Wälder. Das ist der Charakter des Landes auf der ganzen westlichen Hälfte und der nordöstlichen Spitze der Insel, auf welcher die Hafenstadt Kilung liegt.

Etwas anders als mit der Pflanzenwelt verhält es sich mit der Fauna unseres Gebiets.

Im allgemeinen wiegen auf Formosa solche Tierformen vor, als deren Hauptverbreitungsgebiet wir China und das Himalayagebirge zu betrachten haben, und diese Zusammensetzung weist in Verbindung mit der geringen Tiefe des Meeres in der Formosastraße darauf hin, daß – geologisch gesprochen – die Zeit noch nicht allzuweit hinter uns liegt, da Formosa noch mit dem großen asiatischen Festlande zu einem Kontinent verbunden war; von den etwa 30 uns bekannt gewordenen auf Formosa heimischen Säugetieren werden nur wenige ausschließlich auf der Insel getroffen.

Unter den Affen treffen wir auf Formosa die Art Innus speciosus, einen nahen Verwandten des Magot, der als einziger Verteter der Vierhänder in Europa den Felsen von Gibraltar bewohnt. Dieselbe Art, wie die auf Formosa einheimische, findet sich übrigens auch in Japan, und zwar noch in Gegenden, in denen im Winter der Schnee 15 bis 20 Fuß hoch liegt. Von Fledermäusen fallen die gewaltigen Pteropus, die fliegenden Hunde, auf, deren Nahrung ausschließlich aus Früchten besteht, und von Raubtieren finden wir namentlich eine Bärenart und ein eigentümliches Wiesel, Helictis. Die so weit verbreiteten Schweine sind durch ein Wildschwein (Sus leucomystax) vertreten. Unter den Hirschen ist namentlich zu erwähnen ein Muntjac (Cervulus), von der Größe unseres Rehes, und in den Gebirgen klettert der zierliche Goral (Nemorhoedus), eine unsern Gemsen nahe verwandte Antilopenart. Zu diesen Formen kommen noch Eichhörnchen, Mäuse, Hasen, Igel, Maulwürfe und ähnliche, mit europäischen Arten verwandte Species. Nur eine sehr fremdartige Beimischung zu dieser Fauna ist zu erwähnen, ein Schuppentier, Manis, dessen nächste Verwandte ebenfalls China und den Himalaya bewohnen.

[207] Unter den 144 bekannten Vogelarten von Formosa finden sich keine besonders bemerkenswerten Formen, sie sind teils identisch, teils nahe verwandt mit indischen und südchinesischen Arten, nur eine einzige Gattung ist für die Insel charakteristisch.

Ueber die Reptilien, Amphibien, Weichtiere und Insekten ist wenig bekannt geworden, sie scheinen sich nahe an die Species der Liu-Kiu-Inseln anzuschließen, für welch letztere der Reichtum an Eidechsen und Schlangen sowie an prächtigen Schmetterlingen meist zu indischen und himalayanischen Arten gehörig, charakteristisch ist.

Was nun die menschlichen Bewohner von Formosa betrifft, so zerfallen diese, wie bereits erwähnt, in zwei verschiedene Elemente, die eingeborenen malayischen Stämme und die chinesischen Eindringlinge.

Formosa war den Chinesen schon von alter Zeit her bekannt; bereits im Jahre 605 v. Chr. wurde ein Mandarin beauftragt, die Insel zu erforschen. In nähere Berührung mit Formosa kamen dann die Chinesen im Jahre 1430 durch Schiffbrüchige ihres Volkes, und seit der Zeit haben wahrscheinlich kleinere Ansiedelungen von ihnen auf dieser Insel bestanden. Zahlreiche Kolonisten kamen indes erst herüber, als die Mandschu im Jahre 1644 die chinesische Mingdynastie über den Haufen warfen und Peking einnahmen. Damals flohen viele Chinesen nach dem sichern Formosa, ließen sich zunächst an der Westküste nieder, verwandelten die Wildnis in fruchtbare Plantagen und drangen immer weiter ins Innere vor, die eigentlichen Besitzer der Insel, die Malayen, die übrigens auch in alten Zeiten von Süden her eingewandert sind, gegen die Ostküste und in das Gebirge zurückdrängend.

Gegenwärtig finden wir die letzteren, wie schon gesagt, nur noch in der gebirgigen östlichen Hälfte der Insel. Sie leben hier in stetem Kriege untereinander, einig sind sie nur in einem Gefühl, und das ist der glühende Haß gegen die Eindringlinge. Gelingt es ihnen, einmal einen Chinesen gefangen zu nehmen und in ihre Berge zu schleppen, so ist ein qualvoller Tod diesem gewiß. Nur am Westabhang der Gebirgskette sind die Eingeborenen etwas civilisierter, sie bebauen hier, untermischt mit Chinesen, die Aecker und häufig finden auch Mischehen zwischen beiden Völkern statt, wobei sich wiederum stets die Richtigkeit der alten oft gemachten Erfahrung bewährt, daß die diesen Mischehen entsprossenen Kinder immer mehr Merkmale des chinesischen Typus als des malayischen besitzen.

Hier in den Grenzgebieten zeigt sich natürlich überall mehr oder weniger der Einfluß der chinesischen Kultur. Die wild gebliebenen Stammesgenossen dagegen leben noch heute unter denselben Verhältnissen wie schon vor Jahrhunderten; ihre strohbedeckten Hütten bestehen aus Rohr und Bambus, Speer, Bogen und Pfeil sind ihre Hauptwaffen und ihre Nahrung liefern ihnen Jagd, Fischfang und – allerdings in sehr geringem Umfange – der Ackerbau.

Die neuen Ansiedler, die Chinesen, haben, wie nicht anders zu erwarten war, oft genug Versuche gemacht, die Bergstämme zu unterwerfen, ohne daß es ihnen jemals gelungen wäre.

Die Chinesen, welche Formosa oder „Taiwan“, wie sie es nennen, bewohnen, unterscheiden sich in nichts von ihren Landsleuten aus dem Mutterlande. Der Erwähnung wert dürfte höchstens die Angabe sein, daß die formosanischen Chinesen sich verhältnismäßig gut zu Soldaten eignen sollen.

In dem Zusammenhang, in welchem wir hier die Insel betrachten, sind ihre Produkte von hervorragender Bedeutung. Da ist in erster Linie der Reis, welcher als ganz besonders vortrefflich gilt, und der Zucker. Japan deckt seinen Zuckerbedarf fast ganz aus Formosa, und zwar sind es besonders deutsche Schiffe, die den Transport vermitteln. Der Hauptausfuhrhafen ist Taiwanfu für beide Produkte, zu diesen kommen noch Bohnen, Oel u. a. m. Fast ebenso bedeutend, wie der Handel von Taiwanfu, ist der von Takao, das nur wenig weiter südlich gelegen ist und in kürzester Zeit durch eine Eisenbahn mit ersterem Hafen und der Landeshauptstadt verbunden sein wird. Zu Reis und Zucker kommen hier als Exportartikel noch Südfrüchte hinzu. Das in der Nähe der Hauptstadt gelegene Tamsui exportiert neben den schon genannten Produkten vortrefflichen Thee, Kampfer und namentlich in großer Menge Schwefel aus den unweit gelegenen Minen von Hobei, ferner Indigo, Hanf und Petroleum. Von großer Wichtigkeit ist endlich noch die vierte im Nordosten gelegene Hafenstadt Kilung wegen der bedeutenden in der Nähe befindlichen Steinkohlenwerke. 1884 machten im französisch-chinesischen Kriege die Franzosen einen Versuch, die Gruben zu nehmen, der aber fehlschlug, sie erlitten vielmehr selbst vor Tamsui eine Niederlage. Vorstehende kurze Aufzählung dürfte genügen, den Wert, den Formosa für die Japaner haben würde, hinlänglich zu illustrieren.

Viele hundert Japaner wandern jährlich nach den Sandwichinseln aus; wäre Formosa im Besitz Japans, so würde die japanische Auswanderung sich hierher wenden, und diese Kräfte würden dem Vaterlande erhalten bleiben. Die von den Chinesen eingeführte Kultur würde so wenig zerstört werden, wie dies auf den Liu-Kiu-Inseln geschehen ist, im Gegenteil: sie würde sich unter japanischer Leitung nur noch mehr heben. Und was der veralteten und verrotteten Bewaffnung und Kriegführung der Chinesen nie gelungen ist, das würde der japanischen Kriegstüchtigkeit gelingen: die Unterwerfung der Eingeborenen und die Erschließung des von ihnen bewohnten Gebietes.

Es liegt nahe, am Schluß dieser dem mutmaßlichen Siegespreis der Japaner gewidmeten Betrachtung noch der Frage näher zu treten, welche von beiden kriegführenden Parteien von uns als Europäern die größere Sympathie verdient. Ich sage: „von uns als Europäern“, denn als Angehörige des Deutschen Reiches haben wir keinen Grund, uns für das Wohl und Wehe einer der kriegführenden Nationen besonders zu erwärmen. In hervorragender Weise Gutes oder Böses haben uns weder die Chinesen noch die Japaner jemals zugefügt, unsere Handelsbeziehungen mit beiden Völkern sind sehr bedeutend, und Sieg oder Niederlage der einen oder andern Macht wird in dieser Beziehung nichts ändern. Koloniale Interessen endlich besitzen wir in jenen Gewässern keine.

Für den etwa in Yokohama oder Shanghai etablierten Kaufmann ist die Frage nach – sagen wir – Vorliebe oder Abneigung rasch abgethan; er antwortet ohne Besinnen: „dem Chinesen gebührt der Vorzug“, und von seinem Standpunkte hat ein solcher Beurteiler vollständig recht: der Chinese ist entschieden ein besserer, zuverlässigerer Kaufmann als der Japaner, und in Geschäftssachen ist mit dem ersteren weit leichter zu verkehren als mit dem letzteren. Diesem kaufmännischen Urteil haftet indes eine große Einseitigkeit an.

Unsere handelsbeflissenen Landsleute in den offenen chinesischen und japanischen Häfen kommen dort eben nur mit ihren mongolischen Berufsgenossen in den Hafenplätzen in Berührung und die Wenigsten haben die Gelegenheit oder geben sich die Mühe, das eigentliche Volk im Innern des Landes kennenzulernen. Dasselbe Schicksal teilt mit ihnen der sogenannte Globetrotter, der „Erdumtraber“, der vielleicht 3 bis 4 Tage in Yokohama und Kobe zugebracht hat und sich nun herausnimmt, in Wort und Schrift sein Urteil über den Charakter, das Familienleben, die Sitten etc. des japanischen Volkes abzugeben.

Die Chinesen sind in der That eine sehr intelligente Nation; in diesem Urteil sind alle einig, denen die Verhältnisse auch nur einigermaßen bekannt sind. Den Kompaß, das Schießpulver, die Buchdruckerkunst haben sie früher erfunden als wir Europäer. Sie sind tüchtige Arbeiter, denen keine Mühe zu groß ist, sofern sie nur bezahlt wird, und was Genügsamkeit anbetrifft, das erste Volk der Erde. Sie sind sparsam bis zum Geiz, welche Eigenschaft sie freilich nicht hindert, nach einem jahrelangen anstrengungs- und gewinnreichen Leben in Singapore oder San Francisko ihr erworbenes Vermögen bei der Ankunft in Shanghai oder Hongkong in der ersten besten Spielhölle in kürzester Zeit bis auf die letzte Kupfermünze wieder zu verlieren. In dieser Beziehung haben übrigens die Japaner viel Aehnlichkeit mit den Chinesen; daß in einer fidelen Nacht im Theehaus Haus und Hof verspielt wird, ist auch in Japan keine Seltenheit.

Den genannten guten Eigenschaften der Chinesen stehen aber manche schlechten gegenüber. Da ist zunächst ihre maßlose Unreinlichkeit zu nennen, die sich ebensowohl bei Vornehmen wie bei Geringen findet. Bekannt genug ist ferner die Mordlust, Grausamkeit und Tücke der Chinesen, die Bestechlichkeit ihrer Beamten vom Minister und Vicekönig bis zum Polizisten, die sklavische Gesinnung, der man in allen Volksklassen begegnet, endlich ihr diebischer, perfider Charakter, von dem jeder Reisende, der das Innere Chinas betreten hat, ein Lied zu singen weiß.

[208] Die Widersacher der Chinesen, die Japaner, erfreuten sich bis vor kurzem der allgemeinen Sympathie der Europäer. Man hatte Gelegenheit genug, junge Japaner zu beobachten, und letztere haben es verstanden, durch ihren Fleiß, ihr höfliches Auftreten und ihre persönliche Liebenswürdigkeit die öffentliche Meinung in hohem Grade für sich einzunehmen. Da brach der Krieg los und nun änderte sich plötzlich die Ansicht des Publikums und man hörte mindestens ebenso viele ungünstige Urteile über die Japaner wie früher günstige.

Thatsächlich war man in der Lobpreisung der Japaner zu weit gegangen. Man hatte vergessen, daß diejenigen von ihnen, welche auf unseren Universitäten studieren, die sich in unsern Fabriken ausbilden, ausschließlich den besten Kreisen des Volkes entnommen sind; die Mehrzahl von ihnen hatten sich bereits daheim als tüchtige Leute bewährt, ehe man sie zur Vollendung ihrer Ausbildung nach Europa schickte. Sie sind gute Repräsentanten der Ersten ihrer Nation, lernt man aber die Japaner in Japan selbst kennen, so bemerkt man wohl, daß den vielen Lichtseiten ihres Charakters auch manche Schattenseiten gegenüber stehen.

Der Hauptfehler des japanischen Charakters ist die große Neigung zur Eitelkeit.

Vielfach und mit Recht hat man die Nachahmungssucht der Japaner getadelt, die von der europäischen Kultur nicht nur das Gute und für sie Zweckmäßige, sondern auch Einrichtungen übernommen hat, die für japanische Verhältnisse nicht passen, oder die überhaupt verkehrt und unschön sind. Man hat z. B. oft bedauert, daß die Japaner der bessern Stände ihre bequeme, geschmackvolle und kleidsame Nationaltracht mit der weniger bequemen und für die japanische Durchschnittsfigur durchaus nicht vorteilhaften europäischen Tracht vertauscht haben. Es wäre indes durchaus verkehrt, hieraus auf eine Verschlechterung des guten japanischen Geschmacks schließen zu wollen; das immer weitere Umsichgreifen des Tragens der europäischen Kleidung ist vielmehr weiter nichts als ein Ausfluß eben jenes Fehlers.

Die Kanonen der Engländer und Franzosen, welche 1863 und 1864 die blühenden Hafenstädte Kagoshima und Shimonoseki in Schutt und Asche legten, belehrten die Japaner nachdrücklich darüber, daß sie keineswegs die erste Nation der Erde seien, wie sie bisher geglaubt hatten, und nunmehr ging ihr ganzes Bestreben dahin, es den Fremden zunächst gleich zu thun und sie dann zu überflügeln. Bei diesem an und für sich anerkennenswerten Streben verfielen sie nun aber auf den Irrtum, Aeußerlichkeiten für das eigentlich Charakteristische der europäischen Kultur zu halten. Daß sie eigentlich das tüchtigste Volk der Erde seien, gilt für sie nach wie vor als feststehend, nur durch ihre jahrtausendelange Isoliertheit, so meinen sie, ist es uns gelungen, sie in dem und jenem zu überflügeln. Wenn sie nun diese Einrichtungen übernehmen und sich dazu gerade so kleiden wie wir, so haben sie uns damit eingeholt und sind uns, dank ihrer sonstigen Tüchtigkeit, wieder um einen kleinen Schritt voraus.

