Die Gartenlaube (1894)/Heft 6
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Nr. 6. | 1894. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Sigenot überschritt auf dem Heimweg die Achenbrücke. Das Wasser rauschte und klatschte im wogenden Schilf, und der wirbelnde Sturmwind trieb den weißen Schaum über das Ufer. Kein Regen fiel, aber ohne Unterlaß rollte der Donner, und in schneller Folge zuckten die Blitze über das Gewölk. Thal und Berge leuchteten auf in grellem Glanz, um jählings wieder in tiefes Dunkel zu versinken. Zwischen den Bäumen, welche ächzten unter der Wucht des Sturmes, lag, wenn die blendende Blitzhelle erlosch, so schwarze Finsternis, daß Sigenot den Weg nur tastend fand. Als er das Hagthor seines Hauses erreichte, hörte er aus der Nähe des Stalles die kreischende Stimme der Magd. „Wicho! Heidoooh! Wicho!“ Und aus dem Inneren des Hauses klang Mutter Mahtilts schrilles Gelächter. Sigenot erschrak, denn er kannte die Sprache dieses Lachens, und eilte hastig über den Hügel empor. Matter Feuerschein leuchtete aus der offenen Hausthür. Der Fischer trat in eine weite Halle, welche Flur, Wohnstube und Küche in einem war. Die Balken der Decke waren berußt, und quer unter dem offenen Rauchfang hing die Bretterklappe, welche durch einen Kettenzug geschlossen werden konnte, um die Wärme im Raum zurückzuhalten oder dem Eindringen des Windes zu wehren. Eine Thüre führte in Sigenots Kammer, eine zweite in die Schlafstube seiner Mutter und Schwester. Zwischen den beiden Thüren war der niedere offene Herd an die Balkenwand angebaut; über ihm, auf schmalem schwarz berußten Gesims, standen die den Herd beschützenden Alraunen und geschnitzten Feuermännlein. Auf der Herdstatt flackerte, den dampfenden Dreifuß umzüngelnd, eine rauchlose Flamme. Ihr Schein beleuchtete Sigenots Mutter, welche neben dem Herd in dem mit einem Wolfsfell überhängten Lehnstuhl saß. Das Kleid aus gelblichem Hanftuch und die regungslose Ruhe der gelähmten Füße gab ihrem Körper den Anschein eines steinernen Bildes. Aber die Arme waren [86] dem Sohn entgegengestreckt, Angst und Jammer sprachen aus dem Gesicht, über dessen Wangen vier straff geflochtene graue Zöpfe niederhingen auf die Brust; die weit offenen Augen waren mit Thränen gefüllt und die schwere Zunge lallte. In der Unglücksnacht, in welcher das Wasser Sigenots Vater verschlungen, hatte Mutter Mahtilt die Sprache verloren; nur Lachen und Weinen waren ihr noch geblieben – das Weinen für die Freude, das Lachen für Wunsch und Angst.
„Mutter?“ stammelte Sigenot. „Was hast? Was ist denn geschehen?“ Das Weib lallte und lachte.
Er schien sie zu verstehen und blickte um sich. „Das Rötli? Wo ist das Rötli?“
Mutter Mahtilt deutete mit den Armen, während ein Windstoß unter dröhnendem Donner das Haus umfuhr. Da erblaßte Sigenot. „Draußen? Auf dem Wasser?“ schrie er und stürzte zur Thüre. Auf der Schwelle blieb er stehen, kehrte zurück, faßte die Hände der Mutter und sagte: „Mußt keine Angst haben, Mutterli, ich bring’ Dir das Kind!“ Mutter Mahtilt klammerte die Finger um seine Hände, blickte zu ihm auf und nickte; ihre Hände zitterten, und glänzende Zähren rollten über ihre Wangen.
Sigenot lächelte und ging zur Thüre. Kaum aber war er hinausgetreten ins Freie, in den tobenden Sturm, da überfiel ihn zitternde Unruhe; mit zuckenden Händen griff er nach einem Ruder. „Wicho! Wicho!“ schrie er. Aber es kam nur die Magd gerannt.
„Der muß im Heimgart’ sein, ich weiß nicht, wo!“ stotterte sie.
Sigenot schwang das Ruder über die Schulter und rannte über den Hügel hinunter, dem Hagthor zu; hinter ihm her die Magd. Als sie die Lände erreichten, über welche jede anrauschende Welle einen schäumenden Wasserguß herausspültc, zuckte ein greller Blitz. In der brennenden Helle sah Sigenot den Einbaum am Ufer liegen. „Ach Du meine Not,“ stammelte er, „sie hat nur den leichten Gransen!“ Er warf das Ruder in den Einbaum und stemmte, auf die Knie gebückt, von Wasserschaum umflattert, die Schulter gegen das schwere Boot. Die Magd wollte ihm helfen, aber sie kam zu spät; ehe sie noch die Hände ausstreckte, schwankte der Nachen schon auf den Wellen, und Sigenot stand darin und zerrte das Ruder durch den Weidenring. Mit wuchtigen Schlägen trieb er den Einbaum, dessen Schnabel auf die ansteigenden Wellen klatschte. Blitz um Blitz erhellte die Finsternis, Sigenot spähte hinaus über den Seeweiher, doch er sah nur das Gewirbel des weißen Wassers.
„Rötli! Rötli!“ schrie er mit hallender Stimme; aber sein Ruf erstickte im Brausen des Sturmes, und keine Antwort erklang; nur droben in Wazemanns Haus heulten und kläfften die Hunde.
„Rötli! Rötli!“ schrie Sigenot immer wieder und holte mit dem Ruder aus, daß die Stange knirschte. Jeder neue Wellenschlag erschütterte den Einbaum und machte ihn steigen und sinken; aber das Boot hielt feste Fahrt. Nun fuhr es knirschend durch Geröhr, rauschte vorüber an der Insel und vor Sigenot öffnete sich der Weitsee. Brausen, Rauschen, Donner und Echo füllte den nachtschwarzen gewaltigen Felsenkessel.
