Die Gartenlaube (1894)/Heft 7
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Nr. 7. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Glocke der Klosterbrüder läutete. Ihre Klänge schwammen
über das Thal der Ache hinweg und klangen empor über die
Gehänge des Göhl. Auf steiniger Halde saß Hinzula und hütete
die Geißen; der Bock lag neben ihr im Gras und scheuerte
das Gehörn an dem Stecken der Hirtin. Da klang die Glocke.
Hinzula sprang auf, und zitternd stand sie, mit offenem Munde
lauschend. Alle Geißen hoben die Köpfe und äugten über das
Thal hinweg. „Hörst, Zottli, hörst,“ stammelte das Bartele,
„er läutet schon!“ Und über Hals und Kopf sprang sie die steile
Halde hinunter, den rufenden Klängen entgegen; hinter ihr hopsten
die Geißen; nur der Bock schüttelte den Kopf und ließ sich in
seiner Ruhe nicht stören.
Als Hinzula die Ache erreichte, suchte sie nicht lang eine seichte Stelle. Sicheren Fußes sprang sie über die Steine hinweg, welche aus dem schäumenden Wasser hervorragten. Aber die Geißen wagten nicht ihr zu folgen; sie blieben am Ufer stehen und streckten die Köpfe gegen das Wasser; eine begann zu weiden, und nun machten es ihr die andern nach. Hinzula schlüpfte durch die dichten Büsche, kletterte über einen steilen Hang empor und gewann die Höhe des Waldes. Da tauchte zwischen den Bäumen ein Reiter auf. Henning war es, Wazemanns Aeltester. Hinzula duckte sich hinter einen Baum, aber Henning hatte sie schon erspäht. Er kam auf sie zugeritten, hielt das Pferd an und fuchtelte mit der Gerte. „Was machst Du da?“
Die Hirtin brachte kein Wort über die Lippen, zitternd stand sie und starrte mit weit aufgerissenen Augen an dem Reiter empor.
„Wirst Du reden, Du Mistfink! Oder soll ich Dir die Zung’ lösen? Wohin willst?“
„Sell hin, Herre,“ stotterte die Hirtin, „sell hin, wo er geläutet hat.“
„Wer?“
Hinzula wußte keine Antwort.
„Und was geht Dich das Läuten an?“ schrie Henning. „Mach’, daß Du heim kommst! Hier ist Bannwald von heut’ ab.“ Die Hirtin rührte sich nicht. „Wart’, Du Schmieramper,“ lachte Henning, „Dir mach’ ich Füß’.“ Und ein pfeifender Gertenschlag fiel über Hinzulas Schulter. Sie zuckte zusammen, aber kein Laut glitt über ihre Lippen. Mit einem Blick noch suchte sie die Tiefe des Waldes, dann wandte sie sich ab und schlich davon. Als sie das Thal erreicht und die Ache überschritten hatte, kamen ihr
[102] die Geißen zugelaufen. Vom Lokistein herüber klang die Glocke. Hinzula stand und lauschte. Ein schluchzender Laut erschütterte ihre Brust, sie sank ins Gras, bewegte unter der Kotze die schmerzende Schulter und brach in bitterliches Weinen aus.
Die Glocke läutete. Ihr Klang schwoll hin über den Hang des Untersberges und hallte wieder im Wald. Vor einer Rindenhütte, inmitten eines Ringes von dem dorrenden Astwerk gefällter Bäume, standen drei rauchende Kohlmeiler. Zwischen ihnen ging Eigel hin und her, in der Hand eine hölzerne von Ruß geschwärzte Schaufel. Stieg aus einem der Meiler ein Rauchfaden an unrechter Stelle auf, so faßte Eigel von der mit Kohlenstaub gemischten Erde die Schaufel voll und sperrte der ausbrechenden Glut die Luft. Da hörte er die Glocke läuten. Er ließ die Schaufel sinken und lauschte; ein paar Schritte that er, als zöge ihn der Hall; aber mit sorgendem Blick streifte er die Meiler, aus denen die Rauchstrahlen summend hervorbrachen. „Meinetwegen, mögen sie hin sein alle drei,“ murmelte der Alte und warf die Schaufel weg, „ich muß hinunter!“ Er ging auf die Rindenhütte zu, faßte das Grießbeil und verließ die Kohlstätte.
Auf ausgetretenem Pfad durchschritt er den Wald. Als er einer Stelle nahe kam, an welcher zwei Fußwege sich kreuzten, blieb er betroffen stehen und trat mit raschem Schritt hinter einen Busch. An der Wegscheide saß Rimiger auf einem Steinblock, den Zügel seines Pferdes um den Arm geschlungen, und spähte über den seitwärts herführenden Pfad hinaus.
„Dem geh’ ich lieber aus dem Weg,“ meinte der Kohlmann und schlich, gedeckt durch die Büsche, zwischen den Bäumen davon. In weitem Bogen schritt er durch den Wald. Dann blieb er stehen. „Ich mein’, es müßt’ beim Lok’stein gewesen sein!“ murmelte er und änderte die Richtung. Er ging nicht lange, da hörte er hinter sich gedämpften Hufschlag, und als er sich umblickte, hielt Sindel vor ihm das Pferd an.
„Was hast Du da zu schaffen im Wald?“
„Ich, Herr? Warum?“ fragte der Kohlmann zögernd.
„Weil ich’s wissen will!“
„Meiner Arbeit geh’ ich nach.“
„Welcher Arbeit?“
„Gestern auf den Abend hab’ ich Wurzen gegraben, beim Lok’stein drüben. Alle hab’ ich nicht schleppen können, und drum hol’ ich jetzt das Bündel, das ich gestern hab’ liegen lassen.“
Sindel maß den Alten mit mißtrauischen Augen. „Hol’ Dir Wurzen, wo Du magst, aber nicht beim Lokistein – heut’ nicht – und nimmer!“
„So? So?“ sagte der Kohlmann und ein kaum merkliches Lächeln zuckte um seine graubärtigen Lippen. „Ihr habt wohl beim Lok’stein einen Saufang gestellt oder eine Bärengrub’ ausgeworfen, gelt?“
„Was kümmert’s Dich! Mach’, daß Du weiter kommst!“ Mit einem Schenkeldruck trieb Sindel das Pferd an und ritt auf den Kohlmann ein.
Eigel wich zur Seite. „Ich geh’ schon! Und gutes Gejaid, Herr!“ Ohne sich noch einmal umzublicken, schritt er in der dem Lokistein entgegengesetzten Richtung durch den Wald davon. Aber der Weg, den er einschlug, war nicht der Weg nach seiner Kohlstatt.
Die Glocke läutete ...
Ihr Hall schwamm über die stillen Baumwipfel hinaus in das weite Thal, gegen den Untersteiner Forst und gegen die Schönau hin.
Auf weiter Rodung, zwischen Wiesen und Feldern, umgeben von nachbarlichen Gehöften, erhob sich hier das Haus des Schönauers, von hohem Hag umzogen. Das war unter allen Huben der Au die stattlichste, wohl nur ein niederes Blockhaus mit altersmürbem Strohdach, aber umringt von Ställen und Scheunen, von fruchtschweren Obstbäumen und volkreichen Immenständen. Zwei zottige Hunde lagen vor der offenen Hausthür in der Sonne. Hühner und Enten belebten den Hof, und aus einer Scheune klang die singende Stimme einer Magd.
Vor der hölzernen Hausbank standen Ruedlieb und sein Vater, eine breitschulterige Mannesgestalt; schwere Arbeit hatte den wuchtigen Rücken gekrümmt; lange graue Haarsträhne hingen um ein furchiges Gesicht mit kurzgeschorenem Bart, mit herben Lippen und kleinen ruhigen Augen, welche von buschigen Brauen überschattet waren. Vor den beiden stand auf der Bank eine hölzerne Kraxe; sie war beladen mit Brotwecken und Käslaiben, mit einem irdenen Honigtopf, mit Rauchfleisch und einem kleinen Metfäßlein. Ruedlieb schnürte ein Hanfseil um die Ladung, und der Schönauer prüfte jede Schlinge, die der Bub legte, auf ihre Festigkeit. Da hörten sie die Glocke, gedämpft durch die Ferne, nur noch wie einen klingenden Hauch in den Lüften. Sie lauschten und sahen sich an.
„Von der Ramsau herüber hört man das Glöckl nicht,“ sagte Ruedlieb, „das müssen sie sein, Vater!“
Der Schönauer nickte. „Jetzt brauchst nimmer lang’ nach ihnen suchen, Bub’. Geh’ nur auf den Lok’stein zu und ich mein’, Du bist nimmer weit von ihnen.“
Schweigend lauschten sie, bis der leise Hall in den sonnigen Lüften verzitterte. Der Bauer atmete tief auf. „Jetzt nimm die Krax’, Bub’. Und sag’ halt: das schickt ihnen der Schönauer ... und sag’s ihnen nur grad heraus: wenn sie’s gut meinen mit dem Gadem, so sollen sie einen treuen Mann an mir haben.“
„Und an mir auch keinen schlechten!“ lachte Ruedlieb und wollte die Kraxe fassen, um sie auf den Rücken zu schwingen. Da trat ein Bauer in den Hof, eine hager aufgeschossene Gestalt. Das war der Kaganhart. Er fuchtelte mit den Armen und schrie: „Hast gehört, Schönauer, hast das Glöckl gehört?“
Kaum hatte er ausgesprochen, da kam schon ein Zweiter, ein Dritter – einer nach dem andern kamen sie gelaufen, alle die Anrainer der Schönau, alte und junge Männer, grobgefügte wetterharte Gestalten, äußerlich einander gleichend in den rauhen Hanftuchkitteln und grauen Kotzen: der Kirngasser, der Köppelecker, die beiden Brüder vom Winkler Wesen, der Waldhauser, der Schwaiger und Grünsteiner, die Hanetzerbuben, der Kinill und Urstaller, der Bärenlochner und zu.etzt der alte Gobl. Sie alle hatten die Glocke gehört, sie alle wußten, was ihr klingender Ruf bedeute. Ging doch die Rede von der Schenkung, welche Frau Adelheid in ihrer Sterbestunde gethan, schon seit dem Frühjahr im ganzen Thal von Hütte zu Hütte. Da hatte man keinen Heimgart gehalten, bei welchem nicht von den erwarteten Klosterleuten gesprochen wurde, bald in Zweifel und Sorgen, bald in scheuer Hoffnung auf bessere Zeiten. Nun waren sie gekommen ...
„Hast gehört, Schönauer, hast das Glöckl gehört?“
Das war die Rede fast auf den Lippen aller, die gelaufen kamen. Sie standen um den Schönauer her; die einen machten bedenkliche Gesichter und krauten sich hinter den Ohren; die andern schrien erregt und mit wirren Stimmen durcheinander, bis der Schönauer die Hand erhob. „Aber Leut’, Leut’ – so lärmet doch nicht so!“
Da verstummten die meisten; doch der Waldhauser rief: „Das Maul sollen wir uns auch noch verbieten lassen, wo’s hergeht bei uns um Haut und Haar’?“
„Wohl wohl, recht hat er!“ fielen mehrere Stimmen ein; und der ältere der Hanetzerbuben schrie: „Die droben in Wazemanns Haus müssen wir füttern! Jetzt kämen die auch noch und möchten schöpfen und abrahmen ... ja was bleibt denn nachher für uns?“ Diese Rede fiel in die erregten Gemüter wie Feuer ins Stroh.