Natürlich denken nicht alle Japaner so, aber die, welche es besser wissen, dürfen es daheim nicht sagen, ohne den sofortigen Verlust ihrer Popularität befürchten zu müssen, ganz wie bei unsern Nachbarn jenseit des Rheines.

Die gegenwärtig wieder stärker hervortretende Feindschaft der Japaner, gegen die Europäer ist sehr bedauerlich und kann für Japan die bedenklichsten Folgen nach sich ziehen, aber unerklärlich und völlig ungerechtfertigt ist sie nicht; das lehrt die Geschichte der letzten Jahrzehnte. Die Handelsverträge, die den Japanern sehr gegen ihren Willen aufgezwungen wurden, kommen, wenn man der Wahrheit die Ehre geben will, mehr den Fremden als den Japanern zu gute, und in der äußern Politik ist man ihnen überall hindernd in den Weg getreten. Europäische Einflüsse waren es, die die Chinesen im Jahre 1874 aufgestachelt haben, den Japanern auf Formosa entgegenzutreten und ihnen die Frucht ihrer Mühen zu rauben, Europäer sind es wiederum, die sich jetzt ungebeten in den Streit zwischen Japan und China einmengen möchten, um Japan um den Preis des Sieges zu bringen und vor allen Dingen selbst einen Profit dabei zu machen.

Den Fehlern im Nationalcharakter der Japaner stehen aber viele sympathische Eigenschaften und große Tugenden gegenüber, Tugenden, welche wohl geeignet erscheinen, ihre Fehler vergessen zu lassen und den Japanern unsere warme Zuneigung zuzuwenden.

Die Japaner von heute sind ein fröhliches und lebenslustiges, gutmütiges und gastfreies Volk, leicht erglüht für etwas, was sie als schön und edel erkannt haben. Sie sind in religiöser Beziehung tolerant, lieben ihr schönes Vaterland von ganzem Herzen und sind bereit, alles dafür zu opfern. Sie sind eine tapfere, waffenfreudige Nation von ritterlicher Gesinnung und ihre Intelligenz und Bildung weisen ihnen die erste Stellung unter den Nationen des Ostens an.

Es hat allen Anschein, als ob die Menschheit von ihnen noch etwas zu erwarten hätte, und so können wir uns ihres Erfolges nur freuen und ihnen einen baldigen ruhmvollen und vorteilhaften Frieden wünschen.


Das Butteraroma.

An vielen Nahrungs- und Genußmitteln des Menschen haftet ein flüchtiger Stoff, der ihnen erst einen höheren Wert verleiht – ein Stoff, der unseren Geschmacks-und Geruchssinn erregt und diesen oft so zu schmeicheln weiß, daß er zu einem Tyrannen wird und den Marktwert der Ware bestimmt. Wir begegnen diesem Dufte zumeist an Erzeugnissen, die auf dem Wege der Gährung, oder Röstung bereitet werden; er lockt uns verführerisch im Kaffee und Thee, er mildert den Rauch des Tabakblattes, er berückt unsere Sinne in gutem Weine und er fehlt auch nicht in der Zukost, die unser täglich Brot schmackhafter macht: in der Butter.

Die Butterhändler wissen wohl, wie sehr sie sich nach dem Geschmack ihrer Kunden richten müssen. Es genügt nicht, wenn sie nur gute unverfälschte Butter auf einen bestimmten Markt bringen, die Butter muß auch von einem gewissen Geschmack sein. Es kommt dabei Verschiedenes in Betracht.

In Süddeutschland, in Oesterreich und in der Schweiz wird ungesalzene Butter verlangt, der Norddeutsche würde diese als zu schal, zurückweisen der eine giebt der Butter aus süßem Rahme den Vorzug, der andere wählt Butter aus saurem Rahme; der eine achtet darauf, ob die Butter einen „Nußgeschmack“ besitzt, der andere fahndet nach dem „Buttergeruch“, der sich nur empfinden, aber nicht beschreiben läßt.

So spielt das Aroma der Butter eine hervorragende Rolle, und man hat eine ganze Reche von „Butterfehlern“ herausgeschmeckt, die zumeist von den Veränderungen der flüchtigen duftenden Stoffe in der Butter abhängen.

Die Butter kann speckig und talgig, schmecken, sie kann ölig werden und dieser Geschmack sich selbst zu einem widerlichen fischigen oder thranigen steigern; unerwünscht ist in ihr der Futtergeschmack, der von gewissen Futtermitteln, namentlich von Kohlrüben und Runkelrüben, herrühren soll; man tadelt die käsige, saure, bittere und ranzige Butter; man spricht von einem Stallgeschmack, der an Kuhmist und Stallluft erinnert; man schmeckt in der Butter ein nachlässiges Auswaschen der Milchgefäße mit Seife, heraus, ebenso ein ungeeignetes Holz der Faßdauben, zwischen denen die Butter aufbewahrt war, oder frisch mit Oelfarbe angestrichene Milchgeräte.

Wie entsteht nun das natürliche gute Aroma der Butter; wie kann man es sicher erzeugen und erhalten? Wenn wir auf diese Fragen Antwort geben wollen, so betreten wir ein in wissenschaftlicher Hinsicht noch ziemlich dunkles, aber um so interessanteres Gebiet.

Wir müssen zunächst hervorheben, daß Butter aus süßem Rahme fast gar kein Aroma besitzt, sie zeichnet sich durch einen milden, völlig reinen, nahezu indifferenten oder unbestimmten Geschmack aus. Eine Ausnahme macht nur die sogenannte Pariser und die Petersburger Butter. Es sind dies zwei im Handel sehr beliebte Sorten, die sich durch ihre Haltbarkeit auszeichnen. Sie haben einen leichten Beigeschmack nach gekochter Milch, was davon herrührt, daß der süße Rahm, aus dem man diese Butter bereitet, bis auf die Siedehitze des Wassers erwärmt, rasch abgekühlt und dann in gewöhnlicher Weise verbuttert wird.

Ein ausgesprochenes Aroma bildet die Eigenschaft einer aus gesäuertem Stoffe bereiteten Butter. Woraus es besteht, das wissen die Chemiker nicht; ist es in, einem Alkohol oder einem zusammengesetzten Aether oder in einem Gemenge von flüchtigen Fettsäuren zu suchen? Leider sind die Mengen des aromatischen Bestandteils in einem Butterfasse so geringfügig, daß sie sich nicht rein darstellen und chemisch untersuchen lassen.

Wir wissen aber wenigstens, wie der Duft in die Butter gelangt. Er ist eine Folge der Gährung, und diese wird durch Bakterien in der Milch eingeleitet. Wenn nun süße Mich sauer wird, so ist das nicht immer das Verdienst einer einzigen Bakterienart. Man hat eine ganze Anzahl verschiedenartiger stäbchenförmiger Gebilde kennengelernt, welchen

[209]

Die Ermordung Philipps von Schwaben durch Otto von Wittelsbach.
Nach einer Originalzeichnung von A. Zick.

[210] die Fähigkeit zukommt, den Milchzucker in Milchsäure zu verwandeln, und sie unter dem Namen der Milchsäurebakterien zusammengefaßt. Als man sie rein züchtete und ihren Einfluß auf die Milch untersuchte, da fand man, daß sie außer der Milchsäure auch Nebenprodukte in winzigen Mengen erzeugen und daß einige dieser Nebenerzeugnisse aromatisch sind. Das Aroma der einen Art ist milder, das der anderen stärker.

Im gewöhnlichen Milchbetrieb wird die Einleitung der Gährung dem Zufall überlassen. Milchsäurebakterien sind in der Natur sehr verbreitet und sie fehlen niemals in Räumlichkeiten, in denen man Milchwirtschaft betreibt. So gelangen sie leicht in die Milch und machen sie sauer. Aber sie haben hier verschiedene Nebenbuhler, die sich gleichfalls von der Milch nähren wollen, Bakterien anderer Art, welche andere Gährungen einleiten und die Milch für unsere Zwecke ungünstig beeinflussen, sie nicht sauer, sondern bitter oder faulig machen. Gelingt es den Milchsäurebakterien, was zumeist der Fall ist, den entschiedenen Sieg davon zu tragen, dann ist die Gährung nach unserem Wunsche abgelaufen, kommen aber die unerwünschten Bakterien mehr zur Geltung, dann kann die Milch verderben oder nimmt Eigenschaften an, die ihren Wohlgeschmack und damit das Aroma der Butter beeinträchtigen. Dann kann es vorkommen, daß eine aus solchem unzweckmäßig gesäuerten Rahm gemachte Butter bitter, ölig oder thranig schmeckt. Beobachtungen haben ergeben, daß der schlechte Geschmack, den man oft dem Futter zuschrieb, nicht von diesem, sondern von einer fehlerhaften Gährung herrührte.

Bei der „wilden Gährung“, welche der Rahm durchmacht, spielt der Zufall eine wichtige Rolle, und der Landwirt erhält bei gleicher Vorsicht und gleichem Fleiße das eine Mal eine vorzügliche, das andere Mal eine minder gute oder gar schlechte Butter. Die Wissenschaft bietet ihm jedoch heute Mittel, den Zufall auszuschalten und die „wilde Gährung“ in eine bestimmt geregelte zu verwandeln. Er braucht nur die Milchsäurebacillen rein zu züchten und dann eine Reinkultur derselben in den Rahm zu gießen, dann sind die guten Bacillen in solcher Ueberzahl in dem Rahme vorhanden, daß sie alle feindlichen, den Rahm verderbenden Elemente aus dem Felde schlagen.

Im Verfolg dieses Gedankens hat H. Weigmann die verschiedenen Arten der Milchsäurebakterien gezüchtet und einige herausgefunden, die ein besonders angenehmes obstartiges Aroma erzeugen. Von diesen stellte er Reinkulturen her und bot sie Molkereien an.

Man machte damit bei der Butterbereitung Versuche, die günstig ausfielen. Einige Molkereien Schleswig-Holsteins haben bereits ein paar Jahre lang mit den Reinkulturen gearbeitet. Die Butter, die sie aus dem also angesäuerten Rahme erhielten, hatte allerdings ein weniger kräftiges Aroma als die Butter der „wilden Gährung“, aber die Molkereien brauchten sich nicht mehr über Butterfehler zu beklagen, die Butter wurde weder bitter, noch ölig, noch thranig.

Das ist ein neuer Triumph der Gährungstechnik, die immer weitere Gebiete erobert. Die Brauerei zieht ihren Nutzen aus der Reinkultur der Hefe, Centner pfälzischen Tabaks werden gegenwärtig durch eine geregelte Gährung veredelt, auch in dem Molkereiwesen soll die Macht des Zufalls vor dem zielbewußten menschlichen Willen weichen. Wir stehen allerdings erst am Anfang dieser Bewegung, und sicher wird das Verfahren mit den Reinkulturen der Milchsäurebacillen vervollkommnet werden. Vielleicht werden wir noch ein Butteraroma kosten, von dem unsere Vorfahren sich nicht träumen ließen.

Dieses Gut, das uns die winzigen Lebewesen spenden, ist aber leichtbeschwingt und sehr empfindlich. Es will wohl gehütet werden: d. h. die gute Butter muß auch in fertigem Zustand gut behandelt werden, sonst geht das Aroma und mit ihm der Wohlgeschmack verloren.

Die Aufbewahrung der Butter ist Sache der Hausfrau, und einer erfahrenen Hausfrau können wir hierin nichts Neues sagen. Sie weiß, wie sie die Butter zu behandeln hat. Vielleicht macht es ihr aber Vergnügen, eine wissenschaftliche Erklärung ihrer bewährten Kunst kennenzulernen.

Die Butter hat zwei Feinde: Bakterien und physikalisch-chemische Einflüsse. In jeder frischen Butter ist noch etwas Milchwasser enthalten.

Nachdem die Milchsäurebakterien den Milchzucker aufgezehrt haben, können sie in der Milch nicht fortbestehen, ihre Herrschaft ist zu Ende. Dann kommen aber die Keime anderer Bakterien zur Geltung, die sich an das Eiweiß der Milch heranmachen und es zersetzen. Diese Zersetzung ist eine Art Fäulnis, sie wird durch Wärme begünstigt, durch Kälte hintangehalten, darum hält sich die Butter im kühlen Raume länger und darum gilt eine möglichst wasserarme Butter als besser. Wenn wir die Butter schmelzen, so bleibt das Wasser und mit ihm das Eiweiß unten im Gefäß und die abgeschöpfte Butter hält sich länger; allerdings ist sie dann keine Butter mehr, sondern nur Butterschmalz.

Das Fett, oder besser gesagt die Fette der Butter werden aber auch durch den Sauerstoff der Luft und durch das Licht angegriffen; unter Einwirkung dieser Faktoren werden sie ranzig, wenn auch gar keine Bakterien in der Butter sind. Aus diesen Gründen haben erfahrene Frauen seit jeher die Butter kühl aufbewahrt und sie vor dem Einfluß von Licht und Luft geschützt.

Ein eigenartiger Fehler ist noch das Talgigwerden der Butter, ein Fehler, der zumeist bei Buttersorten auftritt, die überarbeitet wurden und zu viel Luftporen enthalten. Jede Butter wird übrigens in kürzester Zeit talgig, wenn man die Einwirkung der Luft durch die des Lichtes unterstützt und sie direkten Sonnenstrahlen aussetzt.

Meine Leserinnen wissen auch, daß die Butter begierig allerlei Gerüche aufsaugt. Die alten Griechen und Römer verfertigten aus ihr wohlriechende Salben. Sie nimmt aber ebenso leicht auch Uebelgerüche an; der Stalldunst, der Moder des Kellers, ein übler Zimmergeruch werden von ihr schleunigst aufgesogen, und es ist bekannt, wie bei unzweckmäßiger Aufbewahrung binnen wenigen Stunden die duftendste Butter zu einer übelriechenden werden kann.

Die Fortschritte der Gährungstechnik fördern jedoch nicht nur den Wohlgeruch der Butter, sie sind geeignet, auch deren hygieinischen Wert zu erhöhen. Man liest zu Zeiten einer Epidemie wiederholt die Warnung, man solle keine „ungekochte Butter“ genießen, da Krankheitserreger auch in die Butter aus der Milch hineingelangen können. Der Menschheit, die gern Butterbrot ißt, erscheint diese Warnung als eine schreckliche Verordnung, die ihr eine harte Entbehrung auferlegt. In unseren Betrachtungen finden sich Andeutungen, wie diesen Gefahren gesteuert werden kann; es ist nicht unmöglich, den Rahm von schädlichen Mikroorganismen durch Erhitzen zu befreien und dann eine Gährung durch Reinkultur wohlthätiger Bakterien herbeizuführen. J.     


Der Fähnrich als Erzieher.

Eine Backfisch-Studie von Hans Arnold.

     (Schluß.)

Hänschen stand eben an ihrem Geburtstagstisch und zählte die eingegangenen Briefe und Karten, als der Assessor mit einem „anständigen“ Bouquet erschien und seinen Glückwunsch aussprach – zugleich aber sein Bedauern, daß er heute abend nicht werde pünktlich erscheinen können, da ihn ein amtliches und nicht zu umgehendes Diner bis in die neunte Stunde fesseln werde.