„Rötli! Rötli!“
Da klang von der Falkenwand herüber ein schluchzender Schrei.
„Ich komm’ schon, Rötli!“ jauchzte Sigenot und warf sich mit dem ganzen Körper auf die Ruderstange. Jeder Schlag trieb den Einbaum über sprühende Wellenkämme, und immer näher rückte die schwarze Wand. Ein Blitz fuhr nieder über die Berge, und in dem Feuerschein, der über das kochende Wasser floß, sah Sigenot den Gransen an der senkrecht aus dem Wasser steigenden Felswand hängen und anschlagen wider das Gestein aber zwei Gestalten trug der Nachen, und vier Arme hingen angeklammert an das dürftige Gestrüpp, das in den Runsen der Felswand wurzelte. Ein heißer Schreck durchzuckte Sigenots Herz und über seine Lippen rang sich ein stammelnder Laut. Da lag schon wieder die Finsternis um ihn her. Aber der Einbaum schoß der Felswand zu, die Ruderstangc ächzte und der Schaum der gebrochenen Wellen, vom Sturm getrieben, übersprühte Schiff und Schiffer. Wieder flammte ein Blitz – dicht neben dem weißumbrandeten Gransen glitt der Einbaum vorüber – Sigenot ließ das Ruder sinken, griff zu mit beiden Armen, faßte mit eisernem Griff die Tochter Wazes um die Hüften und schwang sie herüber in das Boot. Recka taumelte, ihre Arme klammerten sich um den Hals des Fischers und schwer hing sie an seiner Brust; Sigenot hielt das Mädchen umschlungen, er fühlte ihren bebenden Körper, den Schlag ihres Herzens, den heißen Hauch ihres Mundes – und plötzlich ging es ihm wie strömende Glut durch Leib und Herz, und ein jähes Zittern rann ihm durch die Arme. Da klang durch das Rauschen und Stürmen in schreiender Angst Edelrots Stimme: „Ich sink’! Ich sink’!“
Sigenot erwachte. „Rötli!“ rief er mit ersticktem Laut und seine Arme ließen von Recka, welche wankend niederstürzte auf den Boden des Einbaums. „Rötli! Ich komm’ schon!“
„Sigenot!“ Hart neben dem Einbaum klang der gellende Ruf, nicht mehr an der Felswand, sondern zu Sigenots Füßen, zwischen den Wellen.
Mit heiserem Schrei warf sich der Fischer auf die Knie und griff in der Finsternis mit beiden Händen hinaus über den Einbaum; seine Finger stießen noch an den Rand des sinkenden Gransens. Da kreischte Recka: „Hilf mir, ich hab’ sie gehascht!“
„Rötli! Rötli!“ Sigenots Hände tauchten in eine steigende Welle, er fühlte einen schlagenden Arm und griff ihn. Im Nu stand er aufrecht im Boot, hob die Schwester mit zitternden Armen empor und ließ sie niedergleiten in Reckas Schoß. Er sprach kein Wort, nur ein Stöhnen rang sich aus seiner schwer atmenden Brust.
Krachend stieß der Spiegel des Schiffes an die Felswand, und eine Welle überschlug den Einbaum. Sigenot wankte – aber seine Hände hatten schon das Ruder gefaßt; er stieß sich von der Felswand ab, und mit weit ausholenden Schlägen trieb er das auf- und niederschwankende Boot durch Sturm und Wellen. Floß die Feuerhelle eines Blitzes über das Wasser, so sah er vor sich im Einbaum Wazemanns Tochter sitzen, mit blassem steinernen Gesicht, das die vom Sturme gelösten Haare umringelten gleich roten Flammen; und vor ihr lag Edelrot auf dem Boden des Einbaums, Reckas Hüfte umklammernd, das Gesicht in ihren Schoß gedrückt, mit ersticktem Schluchzen, umschwankt von dem Wasser, das die Wellen in den Kahn geworfen.
Im Röhricht, welches die Insel umzog, stockte der Einbaum; aber ein Stoß der Ruderstange befreite ihn wieder – und nun wies in der Finsternis die rotleuchtende Thür des Fischerhauses den Weg zur Lände. Die Magd am Ufer, da sie den Nachen klatschen hörte, stieß einen hellen Schrei aus und rannte dem Hause zu.
Knirschend fuhr der Einbaum in den Sand. Sigenot sprang an das Ufer; stammelnd beugte er sich über Edelrot, umschlang sie mit beiden Armen und hob die Schwester, deren Gewand von Nässe troff, empor an seine Brust. Wazes Tochter erhob sich und sprang aus dem Kahn. Sie stand, preßte die Hände auf den Busen und starrte hinaus über den tobenden See. Grell leuchtete ein Blitz.
„Recka!“ stotterte Sigenot. „Hast Schmerzen – ist Dir ’was geschehen?“
„Mir? Nein!“ klang ihre harte Stimme. „Aber meine Stößer hab’ ich verloren. Um die ist mir leider, als mir um mich gewesen wär’.“ Sie kehrte sich ab, und unter rollendem Donner schritt sie den im Sturmwind rauschenden Bäumen zu.