„Aber Leut’, Leut’!“ mahnte der Schönauer und drängte sich zwischen die Schreier. „So denket doch ein lützel weiter als nur in die Gurgel hinein. Es weiß doch ein jeder von Euch, was die Ramsauer haben von ihrem Gottesmann ...“
„Wohl wohl!“ fiel der Urstaller ein. „Und bei denen, die zu uns kommen, soll auch einer sein, der den Fried’ auf der Zung’ hat und die Güt’ im Aug’. Gestern auf die Nacht noch ist der Eigel zu mir gekommen ... der ist dabei gewesen, wie der Gottesmann gered’t hat mit der Wazemannstochter.“
Von allen Lippen schwirrten die Fragen, und der Urstaller erzählte, was der Kohlmann ihm berichtet hatte. „Die Händ’ haben dem Eigel gezittert vor lauter Freud’,“ so schloß er, „völlig lichtscheinig sind ihm die Augen gewesen, und keine andere Red’ schier hat er gehabt als allweil die einzig’: die bringen uns die gute Zeit, Urstaller, die gute Zeit!“
Lautlose Stille folgte diesen Worten. Nur der alte Gobl, das weißbärtige Kinn auf den Stab gestützt, schüttelte den Kopf und murmelte. „Die gute Zeit? Wo sollt’ denn die herkommen auf einmal? Da müßt’ sich erst ’was rühren im Berg!“ Die halb erloschenen Augen des Greises glitten über das Thal hinweg und suchten den Untersberg.
[103] Noch immer schwiegen die anderen. Ruedlieb, der die Kraxe wieder niedergestellt hatte, trat zu den Leuten, sein Gesicht brannte und seine Stimme bebte. „Die Klosterleut’ sind gegen die Wazemannsbuben, hat der Eigel gesagt ... ich mein’, wir müßten den Wald ausschlagen, daß sie freien Weg haben überall im Thal!“
Da nickten sie alle, und der Köppelecker rief: „Keiner von uns Mannerleut’ hat die richtige Red’ gefunden – ein Bub’ hat sie finden müssen!“
Ruedlieb wollte sprechen; aber der Vater schob ihn zurück. „Sei still, Liebli, Du hast noch allweil nicht die Jahr’ zum Mitreden.“
„Aber die Fäust’ hätt’ ich zum Dreinschlagen, und dazu wär’s schon lang an der Zeit gewesen!“ Ruedlieb wandte sich ab und ließ sich neben der Kraxe auf die Hausbank nieder. Die Leute erschraken über diese Rede und der Kinill blickte mit scheuen Augen im Hof umher und gegen das Hagthor, ob nicht ein unberufenes Ohr in der Nähe wäre. Der Waldhauser aber trat vor den Schönauer hin und sagte: „Du bist der Richtmann im Gadem – sag’ Du uns, was wir thun sollen.“
„Was wir all’ thun sollen, das wird ausgeredet in der Thingnacht. Ich für mein’ Teil schick’ den Buben hin mit Brot und Käs’, mit Honig und Met und laß ihnen guten Einstand wünschen im Gadem.“
„Natürlich! Nur gleich zinsen am ersten Tag!“ schrie der ältere Hanetzer mit rotem Gesicht. „Daß sie nur ja gleich drauf kommen, wie’s schmeckt!“ Die einen nickten zu dieser Rede, die anderen schüttelten die Köpfe.
„Ich mein’, wir können mehr von ihnen haben als sie von uns!“ sagte der Schönauer. „Und wer Milch ziehen will von der Kuh, der muß ihr zuerst das Futter legen.“
„Wohl wohl! Aber eine Kuh ist etwas anders! Bei der weiß ich, wie ich dran bin. Aber wer die Herrenleut’ melken möcht’, ich mein’, der braucht keinen großen Milchamper.“ Der Hanetzer schob die Hände unter die Kotze und ging davon; sein Bruder wurde verlegen, aber er folgte dem Aelteren. Die einen lachten und die anderen schalten. das wär’ doch keine Sache, die man abthäte mit einem spöttischen Wort.
„Laß’ Deinen Buben ein’ Weil’ noch warten, Schönauer,“ sagte der Köppelecker, „ich spring’ heim und leg’ dazu, was ich g’raten[1] kann!“ Er eilte davon.
„Ich gäb’ auch gern, wann ich nur ’was hätt’!“ sagte der Urstaller. „Aher eh’ mein Bub nicht abtragt von der Alben, hab’ ich selber schier kein Brösel mehr im Haus.“
„Brauchst was?“ fragte der Schönauer. „Ich hilf’ Dir schon aus.“
Der Urstaller schüttelte den Kopf. „Morgen muß der Bub’ kommen.“ Dann ging er; und mit ihm ging der Grünsteiner, der kein Wort zu reden wußte.
„Ich hab’ ein’ Stück Fleisch daheim,“ sagte der Kirngasser, „und auf ein paar süße Käs’ kommt’s mir auch nimmer an.“
„Wohl wohl, ich geh’ auch heim und red’ mit meinem Weib,“ stotterte der Bärenlochner, „ich mein’, sie wird schon ein lützel ’was hergeben.“
„Die Deinig’ schon,“ brummte der Kaganhart und verdrehte die Augen, „aber die meinig’ wird ein schieches Gesicht dazu machen.“
„Sag’ ihr halt, sie soll ihre Zähn’ scheren!“ lachte einer der Winkler Buben. „Da fallen so viel’ Haar’ ab, daß die Klosterleut’ ein Häs davon kriegen.“ Er wandte sich zum Schönauer. „Ich bring’ von meiner Mutter ein Stückel Hanftuch.“
Nun gingen sie alle; der Schwaiger wollte ein Mäßlein Honig bringen, der Waldhauser Eier und Schmalz.
„Da krieg’ ich die Krax’ voll, daß ich gut zu tragen hab’,“ meinte Ruedlieb. „Aber es dürft’ so schwer wiegen wie ein Kalb ... ich schlepp’ alles hin! Die Klosterleut’ sollen Augen machen!“ Er begann an der Kraxe den Strick zu lösen, um noch aufpacken zu können, was die andern bringen würden.
„Und Du, Gobl?“ wandte sich der Schönauer an den Greis, der, das Kinn auf den Stab gestützt, mit halbgeschlossenen Augen den Gehenden nachblickte. „Warum hast denn Du nicht gered’t?“
Der Alte hob langsam das Gesicht. „Weil ich kein Wörtl gewußt hab’, das der Müh’ wert gewesen wär’.“
„Und willst nicht auch ’was dazu geben?“
Ein müdes Lächeln glitt über die dürren Lippen des Greises. „Geben? Warum denn noch geben?“ Er schüttelte den Kopf. „Wer ’was will, der kommt schon und nimmt. Ich hab’ mein Weib nicht geben brauchen ... der Krank[2] hat sie genommen. Ich hab’ meine Buben nicht geben brauchen ... den ein’ hat Herr Waze erschlagen, den andern hat die Lahn verschütt’t, den letzten haben die Wölf’ gerissen. Ich hab’ meine Heilka nicht geben brauchen, meine liebe Dirn’ ... die Windach hat sie verschluckt. Warum denn noch geben? Und was denn? Gestern ist meine letzte Geiß verreckt. Mein Hüttl mag keiner ... da wandern schon die Mäus’ und Ratzen aus. Ich halt, ich bin noch übrig. Und der mich nimmt, der kommt schon, wohl wohl, wenn ich auch lang’ auf ihn warten muß. Der thut einen Segesschlag[3] ... und ich lach’ dazu und sag’: jetzt hat’s ein End’!“ Er nickte und schritt dem Hagthor zu.
Der Schönauer ging ihm nach und hielt ihn am Arm zurück. „Gobl! Gobl! Wie Du, so sollt’ doch ein Mensch nicht reden!“
„Warum nicht?“ Der Alte hob die roten Lider und starren Blickes sah er mit seinen müden Augen dem andern ins Gesicht.
„Schau, Gobl, Dir selber blüht wohl nimmer auf, was von Dir hat abfallen und faulen müssen. Aber denk’ an die anderen, Gobl – verschlag’ ihnen den Mut nicht mit Deinen Reden! Schau ... ich hab’s vor den Leuten nicht sagen mögen, denn sie reden gleich alles aus und schreien um ... aber zu Dir sag’ ich’s. ich halt’ viel vom gestrigen Tag, der uns die Klosterleut’ gebracht hat. Sie kommen als Herren ins Thal, und das wird denen in Wazemanns Haus droben in die Nas’ steigen. Gieb acht, zwischen den beiden hebt ein Raufen und Raiten an. Frißt Herr Waze die Klosterleut’ auf, so kann’s nicht schlechter kommen, als wie’s allweil schon war. Ducken die Klosterleut’ den Waze, so kann’s nur besser kommen, und die gute Zeit steht ein.“
„Gute Zeit? Da müßt’ sich erst ’was rühren im Berg!“ Der alte Gobl schüttelte den Kopf. „Wir, Schönauer, wir erleben’s nimmer. Die Zeit steht in der Halbscheid’ ... das Alt’ ist halb und das Neu’ ist halb. Mein Stall ist abgebronnen, da hat kein Heilbuschen geholfen ... und vom Ramsauer Kirchl hat der Blitz das Kreuz geworfen. Die Heilbuschen sind dürr, und das Kirchenkraut hat steinigen Boden. Herr Wute schlaft im Berg und der ander’ im Gewölk ... bis einer anfwacht, müssen die Berg’ sich rühren.“
„Das ist müdes Gered’, Gobl!“ sagte der Schönauer.
Der Alte nickte. „Hast recht! Drum laß’ mich heimgehen. Wie einer auch red’t, so oder so ... es hat kein Wörtl einen Sinn. Die nimmer reden können, die wissen das Best’. Das ist mir eingefallen unter dem Apfelbaum.“ Mit tastendem Stabe schritt der Greis dem Hagthor zu.
Da erschien ein junger Bauer im Thor, erregt, das Gesicht vom raschen Lauf gerötet. Es war der Schapbacher, dessen Hube zwischen der Schönau und Ramsau tief im Walde lag, Der alte Gobl blickte auf die Seite, als der Bauer an ihm vorüberlief.
„Schapbacher! Was bringst?“ fragte der Richter.
„Ich such’ einen guten Rat. Meine Albendirn’ ist heimgekommen von der Oedhütt’, ganz verweint ... der Geißbub’ geht ab seit gestern Mittag.“
„Der Huze?“
Unter dem Thor blieb der alte Gobl stehen; er wandte nicht das Gesicht, doch er lauschte.
„Ein paar Geißen müssen sich verstiegen haben,“ sagte der Schapbacher. „Die ist er suchen gegangen und ist nimmer heimgekommen. Aber die Dirn’ hat nicht den Mut gehabt, daß sie ihm nachsteigt.“
„Warum nicht?“
„Der Bub’ ist eingestiegen unter die Eismann-Wand.“
„In Wazemanns Bannberg!“ fiel der Schönauer erschrocken ein. Der alte Gobl wollte den Hof verlassen, aber der Schönauer ging ihm nach und faßte den Greis am Arm. „Hörst nicht, Gobl, hörst denn nicht? Es geht um der Heilka ihren Buben her!“
In dem starren Gesicht des Alten rührte sich kein Zug; aber seine Stimme klang heiser. „Was geht mich der Bub’ an! Weswegen red’st denn mit mir von ihm ... geh’ hinauf in Wazemanns Haus! Red’ mit dem Henning!“ Er riß sich los und verließ den Hag.