„Sie könnten mir wohl einen Tanz aufheben, Fräulein Hänschen!“ bemerkte er dabei.

„Wenn es irgend möglich ist!“ erwiderte Hänschen herablassend.

„Nun, auf alle wird doch der Fähnrich nicht pränumeriert haben!“ fuhr der Assessor etwas gereizt heraus, „übrigens hat ja wohl die Freude bald ein Ende – wie ich höre, macht der junge Herr in drei Wochen sein Examen – dann heißt es: ‚Adieu, Fähnrich‘!“

Hänschen blitzte den herzlosen Sprecher mit einem Paar sehr zorniger Augen an, die sich zu ihrer eigenen peinlichen Ueberraschung im nächsten Augenblick mit Thränen füllten.

„Bitte – wenn Sie mir meinen Geburtstag verderben wollen, werde ich mich sehr freuen!“ brachte sie trotzig hervor und stürzte aus dem Zimmer.

Der Assessor stand einen Moment betroffen – dann wandte er sich an die Mutter.

„Sie hat geweint!“ sagte er mühsam und atemlos.

Die Präsidentin lachte.

„Jawohl!“ erwiderte sie mit großer Seelenruhe, „der Gedanke, daß der Fähnrich bald abreist, ist ohnehin eine wunde Stelle in ihrem Herzen – und heute ist sie geburtstäglich sentimental gestimmt, sechzehn Jahre – also der erste Schritt zum ‚furchtbar alt‘ werden – und da müssen Sie mit der Erinnerung an die demnächstige Trennung von dem himmelblauen Helden kommen! Natürlich hat sie geweint. Es wäre auch noch besser, wenn sie es nicht gethan hätte. Kommen Sie einmal her, wenn der Fähnrich wirklich abreist, da sollen Sie erst merken, was Weinen heißt, oder ich müßte noch nie einen Backfisch gesehen haben!“

Der Assessor empfahl sich vernichtet – die Mutter schien die Sache auch noch zu begünstigen – recht hübsch, das mußte man sagen!

Es ist eine durch zahllose Erfahrungen bestätigte, wenn auch keineswegs angenehme Thatsache, daß Luftschlösser und Pläne eine gewisse Entfernung verlangen – daß sie, in die Nähe rückend und zur Wirklichkeit geworden, aus schimmernden, farbenprächtigen Gebilden zu kleinen, verkümmerten Früchten werden – greifbar, aber nicht so hübsch. Der Mensch sollte daher schon so klug geworden sein, sich nie im voraus zu sehr auf bestimmte Ereignisse zu freuen, aber er wird – leider oder zum Glück! – nicht klug. Und ein Mensch von sechzehn Jahren, der schon so verständig wäre, keine Luftschlösser mehr zu bauen, der möglichen Enttäuschung halber – mit dem möchte ich für meine Person wenigstens nichts zu thun haben.

Nun, unser Hänschen gehörte nicht zu dieser verpönten Menschenklasse! Die Geburtstagsfeier, die Tanzgesellschaft, die „erste Violine“, die sie bei dieser Gelegenheit naturgemäß zu [211] spielen hoffte, hatten sie schon seit Wochen in einen Taumel erwartungsvoller Glückseligkeit versetzt. Das Ausmalen des herrlichen Abends bis ins kleinste Detail hinein war schon so entzückend gewesen, daß die Wirklichkeit sich beträchtliche Mühe geben mußte, wenn sie mit dieser strahlenden Phantasie nur einigermaßen Schritt halten wollte. Die erste Vorbedingung zu dem formenreichen Bilde war natürlich, daß der Fähnrich, der unter den übrigen Herren, etlichen Primanern und angehenden Studenten, schon durch seine Uniform die Stelle des Schwans unter den – anderen Vögeln zu spielen berufen war, sofort auf das Geburtstagskind losstürzen und ihr mit bewegter Stimme einen tief bedeutsamen Glückwunsch aussprechen werde. Dieser Moment und die Gratulationswünsche wurden in Hänschens Einbildungskraft täglich in neuen und immer schwungvolleren Wendungen ausgemalt.

Und dann würde der Fähnrich nur – oder doch fast nur mit ihr tanzen! Am schönsten dachte sie es sich, daß er, wenn sie doch ’mal andern Gästen ihre Zeit widmen müßte, sich mit schmerzlichem Ausdruck und gekreuzten Armen an die Thür lehnen und ihr finster nachblicken würde. Es würde ja dies auffallende Gebahren allerdings etwas Peinliches haben – aber die Freundinnen würden doch gewiß alle vor Neid außer sich geraten, ein Umstand, der ja den meisten Mädchenfreundschaften eine besondere Würze verleiht.

Die freudige Erwartung und die mannigfachen Aufregungen des Tages ließen unsere kleine Heldin gar nicht zur Ruhe kommen. Als man vom Tisch aufstand, war sie so blaß, daß der Präsident mit einem prüfenden Blick auf sein Töchterchen nach schnöder Väterweise bemerkte: „Mädel, Du siehst so aus wie ein Teller saure Milch. Ich werde wohl ’mal nachsehen müssen, wieviel noch von Deiner Geburtstagstorte übrig ist!“ – was in Anbetracht der ganzen Situation und der sechzehn Geburtstagslichte recht häßlich war und die kindliche Liebe der Tochter für die Dauer von etwa zehn Sekunden fast erschüttert hätte.

Die Aufforderung, sich noch eine Stunde ruhig hinzulegen, wurde auch mit Entrüstung von Hänschen zurückgewiesen – sie hatte noch soviel zu thun!

Die Schleifen und Cotillondekorationen waren auf zwei Sophakissen zu stecken – wobei ein besonders prachtvoller Orden mit einem silbernen Schwan und einem Spiegel in der Mitte sehr pfiffig etwas unter unscheinbarere Sterne verborgen wurde, da er bestimmt war, die Heldenbrust des Fähnrichs zu zieren. Die Sträußchen für die Damen mußten in Körben geordnet – die Tanzkarten geschrieben werden, kurz, tausenderlei erfreuende und Herzklopfen erregende Vorbereitungen, die noch zu treffen waren, ließen den Nachmittag doch etwas schneller dahingehen.

Trotzdem wurde der wehklagende Ruf: „Ich glaube, heute wird es nie halb Sieben!“ mehrfach laut, und das Geburtstagskind schien demnach der Zeit den gewiß seltenen und ungerechtfertigten Vorwurf zu machen, daß sie aus „reiner purer“ Bosheit heute ’mal ganz stillstände.

Wie aber von erfahrener Seite mit ruhiger Sicherheit prophezeit wurde, „es wird schon halb Sieben werden!“, so geschah es.

Die Lampen wurden angezündet, eine frostig feierliche Atmosphäre herrschte in dem ausgeräumten Tanzsaal. Ein majestätischer Lohndiener, der wie ein englischer Premierminister aussah und in dem ehrenvollen Ruf stand, blechgefütterte Taschen zu haben, damit ihm der etwa zutraulich hineinschlüpfende Fasan keine Flecken in dem Frack verursache, deckte mit geräuschloser Gewandtheit den Eßtisch. Im Kinderzimmer schälte sich inzwischen die Klavierspielerin, eine kleine Person, so vertrocknet und runzlig wie eine getrocknete Birne, aus ihren winterlichen Umhüllungen, blieb aber im „Seelenwärmer“, um ihren musikalischen Leistungen nicht durch mangelnde Temperatur das nötige Feuer zu nehmen – kurz, die Anzeichen des hereinbrechenden Festes mehrten sich.

Hänschen, in ihrem neuen weißen Kleide, den Zopf heute hoch wie ein Krönchen aufgesteckt, was sie um drei Centimeter größer und „beinahe“ erwachsen aussehen ließ, handhabte ihren ersten Fächer mit Entzücken und Vorsicht und frug sich immer im stillen, ob die Welt wohl oft so schön wäre, während sie bei jedem Klingelton in glückseliger Nervosität zusammenfuhr.

Inzwischen fanden sich die erwarteten Gäste nach und nach ein.

Die Herren Primaner, in tadellosen Einsegnungsröcken, mit einer Maske gänzlicher Blasiertheit und Weltverachtung, durch die bei mehr als Einem höhnisch die tödlichste Verlegenheit hindurchblickte, machten die soeben frisch gelernten Tanzstundenverbeugungen mit großer Würde und kritzelten eifrig in ihre Karten.

Bei Hänschen hatte dies allerdings wenig Erfolg, da diese mehrere Tänze mit Löwenkühnheit verteidigte und namentlich den Cotillon nicht um alle Schätze Indiens hergegeben hätte – den mußte doch der Fähnrich beanspruchen und erhalten!

Die Tänzerinnen, eine Schar von Backfischen und jungen Damen, standen, ihrer sonstigen Natur entgegen, nicht schwatzend, sondern erwartungsvoll und still in einem Häufchen zusammen – etliche benutzten als Verlegenheitsableiter Lottchen, die im Besitze einer neuen Schärpe sich aber jeder Umarmung mit großer Ungezogenheit erwehrte, um ihre Prachtschleife nicht zerknittern zu lassen.

Karl klebte als stummer Beobachter in einer Ecke, nahm alles innerlich zu Protokoll und moquierte sich darüber, während er äußerlich den Eindruck eines bescheidenen, glattgekämmten Knaben machte, der sich seiner Stellung und seines kindlichen Jäckchens ganz und voll bewußt ist.

Zwischen den jugendlichen Tänzerinnen waren einige Erwachsene, die vom Vater ausdrücklich befohlen waren, damit der Assessor auch etwas Vernünftiges hätte und nicht immer mit den Backfischen herumspringen müßte.

Unter diesen zeichnete sich ein überreifes Fräulein hoch in den Zwanzigern durch eine Höhe von fast sechs Fuß und entsprechendes Gewicht aus. Sie hatte Augen wie Feuerräder, gewickelte Locken und eine prachtvolle Toilette, derzufolge sie den Eindruck machte: „Jeder Zoll ein Hundertmarkschein!“ Hiernach konnte sie mit vollem Rechte für das gelten, was man unter einer „schönen Erscheinung“ zu verstehen pflegt, wenngleich die innerliche Kritik von Hänschens Vater: „Die hätte einen hübschen Kutscher gegeben!“ nicht so ganz ohne Berechtigung schien.

Hänschen blickte immer gespannter nach der Thür – der Fähnrich ließ sich heute so erwarten! Wenn am Ende gar der Inspektionsoffizier, den der junge Herr ohnehin schon als einen wahren Franz Moor beschrieb, den Urlaub für den heutigen Tag abgeschlagen hätte – dem Geburtstagskind wurde schwarz vor den Augen.

Da – die Thür sprang auf – der Fähnrich erschien, ein Bouquet in der Hand, schön wie der junge Morgen, klirrend und hellblau. Hänschen warf einen beredten Blick auf ihre Freundinnen, in dem deutlich zu lesen stand. „Nun, habe ich Euch zu viel erzählt?“ und sah mit wildschlagendem Herzen der Anrede des Löwen der Gesellschaft entgegen. Der lang erwartete Moment verlief aber schon nicht ganz programmmäßig. Der Fähnrich chassierte zwar mit der ihm eigenen Anmut durch den Saal auf Hänschen zu und überreichte ihr sein Sträußchen, aber er bediente sich bei dieser Gelegenheit der nicht gerade durch Originalität verblüffenden Wendung: „Meinen besten Glückwunsch zum heutigen Tage!“ und kritzelte auf die Tanzkarte, statt daselbst irgend ein Gelüste nach Alleinherrschaft zu dokumentieren, sein Monogramm nur hinter den ersten Walzer, so daß Hänschen sich innerlich bitter enttäuscht fand.

Der Walzer selbst bot auch nicht gerade ein Uebermaß an Genüssen. Der Fähnrich war sichtlich zerstreut und ließ seine Augen immerfort im ganzen Saale herumrollen – er trieb die Geistesabwesenheit sogar so weit, auf Hänschens Frage: „Haben Sie schon meine Geburtstagsgeschenke gesehen?“ die überraschende Antwort zu geben: „Im Gegenteil!“ und setzte mit unheilverkündendem Eifer hinzu: „Wer ist die junge Dame in Rosa? Wenn gnädiges Fräulein dann die Güte haben wollen, mich vorzustellen“ – mit einer flüchtigen Kopfbewegung nach der Riesin deutend. Und nun begab sich etwas sehr Betrübendes. Der Fähnrich, trotzdem er der „jungen Dame in Rosa“ knapp bis an die Schulter reichte, trotzdem sie, schlecht gerechnet, sechs Jahre älter war als er – trotzdessen – oder vielmehr wenn man seine zarte Jugend in Betracht zieht, vielleicht eben deshalb! – verliebte er sich auf den ersten Blick so sterblich, so bis zur haarscharfen Grenze des Wahnsinns in die reife Schönheit, wie es eben nur ein Fähnrich oder ein Primaner fertig bekommt. Nachdem er den ersten Walzer als Arrangeur pflichtgemäß und gänzlich zerstreut mit der „Tochter des Gebäudes“ abgehaspelt hatte, verschwand er spurlos aus ihrer Nähe und schien den Abend im Schatten der Riesin verleben zu wollen.

Diese, nach einem alten ungalanten Sprichwort, wonach sogar das böse Prinzip in der Not mit Fliegen vorliebnehmen [212] soll, und in Anbetracht, daß der Fähnrich die einzige Uniform an dem Abend war, lächelte denn auch huldvoll auf ihn hernieder und tanzte mit ihm davon. Für den Unparteiischen war es allerdings sehr komisch, zu beobachten, daß sich hier „das Starke“ und „das Zarte“ im umgekehrten Verhältnis präsentierte, ja es machte beinahe den Eindruck als tanze der Fähnrich in kindlicher Pietät mit seiner sehr gut konservierten Mama.

Für den Unparteiischen, wie gesagt, war die Sache und die ganze glühende Leidenschaft des Fähnrichs sehr belustigend. Aber unser Hänschen war nichts weniger denn eine Unparteiische, und ihr kleines Herz zog sich mit jeder Minute schmerzlicher zusammen. Anderseits suchte die durch die letzte Zeit gemäßigte, aber durchaus noch vorhandene Unbändigkeit angesichts der Situation nur nach einem Vorwand, um mit elementarer Gewalt wieder hervorzubrechen. Es darf nicht verschwiegen werden, daß Hänschen mehrmals in das andere Zimmer lief, wo sie sich unbeobachtet wußte, dort mit beiden Füßchen stampfte, als wollte sie sich direkt aus dem ersten Stock ins Parterre durchtrampeln, und sich bis zu der Anrede „Dummer Kerl!“ an die Adresse ihres Ideals hinreißen ließ.

Die Eltern warfen sich auch einige Blicke zu, die bei dem Vater allerdings einen etwas ironischen Beigeschmack hatten. Die Mutter aber nahm naturgemäß blind Partei für ihre Tochter und fand das Benehmen des Fähnrichs „einfach empörend“.

„Und daß die alte Schachtel sich so von dem Jungen die Cour machen läßt,“ setzte die Hausfrau mit schnöder Verletzung des Gastrechts giftig hinzu, „das ist doch zu arg!“ Der Vater zuckte die Achseln.