„Recka!“ rief ihr der Fischer nach. „Willst nicht warten, bis ich mit einer Fackel komm’?“
„Ich find’ meinen Weg allein!“
Enger klammerten sich Sigenots Arme um die zitternde Schwester, und raschen Ganges trug er sie in das Haus. „Mutterli!“ schluchzte Edelrot, als der Bruder sie in der Halle niedergleiten ließ; sie sank vor der Mutter auf die Knie und schmiegte sich an ihre Brust, tief atmend, als fühlte sie sich jetzt erst sicher und gerettet. Mahtilt umschlang ihr Kind, drückte die Wange an Rötlis Köpfchen und weinte in heißer Freude …
Sigenot starrte stumm die beiden an; fahle Blässe lag auf seinem Gesicht, und seine Augen brannten. Da faßte die Mutter seine Hand, drückte sie und lächelte zu ihm auf; er aber zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf. „Ich hab’ Dir das Kind nur heimgetragen … geholfen hat ihm Wazemanns Tochter!“ Er griff nach einer langen Kienfackel, welche in einer Ecke lehnte, steckte sie am Herdfeuer in Brand und verließ die Stube. Eilenden Ganges gewann er die Achenbrücke. Er mußte die Fackel weit von sich halten, damit ihm der wirbelnde Sturm nicht die lodernde Pechflamme ins Gesicht trieb. Als er den finsteren Wald betrat, sah er beim Schein der Fackel die Tochter Wazes zwischen den [87] Bäumen schreiten – sie folgte dem Pfad, welcher hinüberführte zum Felsenstieg. Er holte sie ein, doch als er an ihrer Seite stand, blickte sie nicht einmal auf. „Recka,“ sagte er, „über die Wand hinauf, das ist kein Weg für solch eine Nacht!“
„Ich geh’, wo ich will.“
„Ein andermal – aber heut’ nicht!“ Mit diesen Worten faßte er ihre Hand.
Da hob sie das Gesicht, und es zuckte um ihre Lippen; sie machte einen Versuch, ihre Hand zu lösen, doch Sigenot hielt fest. Zwischen den Bäumen zog er sie mit sich fort, dem breiten Reitweg zu. Als sie hier eine Strecke gegangen waren und Sigenot fühlte, daß sich Recka nicht länger sträubte, gab er ihre Hand frei. Mit hoch erhobener Fackel schritt er an ihrer Seite. Sie sprachen kein Wort. Die rauchende Pechflamme wehte und loderte, und ihr greller wechselnder Schein zitterte über den Weg und gaukelte zwischen den finsteren Bäumen. Immer brausender wehte der Sturm, immer tiefer sank das treibende Gewölk, doch immer noch wollte der Regen nicht fallen, der die Wucht des Unwetters gebrochen hätte. Reckas Gewand flatterte, und die wehenden Haare züngelten ihr um Hals und Wangen. Häufig wankte sie im Gang, vom Sturm gestoßen und getrieben. Dann hob der Fischer die Hand, als wollte er sie stützen, doch Recka raffte ihr Gewand an sich und kämpfte sich weiter.
Auf der Höhe des Weges tauchte in der Blitzhelle schon die Mauer von Wazemanns Haus empor. Nun hörte Sigenot das Rasseln der fallenden Zugbrücke. Männer mit Fackeln kamen aus dem Thor. Reckas Brüder mit den Knechten; allen anderen voran eilte Henning den Weg einher.
„Ich komme!“ rief ihm Recka entgegen.
Geschrei und Gelächter war die Antwort; ein Deil der Männer kehrte in das Thor zurück, und Henning schrie: „Wo bleibst Du nur so lang’? Der Vater flucht schon eine ganze Weil’. Wo warst Du denn?“
„Auf dem Weitsee!“
„Jetzt? Im Sturm?“ Da erkannte Henning im Fackelträger seiner Schwester den Fischer. „Was will denn der bei Dir?“ Recka schwieg. „Hat der Dich am End’ herausgeholt?“
„Ja!“ sagte Recka und schritt an dem Bruder vorüber. Sigenot hatte schon den Rückweg angetreten; doch er hörte noch Hennings Lachen und seine höhnenden Worte. „Schäm’ Dich, Schwester! Bist Blut von Wazes Blut, und mußt Dir helfen lassen von einen solchen ...“
Sigenots Faust krampfte sich um den Schaft der Fackel. Dann schritt er heimwärts und ein bitteres Lächeln glitt über seine bleichen Lippen. Immer rascher wurde sein Gang. Aeste, die der Sturm von den Bäumen am Wegsaum brach, fielen ihm vor die Füße. Als er die Achenbrücke erreichte, war die Fackel niedergebrannt; er warf den erlöschenden Stumpf in das Gewirbel des Baches und schritt in der Finsternis weiter. Bald erreichte er seinen Hag und verschloß das Thor mit dem Balken.
Die Stube fand er leer. Mutter und Schwester lagen wohl schon im Schlummer. Nur ein Häuflein Kohlen glostete noch auf dem Herd, und auf dem Steintisch brannte die irdene Butterlampe mit züngelndem Flämmlein; neben die Lampe hatten sie ihm das Nachtmahl hingestellt. Sigenot sah es nicht ... er ließ sich auf den Herdrand niedersinken, atmete tief und blickte in den roten Schein der Kohlen.
Draußen tobte das Wetter, und durch die Spalten der geschlossenen Thüre, durch die Ritzen der Fensterläden leuchtete der weiße Feuerschein der Blitze.
Bruder Schweiker hatte die Stelle für die Nachtrast gut gewählt. In den Lüften heulte der Sturm, in der Höhe des Waldes brausten die Bäume, doch in die tiefgesenkte, von dichtem Gestrüpp umhegte Mulde drang der Wind nur mit gebrochener Macht, und selten geschah es, daß ein stärkerer Stoß aus den Lüften niederfuhr und an den beiden Zelten rüttelte. In dem einen teilte sich Schweiker mit Bruder Wampo in den schmalen Raum. Von der Gabelung der Zelthölzer hing ein schwankendes Lämplein nieder und warf seine trübe Helle über das auf einer Stangenbritsche gebettete Mooslager der beiden Brüder. Lang ausgestreckt, den Arm als Kissen unter dem Kopf, lag Schweiker in gesundem Schlaf; ihn weckte kein Donner, kein Brausen des Sturmes. Nur manchmal rührte er sich ein wenig, that einen schüchtern schnarchenden Atemzug und lag dann wieder in stillem Schlummer. Bruder Wampo aber konnte kein Auge schließen. Er saß auf dem Moosbett, die Knie an den Leib gezogen, die Arme um die Beine geschlungen, zuweilen that er wohl im beginnenden Halbschlaf einen kleinen Nicker mit dem Kopf, doch wenn der Donner krachte und rollte, riß er die Augen wieder sperrangelweit auf und brummte vor sich hin: „So ein Wetter! Nein, ist das ein Wetter!“ Da raschelte es am Zelttuch. Wampo hob den Kopf und lauschte: „Was ist denn?“ rief er.