„Gobl! Gobl!“ mahnte der Schönauer. Doch der Alte hörte nicht mehr; und der junge Schapbacher sagte. „Laß ihn, [104] Richtmann! Da ist jedes Wort umsonst gered’t. Sag’ lieber: was kann denn geschehen für den Buben? Man muß ihn doch suchen! Aber auf dem Bannberg umsteigen, das ist eine schieche Sach’. Meinst nicht, ich soll hinauf in Wazemanns Haus und Anfrag’ halten?“
Der Schönauer schüttelte den Kopf. „Das wird nichts helfen. Geh’ heim und richt’ ein paar Kienlichter her! Und auf den Abend halt’ Dich fertig, wir suchen die Nacht durch. Bei der Windach wart’ auf mich, wenn die Sonn’ weg ist!“
„Soll die Dirn’ auch mit?“
„Die laß daheim, die kann das Maul nicht halten.“
„Geht Dein Bub’ mit?“
„Mein Bub’? Das könnt’ mir einfallen! Nein, Schapbacher, mein Liebli soll mir bei so ’was aus dem Spiel bleiben. Ich nehm’ den Knecht, und der Köppelecker geht wohl auch mit. Unser vier, das reicht schon. So geh’ halt heim derweil! Und Zeit lassen!“
„Zeit lassen!“ Der Schapbacher verließ den Hof. Draußen vor dem Hag blieb er stehen, blickte über das Feld hinaus, und hastig sich duckend, als sollten die hohen Aehren ihn verbergen, schlich er davon. „Was hat er denn?“ murmelte der Schönauer und trat unter das Hagthor. Quer durch die Felder sah er einen Reiter dahersprengen. Es war Herr Waze. Der Schönauer erbleichte; dieser Besuch galt seinem Hof ... und der Richter wußte aus Erfahrung, was solche Besuche brachten.
„Vater, was ist denn?“ fragte Ruedlieb, als der Schönauer zur Hausbank gesprungen kam.
„Schnell, Bub’, schnell, nimm die Krax’ und hinein mit ihr ins Haus!“
„Warum denn? Was ist denn auf einmal los?“
Der Schönauer konnte nicht mehr Antwort geben. Herr Waze kam schon in den Hof geritten. Die beiden Hunde sprangen auf und stürzten dem Reiter mit heiserem Gekläff entgegen. Das Pferd scheute, doch mit einem kräftigen Ruck des Zügels bändigte Herr Waze das Tier. „Die Hund’ weg!“ rief er. „Oder ich schick’ ihnen einen Fraß, den sie schlecht verdauen!“
Mit einem finsteren Blick auf den Reiter kam Ruedlieb herbei, faßte die Hunde am zottigen Fell, schob sie in das Haus und schloß die Thür.
„Nichts für ungut, Herr.“ sagte der Bauer, „sie hüten halt das Haus.“
„Vor mir?“ lachte Herr Waze. „Das wirst ihnen abgewöhnen. Sie sollen wissen, wer der Herr ist, und sollen wedeln, wenn ich wieder komm’.“ Er stieg vom Pferd und winkte dem Buben. „Her, Du, und halt’ mir das Roß!“ Ruedlieb zögerte; aber ein Blick seines Vaters hieß ihn der Weisung folgen. Herr Waze schüttelte die Beine, als wären sie ihm eingeschlafen beim Ritt, und zog das Wams herunter. „Ich hab’ mit Dir zu reden, Schönauer.“
„Wollen wir hinein, in die Stub’, Herr?“
„Nein. ich kann den Schmalzgeruch nicht leiden.“ Er deutete auf die alten Eichen, die in einer Ecke des Gartens standen. „Wir wollen uns dort in den Schatten setzen.“ Herr Waze durchschritt den Hof, da sah er auf der Hausbank die Kraxe stehen; er kniff die Augen ein und zog die Finger durch den Bart. „Du, Bauer! Wohin soll denn die Krax’?“
„Der Bub’ hätt’ auftragen sollen.“
„Auf die Alben?“
„Wohl wohl!“
Herr Waze schaute den Schönauer an, dann wieder die Kraxe. „Met und Honig, Fleisch und Wecken ... das stimmt. Seit wann aber tragen die Bauern den Käs’ auf die Alben hinauf statt herunter?“
Der Schönauer blickte an Herrn Waze vorbei, als er sagte: „Ein paar schlechte Laib’, Herr. Ich schick’ sie wieder hinauf ... für die Albleut’ sind sie noch gut genug. Aber zu Zinsen brauch’ ich bessere.“
„Hast recht, Bauer!“ lächelte Herr Waze. „Mach’s nur am Käs’ wieder gut, was Du am Met verfehlt hast.“
„Ich, Herr? Am Met?“ stotterte der Schönauer.
„Ja. Schlechten Met hast mir gesteuert an Sonnwend’.“
„Nein, Herr, ich hab’ den besten gegeben.“
„Schon gut!“ Herr Waze wandte sich ab und ging mit raschen Schritten auf Ruedlieb zu, der das ungeduldige Pferd im Hof hin und her führte. „Sag’ mir, Bub, für wen gehört die Krax’?“
„Für die Gottesleut’, die gestern gekommen sind,“ gab Ruedlieb zur Antwort; dann sah er erst, daß ihm der Vater hinter Wazes Rücken stumme Zeichen machte und hinauf deutete gegen die Alben.
„So? Für die Gottesleut’?“ Herr Waze lachte und wandte sich zum Schönauer. „Also, Richtmann, komm’, jetzt wollen wir reden miteinander!“ Herr Waze ging auf die Eichen zu und setzte sich auf die Steinbank. „Wie ich gemerkt hab’, weißt Du schon, daß sie gekommen sind.“ Dem Schönauer versagte die Stimme; er nickte nur. „Und wie mir scheint, meinst Du, sie wären die Herren im Land, denen man zinsen und steuern muß?“ Herrn Wazes Augen funkelten bei dieser Frage. Der Bauer starrte ihn an und rührte wortlos die Lippen. „Red’!“ Das Wort klang wie ein Hammerschlag auf Stein. „Red’! Sind sie die Herren?“
„Ich weiß nicht, Herr Waze.“
„So? Dann sag’ ich Dir, es kann schon sein, daß sie die Herren sind. Es könnt’ sogar sein, daß sie es beweisen können mit Pergamenten. Und wenn sie die Herren sind, so muß ihnen der Freibauer zinsen und steuern, und jeder Hörige muß fronen beim Klausenbau. Gelt?“
„Wohl wohl, Herr Waze!“ stammelte der Schönauer, seinen Gast mit scheuen Augen streifend.
„Gut! So wirst Du auch wissen, was geschehen muß. Und vergiß nur nicht, daß ich selber das gesagt hab’!“ Herr Waze schob die Hände hinter das Schwertgehäng, streckte die Beine und lachte. „Aber die Gottesmänner haben ja gute Herzen. Wenn ich ihnen sag’, die Hörigen haben harte Zeit und viel zu schaffen ... ich mein’, da drücken sie ein Aug’ zu und lassen es gut sein mit der Fron’. Meinst nicht auch?“
„Wohl wohl, Herr Waze.“
„Da müßt’ sich aber von den Hörigen keiner anbieten zur Fron’, eh’ ihn die Klosterleut’ nicht rufen?“
Der Schönauer blickte auf und fragte zögernd: „Soll ich das den Leuten bekannt geben?“
Herr Waze zog verwundert die Brauen in die Höhe. „Bin ich der Richtmann oder Du? Was weiß denn ich, was Du als Richtmann zu thun hast!“ Der Bauer atmete tief und strich sich mit zitternder Hand das Haar in die Stirn. Herr Waze sah ihn mit seinen kleinen Augen an und lächelte. Ein raschelnder Windhauch strich durch die sonnigen Eichenwipfel, und flatternd fiel ein welkendes Blatt zur Erde. „Und was meinst, Richtmann ... wie sollen es denn die Freibauern halten mit dem Zinsen und Steuern?“
Der Schönauer besann sich; dann sagte er langsam: „Ich mein’ halt, so, wie’s allweil gewesen ist. Wir tragen Zins und Steuer dem Spisar hin; und der seid Ihr, Herr Waze!“
„Und der bleib’ ich auch! An Sonnwend’ ist Zahltag gewesen für die erste Halbscheid der Steuer ... die ander’ Hälft’ ist fällig auf Neujahr. Sechs Mond’ lang braucht kein Freibauer ein Brösel Steuer geben – das ist Gesetz und Recht. Und die Klosterleut’ haben gute Herzen ... die verlangen nicht mehr, als was Recht und Brauch ist. Oder meinst nicht auch?“
„Wohl wohl, Herr Waze! Zwischen heut’ und Neujahr soll kein Bauer zinsen, kein Brösel Käs’, kein Körndl Traid und keinen Tropfen Met.“
Herr Waze schüttelte bedenklich den Kopf. „Bauer! Bauer! Du hast aber ein hartes Herz!“
„Wieso, Herr?“ fragte der Schönauer mit einer Stimme, als läge eine würgende Hand an seiner Kehle.
„Denk’ nur,“ lächelte Herr Waze, „was für gute Männer die Gottesleut’ sind! Die werden umgehen im Thal, von Hag zu Hag, und werden die traurigen Leut’ trösten, werden die Kinder hätscheln und werden Tag und Nacht sitzen bei den Siechen. Für solche Liebthat müßt’ man wohl auch ein Uebriges thun, mein’ ich, und müßt’ ihnen diemal, neben Zins und Steuer, eine Krax’ voll Zeug schicken – so eine, wie da drüben steht! Das wär’ nur in der Ordnung! Meinst nicht auch?“
„Wohl wohl, Herr Waze!“
„Freilich, freilich! Das kann ich nur gutheißen! Liebthat muß wieder vergolten werden mit Liebthat!“ Herr Waze kreuzte die Arme über der Brust und lachte. „Aber da fällt mir grad’ ein ... denk’ nur, Richtmann, was der Mensch diemal für Zeug träumen kann! Gestern nach Mittag hab’ ich mich
[105][106] schlafen gelegt, und da ist mir im Traum gewesen, als hätt’ ich den Köppelecker gesehen, wie er ein Körbl voll Zeug davontragt und hinausgeht nach dem Lokistein ... und wie ich so steh’ und schau’ ihm nach, da schlagt auf einmal das Feuer aus seinem Haus. Und das ganze Wesen hab’ ich niederbrennen sehen bis auf den Grund. Mir ist leid gewesen um den armen Teufel – alles im Traum, Richtmann – und denk’ Dir, derweil das Haus noch brennt, geht der Kaganhart an mir vorbei, mit einem Pack auf dem Buckel. ‚Wohin?‘ frag’ ich. ‚Hinaus,‘ sagt er, ‚zum Lok’stein!‘ Und ich sag’ zu ihm. ‚Recht so, geh’ nur zu!‘ Ich seh’ noch, wie er hinübergeht über den Achensteg ... und da dreht sich auf einmal der Baum überm Wasser und der Kaganhart ist weg. Ich hab’ um Hilf’ geschrien, aber kein Mensch hat mich hören wollen. Ich schrei’ allweil und schrei’, und auf einmal kommst Du daher!“
„Ich, Herr?“ stammelte der Bauer mit bleichen Lippen.