„Liebes Kind – ich dächte, wir hätten unsere Studien gemacht – so ein Fähnrich kann mehr wie Brot essen! Für Hänschen ist die Sache übrigens ganz heilsam,“ setzte der Hausherr hinzu, „sie übertrieb die Wirtschaft mit dem Jüngling schon. Laß sie nur abgekühlt werden, der kleine Hochmutsteufel, der in ihr steckt, wird ihr am besten darüber weghelfen.“

„Ja, ja,“ seufzte die Präsidentin halb überzeugt, „aber gerade an ihrem Geburtstage – sie hatte sich so darauf gefreut.“

Ehelicher Zwist.
Nach einer Zeichnung von Richard Strebel.


Der schmerzliche Abend war inzwischen fast bis zum Cotillon vorgerückt, und unser armes Hänschen, das sich, wie wir uns erinnern werden, diesen wichtigsten der Tänze für den Fähnrich aufgehoben hatte, stand alle Qualen einer Gerichteten aus. Wenn sie jetzt, um die Situation zu krönen, noch mit einem Obersekundaner tanzen mußte, dem Einzigen, der noch unversorgt war, weil er in blinder Verlegenheit nicht gewagt hatte, irgend eine Dame aufzufordern – „dann gehe ich zu Bette!“ sagte die kleine Heldin dieser wahren Geschichte dumpf vor sich hin und frug sich bitter, wozu denn eigentlich das ganze Leben wäre.

Um den Becher ihrer Leiden zum Ueberfließen zu füllen, frug eine niederträchtige Freundin, die etwas gemerkt hatte, alle Augenblicke: „Mit wem tanzest Du denn den Cotillon?“ eine perfide Erkundigung, die Hänschen, um der Wahrheit nicht ins Antlitz zu schlagen, mit einem unartikulierten Gemurmel zu beantworten sich genötigt sah. Kurz, „es war hübsch“, wie das arme Backfischchen mit grimmigem Hohn bei sich selbst bemerkte.

Wie verschieden die Menschenlose verteilt sind, das zeigte sich auch an diesem Abend wieder. So deprimiert und erzürnt Hänschen war, so wolkenlos beglückt fühlte sich der Fähnrich! In seiner Eigenschaft als Tanzordner wuchs er erstens vor sich selbst zu schwindelnder Größe empor – er stürzte, um sich von

[213] seinen Anstrengungen zu erholen, ein Glas Bowle nach dem andern hinunter und war von der feurigsten Liebenswürdigkeit. – Er kommandierte und schrie mit einer Stimme, die zu den schönsten Hoffnungen für den Exerzierplatz als künftiges Feld seiner Thätigkeit berechtigte. Er wurde von allen jungen Mädchen umringt und gefeiert – die Primaner erblichen neben ihm wie der Morgenstern vor der aufsteigenden Sonne. Die Riesin, der es zu schmeicheln schien, daß dieser Salonkönig sie so öffentlich anhimmelte, wurde auch immer freundlicher, sie tanzte unaufhörlich mit ihm – kurz, der oberflächliche Zuschauer hätte hier eitel Freude und Vergnügen gesehen und gar nicht geahnt, welche innerlichen Konflikte ein armes Herz durchwühlten das gerade diesem Abend so sehnsüchtig entgegengeschlagen hatte. – Mitten in einer Tanzpause, die der Fähnrich benutzte, um den Anwesenden eine Solodarstellung im „Menuett“ zu geben, und, von bewundernden Blicken verfolgt, im Saal herumhüpfte, ging die Thür auf, und herein trat der Assessor – aber nicht als Assessor, sondern, von einem Diner bei seinem Bezirkskommandeur kommend, in Uniform – „als Lieutenant verkleidet“, wie Karl immer zu erzählen pflegte, wenn er den großen Augenblick später dramatisch vorführte.

Also, wie gesagt, der Assessor erschien als Lieutenant, eine Würde, von deren Vorhandensein der Fähnrich nie vorher eine Ahnung gehabt hatte.

Die plötzliche Wandlung, die mit diesem – dem Fähnrich – vorging – der Sprung zur Seite – die Hände an den Hosennähten, der vorschriftsmäßige, kalte, ausdruckslose Blick in das Gesicht des Rivalen, der so überraschend zum Vorgesetzten erblüht war – alles das muß man erlebt haben, um die Ernüchterung zu begreifen die der Vorgang auf Hänschen ausübte.


Ehelicher Frieden.
Nach einer Zeichnung von Richard Strebel.


Der Assessor, großmütig wie es dem Sieger gebührt, winkte herablassend mit der Hand ab, worauf wieder Leben in die versteinerte Gestalt des jungen Adonis kam, und näherte sich dann dem Geburtstagskind mit der weithin vernehmbaren, erlösenden Frage. „Nun, mein gnädiges Fräulein – Sie haben mir doch den Cotillon aufgehoben?“

Wenn der Stein, der Hänschen in diesem Augenblicke vom Herzen fiel, nicht bloß ein Phantasiestein gewesen wäre, so hätte er ein wahres Donnergepolter verursachen müssen. Strahlend, wenn auch nicht ganz aufrichtig, erwiderte sie: „Natürlich!“ und überraschte den Assessor damit um so angenehmer, als er die Frage eigentlich nur der Form wegen gethan und das erbetene Recht längst in den Händen des Fähnrichs geglaubt hatte.

Wäre Hänschen im geringsten schadenfroh gewesen, so hätte sie sich jetzt gerächt fühlen und in diesem Bewußtsein schwelgen können – der Fähnrich war klein – ach, wie klein geworden. Er schwänzelte bescheiden und artig mit „Gestatten, Herr Lieutenant!“ und „Gewiß, Herr Lieutenant!“ um den so oft geärgerten Assessor herum, der sich – denn er war immerhin ein Mensch! – die kleine Revanche für viel überstandene Unbill nicht versagen konnte, im Laufe des Abends statt „Herr von Soten“ mehrfach mit milder Herablassung. „Mein lieber Fähnrich“ zu sagen, was für den Jüngling angesichts der huldigenden Damenwelt recht peinlich war.

Für Hänschen aber klang der Ball, der so trübselig begonnen hatte, in einen vollen Triumphaccord aus. Der Assessor, der ihrem blassen Gesichtchen wohl angesehen hatte, daß irgend etwas nicht in Richtigkeit sei, verfolgte seine Vorteile – er brachte während des ganzen Cotillons nur einer einzigen Dame einen Strauß, und das war seine eigene Dame. Dann verzichtete

[214] er dankend und benahm sich überhaupt so, wie es Hänschen vom Fähnrich erträumt hatte. Das will sagen, er tanzte mit niemand anderem als mit unserm überglücklichen jungen Fräulein, und die sonstigen jungen Mädchen mochten sich die Augen aussehen. – Keine konnte sich nachher rühmen: „Ein Lieutenant war auch da und der hat mit mir getanzt.“ Der Fähnrich gestattete sich inzwischen, von Bowle und Liebe ermutigt, sämtliche Schleifen und Bonbons, die ihm in die Hände fielen, der Riesin zu Füßen zu legen, so daß diese, angesichts seiner zweifellos ernsten Absichten, sich schon im stillen mit dem Rechenexempel zu beschäftigen begann, wie lange es wohl dauere, bis ein Fähnrich zu Amt und Brot gelange und imstande sei, eine Riesin zu ernähren. –

So ging dieser ereignisreiche Abend schließlich für alle Teilnehmer befriedigend zu Ende, und Hänschen hatte, angesichts der schwierigen Sachlage, eine Selbstbeherrschung an den Tag gelegt, welche die Eltern doch wieder mit dem herzlosen Fähnrich aussöhnte, da sie ohne Frage als Resultat seiner Erziehung zu betrachten war.

Als aber der letzte Gast sich verabschiedet hatte, sagte der Präsident nachdenklich zu seiner Frau: „Weißt Du, Mathilde, das Mädchen wird uns aber vor der Zeit verdreht gemacht – sie muß doch noch in Pension!“


Aber sie kam nicht in Pension. Der Einfluß des Fähnrichs hielt vor, auch nachdem er sich von der präsidentlichen Familie verabschiedet hatte, um in einer fernen Garnison neues Unheil unter Mädchenherzen anzurichten.

Sein Fortgehen wurde, trotz der perfiden, übrigens ebenso rasch erloschenen, wie entflammten Leidenschaft für die Riesin, von der ganzen Familie aufrichtig bedauert und die lustigen Sonntage mit Spiel und Tanz riefen noch oft, nachdem sie wieder durch ernstere Bestrebungen verdrängt waren, bei Hänschen und Lotte den Seufzer hervor: „Wenn doch der Fähnrich noch da wäre!“

Aber die entschiedene Heiterkeit, die der junge Mann bei seinem letzten Besuch trotz aller dankbaren Rührung an den Tag legte, das sichtliche Regen der Schmetterlingsflügel, das in seinem Abschiedsgruß lag, genügte doch, um unser Hänschen zu dem Entschluß zu bringen: „Nun mache ich mir aber auch nichts daraus!“

Ja, sie gewann es sogar über sich, die Photographie des Herrlichen, auf der er schon „beinahe wie ein Lieutenant“ aussah, dem Familienalbum zu gönnen und nicht für sich zu „räubern“, obwohl die Eltern, wenn auch blutenden Herzens, am Ende das Opfer gebracht hätten, sie ihr zu überlassen.

Der Fähnrich machte es übrigens wie alle Fähnriche – oder, um gerecht zu sein, wie viele Fähnriche! – Er war nicht sobald fort und Lieutenant geworden, als er nie mehr von sich hören ließ und nur zu Neujahr noch eine Karte mit p. f. an das Haus entsandte, in dem er so segensreich gewirkt hatte.

So waren denn zwei Jahre hingegangen seit dem ereignisreichen Geburtstag – zwei Jahre, in denen nicht nur der Fähnrich zum Lieutenant und Hänschen zu einer reizenden, sehr mädchenhaften, jungen Dame – sondern auch der Assessor vor ganz kurzer Zeit – sehr früh und sehr erfreulich! – zum wohlbestallten Regierungsrat geworden war.

Er hatte dieses angenehme Ereignis erst schriftlich dem ganzen befreundeten Hause und dann mündlich der Mutter desselben in einer langen ernsthaften Unterredung mitgeteilt. Den Schluß und das Resultat dieser Unterredung können wir uns nicht versagen, zu belauschen, wenn es auch vielleicht recht indiskret von uns ist.

„Der einzige Zweifel, den ich noch habe, ob ich wagen darf, meine Bewerbung auszusprechen,“ sagte der neugebackene Regierungsrat mit einer gewissen Verlegenheit, „ist der – glauben Sie wirklich, verehrteste gnädige Frau, daß Ihr Fräulein Tochter – sie ist jetzt so unendlich ruhig und gehalten in ihrem Wesen, daß jede Vermutung“ –

Er stockte.

„Nun?“ frug die Mutter, die zu dem Lobspruche etwas ironisch dreingesehen hatte.

„Ich meine“ – brachte der Regierungsrat mutig, aber nicht ohne ein männliches Erröten hervor, „glauben Sie wirklich, daß sie den Fähnrich von damals ganz vergessen hat?“

Die Präsidentin lachte hell auf.

„Mein lieber Freund!“ sagte sie heiter, „hat Ihnen der Jüngling so lange Kopfzerbrechen gemacht? Nein – ich glaube, da können Sie ganz ruhig sein! Wir wollen übrigens gleich einmal die Probe aufs Exempel machen!“ setzte sie ruhig hinzu und gab dem Hausfreund gar keine Zeit, zu protestieren, da eben Hänschen ins Zimmer trat.

Sie begrüßte den Gast – nicht ganz unbefangen, wie ich bemerken muß, falls einem meiner Leser um den Assessor von einstmals angst werden sollte.

„Hänschen!“ begann die Mutter mit dem ernstesten Gesicht von der Welt, „rate einmal, wer sich verlobt hat? Unser ehemaliger Fähnrich – der Lieutenant von Soten. Was sagst Du dazu? Nun? Aber ehrlich!“

Hänschen öffnete ihre großen Augen sehr weit.

„Das ist mir doch so ‚Wurst‘!“ erwiderte sie würdig und lieferte mit dieser Wendung den erfreulichen Beweis, daß sie im Grunde doch noch das alte Hänschen von damals sei und einen Kraftausdruck nicht verschmähte, wo er zur Klärung der Situation dienen konnte.

Die Mutter hatte, angesichts dieser Wendung, das deutliche Gefühl, dem Assessor sehr geschickt auf den Weg geholfen zu haben, und verließ mit der beliebten Bemerkung „Ich muß einmal nach der Küche sehen“ das Zimmer.

Wir dürfen uns aber wirklich nicht noch einmal so indiskret benehmen wie vorhin und wollen jetzt mit ihr in die Küche gehen.

Zur Belohnung für dieses zartfühlende Betragen sind sämtliche Leser freundlichst eingeladen, zum Polterabend des Assessors – nicht doch, des Regierungsrates mit Fräulein Hänschen wieder zu kommen, wo unter allen Aufführungen und Vorführungen keine solches Glück machte wie die von Karl.

Er gab nämlich zu allgemeinem Beifall den „Fähnrich als Erzieher“.


Erfinderlose.

Konrad König und der Brunnen auf dem Königstein.
Von Cornelius Gurlitt.


Die sächsische Festung Königstein liegt nahe der böhmischen Grenze auf der Höhe eines ringsum senkrecht abfallenden Felsens des Elbsandsteingebirges dicht über der Elbe. Die Natur hat ihr Bestes gethan, um sie für Feinde unzugänglich zu machen. Bis heute ist sie auch kriegerischer Waffengewalt noch nicht erlegen, wenngleich sie jetzt an strategischer Bedeutung eingebüßt hat. Sie gilt eigentlich nur noch als einbruchssicherer Geldschrank, in welchem Dresden seine Schätze verbirgt, sobald Gefahr im Verzuge ist, und als ein Sperrfort für den Durchzug von Truppen und Transporten auf der Verkehrsstraße des Elbthales. Als solches ist sie neuerdings wieder verstärkt worden.

Früher war das anders, da war der Königstein ein militärisch wichtiger Platz, dessen Befestigung auf der Höhe der damaligen Kriegswissenschaft zu halten sich seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts die sächsischen Fürsten allezeit angelegen sein ließen. Unter diesen ragt Kurfürst August I. als vorsorglicher Landesfürst hervor. Er ist es, welcher der Feste eines ihrer stärksten Verteidigungsmittel gab, den Brunnen. Dieses viel bewunderte Werk ist nach neuen Messungen 152,5 Meter tief in den Felsen gehauen; früher scheint er tiefer gewesen zu sein. Die Angaben schwanken bis zu 190 Meter. Dieser Brunnen liegt also gesichert vor Zerstörung durch den Feind wie vor dem Versiegen des Wassers. Denn der Schacht reicht inmitten des riesigen Steinblockes, welcher die Festung trägt, bis fast auf den Spiegel der in die Elbe sich ergießenden Bergwässer des Elbsandsteingebirges hinab, während die Elbe selbst 246 Meter unter der Gleiche der Festung zwischen bewaldeten reizvollen Berghöhen in breiter Schlangenlinie vorüberzieht.