Einer der Knechte trat in das Zelt, mit einem Span in der Hand, den er über das Lämplein hielt, um ihn anzubrennen. „Wir müssen Feuer machen,“ sagte er, „die Saumtier’ schlagen umeinander und schnaufen ... Raubzeug muß in der Näh’ sein. Aber wenn das Feuer brennt, wird wohl bald Ruh’ sein.“ Mit dem flackernden Spanlicht ging der Knecht davon.
„So, schön! So, schön!“ stotterte Wampo. „Da laufen ja die wilden Tier umeinander wie die Hasen im Krautacker! O Du mein lieber Herrgott, ist das eine Gegend!“
Vor dem anderen Zelte, aus dessen Innern der eintönige Laut einer psalmierenden Stimme klang, saß Eberwein auf einer Fichtenwurzel mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, die Hände im Schoß gefaltet, regungslos, fast wie in Schlummer versunken. Ueberfloß ihn die Helle eines Blitzes, so erleuchtete sie ein ruhig lächelndes Gesicht und stille Augen, welche traumverloren hinausblickten in all das Stürmen und Toben.
Die Bilder des vergangenen Tages waren an seinem Geist vorübergezogen, und schwere Sorge hatte ihn bedrückt. Was er an diesem Tag erleben mußte, mit Sigenot, mit Waldram und mit dem Haunsperger ... hatte nach der heißen Freude, die er auf der steilen Felsenzinne dort oben empfunden, nicht alles geendet mit Verstimmung und Mißklang? War nicht der erste Weg schon, den er mit den Brüdern gegangen, ein Weg in die Irre gewesen? Und wie sollte nun alles weiterkommen? Würde er, ein Fremdling in diesem unwirtbaren Bergthal, wohl auch das Flecklein Erde zu finden und zu wählen wissen, welches die junge Klause am besten trüge? Und wenn die Klause stünde ... würde in dem zähen und schweren Kampf, der unausbleiblich schien, die Kraft und der hoffende Mut ihn nie verlassen, bis die Sendung erfüllt wäre, die er auf sich genommen? Aber stand er denn allein und ohne Hilfe? War denn mit ihm und seiner heiligen Sache nicht Einer, der Menschen Mildester und Größter, er, dessen Vater mit einem Wimperzucken die Welten lenkt, mit einem Hauch den Sturm erregt und ihn wieder geschweigt mit einem Lächeln? „Ach über mich Furchtsamen und Kleinmütigen, der ich doch nur die Augen schließen darf und meines Führers harren!“ Mit diesen Worten war die Ruhe über ihn gekommen, und je länger er saß, hinausblickend in die sturmvolle Nacht, desto heller und stiller ward es ihm in Herz und Seele.
Und wieder dachte er an alles, was dieser Tag gebracht. Und alles gewann nun vor seinem Blick ein anderes Gesicht. War sein Weg denn wirklich in die Irre gegangen ... der Weg, der ihn und die Brüder hierhergeführt an diesen stillen, vor der Wut des Sturmes wohlgeschützten Ort? Und Friedrich von Haunsperg? Wie durfte er diesem Manne zürnen? Ein Kriegsmann, der die Worte nicht wog, der von derber Art war und aus hartem Holz geschnitten, ein treuer Diener, der immer nur seines Herren denkt und immer nur seines Herren Vorteil zu wahren sucht! Und Waldram? Floß denn seine zornige Strenge und seine düster flammende Art aus anderer Quelle als aus reinem Glauben an Gott, aus heißem Eifer für Gottes Sache? Und wie sollte sich, was aus Gutem kam, nicht wieder zum Guten wenden lassen?e Und Sigenot, der Fischer? War Eberwein ihm nicht entgegengetreten, unerwartet, ein Fremder dem Fremden? Wachsen Freundschaft und Vertrauen aus dem ersten Wort, aus dem ersten Blick? Eberwein lächelte. War denn nicht alles, was dieser Tag gebracht, natürlich und selbstverständlich? Wo lag denn ein Mißerfolg, der ihn verstimmen durfte, mit Sorgen bedrücken und kleinmütig machen?
In den Lüften heulte ein Windstoß, und im Innern des Gewölkes flammte ein Blitz; in einer Wolkenkluft, auf finsterem Grund, beleuchtete die rot aufzuckende Helle ein seltsam geformtes, vom Sturm gejagtes Nebelgebild ... „Wie ein Roß und eine Reiterin mit wehendem Rothaar!“ flüsterte Eberwein.
[88] Da lag schon wieder tiefes Dunkel um ihn her, und über die Wolken rollte der Donner hin. Eberwein erhob sich und streifte, tief atmend, mit der Hand über die Stirn. „Ich habe zu lange gewacht. Meine Augen sehen, was nicht ist.“
Er ging dem Zelte zu, aus welchem noch immer Waldrams betende Stimme klang. Da blendete ein grelles Licht seine Augen. Ueber den waldigen Hügel, welcher jenseit der Ache lag, fuhr ein Blitzstrahl nieder und stand in der Luft gleich einem brennenden Riesenbaum, der in den Wolken gipfelte und mit flammenden Aesten nach allen Seiten griff. Himmel und Erde, Berge, Thal und Wälder, alles schien in Feuer zu schwimmen – und ein Donner rasselte, als wäre der Gipfel eines Berges eingestürzt und schüttete seine springenden Trümmer über brechende Bäume.