„Alles im Traum, Richtmann, natürlich nur im Traum!“ lachte Herr Waze und streckte sich behaglich, als hätt’ er seine rechte Freude an dem sonderbaren Traum. „Und schau’, die Krax’ dort, dieselbig’, die auf der Hausbank steht ... ja, Richtmann, die hast Du auf dem Buckel getragen. Ich hab’ natürlich gleich gemerkt, wo Du hin willst mit Deiner Krax’, hab’ Dich auf die Schulter geklopft und hab’ Dein gutes Herz gelobt. So sind wir auseinandergegangen ... alles noch im Traum, Richtmann ... und wie ich heimzieh’ durch den Untersteiner Wald, lauf’ ich an eine Bärengrub’ hin. Und was meinst, was ich drin gesehen hab’?“ Der Schönauer schüttelte nur den Kopf; er brachte kein Wort mehr über die Lippen. „Ein Bär ist drin gestanden in der Grub’, die helle Roten ist ihm vom Maul und über die Tatzen geronnen, und unter ihm, denk’, Bauer, unter ihm ist Dein Bub’ gelegen, der Ruedlieb. Mich hat das Grausen gepackt – der arme, schmucke Bub’! – und im Erbarmen um ihn hab’ ich an mich selber nimmer gedacht, bin hineingesprungen in die Grub’ und hab’ zugestoßen mit dem Fänger. Der Bär ist gelegen, aber Deinem Buben hat ’s nimmer geholfen. Bei dem war’s aus! Ich hab’ Dir noch zuschreien wollen: Du sollst umkehren ... aber da bin ich aufgewacht. Was sagst, Richtmann? Solche Sachen soll ein Mensch träumen können! Da muß man doch lachen gelt?“ Herr Waze klatschte auf dem Schwertknauf die Hände übereinander und schaute lachend den Bauer an.
Der Schönauer hatte keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht; schlaff hingen ihm die Arme nieder, und seine Lippen klafften.
„Was hast denn, Bauer? Du wirst doch nicht erschrocken sein über meinen Traum?“ fragte Herr Waze und erhob sich. Freundlich klopfte er dem Schönauer auf die Schulter. „Schau, es ist ja doch nur ein Traum gewesen, Dein Bub’ lebt ja und ist heil und frisch! Freilich“ – Herr Waze zögerte mit dem Wort und hob die Schultern – „das haben meine Träum’ so an sich, sie pflegen einzutreffen. Aber mach’ Dir keine Sorg’! Mein gestriger Traum, der kann ja nicht eintreffen, da müßtest Du zuerst die Krax’ hinaustragen zum Lokistein ... und die Krax’ dort, das hast Du ja selber gesagt, die geht doch zur Alben hinauf. Und ein Richtmann wird doch nicht lügen, gelt?“ Herr Waze nickte dem Bauer zu und ging, um sein Roß zu besteigen. Als er im Sattel saß, blickte er auf Ruedlieb nieder. „Ein schmucker Bub’, Richtmann!“ rief er über die Schulter dem Bauer zu, der noch immer drüben bei den Eichen stand. „Ein schmucker Bub’! Ich wünsch’ ihm, daß er alt wird!“ Und lachend ritt Herr Waze zum Thor hinaus.
[107] Text: ( gemeinfrei ab 2025)
[109] Erster Textabschnitt: ( gemeinfrei ab 2025)
Zwei thüringer Volkslieder.
Wie die weißen flatternden Fäden im Spätsommer – „Mariengarn“ nennt sie der Volksmund – so schwirren auch die Töne zu allen Zeiten und Stunden in der Luft umher, drängen sich an Ohr und Herz, wollen festgehalten sein und flüstern geheimnisvoll: „Wir haben dir etwas zu erzählen, wenn du zuzuhören verstehst!“ Solch Zuhören aber erscheint mir allezeit leicht und lohnend, denn im Nu reiht sich da Melodie an Melodie, es erhebt sich vor uns ein musikalischer Bau, ein Luftschloß, an dessen Fenstern die verschiedenartigsten Gestalten erscheinen, aus allen Zeiten, und jede von ihnen hat ihre Geschichte, und eine hängt eng mit der andern zusammen. Diesmal waren es lauter thüringer Kinder, alte und junge, die sich von dem mich umspinnenden Tongewebe abhoben, musikalische Charakterköpfe, von denen mir zufällig ein schönes Cello erzählte.
In einem Privatsalon Wiesbadens hatte ich eines Abends ein Kind Thüringens spielen hören, den Kammervirtuosen Oskar Brückner aus Erfurt. Wir saßen nachher noch beisammen in traulicher Unterhaltung und Brückner erzählte von seiner Lehrzeit bei Altmeister Grützmacher in Dresden, von der Art der Unterweisung und Auffassung Grützmachers und gab dazu die interessantesten Beispiele auf seinem schönen Instrument. Es war gleichsam ein Duo: schwieg Oskar Brückner, der Erzähler, nahm das Cello des Künstlers das Wort, und wie melodisch und beredt erschienen dann die Töne! Wir konnten kein Ende finden mit Zuhören. Endlich aber, als das Instrument zu Bett gebracht werden mußte – es war längst nach Mitternacht – und wir an den Aufbruch dachten, neigte Brückner sich noch einmal über sein Cello, und es glitt wie ein Hauch, wie ein Traum von seinen Saiten. Eigentlich war es nur der Schatten einer Melodie, und doch erkannte ich sie sofort: ein Schülerchor hatte sie einst, vor langer, langer Zeit, in Leipzig irgend einem scheidenden Lehrer gesungen. Ich erinnerte mich, daß jenes Lied die Ueberschrift trug „Der Wanderer“. Und wie man Worte rascher vergißt als Töne und Klänge, so ist mir vom Text kaum mehr als der Anfang und der Refrain geblieben. Er lautete:
„Wenn ich den Wandrer frage:
Wo willst Du hin? –
Nach Hause, nach Hause!“
Und das klagende Schlußwort hatte sich mir damals ins junge Herz geprägt:
„Hab’ keine Heimat mehr!“ – –
Aber auch noch andere waren da an jenem Abend, die sich aus der Jugendzeit eben dieses Liedes noch lebhaft erinnerten, das sie selber einst mitgesungen hatten; und so stürmten, als das Cello schwieg, Fragen über Fragen auf den Spieler ein, wie er denn eben jetzt zu jener längst verklungenen Melodie gekommen sei. Der Künstler aber entgegnete lachend: „Nun, weil wir alle jetzt endlich selber ,nach Hause’ wandern müssen, denke ich, und weil kein Geringerer als unser Silcher diese Melodie für Männerchor ausarbeitete, nachdem er hin und her, öffentlich und privatim, nach dem eigentlichen Komponisten geforscht. Der wirkliche Komponist dieser allbekannten Weise aber ist mein alter Vater in Quedlinburg!“
Und da reihen sich denn verschiedene Bilder aneinander, die an jenem Wandererliede hängen, das einst kein Männergesangverein in seinem Repertoire fehlen lassen durfte – ich versuchte, [110] sie festzuhalten. Das ursprüngliche Volkslied komponierte der Musikmeister Friedrich Brückner für eine Singstimme in Des-dur, und es erschien 1837 mit Klavierbegleitung bei Meyerheimer in Erfurt.
Ein allbekanntes Freundespaar lebte damals in dem alten Erfurt: der gelehrte Kantor Johann Ludwig Böhner und der wackere Musikmeister Friedrich Brückner. Der erstere war ein einsamer, alternder Junggeselle, der andere dirigierte dagegen mit seinem Taktstabe, mit dem er seinen Musikchor zusammenhielt, auch sein Nest voll Kinder. Die Jungen waren alle merkwürdig musikalisch und strichen und geigten auf kleinen Instrumenten schon als Kinder drauf los in allen möglichen Winkeln des kleinen Hauses, vom Boden bis zum Keller. Jedes von ihnen hatte da seinen besonderen Lieblingsplatz, den es bis aufs Blut verteidigt haben würde, wenn das nötig gewesen wäre. Die Mutter ertrug diesen musikalischen Lärm, wie eben eine Mutter alles erträgt, wenn es sich um ihre Kinder handelt. Der Vater dagegen stand gar oft wie aus der Erde gewachsen vor dem einen oder andern seiner Sprößlinge und donnerte, den gefürchteten Taktstab schwingend: „Wirst Du wohl auf der Stelle rein spielen, nachlässiger Bube!“
Zuweilen aber erschien nun vor ihnen, statt des Vielbeschäftigten, ein älterer musikalischer Aufseher, ein milderer Mahner, ein gar seltsamer Kauz, den in Erfurt alle Kinder kannten unter dem Namen „der graue Kantor“. Vor ihm fürchtete sich keiner jener kleinen Eckenspieler, man nickte vielmehr dem Hausfreunde vertraulich zu, höchstens glitt die Begrüßung „Guten Tag, Onkel Böhner!“ von den kindlichen Lippen. Dieser Musikwächter schaute gewöhnlich aus großen melancholischen Augen, die hinter einer Hornbrille und buschigen Brauen hervorsahen, still vor sich hin und rauchte meist ein kurzes Pfeifchen, in seinen Gedanken anscheinend mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Kam aber ein kratzender, falscher Ton – hei! da zuckte es in dem schmalen Gesicht ganz gespenstisch hin und her, und die, Finger fuhren unruhig in das etwas wirr in die Höhe stehende Haar. Solche. Bewegungen wirkten aber auf die jugendlichen Musikbeflissenen kaum minder als der drohende Taktstab des Vaters. Recht blaß sah der „graue Kantor“ aus, nur die starke Nase zeigte eine bedenkliche Röte, um den Mund dagegen lag ein Zug unendlicher Güte, und nichts konnte bedeutender erscheinen als die mächtige Musikerstirn. Der schlichte schwarze Kantoranzug war fast immer verstaubt, und was von weißer Wäsche, wie üblich, sich zeigen mußte, hätte vor dem scharfen Blick einer guten Hausfrau nicht bestehen können. Und doch wohnte in eben dieser unscheinbaren Hülle ein ungewöhnlicher Geist, ein Musikgelehrter und Orgelspieler ersten Ranges, zu dem man von weit und breit pilgerte, um ihn einmal zu hören, und der auf seiner Orgelbank stets alles vergaß, was ihn drückte.
Es drückte ihn aber mancherlei, vor allem eine ewige, armselige Geldsorge, weil er zu allen Stunden bereit war, seine gezählten Groschen zu verschenken, und war etwa übrig blieb, nahm ihm die böse Leidenschaft für den Wein, die ihm und seinen Freunden so viel Not machte, aus der Tasche. Die Getreuen erschraken oft nicht wenig über den Zustand, in welchem Böhner sich bei ihnen blicken ließ.
Zahllose Geschichten raunte man sich in die Ohren von jenem seltsamen Musikgenie. Wenn jener schlimme Dämon ihn gemartert, dann pflegte er nämlich oft wochenlang fast unsichtbar zu werden; „ich brauche eine Milchkur,“ sagte er dann, wohl mit melancholischem Lächeln, „um mich von meinen Sünden rein zu waschen!“ Er vertiefte sich zu solchen Zeiten mit doppeltem Eifer in seine musikalischen Studien, und nie spielte er weihevoller, herrlicher als nach jenen bösen Stunden und Tagen, die zur tiefsten Betrübnis derer, die ihn liebten und verehrten, im Laufe der Jahre häufiger und immer häufiger über ihn kamen.