[215] Es ist nicht mehr so leicht wie früher, dem Königstein einen Besuch abzustatten. Es bedarf einer schriftlichen Anfrage beim Kommandanten und eines wirklichen Grundes, um die Erlaubnis zu erhalten. Wer die Erlaubnis zum Besuche erhält, den führt ein Unteroffizier mit vorsichtiger Gefälligkeit herum. So kommt man auch in das Brunnenhaus, einen stattlichen, aber äußerlich wie innerlich kunstlosen Bau. Man muß die Hebekunst für das Wasser des Brunnens bewundern, nachdem der Führer mittels einer Blendlaterne und eines Spiegels in die Tiefe hinabgeleuchtet hat. Da sieht man denn, über das gähnende schwarze Loch gebeugt, tief tief unten den matten Schein einer Wasserfläche. Der Brunnen selbst bildet einen Cylinder von 3,5 Metern Durchmesser. Der herumgleitende Lichtstrahl des Spiegels beleuchtet blitzweise hier und dort seine rauhen, triefenden Wände. Dann gießt der Führer einen Krug Wasser in die Tiefe. Es dauert eine ganze Weile, bis man es unten aufschlagen hört, denn die 17 bis 18 Sekunden gespannter Aufmerksamkeit verrinnen nicht so schnell wie sonst. Und während des Wartens überzieht wohl viele eine Ahnung der Mühen und Sorgen, welche einst dieser Brunnenbau den Werkleuten machte. Denn er entstand in einer jener technischen Hilfsmittel noch völlig entbehrenden Zeit, durch welche wir jetzt solche Bauausführungen so ungleich leichter zu bewältigen vermögen. Aber auch für uns wäre es eine nicht ganz leichte Aufgabe, etwa 1500 Kubikmeter festen Sandstein aus einer Tiefe zu brechen und zu fördern, welche der Höhe der Türme des Kölner Domes nur um 4 1/2 Meter nachsteht.

So lange der Brunnen so große Tiefe noch nicht erreicht hatte, mochte seine Wetterführung wenig Schwierigkeiten bieten. Der Bau begann 1559. Bis zur Zeit der Reformation stand auf dem Felsen ein Kloster, aber schon 1556 ließ Kurfürst August einen Stall aus dessen verfallenem Gemäuer errichten, wohl in Voraussicht der Baufuhren, welche nun für die zur Festung bestimmten Felsenhöhe nötig sein würden. Anfangs mag der Brunnen sogar als Steinbruch für diese Bauten betrachtet worden sein. Aber je tiefer man kam, desto beschwerlicher wurde das Heraufziehen der Lasten, das Arbeiten in der feuchten, bei mangelnder Luftbewegung dumpfen Unterwelt. Im Jahre 1568, begann man ein großes Laufrad zu bauen, welches von vier Mann getreten wurde. Ein solches Rad war ein recht ungefüges Ding. Etwa 3 Meter breit und 5 Meter im Durchmesser hoch, bewegte es sich um eine mächtige, wagerecht liegende Achse. Die Speichen waren so gestellt, daß im Inneren des Rades eine freie Laufbahn in Gestalt einer Trommel blieb. Latten waren auf diese aufgenagelt – und nun stellte man die Arbeiter, meist Sträflinge, in das Rad. Sobald dies in Bewegung war, mußten die Arbeiter vorwärts laufen, um nicht mit in die Höhe gerissen zu werden, und so waren sie denn, bis man von außen das Rad anhielt, zu einem ununterbrochenen Trabe gezwungen, zu einem endlosen Vorwärtsschreiten, ohne von der Stelle zu kommen, da das Rad unter ihren Füßen immer zurückrollte. Es war dies eine wahre Sisyphusarbeit, ohne Rast, ohne Ziel, ohne Belohnung.

Etwa 1574 scheint die Tiefe im Brunnen erreicht worden zu sein, welche für reichliche Wasserversorgung Gewähr bot. Damals entwarf der italienische Graf Rochus Quirin von Lynar, derselbe, welcher Teile des Berliner Schlosses baute und die Festungswerke von Dresden und Spandau schuf, eine neue, den damals gültigen Gesetzen der Befestigungskunst entsprechende Ummauerung des Berges, an die man wohl nicht gedacht hätte, wenn das wichtigste Erfordernis, um einer langwährenden Belagerung widerstehen zu können, das Wasser, gefehlt hätte.

Also etwa 15 Jahre dauerte der Tiefbau im Brunnen. Es mag nicht eben leicht gewesen sein, Arbeiter zu finden, welche sich zu solchem Werke hergaben. Wie der Kurfürst, auch in diesen Dingen der Sohn einer rauhen Zeit, dafür sorgte, daß es seinen Brunnenbauten nicht an Kräften fehlte, das zeigt das Beispiel der gleichzeitig betriebenen Anlage am Schloß Augustusburg. Er ließ die ihres Verbrechens überführten Wilddiebe auf die Baustelle bringen, sie in Eisen legen und zu der schwersten Arbeit heranziehen. Ein „Steckenknecht“ trieb diese Zwangsarbeiter auf des Kurfürsten ausdrücklichen Befehl alle Abend in einen Stall und durfte ihnen nicht mehr geben als notdürftige Speise und Kleidung. „Andern Wilddieben zur Abscheu“ solle der Steckenknecht sie mit Peitschenhieben zur Arbeit anhalten. Ja, als drei der Gepeinigten entflohen, befahl der Fürst, den Steckenknecht im Gefängnis selbst mit scharfen Ruten zu streichen, die Wilddiebe aber von nun an nur im Brunnen selbst arbeiten zu lassen, bis sie Wasser fänden, und ihnen ihren Lebensbedarf mit dem Haspel hinab zu lassen. In der feuchten Tiefe, fern von der Sonne, mußten die Sträflinge unter den Peitschenhieben des Steckenknechts, nur getrieben von der Hoffnung, daß die Feuchtigkeit, welche der Fels ausschwitzte, endlich durch eine reichliche Wasserader ersetzt werde, ihr Leben unter harter Arbeit fristen. Der Kurfürst lehnte alle Bitten, sie aus ihrer Lage auch nur auf Zeit zu befreien, entschieden ab. Mancher mag nur als Leiche seine Arbeitsstätte verlassen haben. Solche Sträflinge waren es wohl auch, welche auf dem Königstein den Brunnen teuften. In die ungeheure Tiefe wurden die Seufzer der von einer harten Zeit in die Unterwelt Hinabgestoßenen mit versenkt.

Als aber der Brunnen selbst fertig war, begannen erneute Schwierigkeiten, jetzt galt es, Vorkehrungen zur Hebung des Wassers in solche Höhen zu treffen, wie hier nötig war. Die verschiedenen Versuche, welche in Bergwerken gemacht worden waren, um den Wasserandrang zu bekämpfen, hatten bisher meist nur geringen Erfolg ergeben. Statt der Hebewerke legte man daher lieber mit hohen Kosten Stollen an, um das Grubenwasser nach den Thalsohlen zu aus den Bergwerken zu entfernen. Im Königsteiner Brunnen aber mußte ein Werk angelegt werden, welches für eine größere Garnison genügendes Wasser 150 Meter hoch zu heben vermöchte. Und da war guter Rat teuer!

Der Kurfürst hatte einen Uhrmacher aus Altenburg kennengelernt, dessen Begabung ihm viel versprach. Konrad König hieß der Mann. Er hatte sich ihm 1574 durch Einsendung einer „General-Sonnenuhr“ empfohlen, welche die Form eines vergoldeten Büchleins hatte. Der Kurfürst gab ihm 500 Gulden für dieses Werk. Andere Bestellungen folgten, die zur Zufriedenheit ausfielen. Durch all dies veranlaßt, begann der Kurfürst seine Hoffnung auf den neuen Künstler zu richten. In jener Zeit des beginnenden Studiums der Naturwissenschaften mischte sich noch so viel kindliches Hoffen, so viel kühnes Wagen mit unter die thatsächlichen Entdeckungen, daß selbst die Besten ihrer Zeit geneigt waren, geschickten Projektemachern Glauben zu schenken, zumal auch diese meist nicht Betrüger, sondern selbst durch ihre Phantasie Betrogene waren. Es geht durch die Reihe der besten Fürsten jener Zeit die Sucht, sich mit Geldmachern zu verbinden, und es genügten Jahrhunderte der Mißerfolge nicht, um den Glauben zu zerstören, daß es möglich sei, aus minderwertigen Metallen das edelste herauszumischen. Es brauchte noch viel längerer Zeit und ist zum Teil noch heute nicht gelungen, spintisierenden Köpfen die Ansicht zu nehmen, daß man eine Maschine erfinden könne, welche, einmal in Bewegung gesetzt, nie wieder in Ruhe käme, ja deren Kräfte sich selbst steigerten. Der Stein der Weisen, welcher den Schlüssel für die Goldbereitung liefern sollte, und das Perpetuum mobile, die sich selbst in unendlicher Bewegung haltende Maschine, zu erfinden, war der Ehrgeiz aller jener, welche die Wissenschaft mit beweglicher Phantasie ergriffen.

Kurfürst August war ein Mann ohne hohen Geistesflug. Aber er sah sehr wohl ein, welchen Nutzen die beiden so eifrig angestrebten Künste seinem Lande und seinem Schatze bringen könnten. Er hatte daher ein scharfes Auge auf alle sich ihm darbietenden technischen Neuerungen. Der mathematisch-physikalische Salon in Dresden, ein Teil der berühmten Kunstsammlungen der sächsischen Hauptstadt geben noch heute Kunde vom Sammeleifer des Fürsten auch nach dieser Richtung. So wurde denn auch Konrad König dem Kurfürsten wichtig, seit er mit einer neuen Erfindung sich meldete und zwar 1576 im Schlosse Annaburg bei Torgau, dem damaligen Sitze des Hofes, eine „Wasserkunst“ im Modell vorlegte, durch welche er das Wasser im Königsteiner Brunnen von der Sohle bis zur Höhe der Festung zu heben versprach. Sein Vorschlag fand so lebhaften Anklang, daß er bald darauf aus seiner Heimat Altenburg genauere Risse für die Arbeit einsenden mußte. Der Kurfürst ließ ihn in einem besonderen Wagen abholen, später auch seine Frau und seine Söhne, in der kurfürstlichen Gießerei wurden Röhren hergestellt, alles vorbereitet, damit das Werk bald in Gang gesetzt werde. Königs Glück schien gemacht, denn der Kurfürst war als ein Mann bekannt, welcher einmal aufgenommene Gedanken mit zäher Gewissenhaftigkeit durchzuführen liebte.

Am 1. Dezember 1576 begann der Baubetrieb auf dem Königstein. König mochte sich und seinem Bauherrn die Sache [216] leichter vorgestellt haben, als sie war. Denn schon nach einem halben Jahre, Ende Juni 1577, wurde der Kurfürst ungeduldig und frug an, ob noch nichts fertig gestellt sei, König habe ja nun Zeit genug gehabt, seine Ideen auszuführen. Er beruhigte sich aber, als der Kammermeister Hans Harrer, ein Mann, welcher etwa den Rang eines Finanzministers einnahm, ihm meldete, das Brunnenwerk sei bereits im Gange, er sei ganz entzückt von seiner Zierlichkeit. Doch diese Freude war verfrüht. Das Werk ging auch 1580 noch nicht, obgleich die Löhne allwöchentlich ausgezahlt werden mußten. Dem Kurfürsten, mit dem in Geldsachen nicht zu spaßen war, begann die Geduld zu reißen. Er beauftragte Paul Buchner, seinen Oberzeugmeister – das ist etwa soviel wie Kriegsminister – zu untersuchen, woher die Verzögerung käme. Und damit begann für den armen Uhrmacher, dem das Fehlschlagen seiner Hoffnungen und Versuche schon selbst Angst und Sorgen genug bereiten mochte, eine wahre Leidensgeschichte.

Ohne Zweifel lag der Grund des Mißlingens seiner Arbeit darin, daß die von ihm angelegten Pumpen in der Tiefe des Brunnens nicht so funktionierten wie im Modell. Ein uralter Lehrsatz des griechischen Philosophen Aristoteles, daß die Natur einen Abscheu vor dem Leeren, einen „horror vacui“ besitze, daß daher das Wasser dorthin in Röhren ströme, wo ein luftleerer Raum gebildet werde, wurde damals noch unerschüttert von allen Mechanikern und Naturforschern für richtig angesehen. Erst der große Galilei erklärte der Welt, daß dieser Abscheu seine Grenzen habe, und erst sein Schüler Evangelista Torricelli erkannte 1643 die uns heute als so selbstverständlich erscheinenden Gesetze des Luftdruckes, daß nämlich dieser einer Wassersäule von etwa 10 Metern oder einer Quecksilhersäule von 76 cm die Wage halte und daß jener „horror“ in das Reich der Fabel zu verweisen sei.

Es wäre unbillig, von König gleiche Kenntnis zu verlangen. Er hätte dann in erstaunlicher Weise geistig über seiner Zeit stehen müssen, er, der im Grunde doch nicht mehr als ein mit technischem Geschick, mit jener der Zeit eigentümlichen Fertigkeit in Basteleien ausgestatteter Handwerker war. Er glaubte natürlich fest an das Bestehen des horror vacui und schloß überall dort, wo ihn sein Lehrsatz im Stich ließ, wo die Pumpen plötzlich, nachdem sie das Wasser 10 Meter hoch gezogen, versagten, daß hier ein technischer Fehler in seiner Konstruktion liegen müsse. Und so bastelte er ratlos weiter, in seinem so viel kleineren Modelle immer seine Theorie bestätigt findend und immer aufs neue überrascht, daß er an den großen teuren Rohrwerken im Brunnen gleiche Ergebnisse nicht erzielen konnte.

König wird vor dem Urteil der besser unterrichteten Nachwelt durch den Umstand noch mehr entlastet, daß er in seinem Bestreben sogar Wettbewerber besaß.

Ein solcher war ein gewisser Hans Mader in Altdresden, welcher 1581 dem Kurfürsten eine Hebekunst zeigte, ein „perpetuum mobile“, welches den Fürsten höchlich in Erstaunen setzte. Hatte dieser doch, angeregt durch die vielfachen Versuche, welche ihm angeboten wurden, einen Preis von 4000 Gulden auf eine solche Erfindung gesetzt. Wir erfahren aus den Briefen Maders genauer, wie seine Erfindung beschaffen war.

Auch er stützte sich auf den Satz des Philosophen „Die Natur läßt keine Leere zu“, baute ein Faß mit nur einem Boden, tauchte es ins Wasser und führte den Boden in die Höhe. Die Beobachtung, daß in diesem Falle das Faß voll Wasser blieb – eine Beobachtung, die man an jedem in das volle Waschbecken getauchten Glase machen kann – brachte ihn auf die Meinung, daß das Wasser im Fasse von unten nach oben ströme, aus Scheu vor dem leeren Raum, der sonst in diesem entstehen müsse. Es ist dies ein überraschender Beweis, auf wie bescheidenem Standpunkt damals noch die Naturbeobachtung stand und zu wie kühnen Schlüssen das Gefundene Veranlassung bot. Nun käme es, so meinte Mader, nur darauf an, „des Wassers oben zu genießen“, d. h. oben das Faß anzuzapfen, um somit einen ewigen Kreislauf und dadurch die Triebkraft für eine Wassermühle zu erhalten. Auch diese Erfindung führte Mader so weit, daß er auf die ausgeschriebene Belohnung Anspruch machen zu können glaubte. Freilich mußte er eingestehen, daß „trotz tiefen und hohen Nachdenkens und aufgewandter Unkosten“ doch noch einiges an der Vollendung fehle. Das Schlimme war eben, daß, sobald oben ein Rohr eingesetzt wurde, also der Luftdruck auch von dort wirkte, das „Strömen von unten nach oben“ sich plötzlich ins Gegenteil verkehrte, das Faß eben einfach auslief, nie aber das oben abgezapfte Wasser von unten her ergänzt wurde. Noch 1594 arbeitete Mader an seiner Erfindung – mit der Hartnäckigkeit der Verzweiflung.