Jetzt erwachte auch Schweiker in seinem Zelte. „Da hat’s eingeschlagen, nicht weit von uns!“ schrie er und kam hervorgestürzt. Bruder Wampo folgte ihm, stotternd und die Hände ringend. Alle beide rannten nach dem andern Zelt.
In der Finsternis, welche auf die blendende Helle folgte, trat ihnen Eberwein entgegen. „Was sucht Ihr?“
„Gott sei Dank! Weil ich nur Eure Stimm’ hör’!“ rief Schweiker. „Ich hab’ schon gemeint, es müßt’ ’was geschehen sein!“
Aus dem Wald klang das Schreien der Knechte; eines der Saumtiere war scheu geworden und hatte sich losgerissen. Schweiker wollte zum Lager der Knechte eilen, aber schon nach wenigen Schritten stand er wieder. „Schauet, Herr,“ rief er und deutete über die Ache hinüber nach der Höhe des finsteren Waldhügels, „der Blitz muß in einen dürren Baum geschlagen und gezündet haben!“
Nahe den beiden Felszacken, welche schwarz aufstiegen aus dem Wald, breitete sich eine rötliche Helle über die Wipfel, und es währte nicht lange, so stieg eine schlanke Feuergarbe in die Nacht empor, schwankend und lodernd im wehenden Sturm.
„Ein Zeichens des Himmels!“ stammelte Eberwein. „Gott rodet den Wald für sein heiliges Haus. Wo jene Flamme brennt, soll unsere Klause stehen.“
Da klang hinter ihm die Stimme Waldrams. „Ja, ein Zeichen des Himmels, das ich erflehte in brünstigem Gebet. Gott erhörte meine Bitte ... was stehet Ihr noch und staunet das Wunder an! Nieder auf die Knie und preiset den Herrn!“ Mit ausgebreiteten Armen sank er zu Boden und begann mit hallender Stimme den Ambrosischen Lobgesang. Die Brüder knieten nieder und fielen ein in den Gesang; nur Eberwein stand, die Hände auf der wogenden Brust, und blickte schweigend empor in die Nacht der Wolken. Als der Gesang verstummte, sagte er: „Nun wollen wir ruhen und schlummern, bis der Morgen graut, denn der kommende Tag will uns bei Kräften finden!“
Sie traten in die Zelte. Schwere Tropfen begannen zu fallen, es dämpfte sich der Sturm, und in rauschendem Regen löste sich das Ungewitter.
Nach der finsteren Sturmnacht war ein heller Morgen aufgeblüht, schimmernd in aller sommerlichen Schönheit: der Himmel wolkenlos und blau, die Lüfte frisch und ohne Hauch, alle Farben satt und tief, jeder Zweig und jedes Gras behängt mit funkelnden Tropfen, die Berge von blauen Schatten überschleiert oder leuchtend in goldigem Frühschein, sie alle überragt vom König Eismann, dessen steile von ewigem Schnee umgossene Zinne im vollen Licht der Sonne glänzte gleich einer riesigen Silberstufe. Schräge Lichter fielen schon zwischen die Wipfel des dichten Waldes, in welchem der Zug der Saumtiere sich langsam fortbewegte. Nur Waldram und Bruder Wampo hielten den gleichen Weg mit den Knechten. Eberwein und Schweiker waren nach verschiedener Richtung in den Wald gezogen, um die Feuerstätte der vergangenen Nacht zu suchen.
Zwischen den ragenden Urwaldbäumen schritt Eberwein dahin, mit seinem Stab die Stauden und Ranken teilend, welche häufig seinen Weg versperrten. Da klang in der Nähe, vom lichteren Wald her, das Wiehern eines Pferdes. Eberwein blickte auf, und eine Furche des Unmuts grub sich in seine Stirne. „Soll ihr Weg denn immer meine Straße kreuzen!“ So murmelnd, wandte er sich ab und nahm eine andere Richtung. Hinter seinem Rücken ließ sich ein Lachen hören. Aber das war eine Männerstimme. Eberwein blickte zurück und gewahrte einen Reiter, welcher zwischen den Bäumen nur flüchtig auftauchte in schmalen Lücken und auf trabendem Pferd verschwand.
„Wer war das? Einer von ihren Brüdern?“ Eberwein fand nicht Zeit, dieser Frage nachzudenken, denn durch die Bäume her scholl Schweikers lauter langgezogener Ruf. „Hoidoooh! Hoidoooh!“; er mußte die Feuerstatt gefunden haben.
Eilenden Ganges folgte Eberwein dem Ruf; er schritt einer Lichtung zu. welche zwischen den Bäumen schimmerte, und geriet auf einen Fußpfad. Da kam Schweiker ihm schon entgegen, mit lachendem Gesicht. „Kommt, Herr, und schauet nur, was ich gefunden hab’! Der feurige Weiser hat uns gut gewiesen!“ Eberwein führend, eilte er voran, und bald erreichten sie den Waldsaum. Eine weite, von hohen Bäumen umstandene Blöße lag vor ihnen, fast eben, mit Moos und Heidekraut überwachsen – eine stille freundliche Insel inmitten des dunklen Wäldermeeres. Ueber der Lichtung drüben stieg gegen den Untersberg ein bewaldeter Hang empor, über welchen eine in der Sonne blitzende Quelle niederrieselte in einen kleinen schimmernden Teich; zu beiden Seiten des Hanges erhoben sich zwei graue Felszinnen. Inmitten der Lichtung stand der vom Feuer halb verzehrte Baum, einsam, gleich einer schwarzen Säule; nur die Stümpfe der beiden untersten Aeste hafteten noch an dem verkohlten Stamm und ragten seitwärts wie die Arme eines Kreuzes. Asche und Kohlenreste bedeckten den Felsblock, der zwischen den Wurzeln des verbrannten Baumes sich erhob.