Früher war Böhner in der Residenzstadt Gotha der musikalische Lehrmeister der herzoglichen Kinder gewesen, allein diese vielbeneidete Stellung hatte er sich durch sein eigenartiges Wesen verscherzt, das eben in keine Hofluft paßte. Auch das verschmerzte er auf seiner Orgelbank. Nicht selten schloß er sich mit seinem getreuen Bälgetreter, der für seinen Herrn durch Wasser und Feuer gegangen wäre, wenn man es von ihm verlangt hätte, zur späten Nachtzeit in der Kirche ein, um so recht ungestörte Zwiesprach zu halten mit seinem angebeteten Johann Sebastian Bach. Da versammelten sich, sobald die Kirchenfenster sich erhellten, allerlei Kollegen, alte und junge, vor dem Gotteshause, einer rief den andern herbei. Sie gingen, standen und saßen umher, wie es eben kam, und holten sich Erquickung von diesen mächtigen Feierklängen. Wenn dann aber, stets viel zu früh für die Hörer, alle diese Fugen, Präludien und Phantasien verstummten, wenn ein Lichtfünkchen an den bunten Kirchenfenstern inwendig vorüberkroch, schwere schlurfende Schritte laut wurden und das Rasseln des Riesenschlüsselbundes deutlich zu vernehmen war, dann stoben alle mit Windeseile auseinander, denn der Spieler würde, man kannte zur Genüge diese seine Eigenart, heftig gescholten haben über seine ungebetenen Zuhörer. Selbst sein Freund, der Musikmeister Brückner; hätte sein Teil wie alle andern mitbekommen, denn der saß ja dann auch, nach des Tages Last und Mühe, auf irgend einer Hausbank oder einem Prellstein unter den Lauschenden und ließ sich erquicken. Ob er aber in solchen Stunden ahnte, wie oft, weit hinter ihm im tiefsten Schatten, die Köpfe seiner Jungen vor ihm zu verbergen sich mühten, Kindergesichter, die in doppelter Erregung erglühten, von dem Reiz der späten Stunde und dem Orgelspiel des Onkel Böhner?
Es wird versichert, daß Theodor Amadeus Hoffmann, der Kammergerichtsrat in Berlin und Verfasser der vielbewunderten „Phantasiestücke in Callots Manier“, jener seltsame Geisterseher, auf einem sommerlichen Streifzuge nach Thüringen in Erfurt den „grauen Kantor“ so spielen hörte und innige Freundschaft mit ihm schloß. Johann Ludwig Böhner soll das Urbild des Hoffmannschen Kapellmeisters Kreisler geworden sein. Ob er das jemals erfahren, steht nirgends geschrieben.
Viele Kompositionen von Bedeutung entstanden während der stillen Reueperioden in der Arbeitszelle mit dem großen Kachelofen, an dem schmalen, brustkranken Klavier, das wußten die Freunde. Auch ein tüchtiger Spaziergänger war Böbner, allein nur in der Frühlings- und Sommerszeit, so lange seine Lieblingsblumen, die Vergißmeinnicht, noch draußen zu finden waren, von denen er große Sträuße zu sammeln pflegte. Wer weiß, in welchem inneren Zusammenhange jene schlichte blaue Blüte mit der Geschichte dieses einsamen Musiketherzens stand! Eines Tages, nach einer besonders vertraulichen Plauderstunde, hat der „graue Kantor“ ein Notenblättchen herausgekramt aus dem Wust- seines Arbeitstisches und in die Hände seines Freundes Brückner geschoben – vergilbt war’s schon und kaum noch zu lesen. „Sieh, lieber Junge,“ sagte er fast schüchtern mit seiner immer verschleierten Stimme, „das ist und bleibt doch das Beste, das mir je in den Sinn gekommen ist. Du hast es freilich schon tausendmal von alt und jung singen hören, denn gar lang ist’s her, seit ich es aufgeschrieben, Du wußtest nur nicht, so wenig wie all die Sänger, wer es gemacht. Nun magst Du’s erfahren! Ich sage Dir, was nicht mit Lust und Schmerz aus unserem Herzen heraus geboren wird, das ist und bleibt Plunder, mögen es die Herren Kritiker noch so sehr loben! – Das hier, ist ein Vergißmeinnicht, das dereinst auf meinem Grabe noch frisch blühen wird. Denke daran!“
Und es war so: zu allen Tages- und Jahreszeiten hatte Friedrich Brückner dies kleine Lied von jungen und alten Stimmen singen hören und hatte selber mitgesungen; wer es aber erdacht, danach hatte er so wenig gefragt wie irgendein anderer. Der erste Vers – wer kennt nicht alle folgenden? – lautet:
„Ach, wie ist’s möglich dann,
Daß ich dich lassen kann!
Hab’ dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!“
Es war eben ein echtes und rechtes Volkslied, wer fragt da jemals danach, von wem es erdacht wurde und wer es zuerst sang?
Kurze Zeit nach jenem Geständnis des „grauen Kantors“ soll nun Friedrich Brückner den Freund auch mit einem Liede überrascht haben, das jenem die Thränen in die Augen trieb: es war eben jener „Wanderer“. Der wahre echte Volkston muß da auch voll und ganz angeschlagen worden sein, sonst hätte Silcher wahrlich nicht die Hände nach dem Liede ausgestreckt, um es für Männerchor zu setzen, in welcher Fassung es seit Jahren so mächtig wirkte.
Daß aber eben die beiden Lieder einst das Herz eines großen deutschen Musikmeisters tief erschüttern sollten, in einem Augenblick, als er ein verfolgter Flüchtling, hinauszog in die kalte Fremde, das hätte wohl keiner der Komponisten je geahnt! –-Wer aber dabei gewesen, der hat es gewiß bis an sein Lebensende nicht vergessen.
Es war an einem sonnigen Maimorgen des Jahres 1849, als der Musikmeister Brückner in die Arbeitszelle seines gelehrten Freundes stürzte.
„Hört uns niemand?“ fragte er halb atemlos.
„Wer sollte uns denn hören? Meine alte Sibylle ist drüben in der Küche.“
[111] „Nun denn! Er kommt schon heute abend aus Dresden hier an, und wir sollen ihn in derselben Nacht noch über die Grenze schaffen, sonst nimmt man ihn gefangen!“
„Aber wen denn? Ich verstehe Dich nicht!“ –
Und allerlei Notenblätter, hastig beiseite geschoben, flatterten umher, wohin sie eben Lust hatten.
„Daß Du das nicht errätst! Niemand anderes als den seltsamen wunderbaren Menschen und Musiker, den aufgehenden Stern: Richard Wagner! Hier, lies den Brief eines Freundes in Dresden! Wir müssen also ohne Aufsehen für sein Weiterkommen sorgen. Jeder brave Musiker muß sein Teil beitragen und ihn schützen helfen, das ist hier Ehrensache! Er hat dort mitgethan bei dem Aufstande, allerlei Reden an das Volk gehalten, lange Recitative, aber ohne Musikbegleitung!“
„Wir stehen für ihn wie ein Mann!“ sagte da der „graue Kantor“ strahlenden Blickes. „Er mag getrost kommen, die Heilige Cäcilia wird ihren getreuen Dienern helfen!“
Und er kam wirklich am Abend desselben Tages in Erfurt an, jener Flüchtling der damals nach Paris eilte. Eine bewegtere und doch zugleich friedlichere Versammlung konnte nicht gedacht werden als die, welche damals in der Wohnung des „grauen Kantors“ sich traf. Doch der Bewegteste von allen war der Gast selber, der kleine Mann mit dem blassen scharfgeschnittenen Gesicht. Was aber damals alle jene schlichten Kollegen in den Stunden des Beisammenseins dem Flüchtling anzuthun sich mühten, das sagen keine Worte. Wie einen geliebten scheidenden Sohn oder Bruder behandelte und beschenkte man ihn und die Taschen des unscheinbaren Fuhrwerks, das da im Freien draußen vor der Stadt hielt, bargen Proviant auf Wochen – in allen Gestalten.
Es war eine laue Mondscheinnacht, die heraufgezogen war. In einzelnen Gruppen wanderte man zur festgesetzten Stunde auf Umwegen hinaus, die letzten mit Richard Wagner selber. Da – in irgend einer Straße tauchten erleuchtete weit geöffnete Fenster auf, und in die Dunkelheit hinaus strömte, wie ein heller Strahl, der Gesang lieblicher Frauenstimmen – das thüringer Lieblingslied:
„Ach, wie wär’s möglich dann,
Daß ich dich lassen kann!
Hab’ dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!“
Der fremde Gast blieb plötzlich wie festgebannt stehen, zum heimlichen Entsetzen seiner getreuen Begleiter Böhner und Brückner, denen der Boden unter den Füßen brannte. „Ich kenne diese Melodie,“ sagte er leise, „dies Volkslied singt man überall. Laßt mich hier alle Verse hören! Das ist ein schönes Geleit, das man mir zum Scheiden giebt. Und wie rein das junge Volk singt! – Nein, ängstigt Euch nicht, Ihr bekommt mich nicht von der Stelle, bis der letzte Ton verklungen ist!“
Der ungenannte Komponist jenes Liedes vom „blauen Blümelein“ wie auch der Musikmeister Brückner meinten in jenen Augenblicken, der letzte Vers wolle niemals kommen. Ueberall sahen sie verdächtige Gestalten auftauchen, näher schleichen und gespenstische Fangarme ausstrecken nach ihrem Schützling. Nun, zum Glück erklang endlich doch das letzte Wort, der letzte silberhelle Ton – der Flüchtling mußte jetzt wieder an etwas anderes denken! Aber nur zögernd setzte er sich in Bewegung. „Ich wollte, ich hätte das Ding da selber gemacht!“ murmelte er im Weitergehen.
Ob der „graue Kantor“ nicht eben dieses Wort seines Kollegen später als die größte Genugthuung seines Musikerlebens empfunden haben mag? Vergessen hat er’s gewiß nie und nimmer. – –
Man war bei der kleinen geschlossenen Kalesche angekommen, wo die Vorausgegangenen schon ungeduldig warteten. Da setzte mit einem Male, Richard Wagner war eben eingestiegen - alle Vorsicht in der Erregung des letzten Händeschüttelns vergessend, irgend eine junge, weiche Stimme ein:
„Wenn ich den Wandrer frage:
Wo willst du hin ? –
Nach Hause, nach Hause!“
„Nach Hause, nach Hause!“
„Hab’ keine Heimat mehr!“
Eine halb erstickte Stimme aber rief „da capo!“
Dann zogen die Pferde an. Noch immer, nur ferner und immer leiser, zog jene Klage begleitend hinaus in die Mondnacht – aber ein einsam Gewordener drückte sein Gesicht in die Kissen des Wagens, der ihn unaufhaltsam davontrug, und weinte bitterlich:
„Hab’ keine Heimat mehr!“ – –
Johann Ludwig Böhner ist längst „nach Hause“ gegangen, sein jüngerer Freund aber, Friedrich Brückner, jetzt in Quedlinburg, durchblättert als dreiundachtzigjähriger Greis noch, in stiller Zurückgezogenheit, heiter, voll Beschaulichkeit das Buch seines Musikerlebens und verweilt besonders gern auf jenem Blatte, das die Ueberschrift trägt: „Erfurt“. Er freut sich seiner tüchtigen, in alle Welt verstreuten Söhne, die seinem erziehenden Taktstab alle Ehre machen, und eines singenden Töchterleins und vor allem des „Kammervirtuosen“, des Cellisten Oskar, dessen Cellosaiten meinen Traum von den beiden thüringischen Volksliedern hervorgerufen haben, einen Traum, der doch im Grunde eine wahre Geschichte ist!
(6. Fortsetzung.)