Er war, wie gesagt, nicht der einzige, den in Dresden der ausgesetzte Preis lockte. Neben ihm strebte der Uhrmacher Martin Feil aus Naumburg demselben nach. Er schuf ein Werk, das sich nicht nur selbst bewegen können sollte, sondern auch arbeiten, „als sei es von Menschen, Rossen oder Winden getrieben“. Seine Erfindung sei derart, daß er gar keinen Zweifel habe – so schrieb er an den Kurfürsten – dies höchste und herrlichste Kunststück zu machen, es habe ihm zur Probe nur an den Mitteln gefehlt. Obgleich er wisse, wie viel stattliche Künstler großes Geld und Gut daran verstudiert hätten, so schrecke ihn dies doch nicht ab, denn er hoffe, Gott habe ihn zu dem Werke berufen. Er sprach im Tone der Ueberzeugung und er bewies in der Folge, daß seine Ueberzeugung eine ehrliche, wenn auch eine trügerische war.

Der Kurfürst gab ihm wirklich Geld, und zwar bis 1586 nicht weniger als 751 Gulden. Aber er erlebte die Vollendung nicht. Seinem Sohne Kurfürst Christian I. schrieb Feil 1590, sein Instrument sei so weit fertig, daß es nicht nur „umgehe“, sondern auch die Möglichkeit seiner weiteren Durchführung klar erkennbar sei. So weit hatten viele schon die Kunst gebracht. Aber auch der neue Versuch kam nicht zur Vollendung. Der gutmütige leichtsinnige Christian schoß zwar immer noch Geld zu, aber der Kurverwalter Herzog Friedrich Wilhelm, sein Nachfolger, lehnte den Kauf des Modells ebenso ab wie die Bewilligung der Ausführung im großen, obgleich Feil sein Modell als fertig erklärte. Die Not begann ihm auf die Finger zu brennen. Er hatte all seine Wohlfahrt und Nahrung hintangesetzt, seine ganze Kraft seit zwölf langen Jahren dem undankbaren Werk geopfert, eine Anleihe nach der andern bei der kurfürstlichen Kasse gemacht. Nun erstrebte er ein Patent vom Kaiser, damit nicht andere den Vorteil seiner Mühe genössen. Aber der Kuradministrator war nicht einmal zu bewegen, die „unbezahlbare“ Erfindung selbst anzusehen, er schickte seine Räte statt seiner und, als Feil aus Furcht vor dem Verrat seines Geheimnisses diesen sein Werk nicht zeigen wollte, den Mathematiker Melchior Jostel. Dieser erklärte das mühsame Werk einfach für unbrauchbar. Nun war die Not groß in Feils Hause. Der sparsame Fürst forderte von dem unglücklichen Erfinder die ihm bewilligten Vorschüsse – nun schon 1028 Gulden – zurück. Feils wirtschaftlicher Ruin war damit besiegelt. Man pfändete ihm sein Haus weg, sein Weib gab, um ihn zu retten, sogar ihr Ehe- und Erbgeld heraus – der große Traum der Zeit hatte wieder einmal ein Lebensglück vernichtet.

Nicht viel anders als diese Werke des Mader und Feil mag jenes von König gewesen sein. Der Kurfürst schickte dem Uhrmacher endlich am 15. Februar 1580, nachdem er ihn also schon 4 Jahre ruhig hatte gewähren lassen, Sachverständige auf den Hals. Der bereits genannte Paul Buchner nahm den vielerfahrenen Bergmeister Martin Plener mit auf den Königstein, um die Sachlage zu untersuchen. Da ihnen König aber die Erklärung seiner Geheimnisse verweigerte, versiegelten sie seinen Besitz und den Brunnen; man verhörte seine Frau, welche die Hoffnung aussprach, daß er in einem Jahre fertig werden könne, man stieg in den Brunnen und sah 30 Ellen hoch die Röhre aufgerichtet. Das war allerdings herzlich wenig. Aber König warf sich, nachdem die Kommission wieder oben angelangt war, auf die Knie, dankte Gott aufs höchste für die Gnade, ihm solche Kunst anvertraut zu haben, und sagte, er hoffe, daß sein Werk, welches in seiner Werkstatt im Modell so gut von statten gehe, wohl auch mit des Höchsten Hilfe unten im Brunnen sich herstellen lassen werde.

Die Kommission beschloß, nochmals in die Tiefe zu steigen. Sie besichtigte das Rohrwerk, welches in 11 Absätze geteilt war. Am untersten Absatz befand sich ein Hebearm, durch welchen 2 Mann das Wasser 30 Ellen hoch heben sollten. Man brauchte also über 20 Mann zum Betrieb des Rohrwerkes, das im ganzen eine Höhe von 330 Ellen (= 188 Meter) erhalten sollte. Das Wasser stand 111/2 Ellen (= 6,6 Meter) hoch. Soweit war denn Königs Berechnung ganz in Ordnung. Nur stieg das Wasser eben nicht jene 30 Ellen (= 14 Meter), während es im kleinen, im Modell, willig der Kraft des Hebearmes, des Pumpwerkes folgte. Hier versagte auch das Wissen der Kommission. Aber aus dem Umstande, daß diese für König und namentlich für die Fortbewilligung von [217]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Wer fängt?
Nach einem Gemälde von A. Keller.


Geldmitteln dem knauserigen und mißtrauischen Kurfürsten gegenüber eintrat, beweist, daß König sie in der Theorie von der Richtigkeit seiner Meinung zu überführen gewußt hatte.

Der Kommissionsbericht befriedigte den ungeduldigen Fürsten keineswegs. Er witterte hinter der Verzögerung nur die Absicht Königs, bequem von seinem Gehalte zu leben, und fürchtete, einfach hintergangen zu werden. Daher befahl er, dem Säumigen kein Geld mehr „in die Fäuste“ zu geben, die Fortschritte des Werkes von Woche zu Woche zu überwachen und ihn zu veranlassen, darüber eine bündige Erklärung abzugeben, bis wann er seine Arbeit fertigstellen wolle. Ein freundlicher Hinweis auf den Galgen unterstützte die Entschiedenheit dieses Befehles.

Aber König weigerte sich, einen Termin zu stellen. Er war sichtlich selbst zweifelhaft am Gelingen seines Werkes geworden. Daher ließ ihn der Kurfürst festnehmen und auf der benachbarten Feste Hohnstein einsperren. Seine Frau und Kinder wurden von Königstein, als „des Orts nichts mehr nütze“, nach Altenburg zurückgeschafft, König aber von Paul Buchner ernstlich ins Verhör genommen. Nur der drohende Galgen veranlaßte ihn schließlich, doch einen Termin zu nennen. Am 24. Februar 1580 erklärte er, in 11/2 Jahren, also zum August 1581 und mit 1650 Gulden sein Werk fertigstellen zu wollen, ja, des Kurfürsten mißtrauische Natur zwang ihn, seine auf 2000 Gulden Wert geschätzten Güter in Altenburg für richtige Einhaltung der Frist zu verpfänden. Nun erst gab der Kurfüst seinem Geheimen Rate von Bernstein den Befehl, König aus dem Gefängnis zu entlassen, ihm aber vorher einzuschärfen, daß er seine gelinde Strafe als Gnade zu betrachten habe und daß man auf ihn jetzt ein schärferes Auge richten werde. Das letztere hieß so viel, daß König eigentlich nur sein Gefängnis in Hohnstein mit jenem auf dem Königstein zu vertauschen habe.

König erbat sich einige Fachleute zur Hilfe, und zwar den Uhrmacher Hans Kurzrock aus Eger und den Instrumentenmacher Christof Drechsler aus Dresden, treffliche Männer, von deren Hand gefertigte kunstreiche Instrumente sich noch in Dresdener Sammlungen finden. Aber der Kurfürst verweigerte sie. Später erlangte König doch, daß er Kurzrock zu Rate ziehen durfte, ebenso wie ihm erlaubt wurde, seine beiden Söhne am Werke zu beschäftigen. Aber noch im Mai 1582 ist es nicht fertig, acht Monate nach dem ausgemachten Termin. Dem Kurfürsten versagte immer noch nicht die Geduld, denn sein Oberzeugmeister war von dem endlichen Gelingen immer noch überzeugt und gab seinem Herrn günstige Berichte. Selbst als der Kurfürst am 10. Mai 1582 befahl, die Materialien zu verkaufen, um so die Erinnerung an das kostspielige und zwecklose Unternehmen zu vernichten, setzte Buchner noch durch, daß König abermals 200 Gulden als Vorschuß gezahlt wurden.

Die Arbeit ging weiter. Nach einem Jahr, im April 1583, schickte der Kurfürst wieder eine Kommission auf den Königstein, nachdem er fürsorglich Befehl gegeben hatte, König als der Flucht verdächtig besonders scharf zu beobachten. Buchner konnte wieder keine gute Kunde geben. Noch sei viel zu fertigen, das Werk schreite aber fort. Da ließ der Fürst am 19. April den unglücklichen Meister nach Dresden bringen, um dessen Ausflüchte selbst zu prüfen. Der Kurfürst war damals schon ein alter Herr. Er hatte vielerlei üble Erfahrungen mit Erfindungen, mit fahrenden Allerweltskünstlern gemacht. Aber er hatte durch sie auch manches erlernt, was ihm und seinem Lande zu gute kam, technische Neuerungen, gewerbliche Fortschritte. Er stand in der ganzen Welt in dem Rufe, Goldmacher mit Erfolg beschäftigt zu haben. Und die Welt hatte im Hinblick auf die vollen Staatssäckel Sachsens ganz recht. Aber nicht geheimnisvolle Beschwörung, sondern eine bis zum Geiz ausgebildete Sparsamkeit war das Mittel seiner Bereicherung. Ein Zug von Menschenverachtung bildete sich in seinem späteren Leben heraus. Man braucht nur in sein griesgrämlich verbittertes Gesicht zu sehen, wie es uns Lukas Kranach d. J. darstellte, um aus [218] demselben Kleinlichkeit und üble Laune herauszulesen. Seinem Leben und seiner Regierung fehlte der große Zug, die befreiende Schwungkraft. Groß in allem Kleinen, war August klein in allem Großen, ein vollendeter Philister, dem häusliches Unglück noch den Rest der Schwungkraft nahm. Fünfzehn Kinder, neun Söhne und sechs Töchter, hatte ihm seine Gemahlin, die dänische Königstochter Anna, geboren. Aber schon längst waren die Söhne bis auf einen vom Tode fortgerafft. Und dieser letzte, sein späterer Nachfolger, war schwächlich und entwickelte sich nicht nach des Vaters Wünschen. Die Erbfolge des Kurhauses stand auf diesen zwei Augen; verblichen auch diese, so fiel das Reich Kurfürst Moritzens wieder an die Ernestiner zurück. Die Stimmung, welche am Kurhofe herrschte, war daher keine erfreuliche und eine Berufung vor den Fürsten für König in diesem Falle ein Glück sehr zweifelhafter Art.

Um so überraschender ist es, daß es diesem gelang, seinen strengen Herrn zu besänftigen. Denn bald darauf gab der Kurfürst den Auftrag, König für 1000 Gulden neue Messingrohre zu liefern. Es scheint, daß man den alten das Mißlingen des Werkes zuschrieb. Geld zwar bekam König auch jetzt nicht in die Hand. Aber er konnte doch arbeiten.

Wieder verging lange Zeit. Der Jahrestag der Audienz beim Kurfürsten kam heran und immer noch war die Hebekunst nicht fertig. Und doch setzte der Kurfürst nochmals, nachdem nun König seit dem 1. Dezember 1577, also fast 7 Jahre baute und bastelte, einen Termin: zu Martini 1584 solle er endgültig fertig sein. Aber erst am 12. Februar 1585 kam der Kurfürst zu der Ueberzeugung, daß alles Zuwarten vergeblich sei. König wurde entlassen; aber er wanderte nicht an den Galgen, sondern man brachte ihn wieder mit kurfürstlichem Geschirr nach Altenburg zurück, nicht ohne ihm zu bedeuten, daß ihm, „dem verlogenen Manne, etwas anderes gebührt hätte“.

Von der kunstreichen Anlage Königs hat sich, soviel ich weiß, nichts erhalten. Tausende von Gulden waren verschwendet, ohne daß etwas Thatsächliches zustande gekommen war. Aber König schied doch sichtlich nicht als ein Betrüger. Gegen einen solchen hätte Kurfürst August gewiß strengere Saiten aufgezogen. Er erschien ihm nur als ein Mann, der sich einer Aufgabe vermaß, welche er nicht zu bewältigen vermochte. August selbst war ein viel zu guter Kenner der Mechanik jener Zeit, daß er nicht den Berechnungen des Altenburger Uhrmachers hätte im Grundgedanken zustimmen müssen. Er mochte auch erkennen, daß König selbst nicht Vorteil errungen, sondern Zeit, Hab und Gut an seiner Hebekunst verloren hatte, daß er im schlimmsten Falle ein betrogener Betrüger war.

Kopfschüttelnd sah man das große Werk mißlingen, kopfschüttelnd den für unumstößlich geltenden Lehrsatz des horror vacui in die Brüche gehen. Noch stand aber die Autorität des Aristoteles viel zu fest, als daß man an seinen Gesetzen zu zweifeln gewagt hätte.

So holte man denn wieder das Laufrad herbei, das denn auch bis zum Herbst 1871 in Thätigkeit blieb. Die auf dem Königstein festgehaltenen Militärsträflinge boten die Arbeitskraft. Die Absicht Königs, das Wasser bis zur Höhe der Festung derart zu heben, daß es in gleichmäßigem Strom fließe, blieb bisher unerfüllt. Noch jetzt hebt man es in alter Weise durch zwei an einer Leine hängende Fässer, welche durch eine Welle auf- und niedergewunden werden. Auf den Rand der Brunnenmündung sind zwei Holzrinnen gelegt; durch eine einfache aber sinnreiche Erfindung werden die oben anlangenden Fässer so gepackt, daß ihr Inhalt in die Rinnen und durch diese in ein Sammelbecken sich entleert. Jetzt hat man zwei Maschinen je zu 1½ Pferdekraft aufgestellt, welche abwechselnd die Arbeit des früheren Laufrades ersetzen und das Wasser für 300 Mann Besatzung, wie für die Waschanstalt, Küche etc. heraufschaffen. Um die Luftsäule über dem Brunnenwasser frisch zu erhalten und das Wasser selbst vor dem Dumpfwerden zu verhüten, hat man neben dem Brunnencylinder ein wesentlich schwächeres Seitenrohr eingehauen, das nach oben in einem Schornstein endigt und mittels dessen für die erforderliche Luftbewegung gesorgt wird. Nur wenn sich Ausbesserungen im Brunnen nötig machen, steigt der Brunnenmeister in einem Fahrstuhl in die Tiefe hinab, welche einst von den Seufzern der Steine brechenden Wilddiebe und des an seinem Werke verzweifelnden Kunstmeisters wiederklang.



Blätter und Blüten.



Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Nr. 46 des vor. Jahrgangs.)

330) Am 25. Juni 1892 verließ der zu Sommerland in Holstein am 23. September 1864 geborene Müller Hobe Jakob Johannes Claußen sein Heimwesen in Schleswig und ist seit dieser Zeit verschollen. Die Mutter ist in großer Besorgnis um ihren Sohn.