„Schauet hin, Herr,“ sagte Schweiker, „das ist ein behauener Block! Ein Heidenstein!“
Raschen Ganges überschritten sie die Lichtung und standen vor dem Felsblock. Mit roher Arbeit war der vorderen Fläche des Steines das Zeichen einer Flamme eingemeißelt. „Ein Stein des Loki!“ sagte Eberwein in tiefer Bewegung. „Hier loderte die Flamme und floß den falschen Göttern das Blut der Opfer. Hier wollen wir die lautere Flamme des wahren Glaubens entzünden und dem Himmel opfern, auf den wir hoffen. Rufe die Brüder, Schweiker – ich will die Messe lesen auf diesem Stein.“
Ueber Schweikers Backen kollerten zwei dicke Zähren; er fuhr mit der Faust über Augen und Nase und rannte davon. Noch eh’ er den Waldsaum erreichte, kamen ihm Waldram und Wampo mit den Knechten und Saumtieren schon entgegen. Nun standen sie alle vor dem Stein, dann wanderten sie auf der Lichtung umher; bei der Quelle kosteten sie das Wasser, es schmeckte frisch und erquickend; nur Eberwein wies den Trunk zurück und sagte: „Nach der Messe.“
Mit vergnüglich zwinkernden Augen stand Bruder Wampo vor dem kleinen, von bunten Blumen umblühten Teich. „Lieb schaut sich das Wasserl an,“ meinte er, „es fehlen nur die Ferchen drin, die Karpfen und Hecht’.“
„Geh, Du!“ brummte Schweiker. „Mußt denn allweil an die Schüssel denken – es giebt doch andere Ding’ auch noch auf der Welt!“
Man nahm den Saumtieren die Ladung ab, und während Eberwein, Waldram und Wampo mit dem Oeffnen der Ballen beschäftigt waren, säuberte Schweiker den Stein und räumte die Asche fort; zwei Knechte halfen ihm; neben dem Stein errichtete er aus Stangen ein Gerüst für die kleine Glocke, welche eines der Saumtiere als halbe Ladung getragen hatte.
Stunde um Stunde verging in reger Arbeit. Die Sonne stand schon nahe der Mittagshöhe, als Eberwein, bekleidet mit Chorhemd und Stola, den Heidenstein zum Altar Gottes weihte. Dann las er die „stille Messe“, bei welcher Schweiker ministrierte. Waldram saß auf einer Wurzel der halbverkohlten Eiche, Bruder Wampo und die Knechte knieten an seiner Seite. Lautlose Stille lag über der sonnigen Lichtung, nur manchmal zwitscherte ein Vogel am Waldsaum, und gedämpft klang aus dem Thal herauf das Rauschen der Ache. Als Eberwein zur Wandlung den Kelch erhob, zog Schweiker die Glocke. Zitternd schwebten ihre hellen Klänge durch die stille Luft und fanden ein Echo im Wald. Kleine Vögel kamen herbeigeflogen, als hätte der Klang sie neugierig gemacht, und mit erregtem Gezwitscher umflatterten sie den verkohlten Baum. Am Waldsaum erschien ein Reiter; einen kurzen Blick nur warf er über die Lichtung, dann riß er das Pferd herum und verschwand wieder.
Nur mit Zögern willfahre ich der ehrenden Einladung des Herrn Herausgebers dieser Blätter, deren Lesern einen Abriß meines nun zum Abend neigenden Lebens vorzuführen: wird es doch als ein Zeichen von Eitelkeit aufgefaßt werden! Und auch Wohlwollende mögen sagen: „Wozu? Der Verfasser erzählt ja sein Leben breit genug in den vier Bänden seiner Erinnerungen.“
Allein der Herr Herausgeber meinte in seinem Aufforderungsschreiben, es sei wünschenswert, daß Gestalt und Leben der Dichter weiten Kreisen unseres Volkes vertraulich nahe treten, auch solchen, die aus gar vielen Gründen eine vierbändige Lehensgeschichte nicht lesen; und er berief sich auf das Vorbild Roseggers, der vor kurzem dem gleichen Wunsche mit schönem Erfolg entsprochen habe.
So sei denn schlicht erzählt, was äußerlich schlicht, innerlich aber oft recht schmerzhaft verwickelt sich abgespielt hat in meinem Leben.
Ich bin geboren in Hamburg am 9. Februar 1834 als der Sohn des Künstlerpaares Friedrich und Constanze Dahn; mein Vater stammte aus einem Berliner Bürgerhause, der Vater meiner Mutter war ein Südfranzose, Le Gay, der, am Hofe König Jeromes zu Kassel als Kapellmeister thätig, eine Hessin, Fräulein Schäfer, geheiratet hatte. Das sechs Wochen alte Kind nahmen die Eltern aus Hamburg mit nach München, wo sie an dem Königlichen Hof- und Nationaltheater drei Jahrzehnte lang unter den dortigen ausgezeichneten Künstlern in allererster Reihe standen. Sie eigneten ein Haus an der Königinstraße (damals Nr. 9, jetzt Nr. 19) gegenüber dem herrlichen „Englischen Garten“ – dieser waldgleichen Anlage – und ein großer eigener Garten mit prächtigen alten Bäumen und breiten Wiesen schloß sich an die Rückseite des Gebäudes. Ueber sechzehn Jahre habe ich hier die Natur in Wald, Feld und Garten zu jeder Jahreszeit, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, in jeder ihrer Stimmungen belauscht, tief in ihr Kleinleben eindringend: Vogel und Fisch, Käfer und Schmetterling, Baum und Moos wurden mir genau vertraut. Und da ich später, vom zwölften Jahre ab, die Herbstferien in den bayerischen und tirolischen Bergen verbrachte, monatelang als Bergsteiger, Fischer, Jäger Land und Leute aufs genaueste kennenlernend, stand und stehe ich der Natur und dem Landvolk nicht fremd wie ein Städter – und obenein Büchermensch! – gegenüber.