Zeno machte eine Pause in seiner Erzählung, dann fuhr er mit einem musternden Blick auf seine zuhörenden Kameraden fort: „Seit dem Vater unseres Montrose durch die allzu klugen Finanzkünste seines Herrn Papas die diplomatische Laufbahn abgeschnitten worden war, soll er völlig verändert gewesen sein – anfangs beinah tiefsinnig, so daß sie ihn in eine Nervenheilanstalt bringen mußten. Später verfiel er in eine Art stiller Verzweiflung, die ihn gleichgültig gegen alles machte. Der Vater wünschte, ihn zu verheiraten – der Sohn ließ sich verheiraten. Der Vater wünschte, der Sohn solle nach Südamerika gehen und dort ein Zweiggeschäft der väterlichen Bank begründen – der Sohn gehorchte. Seine Ehe soll die denkbar unglücklichste gewesen sein, und als seine Frau gestorben und der Herr Papa in Brüssel gleichfalls aus dem Leben geschieden war, da kam Herr von Montrose nach Deutschland zurück und brachte seine beiden Kinder mit. Den Sohn steckte er ins Kadettenhaus, die Tochter in ein Pensionat. Er selbst reiste, ruhelos, jahraus jahrein – man hat ihn in allen möglichen und unmöglichen Ländern getroffen, immer mit demselben stillen verschlossenen Gesicht. Ich hab’ ihn auch kennengelernt, wie man so sagt – wirklich kennenlernen wird den Mann sobald keiner; sogar die eigenen Kinder haben offenbar keine Ahnung, wie es in ihm aussieht. Er hat ganz sonderbare Augen; sie sehen über einen hinweg und doch in einen hinein … beschreiben läßt sich das nicht. Die Kinder
scheinen ihm nicht nachzuschlagen – sein Herr Sohn, unser Kamerad, stand in Berlin bei der Garde und hat dort ein so flottes Leben geführt, daß sein Vater ihn hierher nahm, um ihn etwas mehr im Auge zu behalten. Die Tochter, die einzige Tochter –“
„Schön? Hübsch?“ warf Oesterlitz gespannt ein.
Zeno verzog die Lippen. „Mein Geschmack ist sie nicht – aber ’s ist schließlich alles Ansichtssache!“
„Aber, Zeno, bitte! Darin sind wir denn doch einig! Clémence von Montrose und hübsch! Wird wohl kein einziger sein, der so ’was behaupten möchte!“
„Ja,“ fuhr Zeno fort, „und sie ist die Braut unseres Kameraden von Jagemann, des schönen Jagemann. Montrose, der Vater, will sich nun seßhaft machen, in hiesiger Gegend, er will die ‚Perle‘ kaufen.“
„Die ‚Perle‘? Was ist das?“
„Altes feudales Gut. Ein paar hundert Jahre in ein und derselben Familie – Geschenk des Landesherrn an den Stammvater. Jetziger Besitzer verschuldet über Kopf und Ohren, nicht mehr zu halten. Unheilbar kranke Frau, wunderschön6e Tochter.“
„Schön? Wahrhaftig? Auf Ihr Wort?“ Oesterlitz war ganz Ohr.
Zeno lachte. „Stimmen sammeln!“ sagte er kurz. Es war nicht nötig! Es erhob sich ein Lärm ohnegleichen, denn während Zenos Bericht war man um die Bowle herum nicht unthätig
[112][114] gewesen; die Gemüter waren erregt, die Köpfe glühten. Der Name der schönen Isolde von Doßberg, der Gedanke an ihre blühende Schönheit fiel wie der zündende Funke in ein Pulverfaß. Man hob die gefüllten Gläser und brachte ein Hoch auf sie aus, man versuchte, sie zu schildern, der eine pries ihre Augen, ihr Haar, der andere ihre Gestalt, ihre Haltung. Oesterlitz sollte hierhin, dorthin hören, jeder wollte ihm ein Bild entwerfen, jeder dachte, es am besten zu thun.
„Gut,“ sagte er endlich und strich sich den Bart mit der Miene eines Mannes, der klar sieht, „daß ich sie kennenlernen muß, steht felsenfest. Aber was mir die Herren da von ‚schwierigen Verhältnissen‘ sagen, das sehe ich nicht recht ein. Der Baron – wie heißt er doch? Doßberg? – also Doßberg kann sich von seinem Gut nicht trennen, die Familie will nicht fort – also einfach: Kamerad Montrose heiratet die schöne Tochter des verschuldeten Barons, und die Sache ist bestens geordnet!“ Ein schallendes Gelächter aus allen Kehlen folgte diesem „einfachen“ Vorschlag.
„Hört, hört – Montrose als Ehemann!“ – „Sehen möcht’ ich ihn!“ – „Na, lieber nicht!“ – „Lacht doch den Kameraden nicht aus, wie soll er’s denn wissen!“ – „Zeno, Schlußwort! Erklären!“
„Ja – also! Ihnen, Kamerad, scheint das eine so einfache Sache zu sein, aber die Geschichte hat ihren Haken. Sehen Sie, wir alle, die wir hier sind, hegen bedeutende Gefühle für die schöne Ilse von Doßberg – ‚teils dieserhalb, teils außerdem‘, und längst hätte einer von uns diesen süßen Käfer eingefangen, nur leider – ’s ist so gar kein Goldkäfer, und dann hängt so viel drum und dran: verschuldetes Gut, komischer Vater, schwerkranke Mutter, Bruder zu erziehen – kurz, um da hineinzuheiraten, dazu gehört neben sehr viel Mut auch kolossal viel Geld, und die Zeiten für den Lieutenant sind schlecht! Ach, der verfluchte Mammon, ’s ist doch gleich, um –“
„Zeno, nicht abspringen, bei der Stange bleiben!“
„Nun ist der Kamerad Montrose zwar einer von uns, und unter Kameraden ist ja bekanntlich alles egal – aber zur Steuer der Wahrheit: einen größeren Don Juan als den Kameraden Montrose haben meine Augen noch nicht gesehen ... wessen sonst?“
Es folgte eine Art von Stille auf diese Frage, nur ein unterdrücktes Gemurmel, ein paar halblaute Ausrufe antworteten.
„Jeder Schürze rennt er nach, jedem Mädel sieht er unter den Hut – Grundsätze nicht die Spur, Gewissen nicht vorhanden! Sie werden seinen Ruhm verkünden hören, Kamerad Oesterlitz, ehe Sie drei Tage älter sind. Die Spatzen pfeifen’s hier schon auf allen Dächern, daher sag’ ich es Ihnen lieber zum voraus, damit –“
„Damit Sie Stellung nehmen!“ schob Mock schmunzelnd ein.
„Ganz recht, Mock, dank’ schön: damit Sie Stellung nehmen. Daß Montrose sich, sobald er die Perle der ‚Perle‘ sieht, Hals über Kopf in sie verliebt, steht ja bombenfest, ebenso fest aber, daß diese interessante Thatsache sich mindestens zum fünfhundertneunundneunzigstenmal in seinem ereignisreichen Dasein vollzieht. Und so, selbst wenn das Unerhörte geschähe und er die schöne Ilse in eheliche Fesseln schlagen wollte – sich selbst schlägt er im ganzen Leben nicht in Fesseln, und um sie wär’s ein Jammer. Kerle von solchem Kaliber wie Montrose, die müssen das Heiraten bleiben lassen!“
„Ja,“ sagte Oesterlitz nachdenklich und nahm aufs neue seinen Bart zwischen die Finger, „dann weiß ich nicht, wie der jungen Schönheit zu helfen ist. Schade! Wo kann man sie sehen?“
„Das ist nicht leicht zu machen! Neulich war sie hier im Städtchen und besuchte ihren Onkel, ’nen alten verrückten Seemann, der draußen in der Schiffstraße sitzt! Na, Mock, Sie wohnen ja dem Gasthof gegenüber, in dem sie immer absteigt, thun Sie doch ein gutes Werk und nehmen Sie den Kameraden Oesterlitz einmal ins Schlepptau!“
„Werd’ nicht ermangeln! Sollen Nachricht haben, Herr Kamerad, sollen ’was zu schauen bekommen! O Gott, diese Ilse von Doßberg! Haben uns alle zusammen gehütet, sie bis jetzt dem Kameraden Montrose zu zeigen. – Giebt’s noch ’nen Rest in der Bowle?“
„Hier, Mock! Zwei, drei Gläser wird’s noch absetzen! Bescheidenheit ziert den deutschen Soldaten!“
„Wenn ich vorhin eine Bemerkung recht verstanden habe,“ sagte Oesterlitz, der hartnäckig denselben Gedanken verfolgte, „so sind die beiden Kameraden, von denen ich so viel habe erzählen hören, heute nach dem fraglichen Gut hinausgefahren. Da wird der Kamerad Montrose wohl doch die besagte Schönheit, die Sie ihm bisher so geflissentlich unterschlagen haben, zu sehen bekommen!“
„Natürlich wird er! Kann es nicht hindern!“ Mock trank seelenruhig sein Glas aus, dann stand er auf. „Jetzt, Ihr Herren, zum Abbruch der Zelte blasen! Sammeln! Die Tante dort giebt nichts mehr her!“, Man schnallte die Säbel fest, schloß die Uniformen und stülpte die Mützen auf. Mock hing sich etwas schwer in des großen stattlichen Oesterlitz’ Arm. „Schlepptau, Kamerad!“ lachte er, mit den weinseligen Aeuglein blinzelnd.
„Versteht sich!“ gab der neue Kamerad zurück und steuerte mit seinem Begleiter dem Ausgang zu.
Das Säbelklappern verlor sich mehr und mehr und verhallte endlich in der Ferne. Die Ordonnanzen räumten die Tische ab, tranken die Reste aus den Weingläsern und stellten die Stühle in Ordnung. Dann lag der Garten wieder still da im warmen Abendsonnenschein.
„Guten Tag, Philipp! Baroneß Ilse zu sprechen?“
„Jawohl, Herr Landrat. Ich sah das gnädige Fräulein soeben in den Garten gehen. Hier kommt auch schon Fink, er kann Sie hinführen.“
„Schön, Philipp. Kunze“ – das galt seinem Kutscher – „spannen Sie nicht aus, fahren Sie nur unter Dach und tränken Sie den Rappen nach einer Weile – ich bleibe heute nicht lange.“
„Sehr wohl, Herr Landrat!“
Fink näherte sich mit seiner gesetzten Bedientenmiene. „Der Herr Baron ist soeben ausgeritten, Herr Landrat!“
„Dacht’ ich mir, komme auch gar nicht zum Herrn Baron – können Sie mir sagen, Fink, welchen Weg Baroneß Ilse genommen hat?“
„Die Baroneß ging nach dem Dianatempel.“
„Gut – nein, nein, Sie brauchen mich nicht hinzuführen, ich finde mich schon zurecht.“
Als alter Freund des Hauses fand Landrat Melchior wirklich den Weg, der am Dianatempel mündete, einem hübschen altertümlichen Steinbau, vor dem die kurzgeschürzte Göttin samt ihrer Hirschkuh Wache hielt. Es war ein träumerisches reizvolles Fleckchen; blühende Akazien standen in Menge umher, die stille Luft war schwer vom Blütenduft, in Scharen schwärmten die Bienen um die reich herabhängenden Dolden. Die Sonne hatte schon allen Morgentau von Gras und Busch fortgetrunken – es wollte offenbar ein sehr heißer Tag werden.
Ilse saß mitten in dem kleinen Tempel auf einer rissigen grauen Steinbank und nähte an einem Kinderkleidchen. Die Baronin liebte es nicht, wenn ihre Tochter für die Dorfkinder arbeitete, aber Ilse hatte sich von Lina unterweisen lassen und that in aller Stille, soviel sie konnte, die Armut im Dorf zu mildern.
Der Landrat musterte das reizende Bild, das sich ihm bot, mit Wohlgefallen, mit rein künstlerischem Wohlgefallen und unverminderter Seelenruhe. Er war ein Mann in gesetzten Jahren, zufriedener Gatte und Familienvater, und selbst in seiner Jugend hatte er keine stürmische Leidenschaft gekannt. Daß er gern hübsche Mädchen und von allen Ilse von Doßberg am liebsten sah, verhehlte er weder sich noch andern – warum hätte er dies sollen?