331) Der Kürschnergeselle Karl Julius Eduard Uber, geb. am 4. Juli 1867 zu Haynau in Schlesien, schrieb im Mai 1887 aus Limon in Costa Rica (Centralamerika), daß er nach Panama oder Südamerika wandern wolle. Seitdem sind weitere Nachrichten von ihm ausgeblieben.

332) Seit März 1881 hat der Seemann und Arbeiter Johann Heinrich Barthold Kuhlmann, geb. zu Harburg a. d. Elbe am 6. Aug. 1850, nichts von sich hören lassen.

333) Ein hochbetagtes Elternpaar harrt sehnsuchtsvoll seines Sohnes Ernst Louis Bierögel, geb. am 26. Febr. 1862 zu Abtlöbnitz bei Naumburg a. d. Saale. Bierögel hat als Kellner gelernt und ist etwa im Jahre 1887 nach Antwerpen, dann nach Rosario und Buenos Ayres in Südamerika gefahren.

334) Eine Schwester bangt um ihren Bruder, den zu Pottenbrunn, Nied.-Oest., am 17. Novemb. 1850 geborenen Kunsttischler Carl Braunberger, welcher im April 1885 noch in Santjago (Argentinien) lebte.

335) Die am 28. Mai 1845 zu Königsberg in Pr. geborene Schneiderin Johanna Maria Therese Nimczinowska ist am 16. Juli 1893 von Amsterdam nach London übergesiedelt, und seitdem ist jedwedes Lebenszeichen von ihr ausgeblieben.

336) Die Brüder Aug. Emil Strehle, seines Zeichens Tischler, und der Klempner Gustav Adolf Strehle, ersterer geb. am 16. April 1856, letzterer geb. am 3. Mai 1860 zu Geithain, werden vermißt. Emil schrieb aus Melbourne und im Jahre 1882 aus Sidney, Adolf 1885 aus Chicago.

337) Ein hochbetagter kranker Vater verzehrt sich in Sehnsucht nach seinem Sohn, dem Tischler Johann Heinrich Wilhelm Richter, welcher am 8. Febr. 1858 zu Cottbus geboren wurde.

338) Von ihrer Schwester gesucht wird Anna Germer geb. Schacherl, welche am 20. Mai 1850 zu Krumau in Böhmen geboren wurde und sich im Jahre 1892 zu Del Norte, Colorado, aufhielt.

339) Der Maler Karl Adolf Theodor Hoppe, geb. den 10. Juli 1853 zu Krakow, Mecklenburg-Schwerin, welcher zuletzt in Bockenheim-Frankfurt a. M. wohnte, wird von seiner Schwester um ein Lebenszeichen gebeten.

340) Im Juni 1893 verschwand aus Bockenheim, wo er am 13. Febr. 1874 geboren ist, der Schriftsetzer Johannes Eduard Zimmermann. Seine Mutter, der aus Kempten die letzte Nachricht von ihrem Sohne ward, glaubt, daß dieser nach Italien oder der Schweiz ausgewandert ist.

341) Die letzte Kunde von August Richard Roch, geb. am 19. Dez. 1874 zu Reichenbach im Vogtl., ging am 7. Januar 1891 aus Bremerhaven ein. Roch war Leichtmatrose beim Norddeutschen Lloyd; Mutter und Schwester glauben, daß er nach Australien gefahren ist.

342) Wilhelm Schulz, geb. am 20. Febr. 1852 zu Spremberg, diente 1871–1872 als Matrose in der engl. Handelsmarine, 1873–1876 in der amerikan. Kriegsmarine und war später Schaffner an der Bahnlinie San-Francisko-Sakramento. Auch an einer Nordpolexpedition nahm er teil. Sein letzter Brief kam von Santjago in Mexiko.

343) Im Jahre 1885 wohnte der Kaufmann Friedrich Louis Reißhauer, welcher am 27. Oktob. 1828 zu Pfaffendorf geboren ist, zu St. Elisabeth, Missouri, ist aber neuerdings dort nicht mehr zu ermitteln.

844) Seit den letzten Briefzeilen aus Calcutta vom Jahre 1881 ist der Seemann Carl Herrmann Dalldorf, geb. zu Erfurt am 28. Mai 1857, verschollen.

345) Die im Jahre 1868 zu Dresden geborene Weißnäherin Clara Rost hat sich im Januar 1893 aus ihrer Behausung in Dresden entfernt und ist bis heute nicht wieder gesehen worden. Die Rost trug Granatohrringe und einen Ring mit rotem herzförmigen Stein.

346) Der Schreinergeselle Philipp Schneberger, geb. am 31. März 1864 zu Staudernheim, Rg.-Bz. Koblenz, meldete sich im März 1891 beim Bezirkskommando in Oberhausen a. Rh. ab, um nach Mülheim a. Rh. zu ziehen, konnte aber dort von seinem Bruder bisher nicht aufgefunden werden.

347) Von seinem Vater gesucht wird der Seemann Otto Gustav Adolf Schwarz, geb. in Neu-Ruppin am 16. Juni 1846. Seine letzten Mitteilungen stammen vom Januar 1864 aus London.

348) Der Kaufmann Konrad Georg Wilhelm Kleber, geb. am 22. Dezemb. 1872 zu Frankfurt a. M., schrieb noch im Dezemb. 1892 eine Karte aus New York und ist dann nach Baltimore gegangen. Auf dem Austernboot, zu dessen Besatzung er gehörte, soll er vom Kapitän Dennis mißhandelt worden und in der darauffolgenden Nacht mit allen seinen Sachen vom Boot, das sich nicht weit vom Ufer befand, geflüchtet sein. Der Vater des Verschwundenen lebt der Hoffnung, daß sein Sohn ans Land entkommen und noch am Leben sei.

[219] 349) Von seinem Bruder vermißt wird Franz Muschinski, welcher in Gr.-Trampken geboren ist und noch im Jahre 1885 zu Köslin als Schreiner angestellt war. Dem Verschollenen fehlen an der rechten Hand drei Fingerglieder.

350) Dem Bildhauer Otto Quecke, geb. am 30. April 1851 zu Oppeln, ist eine Erbschaft zugefallen. Er wird von seinem Bruder gebeten, dieselbe zu erheben.

351) Josef Brandel, welcher am 7. September 1860 zu Wien geboren ist, schrieb am 29. März 1893 von Königsberg i. Pr., wo er in einer Möbelhandlung angestellt war, an seine Frau in Berlin, daß er sie nach Königsberg holen werde. Brandel, welcher Bildhauer und Zeichner für Kunstindustrie war, hat Königsberg verlassen, ist aber in Berlin nicht eingetroffen.

352) Von ihrem Sohne gesucht wird die Theaterdirektorin Alouisia Aster, geb. Waitzmann; die letzte Mitteilung von seiner Mutter ward dem Sohne vor Jahren aus Peitz in Brandenburg.

353) Der Seemann Arthur Emil Meister, geb. am 11. September 1853 zu Döhlen bei Dresden, ging im Frühjahr 1877 von Hull in See, um das Mittelländische Meer zu befahren. Seitdem fehlt jede Nachricht über ihn.

354) Heinrich Burgaß, geb. den 16. Juli 1850 zu Daber in Pommern, reiste am 19. Dezember 1875 mit dem englischen Dampfer „Golden-Sea“ von London nach Adelaide. Seitdem harren Eltern und Geschwister vergeblich auf Kunde von ihm.

355) Nach seinem Briefe vom 6. Septemb. 1891 aus Antwerpen hatte der am 14. Jan. 1867 zu Herbesthal b. Eupen geborene Seemann Werner Winkel die Absicht, sich auf einem brasilianischen Dampfer anstellen zu lassen und auf diesem nach Brasilien zu fahren, wo er aber trotz der Bemühungen des deutschen Konsulats in Buenos Ayres nicht aufzufinden ist.

356) Der Bäcker Christian Adolf Grabow, geb. am Weihnachtstag 1843 zu Müncheberg b. Frankfurt a. d. O., ist im Jahre 1869 über Hamburg ausgewandert, ohne seine Angehörigen wissen zu lassen, wohin er sich gewendet hat.

357) Johanne Williams geb. Lindholm, welche den 22. April 1860 zu Busarp b. Malmö in Schweden geboren ist und Lehrerin war, schrieb am 3. Mai 1892 aus Staten Island, N. Y., ihrer Schwester in Döverden, daß sie zu ihr kommen wolle, ihren Koffer habe sie schon abgeschickt, sie selbst sei durch Krankheit aufgehalten, werde aber mit ihrem Kinde bald nachfolgen. Der Koffer kam auch richtig an, während sowohl Frau Williams wie ihr Kind bis heute vergeblich erwartet wird.

358) Der Konditor Karl Bruno Jacobi, geb. am 2. August 1861 zu Lichtenstein bei Zwickau, welcher auf dem Schiff „Anton“ (Kapitän Abrams) Beschäftigung fand, hat das Fahrzeug 1882 in Pernambuco, wo es angelegt hatte, verlassen und ist seitdem verschollen.

359) Von der einzigen Schwester sehnsüchtig um ein Lebenszeichen gebeten wird die Näherin Karoline Sophie Patze, geb. am 1. März 1853 zu Kassel.

360) August Leis, geb. am 20. Aug. 1858 zu Wiesbaden, wird seit dem Jahre 1878 von seiner Mutter vermißt. Er war zu Heidelberg in einem Schreib- und Galanteriewaren-Geschäft als Lehrling angestellt. Eines Tages ging er ohne Kopfbedeckung aus, um eine Besorgung zu machen, und kehrte nicht zurück.

361) Seit dem Jahre 1890 ist verschollen der am 18. März 1852 zu Hertwigswalde bei Münsterberg geborene frühere Gerichtssekretär Paul Anders, der 1889 in Konstantinopel als Rechtsanwalt thätig war, 1890 in Neisse weilte und sich noch im selben Jahre wieder nach Konstantinopel wenden wollte.

362) Der Klempner Max Wilhelm Heinrich Gründel, geb. den 7. März 1858 zu Breslau, ist im Jahre 1885 von Berlin weggezogen und hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen.

363) Von ihren besorgten Eltern gesucht wird Minna Louise Scholz, geb. am 26. Juni 1871 zu Ober-Wüstegiersdorf in Schlesien, welche zuletzt als Dienstmädchen in Düsseldorf Stellung hatte.

364) Der Kaufmann Albert Sigismund, geb. am 8. Juni 1861 zu Sagan in Schles., reiste am 8. Febr. 1892 nach Breslau. Von dort soll er sich über Hamburg nach Nordamerika begeben haben.

365) Wilhelm Matern, geb. am 4. Jan. 1840 zu Berlin und in den Jahren 1861/63 Kaufmann zu Shanghai, unternahm im September 1863 eine Handels-Expedition nach Nanking, von der er nicht zurückgekehrt ist. Alle Nachforschungen über sein Schicksal sind bisher erfolglos gewesen.

366) Von seiner Mutter um ein Lebenszeichen gebeten wird der am 3. Juni 1873 zu Tellingstedt in Holstein geborene Otto Friedrich Wilhelm Normann, der sich Ende 1892 im Seemannsheim zu Cardiff aufhielt.

367) Im Jahre 1880 fuhr der Civilsupernumerar Paul Höbich, geb. am 2. Aug. 1856 zu Schreibendorf b. Strehlen in Schles., mit dem Schiff „Conrad Hinrich“ von Hamburg nach Australien. Dort ist er aber selbst mit Hilfe des deutschen Konsulats in Sidney bis jetzt nicht aufzufinden gewesen.

368) Von ihrem Bruder gesucht wird die am 6. März 1835 zu Königsberg i. Pr. geborene Bankbuchhalterwitwe Aurora Winkler geb. Maaser.

369) Von seiner alten, in inniger Liebe an ihrem Sohne hängenden Mutter wird der am 7. Dezemb. 1867 zu Berlin geborene Maschinenbauer Carl Rudolf Rohde um Nachricht gebeten. Derselbe arbeitete Mitte der achtziger Jahre auf den Eisenwerken des „Vulkan“ bei Stettin und war zuletzt in Petersdorf bei Bobitz, Mecklenburg, angestellt.

370) Eine alte alleinstehende Mutter vermißt ihren einzigen Sohn, den am 13. Novemb, 1851 zu Dittersbach bei Sagan geborenen Tischler Johann Gottfried Kus7e.

371) Der Konditor Ewald Richard Siegert, geb. am 25. Oktob. 1863 zu Nieder-Schmiedeberg bei Marienberg in Sachsen, wanderte nach Italien, um von dort nach Brasilien zu fahren. Weitere Nachrichten fehlen.

372) Der am 22. Juli 1862 zu Liegnitz geborene Klempnergeselle Richard Johannes Rudolf Künzel ist am 6. Mai 1886 von seiner Vaterstadt aus auf die Wanderschaft gegangen und hat seitdem nichts von sich hören lassen.

Palmsonntag in Ragusa. (Zu dem Bilde S. 205.) Wenn tief unten im dalmatinischen Süden die Osterzeit herankommt, steht die Welt dort ringsum in üppiger Blüte. Die Rosen grüßen durchs junge Laub, zartgelb leuchtet es zwischen den silbergrauen Olivenzweigen, die Palmen, die bei Ragusa über den Bergpfad empor zum Kloster San Giacomo nicken, zeigen frische Wedel und die Frühlingsblumen, Veilchen und Narcisse, die bunte Anemone und die wilde Hyacinthe sind längst von den Triften verschwunden. Man muß nur einmal an solchem Tage Ragusa betreten haben, wenn zitternder Goldduft glühend über der himmelblauen Adria lagert und die paradiesische Klosterinsel Lacroma umflimmert, um zu begreifen, wie lachend und südlich dies unbekannte Stückchen Küstenwelt im europäischen Osten ist!

Heut’ ist es Palmsonntag, und die Landleute aus dem nahen Brenothal und dem von Canale ziehen in Schwärmen durch die Hauptstraße, den „Stradone“, mit seinen stillen Patrizierhäusern und den geschlossenen Kaufläden, um in den Kirchen des Platzes ihre grünen Sträuße weihen zu lassen, im Dom und in San Biagio, der Kirche des heiligen Blasius.

Schöne Mädchen und Frauen sind es, namentlich die aus dem Canalethal, denen die schneeigen, tiefgefältelten Strichhauben die feinen regelmäßigen Gesichtszüge umrahmen. Etwas sehr Herbes und Keusches liegt in Blick und Haltung – unmodern möchte man’s heutzutage nennen; sie muten an wie klassische Gestalten in ihren langherabfließenden Röcken und Schürzen, buntgesäumt, in den reichgestickten orientalischen Jäckchen, den weiten Aermeln, den funkelnden Ketten und anderen Schmuckstücken. Prächtig nehmen sie sich vor dem Altare aus, zwischen den gewundenen Marmorsäulen, den Galerien und Stufen, Lichtern und Altarbildern und der ernsten Priesterschaft, eingehüllt in Weihrauchduft und Orgelklang. Nicht nur Palmwedel lassen sie weihen, nein, auch frische Lorbeerzweige und die der knospenden Olive: die Wahrzeichen der Tapferkeit und des Friedens, zugleich mit denen des Heilands, da er zu Jerusalem einzog.