Jener weite Garten bildete aber auch den Tummelplatz für die wilden und nicht ungefährlichen Kampfspiele, die ich, vom Knaben an für Fechten und Waffenschwingen leidenschaftlich entbrannt, mit einem Rudel gleichgestimmter Genossen bis in mein sechzehntes Jahr betrieb; nicht bloß die Waffen der Nenzeit, auch die des Mittelalters lernten wir wacker führen. In diesen „Ritterspielen“ wurden nun auch Reden gehalten, dramatisch bewegte Scenen aufgeführt. Was ich in der Schule gelernt oder in den gierig verschlungenen Büchern – Geschichte, Sage, Dichtung – gelesen hatte, ward alsbald dargestellt: Armin, Widukind, Teja, Roland, die Hohenstaufen, die Kreuzfahrer – sie alle wurden nachgeahmt, ihre Kämpfe nachgekämpft.
Denn früh erwachte die Einbildungskraft, genährt vor allem durch Schiller, in dessen „Jungfrau von Orleans“ und „Tell“ ich als fünfjähriger Knabe auf den Knien des Vaters lesen lernte.
Bis zum achten Jahr im Haus unterrichtet, trat ich gleich in die „Lateinschule“, im zwölften in das Gymnasium ein. Ich war anfänglich ein recht mittelmäßiger Schüler; die Räume der Anstalt waren häßlich, schmutzig, ich sehnte mich daraus hinweg in meinen Garten. Erst die Bekanntschaft mit Homer im zwölften bis dreizehnten Jahr änderte das: unwiderstehlich riß mich die Schönheit der Ilias in Form und Inhalt hin, in wenigen Wochen hatte ich sie sowie die Odyssee zu Hause verschlungen. Zugleich ergriff mich der Eifer für das Fach der Geschichte; ich war hierin stets der Erste, während ich es im „Allgemeinen Fortgang“ nie über den Dritten empor brachte.
Im Februar des Jahres 1848 – ich war vierzehn Jahre alt – erweckte ein wunderbar schöner Vorfrühling die ersten dichterischen Regungen, „Frühlingslieder“, und bald brachte die deutsche Freiheits- und Einheitsbestrebung mir auch die deutsch-patriotische Begeisterung, die seither nicht mehr in mir erlosch; auch Balladen entstanden damals schon. Gleichzeitig – es war ein früher Fortschritt vom Knaben zum Jüngling! – erfaßte mich die erste „Liebe“ meines Lebens. Ich sah an einem Frühlingsabend ein wunderschönes Mädchen von dreizehn Jahren vor seinem Elternhause stehen; die Amsel sang, die Sonne ging zu Gold, heiß schoß mir’s in das Herz: ich rannte wie pfeilgetroffen lang, lang in die Einsamkeit des „Englischen Gartens“! Fünf Jahre hindurch habe ich das ahnungslose Kind täglich gesehen, gegrüßt, unzählige Verse an „Didosa“ gemacht. Ihr schönes, reines Bild hat mich vor jeder Jugendverirrung bewahrt. Gesprochen hab’ ich sie erst nach vierundzwanzig Jahren bei zufälliger flüchtiger Begegnung. Dank und Segen über sie!
Mit sechzehn Jahren bezog ich (1850) die Universität München. Mehr als Geschichte lockte mich damals Philosophie an, ich wollte Privatdocent der Philosophie werden. Den gewaltigsten Einfluß übte auf mich der als Forscher und Lehrer gleich ausgezeichnete Professor der Philosophie Karl von Prantl. Da ich aber kein Vermögen zu erwarten hatte und die Laufbahn eines Privatdocenten der Philosophie höchst zweifelhaft war, beschloß ich, neben der Philosophie die Rechte zu studieren – Rechtsphilosophie sollte mein Hauptfach werden – um mir für alle Fälle Boden unter den Füßen zu sichern.
Außer Prantl wirkte in München am stärksten auf mich der ganz hervorragende Germanist Konrad von Maurer, der unvergleichliche Kenner des Nordgermanischen. Im dritten Studienjahr (1852) besuchte ich die Hochschule Berlin, juristische und philosophische Vorlesungen zu hören. Dort erfolgte eine bedeutende Erweiterung des Gesichtskreises durch das Leben in der Gesellschaft der großen Stadt; ich ward durch Fritz Eggers eingeführt in den „Tunnel über der Spree“, einen Verein, dem die hervorragendsten Dichter und Schriftsteller des damaligen Berlin angehörten: Kugler, Fontane, Roquette, Lübke, Scherenberg und andere.