„Morgen, Fräulein Ilse!“ rief er, nachdem er eine Weile den stillen Beobachter gespielt hatte.
Sie sah überrascht, aber nicht erschrocken auf und erhob sich rasch. „So früh, Herr Landrat? Guten Morgen! Hat Fink Ihnen nicht gesagt, daß Papa –“
„Doch, weiß alles. Ich komme zu Ihnen. Bleiben Sie da oben, ich setze mich neben Sie auf diese Bank von Stein! Ein behagliches Plätzchen! Wie stark die Akazien riechen und wie das Bienenvolk schwärmt!“
Sie hatten einander als alte Freunde, die sie waren, die Hand geschüttelt. Ilse ließ ihre Handarbeit in den Schoß sinken.
„Lieber Herr Landrat, es ist gewiß etwas Ernstes, was Sie in dieser Frühe zu mir führt.“
„Natürlich ist’s das, Kind! Die Zeiten sind ernst für Ihre Familie – da hilft nichts, das muß ausgehalten werden. Zunächst sagen Sie einmal: wie steht’s mit Papa, seitdem wir neulich zur Besichtigung da waren?“
[115] Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. Schlecht! Er brennt, wie Fink sagt, bis zwölf, ein Uhr nachts die Lampe auf seinem Zimmer und morgens ist er um vier Uhr außer Bett und sieht dann aus, als ob er überhaupt nicht geschlafen hätte. Dabei ißt er wenig und redet bei den Mahlzeiten kaum ein Wort. Den ganzen Tag reitet er auf dem Gut herum, von einem Ende zum andern, daß die Pferde es kaum aushalten, und als ich ihn bat, das zu unterlassen, da hat er mich groß angesehen. ‚Lassen? Wie ist das möglich? Ich muß doch Abschied nehmen, Abschied von der ‚Perle‘, die mir nicht länger gehören soll.‘ Und vorgestern, als es regnete. da hat er die ganze Zeit im Archiv gestöbert und all die alten Urkunden aufgerollt und gelesen – ich sah durchs Schlüsselloch. Des Nachts, sagt Fink, ist er ein paarmal aufgestanden, mit Licht in den Ahnensaal hinaufgegangen und stundenlang oben geblieben. Ach, Herr Landrat, wenn mein Vater die ‚Perle‘ hingeben, wenn er von ihr fort muß – das überlebt er nicht!“
„Na, na – hm!“ Der Landrat runzelte unmutig die Stirn und klopfte mit der Rechten begütigend auf Ilses Hand. Er war so gern lustig, alle Rührscenen waren ihm zuwider. „Fort von hier?“ wiederholte er nach einer kleinen Pause Ilses Worte. „Ich glaub’ auch, er hält das nicht aus. Eben darum müssen wir sorgen, daß er hier bleiben kann.“
„Aber wird – wird der neue Herr das wollen?“ warf Ilse furchtsam dazwischen. Melchior nickte nachdrücklich. „Gewiß wird er wollen, wenn ihn jemand vernünftig drum angeht. Der Jemand darf aber beileibe nicht Ihr Papa sein – der ist viel zu aufgeregt und reizbar, auch zu stolz, würde denken, seiner Würde allerlei zu vergeben. Es muß gesorgt werden, daß er mit der ganzen Sache nichts weiter zu thun bekommt, daß im Gegenteil Herr von Montrose ihn bittet, hier auf dem Gut zu bleiben. Und dazu müssen Sie helfen Fräulein Ilse – ich bin deswegen hier!“
„Ich? Aber wie soll – wie kann ich auf diesen fremden Herrn irgend einen Einfluß üben?“
„Ruhig Blut, Kind, lassen Sie ’mal Ihren alten Freund ausreden! Keinen Einfluß auf den fremden Herrn, sagen Sie? Na, wenn Sie nicht, wer sonst?“ Der Landrat schmunzelte und sah seiner jungen Nachbarin mit unverstellter Vewunderung ins Gesicht; Ilse schüttelte abwehrend den Kopf. Na, gut, ich sehe, Sie sind nicht in der Stimmung, angenehme Dinge von mir zu hören. Also zur Sache! Ich weiß, hab’ es aus ganz zuverlässiger Quelle erfahren, daß Montrose nicht selbst wirtschaften will, was ich nur billigen kann, denn er hat offenbar von der ganzen Geschichte keine blasse Ahnung. Er sucht einen zuverlässigen Administrator, der die hiesigen Bodenverhältnisse kennt, der die Sache mit Lust und Eifer, und selbstredend auch mit Erfolg, anpackt und die ‚Perle‘ wieder zu dem macht, was sie ursprünglich gewesen ist, zum Prachtstück der ganzen Umgegend. Daß Ihr Vater wirtschaften kannm wissen wir allem Montrose wird es auch wissenm und jederm der gerecht denktm kann es ihm bestätigen. Nur muß Ihr Vater eben in einen vollen Geldsack greifen können, dann bringt er die ‚Perle‘ in die Höhe, so wahr ich hier neben Ihnen sitze! ’s ist ja natürlich traurig, daß er das für einen Fremden, nicht für sich selbst und die Seinigen thun kann, aber Heimat bleibt Heimat. Bringen wir ihn fort von hier – ich glaube wahrhaftig, er erträgt es nicht. Sagt Montrose Ja – und warum sollte er es nicht? – dann bleiben Sie alle hier und sehen zu, wie es geht. Ihre Mama soll ja ohnehin nicht transportiert werden – die paar Hundert Schritt bis zum Verwalterhaus aber werden ihr nichts schaden. Schwindelt ihr irgend etwas vor, was ihr diese Uebersiedlung glaubhaft macht: Anbau oder Umbau im Schloß, Schwamm in den Wänden – was weiß ich! Nun also, Fräulein Ilse?“
Sie saß da, tief in Gedanken versunken, und sah von ihm weg in die blaue Luft hinein. Der Landrat, ein „positiver“ Mensch, wie er sich gern selbst zu nennen pflegte, ärgerte sich ein wenig über sie. Was hatte sie denn jetzt so träumerisch vor sich hin zu sinnen? War jetzt die Zeit, zu träumen? Aber er that ihr unrecht. Ilse wußte ganz genau, was der Landrat von ihr wollte, sie war sich der Tragweite der Sache sehr wohl bewußt. Daß sie thun mußte, was in ihren Kräften stand, dem Vater zu helfen, ihm das Peinliche seiner Lage zu erleichtern, das verstand sich von selbst. Aber wenn sie sich das Gesicht des Mannes vergegenwärtigte. das sie vor einigen Tagen plötzlich so nahe sich gegenüber gesehen hatte, dann kam ein Schrecken über sie, eine Scheu, die sie sich gar nicht zu erklären wußte. Deutlich hörte sie eine Stimme in ihrem Innern, die sie warnte: thu’s nicht, thu’s nicht! Das ließ sie so sinnend vor sich hinsehen – sie versuchte es, klar über sich selbst zu werden, und vermochte es doch nicht.
Als der Landrat neben ihr sich stark räusperte, wandte sie den Kopf und schaute ihm ins Gesicht. „Verzeihen Sie! Was müssen Sie von mir denken! Selbstverständlich geschieht, was Sie wünschen.“ Sie seufzte beklommen.
Melchior klopfte von neuem ermunternd auf ihre Hand. „Aber Fräulein Ilse, wer wird denn dazu einen so tiefen Seufzer herausholen? Was ist’s denn schließlich Großes? Der Mann kann doch nicht mehr wie Nein sagen – ich wette indessen, er sagt Ja, wenn Sie so vor ihn hintreten, ihn mit diesen Ihren Sonnenaugen anstrahlen und sagen: ‚Verehrter Herr, so und so liegt die Sache, und mein Papa ist ein tüchtiger Landwirt, fragen Sie die ganze Nachbarschaft!‘ ... na, straf’ mich Gott, da müßt’ es doch mit dem Bösen zugehen, wenn die Geschichte nicht glatt durchginge und der Vertrag aufgesetzt würde!“
Sie sah ihn dankbar an und lächelte ein wenig über seinen Eifer. „Kennen Sie Herrn – Herrn von Montrose näher?“ fragte sie leise.
Gott bewahr’ mich! Ich bin ein halb Dutzend Mal oder so mit ihm zusammen gewesen, geschäftlich, auch privatim, aber kennen? Keinen Schatten, der ist undurchdringlich! Nun, für Sie hat das weiter nichts auf sich, Fräulein Ilse – ein vornehmer Herr ist er bei alledem und Manieren hat er auch. Also hübsch alles eingefädelt, damit er dem Papa die Stelle auf ‚Perle‘ gleichsam auf dem Präsentierteller anbietet – in einer guten halben Stunde können Sie ihn hier haben!“
„Heute? Jetzt schon? So bald?“
„Je eher, desto besser! Lassen Sie den Papa, wo er ist – zum Abschluß kommt es heute ohnehin nicht. Wie ich mir hab’ sagen lassen, will Herr von Montrose heute das Gut seinem Sohn und seiner Tochter samt Bräutigam zeigen – hören Sie, Ilschen, der junge Montrose, das soll ein schlimmer Don Juan sein, der wird schön ins Zeug gehen, wenn er Sie zu sehen bekommt, aber ich hoffe, Sie bleiben feuerfest. So! Das überlegene Lächeln, das Sie jetzt eben hatten, das zeigen Sie dem Junker nur, das wird ihn abkühlen. Adieu, Ilschen!“
Ilse griff unwillkürlich nach seiner Hand. „Sie bleiben nicht hier? Ich soll allein –“
Er lachte gutmütig auf. „Ein schlechter Diplomat wär’ ich, wenn ich Ihnen helfen wollte! Davon, daß ich meine Hand im Spiel gehabt habe, soll ja der Herr gar nichts merken. Sie hätten gehört und so weiter und ergriffen nun die Gelegenheit ... aber was soll ich Ihnen denn Vorschriften machen? Sie sprechen ja wie ’n Buch, das weiß ich. Also Glück zu! Bekommt der Onkel Landrat keinen Kuß zum Dank?“
Ilse mußte lachen. „Sie haben eigentlich nichts von einem Onkel an sich!“
„Hab’ ich nicht? Aber, Ilschen, ich weiß genau, ich hab’ Sie einmal auf dem Arm gehabt, als Sie knapp sechs Jahre alt waren. So lange kennen wir uns schon. Und damals bekam ich meinen Kuß ohne jede Einwendung.“
„Wirklich? Nun also!“ Ilse hob ohne jede Ziererei ihr Gesicht zu ihm auf, und der Landrat küßte sie bedächtig und gemütlich auf den Mund.
„Sehr schön, Ilschen, sehr schön! Sie sollen bedankt sein!“ Er schüttelte ihr herzlich die Hand, und sie stiegen zusammen die Stufen des kleinen Tempels herab. Ilse begleitete den Landrat bis zum Schloßhof und gab Fink den Auftrag, sie von der Ankunft der zu erwartenden Gäste in Kenntnis zu setzen. Melchior, ein paar schöne Rosen in der Hand, die Ilse ihm noch in der Eile für seine Frau mitgegeben hatte, schwenkte fröhlich den Hut beim Abfahren, während Ilse mit gesenktem Kopf in den Garten zurückging.
„Kunze!“ sagte der Landrat zu seinem Kutscher, als der Wagen um die Parkecke bog. „jetzt fahren Sie den Landweg bei Neumühlen herum, ’s ist zwar ein nichtswürdiges Fahren dort, und mein armes Kreuz wird es spüren, aber ich hab’ meine Gründe dazu.“
Kunze brummmte in nicht sehr verbindlichem Ton etwas Unverständliches in den Bart, und lenkte rechts ein. Sein Herr lehnte sich beruhigt in die Wagenecke zurück – er wußte, daß er Herrn von Montrose auf diesem Wege nicht begegnen würde.