Grün und Frühlingsfrische, brennende Farben und helles Sonnenlicht, wohin sich der Blick wendet! Rosen liegen auf den Grabsteinen der alten Ragusaer Geschlechter und seitab von den palmentragenden Frauen knieen die Männer und beten, große schlanke Kriegergestalten – ihre Tracht ein Gemisch von sattem Rot und dunklem Blau, ihren Turban, den „Saruk“, haben sie von den edelgeformten Köpfen genommen. Er ist den Todfeinden entlehnt, den „gottverfluchten“, grenzebedräuenden Türken. Wohl dem Vater unter den Canalesen, dem in der Karwoche ein Sohn geboren wird, so daß die Palmen und Lorbeerzweige des heiligen Sonntags zu Häupten seiner Wiege prangen dürfen. Solch ein gesegneter Sohn wird zur besonderen Hoffnung seines Vaters; denn vielleicht giebt das geweihte Grün ihm wirklich Kraft und Mut, einst gegen den osmanischen Widersacher siegreich zu kämpfen und den ewigen Frieden im schönen wilden Berglande der Adria aufrichten zu helfen. – „Pax vobiscum!“ – Friede sei mit euch! – singt der Priester zu ihren Gedanken. B. S.-S.     

Der Ursprung des Spinats. Am Gründonnerstag pflegt man in deutschen Häusern eine grüne Speise zu verzehren. Früher stellte man ein solches Gericht aus neunerlei Kräutern her; heute besteht die grüne Speise zumeist aus Spinat. Diese Sitte führt man vielfach auf altdeutschen, heidnischen Brauch zurück. Aber in der „Neunstärke“, wie die Osterspeise der Alten genannt wurde, war der Spinat nicht vertreten. Er kommt uns zwar heute einheimisch, urdeutsch vor, ist aber ebenso wie der gemeinere Kohl fremden Ursprungs. Beim Kohl verrät schon der Name, der vom lateinischen caulis kommt, den römischen Ursprung und der Spinat bekundet sich seinem Namen nach als ein Asiat. In der That ist Westasien die Heimat des Spinats, der bei den Persern aspanakh oder isfanadj hieß. Höchst wahrscheinlich haben ihn die Kreuzfahrer nach Europa gebracht. In Deutschland wird er zum erstenmal von Albertus Magnus im 13. Jahrhundert erwähnt. Der Spinat hat im Laufe der Zeiten verschiedene andere Gemüsepflanzen verdrängt, die früher als grünes Gemüse gern verzehrt wurden, so die Gartenmalve, die Malve, den Amarant und die Ringelblume. *      

Die Ermordung Philipps von Schwaben. (Zu dem Bilde S. 209.) Mit dem Tode Philipps von Schwaben im Jahre 1208 schloß der erste Akt in dem großen Trauerspiel der sinkenden und fallenden Hohenstaufenmacht. Die Frevelthat, die dem jungen, noch viel versprechenden Leben König Philipps gerade in dem Augenblicke ein Ziel setzte, als sich sein Glück zu stolzerem Fluge erhob, entsprang indes nicht ehrgeizigen hohen politischen Plänen, hing nicht im entferntesten mit den unheilvollen, um den Besitz der Krone geführten Kämpfen zusammen, sondern persönliche, auch durch die Verwilderung der Zeit nicht entschuldbare Rachsucht war es allein, die den wilden leidenschaftlichen Pfalzgrafen Otto von Bayern hinriß, den Mordstahl gegen „den Besten aller Staufen“ zu zücken.

Philipp hatte diesem Wittelsbacher für geleistete Kriegsdienste, und um ihn zu fernerem Eifer im Kampfe gegen Papst und Welfen anzuspornen, eine seiner vier noch im zartesten Alter stehenden Töchter zur Ehe versprochen. Sei es, daß ihn die gewaltthätige Sinnesart Ottos seine Zusage gereuen ließ, sei es, daß die höheren politischen Zwecke, die durch die Vermählung von Philipps Töchtern mit König Otto und den Neffen des Papstes später zu erreichen standen, dem Pfalzgrafen einen Verzicht abnötigten: die beabsichtigte Verbindung unterblieb. Dieser vermutlich ersten Kränkung scheint eine zweite weit schlimmere gefolgt zu sein. Als sich Otto zum Ersatz für die verlorene Braut neuerdings um die Töchter des Herzogs Heinrich von Schlesien und der nachmals heilig gesprochenen Hedwig von Meran bewarb, soll ihm Philipp auf die Reise statt eines erbetenen Empfehlungsschreibens einen Warnungsbrief mitgegeben haben. Diesen Brief habe Otto, bereits argwöhnisch geworden, unterwegs erbrochen, und als ihm zur Gewißheit geworden, daß Philipp abermals seinen Absichten entgegenarbeite, sei er sofort zornerfüllt und racheschnaubend umgekehrt.

Thatsache ist, daß Otto am 21. Juni 1208 in Bamberg, wo der König, im Feldzuge nach Norddeutschland begriffen, gerade Hof hielt, urplötzlich erschien und erschreckend schnell, mit größter Entschlossenheit, [220] wohl von einigen Verschworenen unterstützt, sein grausiges Vorhaben, die Ermordung Philipps, ausführte.

Der König weilte im bischöflichen Palast. Nachdem am Vormittag die Vermählung seiner Nichte Beatrix, der einzigen Tochter und Erbin seines längst verstorbenen Bruders, des Pfalzgrafen Otto von Burgund, mit dem ihm immer getreuen Otto von Meran stattgefunden hatte und sich Philipp, wie dies in alten Zeiten auch ohne besonderen Krankheitsanlaß geschah, mit vielen seiner Leute zur Ader gelassen, pflegte er, etwas ermüdet, in einem einsamen stillen Zimmer der Ruhe. Nur der greise Bischof von Speyer, Konrad von Scharfenberg, und der treue Truchseß Heinrich von Waldburg waren bei ihm.

Die Uhr zeigte 3 Uhr nachmittags. Eine Schachpartie sollte eben ihren Anfang nehmen, als es an die Thür klopfte. Auf den frohgemuten Hereinruf des Königs erschien Otto von Wittelsbach im Gemache. Der König empfing ihn mit freundlich scherzenden Worten. Das bloße Schwert, das Otto in den Händen trug, erregte keinen Verdacht; denn der Pfalzgraf hatte schon oft durch gauklerisches Waffenspiel dem König Vergnügen bereitet. Aber der unheimliche Blick seiner Augen machte den Harmlosen stutzen. Er verbat sich für diesmal das Spiel. Mit dem Rufe: „Jetzt soll es auch kein Spiel sein!“ stürzte der Pfalzgraf auf den wehrlosen, an Körperkraft weit schwächern König zu. Und noch ehe die anderen es hindern konnten, fuhr das Schwert nieder. Mit durchschnittenem Halse taumelte Philipp noch einige Schritte vorwärts und stürzte dann leblos zu Boden. Der Bischof richtete den Entseelten ein wenig empor, versteckte sich aber, zu Tode erschrocken, beizeiten. Der Truchseß scheute keine Lebensgefahr, drang gegen den Mörder mit dem Schwerte ein, wollte die Thür versperren, ihm die Flucht zu wehren, empfing aber im entscheidenden Augenblicke von dem sich bahnbrechenden Frevler eine schwere Verwundung im Gesicht, und so entkam Otto unaufgehalten aus dem Gemach. Unten schwang sich der Pfalzgraf flugs aufs Pferd und jagte mit den Seinen davon.

Die Kunde von des Königs Ermordung verbreitete sich schnell und rief beim Volk die tiefste Trauer hervor. Hatten auch die Regierungsjahre Philipps großes Leid über Deutschland gebracht, der Fürst persönlich war wegen seiner vielen Tugenden jederzeit geliebt und geehrt. Die als Folge des Ereignisses befürchteten Wirren, die das Reich von neuem in schwere Gefahren hätten stürzen können, blieben zum Glück aus. Gegenkönig Otto von Braunschweig erhielt bald die allgemeine Anerkennung, Ruhe und Ordnung traten ein. Auch dem Verbrechen folgte bald die Sühne. Otto von Wittelsbach wurde, nachdem bereits auf dem Reichstage im November 1208 zu Frankfurt über ihn die Acht gesprochen worden war, unweit Regensburg in einem Hofe der Mönche von Ebrach, wo er einen Schlupfwinkel gefunden hatte, von einem seiner langjährigen Feinde, dem Reichsmarschall Heinrich von Kalindin, erschlagen. Dl.     

Nach dem Titelkupfer der „Gedichte“ Günthers, Ausgabe v. J. 1764.

Christian Günther. Am 8. April vor zweihundert Jahren wurde in Striegau in Schlesien ein Dichter geboren, dessen kurzer Lebenslauf ein Wirrsal von Verirrungen und Bedrängnissen war und als ein Vorläufer vieler späteren zu Grunde gegangenen Talente betrachtet werden kann, der aber auch, zuerst den toten Formelkram anspruchsvoller Nachahmungen abstreitend, heraussang aus seinem innersten Empfinden, alles was ihn bewegte, Leid und Lust, glühende Leidenschaft und auch wüsten Taumel, und gerade dadurch zuerst die Töne der modernen Lyrik anschlug. Johann Christian Günther dichtete schon auf der Schule, wo ihm für seine gewandte Beherrschung des Verses manches Lob zu teil wurde; nur sein Vater wünschte, daß er den „Bettel“ liegen lassen und seinen ganzen Fleiß einem Brotstudium und zwar der Medizin zuwenden möchte; doch er dichtete überall, im Gehölz, im Garten, im Winkel und auch eine Philindrene hatte er gefunden, der er seine Gesänge widmete. Wer weiß, ob diese erste Jugendliebe nicht vielleicht seinem späteren Leben ein Schutzgeist geworden wäre; doch sie starb früh und bald erfüllte eine andere Liebe sein Herz. Leonore, die Tochter eines Dr. Jachmann in Schweidnitz, hatte es ihm angethan; doch sie ward ihm untreu und gehorchte dem Willen ihrer Eltern, die sie zu einer andern Heirat bestimmten. Im zwanzigsten Jahre hatte Günther die Schule von Schweidnitz verlassen und die Universität in Wittenberg bezogen, wo er sich einem flotten Leben ergab. Gerade aus seinen Gedichten kann man die Roheit des damaligen studentischen Lebens und Treibens erkennen; nicht selten dichtete Günther im Rausche, und der Branntwein war damals ein Lieblingsgetränk der Studenten. In Liebessachen huldigte er der „Freigeisterei der Leidenschaft“; hatte er eine Herzenskönigin gefunden, so übte diese eine Zeit lang einen bessernden Einfluß auf ihn aus, er begann sein verwahrlostes Aeußere mehr zu pflegen, er vertauschte sein abgeschabtes Kleid mit einem besseren und gewöhnte sich ab, „mit sechs Löchern in den Strümpfen und sechs Federn in den Haaren“ zu gehen. Doch nicht lange dauerte die Herrschaft der Einen und eine Alleinherrschaft war es nie gewesen. Das Studium der Medizin vernachlässigte er gänzlich; eher zog die Philosophie eines Wolf und Leibniz ihn an. Dadurch überwarf er sich mit seinem Vater, der streng und unversöhnlich blieb und ihn auch dann nicht sehen und sprechen wollte, als er einmal nach Striegau zurückgekehrt war, um womöglich diesen Zwiespalt auszugleichen, der zu den Hauptschmerzen seines Lebens gehörte. Der Leipziger Professor Mencke, Verfasser einiger schwülstigen Gedichte, interessierte sich für Günthers Talent und empfahl ihn an den Dresdener Hof, wo indes seine Manieren bei den Hofleuten Anstoß erregten und wo er sich durch seine Offenherzigkeiten und seine satirische Bitterkeit Feinde machte. Solcher Feindschaft schrieb man es zu, daß er bei einer Audienz, die ihm König August bewilligt hatte, vollständig betrunken erschien; er sei böswillig von seinen Neidern in diesen Zustand versetzt worden. Natürlich fiel er alsbald in Ungnade und seitdem geißelte er in seinen Dichtungen das Hofwesen. Eine Stellung in Breslau als Hofmeister beim Grafen Schaffgotsch verscherzte er in gleicher Weise. Ein anderer seiner Gönner, Herr von Nimptsch, wollte ihn durch eine Heirat zur Vernunft bringen. Des Pfarrers Töchterlein von Bischwitz, die er in seinen Gedichten Phyllis nennt, der er wohl seine Liebe zu Philindrene und Leonore, aber nicht seine andern Liebschaften gebeichtet, hatte den Mut, sich mit ihm zu verloben; aber er schenkte ihr einen Verlobungsring, auf dem ein Totenkopf angebracht war; er fühlte sich bereits dem Tode verfallen und starb auch nicht lange darauf im Jahre 1723.

Dies sein Leben kann man zum großen Teil aus seinen Gedichten beranslesen, und zwar aus seinen besten, wo dann die Unmittelbarkeit der Empfindung und die Offenherzigkeit der Beichte oft einen ergreifenden Eindruck macht. In sehr vielen Gedichten schwingt er die satirische Geißel, sowohl über schlechte Gelehrte und Poeten als auch über das ganze „Philisterpack“; doch es ist weniger die Ueberzeugung von der Schlechtigkeit der Welt, weniger die Absicht, sie zu bessern und zu bekehren, als die innere Verbitterung, die ihm diese Satiren eingab. Besonders seinen persönlichen Gegnern setzte er aufs schonungsloseste zu. Daneben finden sich zahlreiche Gelegenheitsgedichte in dem damals üblichen Ton; auch politische, wie dasjenige auf Eugen und den Frieden von Passarowitz, das ihm bei seinen Zeitgenossen mehr als alles andere den dichterischen Lorbeer einbrachte. Viele Hochzeitscarmina und Begräbnislieder hat er gedichtet, ganz im Stil der damaligen Gelegenheitspoeten; er spottet indes selbst darüber, daß sein Gaul bei Hochzeiten und Begräbnissen bis Moskau um sechs Groschen traben müsse, der doch der Welt dienen könne, wenn ihm das Volk erlaube, auf eigener Bahn zu gehen. Wo der Dichter aber auf dieser eigenen Bahn ging, da überragte er durch markige Kraft der Sprache und Gefühlswahrheit seine Zeitgenossen. Seine Leonorenlieder besonders nehmen einen dauernden Wert in Anspruch. Jedenfalls ist Günther zu den Weltschmerzpoeten zu zählen und die neuesten Pessimisten mögen in ihm ihren dichterischen Ahnherrn erblicken. †     


Inhalt: Echt. Erzählung von R: Artaria (5. Fortsetzung). S. 201. – Allweil fidel! Bild. S. 201. – Formosa. Der mutmaßliche Siegespreis der Japaner. Von Dr. Adolf Fritze. S. 204. – Palmsonntag in Ragusa. Bild. S. 205. – Das Butteraroma. S. 206. – Die Ermordung Philipps von Schwaben durch Otto von Wittelsbach. Bild. S. 209. – Der Fähnrich als Erzieher. Eine Backfisch-Studie von Hans Arnold (Schluß). S. 210. – Ehelicher Zwist. Bild. S. 212. – Ehelicher Frieden. Bild. S. 213. – Erfinderlos. Konrad König und der Brunnen auf dem Königstein. Von Cornelius Gurlitt. S. 214. – Wer fängt? Bild. S. 217. – Blätter und Blüten: Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Nr. 46 des vor. Jahrgangs) S. 218. – Palmsonntag in Ragusa. S.219. (Zu dem Bilde S. 205.) – Der Ursprung des Spinats. S. 219. – Die Ermordung Philipps von Schwaben. S. 219. (Zu dem Bilde S. 209.) – Christian Günther. Mit Bildnis. S. 220.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.