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Fürst Bismarck in Berlin.
In unser aller Gedächtnis leben noch die Ereignisse, die den Altreichskanzler Fürst Bismarck am Vorabend des kaiserlichen Geburtsfestes aus der Stille seines Sachsenwaldes nach Berlin geführt haben. Dort in der Reichshauptstadt ist ihm ein Empfang bereitet worden, wie er feuriger und großartiger kaum gedacht werden kann, wohl wert, auch im Bilde festgehalten zu werden.
Lange vor der für die Ankunft festgesetzten Zeit flutete eine festliche Menschenmenge durch die Straßen, durch welche der Fürst seinen Weg vom Lehrter Bahnhof zum königlichen Schlosse nehmen sollte. Flaggenschmuck überall, auch an den Staatsgebäuden, ein heller Sonnenschein gießt seine freundlichen Strahlen über das buntbewegte Bild. Auf dem Bahnhof trifft gegen die Mittagsstunde Prinz Heinrich in Marineuniform ein, den Gast in seines kaiserlichen Bruders Namen zu empfangen. Als der Zug in die Halle einfährt, tritt Prinz Heinrich mit einem kleinen Gefolge hinaus auf den Bahnsteig und eilt auf den bereits am Fenster stehenden Fürsten zu. Raschen Schrittes verläßt dieser, in Kürassieruniform mit den Abzeichen eines Generalobersts, seinen Wagen, umarmt in herzlicher Begrüßung den Prinzen und drückt ihm die Hände, worauf beide miteinander, Bismarck auf Prinz Heinrichs linken Arm gestützt, durch die lorbeer- und teppichgeschmückte Halle dem Ausgang zuschreiten, hinter ihnen die Herren des Gefolges, denen sich auch die Begleiter des Fürsten auf seiner Reise, der kaiserliche Adjutant Major v. Moltke, Graf Herbert Bismarck und Professor Schweninger, zugesellt haben.
Immer dichter haben sich unterdessen auf der Strecke vom Lehrter Bahnhof zum Brandenburger Thor und von da über die Straße „Unter den Linden“ bis zum königlichen Schlosse die Massen gestaut. Endlich, endlich ist auch für sie der Augenblick gekommen, da der sehnlichst erwartete Wagenzug mit seinen Gardekürassieren an der Spitze herannaht. „Er kommt! Er kommt!“ Mit fieberhafter Erregung erfüllt das Wort die Hunderttausende; an den Fenstern, auf den Balkonen, selbst auf den Dächern recken sich die Hälse, und die Kanonen an der Königswache werden von kühner Jugend mit stürmender Hand genommen. Freilich der kühle Januarwind hat dem Fürsten die Notwendigkeit auferlegt, im geschlossenen Wagen zu fahren, und so ist es nur wenigen möglich, den großen Mann auf eine kurze Spanne Zeit von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Aber trotzdem umgiebt ihn ein Blumenregen, ein Hurrarufen, ein Grüßen und Hüteschwenken, ein so namenlos stürmischer Jubel, daß tiefe Rührung den Gefeierten wie die Feiernden überwältigt.
Der Wagen hält vor dem königlichen Schlosse. Wie es sonst beim Besuche eines gekrönten Hauptes geschieht, steht dort eine Ehrenkompagnie. Bismarck schreitet mit dem Prinzen Heinrich die Front ab; dann tritt er hinein in das Schloß. Und nun steht Bismarck vor seinem Kaiser. In der herzlichen Begrüßung, mit welcher dieser seinen erlauchten Gast empfängt, finden die Ereignisse dieses historischen Tages ihre Spitze.
Es würde uns zu weit führen, wollten wir alle die Aufmerksamkeiten, Huldigungen und Ehrenerweisungen im einzelnen schildern, mit denen die Bevölkerung Berlins im Wetteifer mit dem Hof, den anwesenden deutschen Fürstlichkeiten und den obersten Beamten des Reichs den Altreichskanzler an diesem Nachmittage umgaben. Genug, des Jubelns und Grüßens war kein Ende vor den Fenstern von Bismarcks Wohnung, und es steigerte sich noch einmal zu gewaltigen Wogen an, als der Fürst am Abend, vom Kaiser selbst geleitet, nach dem Bahnhof zurückfuhr, um in seinen Sachsenwald heimzukehren.
Ob das Ereignis vom 26. Januar politische Folgen haben werde oder nicht, darüber zerbrechen sich die Politiker nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt die Köpfe, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Darin aber sind alle deutschen Patrioten, welcher Partei sie auch angehören mögen, einig, daß der 26. Januar, der Tag, an welchem das Eis zwischen unserm jungen Kaiser und seinem alten Reichskanzler, dem Begründer der deutschen Einheit, schmolz, für alle Zeiten zu den Freudentagen des deutschen Volkes gezählt werden wird.
Farbiges Fühlen. Es giebt Menschen, bei welchen durch Töne
Farbenempfindungen geweckt werden. Ein bestimmter Ton oder Laut ruft
bei ihnen die Empfindung einer bestimmten Farbe hervor; sie stellen sich
das a rot, das e gelb vor etc. Dieses farbige Hören ist schon seit geraumer
Zeit bekannt und bildete den Gegenstand weitgehender Untersuchungen.
Jüngst ist nun von ärztlicher Seite beobachtet worden, daß auch Tastempfindungen
zu Farbenvorstellungen Anlaß geben können. Hysterische Personen leiden zuweilen an Unempfindlichkeit der Haut. Als nun Dr. Dantec bei einer solchen Kranken die betreffenden Hautstellen auf
deren Empfindlichkeit prüfte, fand er, daß sie bei Stichen u. dgl. keinen
Schmerz fühlte, dafür aber Farben sah. Band man ihr die Augen zu
und stach sie, so behauptete sie, grüne Farbe zu sehen. Zwicken setzte
sich in blaue, Erhitzen oder Brennen in rote Farbe um. Das Wesen
dieser eigenartigen Erscheinung vermag man noch nicht zu deuten, aber
unser Wissen ist um die Kenntnis der Thatsache bereichert, daß es neben
dem farbigen Hören auch ein farbiges Fühlen giebt. *
Kunststücke auf dem Eise. (Zu dem Bilde S. 105.) Wenn ein scharfer Frost die weiten Wasserflächen in der Umgebung unserer Reichshauptstadt mit spiegelglatter Decke überzieht, dann blüht für die Berliner der Eislauf in allen Formen auf. Und wie der Sport sich jeder körperlichen Uebung bemächtigt, so macht er auch im Gebiete des Schlittschuhlaufens sich geltend; zahlreiche Eislaufvereine haben sich gebildet, welche großartige Wettläufe veranstalten wie die Rudervereine ihre Regatten. Neben den Deutschen sind die in Berlin ansässigen Holländer, Norweger und Engländer besonders eifrige und kunstfertige Teilnehmer an diesen Veranstaltungen. – Sehenswerter und unterhaltender als der gewöhnliche Schnelllauf ist der Kunstlauf auf dem Eise; was darin, besonders von den Norwegern, vollbracht wird, ist geradezu erstaunlich. Unser Zeichner hat auf seinem Bilde einige der hervorragendsten Leistungen zusammengestellt, die es begreiflich machen, daß Schaulustige sich in Massen um die Künstler sammeln. Da setzen diese in weitem flachen Schwung über zusammengeschaufelte Schneewälle weg, sie veranstalten Reiterkämpfe oder ein sogenanntes Bockspringen; da springt einer ohne Anlauf über Stühle, die dicht hintereinander aufgestellt sind, ja die größten Meister bringen es fertig, einem aufrecht stehenden Genossen frischweg über den Kopf zu setzen. Daß es dabei auf dem glatten Element auch einmal nicht „glatt“ abgeht, ist natürlich; doch was erträgt man nicht um des Vergnügens willen und um das prickelnde Gefühl, von einer ehrfürchtig staunenden Menge als ein Meister bewundert zu werden!
Bierleiter. Der übermäßige Trunk ist ein uraltes Nationallaster der Deutschen, dem besonders im 15. und 16. Jahrhundert aufs stärkste gefrönt wurde. Namentlich das Zutrinken war zu einer Landplage geworden, gegen welche die Obrigkeiten zwar einschritten, aber ohne daß sie eine wesentliche Besserung herbeizuführen vermocht hätten. Ja, manchen Ortes war das Zutrinken in ein förmliches System gebracht worden, wie eine kleine Leiter des 16.–17. Jahrhunderts bezeugt, die sich jetzt im Museum zu Breslau befindet. Der Vortrinkende einer Zechgesellschaft steckte sie in sein Trinkgefäß und trank so und so viel Sprossen seinen Kumpanen vor. Jeder derselben mußte ihm das gleiche Quantum nachkommen, und zur Feststellung, daß dies auch wirklich geschehen sei, wurde wieder die Bierleiter benutzt.
Londons Straßenverkehr. Wer London nicht gesehen hat, vermag sich nur schwer einen Begriff von dem Straßenverkehr der Millionenstadt zu machen. Der Mittelpunkt der Stadt, die sogenannte „City“, die vorwiegend Asphalt- und Holzpflaster hat, gehört – abgesehen von den kleineren Fuhrwerken – den Omnibus, die man oft gleich zu dreien neben- und hintereinander fahren sieht, soweit das Auge reicht. Die größte Londoner Omnibusgesellschaft, die „London General Omnibus Co.“ besitzt allein 1000 Fahrzeuge mit 10 000 Pferden. Man schätzt die Zahl der Omnibusreisenden auf 10 Millionen jährlich, wobei etwa 32 Millionen Kilometer durchfahren werden. Sämtliche Wagen haben Verdecksitze, auf denen auch Frauen Platz nehmen.
Nach den äußeren Stadtgegenden hin treten die Pferdebahnen in ihre Rechte, an deren Betrieb dreizehn Gesellschaften beteiligt sind. Die Länge ihres Schienennetzes beläuft sich auf 216 Kilometer, davon sind 56 Kilometer zweigeleisig. Sie befördern jährlich 190 Millionen Reisende und ihre Einnahmen dafür beziffern sich auf etwa 20 Millionen Mark. Die durchschnittliche Tagesleistung eines Pferdes beträgt 19 Kilometer bei 21/2- bis 3stündigem Dienst. Nach etwa 7 Jahren wird das Pferd dienstunfähig.
Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (6. Fortsetzung). S. 101. – Vom Einzug des Fürsten Bismarck in Berlin: „Er kommt!“ Bild. S. 101. – Kunststücke auf dem Eise. Bild. S. 105. – Luftballon und Flugmaschine. Bilder aus dem Reiche der Flugtechnik. Von W. Berdrow. S. 106. Mit Abbildungen S. 106, 107, 108 und 109. – Zwei thüringer Volkslieder. Von Elise Polko. S. 109. – Die Perle. Roman von Marie Bernhard (6. Fortsetzung). S. 111. – Vom Einzug des Fürsten Bismarck in Berlin: Der Empfang auf dem Lehrter Bahnhof. Bild. S. 112 und: Unter den Linden. Bild. S. 113. – Fürst Bismarck in Berlin. S. 116. (Zu den Bildern S. 101, 112 und 113.) – Blätter und Blüten: Farbiges Fühlen. S. 116. – Kunststücke auf dem Eise. S. 116 (Zu dem Bilde S. 105.) – Bierleiter. S. 116. – Londons Straßenverkehr. S. 116.