Nach München zurückgekehrt, machte ich 1854 die juristische Prüfung für den Abgang von der Hochschule und trat auf zwei Jahre in die juristische Praxis, um nach bestandenem „Staatskonkurs“ (Assessor-Examen) als Privatdocent der Rechte mich in München zu habilitieren. Nachdem ich (1855) als doctor juris promoviert und (1856) den „Staatskonkurs“ bestanden hatte, wollte mich der Minister Graf Reigersberg sofort in seinem Ministerium anstellen – ich war in der Prüfung der erste im Kreise, der zweite im Königreich gewesen – aber ich blieb der akademischen Laufbahn treu und habilitierte mich an der Münchener Juristenfakultät, wo ich volle sieben Jahre als Privatdocent ausharren mußte. Da nun ein kleines Honorar, das ich für die Mitleitung der „Bavaria“ – einer durch König Max II. veranlaßten Landes- und Volkskunde von Bayern – ein paar Jahre bezogen hatte, erlosch, ward es mir unmöglich, die fast jeder Einnahme entbehrende Stellung als Privatdocent aufrecht zu halten. Ich hatte die letzten drei Jahre jeden Tag viele Stunden Aufsätze in allerlei Zeitschriften und Zeitungen schreiben müssen, das Notwendige zu verdienen. Ich litt hart: ich erkrankte an Lungenentzündung. Mit Mühe hergestellt, mußte ich (1862) nach Meran, in den Süden, die stark angegriffene Brust zu heilen. Nur schwer war das möglich zu machen. Ich ging dann von Meran nach Mailand und Ravenna, in der Bücherei und in dem Archiv zu arbeiten. Als nach der Rückkehr die längst versprochene Anstellung immer noch ausblieb, sah ich mich gezwungen – mit wahrer Verzweiflung im Herzen! – der so heiß, der allein geliebten akademischen Laufbahn zu entsagen und als Concipient bei einem Anwalt einzutreten, ein Beruf, zu dem ich durchaus nicht paßte. Schon hatte ich die einleitenden Schritte gethan, als ich endlich – in allerletzter Stunde! – eine außerordentliche Professur in Würzburg erhielt (1863) und damit die Rettung für meine geistige Eigenart.
In der freundlichen Mainstadt begann nun für mich eine bessere Zeit. Das Leben in ländlicher Umgebung vor dem Sanderthor war heiter und fröhlich. Wie in München las ich deutsches Privat-, Handels- und Wechselrecht, deutsche Rechtsgeschichte, Rechts- philosophie und – als ein Neues – Völkerrecht. Schon 1865 ward ich ordentlicher Professor; ich führte nun mein in München begonnenes Werk über die älteste Verfassungsgeschichte der Germanen („Die Könige der Germanen“ I–VII. 1861–1894) fort und schrieb 1865 meinen Prokopius von Cäsarea. Das Jahr 1866 [91] brachte mir nicht nur die Beschießung durch die Preußen,[1] sondern auch, wie so vielen Millionen von Süddeutschen, die Wandlung meines bisheriger politischen Standpunkts. Ich war, wie fast alle meine Bekannten, „großdeutsch“ gewesen und hatte in Herrn von Bismarck nur den verfassungsfeindlichen Junker erblickt. Die Schutz- und Trutzbündnisse öffneten mir die Augen über die nicht bloß selbstisch-preußische, sondern die Einheit und Größe Alldeutschlands anstrebende Staatskunst dieses großen Mannes, als dessen begeistertesten Verehrer ich mich bekenne. Bald nach 1866 lernte ich meine jetzige liebe Frau Therese, geborene Freiin von Droste-Hülshoff, kennen eine Nichte der Annette von Droste. Es währte sechs Jahre (1868–1873), bis es nach unschilderbaren Kämpfen gelang, die namenlosen Schwierigkeiten zu überwinden, die von allen Seiten unserer Verbindung entgegenstanden. Diese Dinge können hier nicht verhandelt werden, ich verweise auf den IV. Band der „Erinnerungen“, der Weihnachten 1894 erscheinen wird. Als eine Erlösung aus unertraghar gewordenen Verhältnissen begrüßte ich den Ausbruch des Krieges von 1870. „In dieses Schicksal riesengroß flecht’ ich des eignen Lebens Los!“ schrieb ich damals in mein Tagebuch. Sofort meldete ich mich als Kombattant bei dem bayerischen, hier abgewiesen, ebenso erfolglos bei dem preußischen Kriegsministerim. „Hinein“ mußte ich, so schloß ich mich der Nothelferkolonne des hessischen Majors von Grolmann an, die das Recht hatte, dem Kronprinzen von Preußen auf die Schlachtfelder zu folgen. Unser Weg ging über Hagenau vor Straßburg, dann über Saarburg nach Nancy, von da über Bar-Le-Duc nach Beaumont, Mouzon und Sedan. Bei Beaumont und Mouzon trafen wir erst gerade nach dem Kampf ein, aber ich erachte es als das großartigste Glück meines Lebens, daß es mir vergönnt war, die große deutsche Siegesschlacht bei Sedan von morgens 7 Uhr bis zu ihrem Ende in unmittelbarster Teilnahme mitzumachen; auf der Chaussee zwischen Torey und Bazeilles begleitete ich den Angriff des 6. bayerischen Jägerbataillons auf eine Barrikade und erhielt nach deren Erstürmung den Prellschuß eines Granatsplitters an den linken Arm, der mich in den nahen Straßengraben – auf einen eben gefallenen Franzosen - warf, übrigens nur eine Quetschung bewirkte. Wieder auf die Straße gestiegen, sah ich – wohl einer der allerersten! – die weiße Fahne auf der Bastion von Sedan wehen und wies es unserem Hauptmann. Wie soll man das schildern! Wie den Jubel, als, etwa um 7 Uhr, in dem Städtlein Donchéry, wo wir lagerten, ein Husarenoffizier die Nachricht von der Kapitulation und Kriegsgefangenschaft Napoleons und seines ganzen Heeres verkündete! Weltgeschichte, größte That deutschen Heldentums hatten wir mit erlebt!
In den nächsten Wochen erkrankte ich in Donchéry am „Lazarettfieber“ (wohl Typhus) und brach ohnmächtig zusammen. Wiederhergestellt, ward ich von befreundeten Aerzten und unserem Major unverzüglich in die Heimat geschickt; ein nochmaliger Anfall wäre tödlich, hieß es. Im Lazarett zu sterben – das war freilich nicht mein Geschmack. So führte ich eine große Schar von Leichtverwundeten und Genesenden über Belgien und Luxemburg nach Trier und kehrte nach Würzburg zurück, wohin Würzburger Krankenträger, die mich mit blutbespritzten Kleidern im Straßengraben hatten liegen sehen, die Nachricht von meinem Tod gebracht hatten; sie geriet, meine Freunde erschreckend, in die Zeitungen. –
Noch zwei schwere Jahre vergingen, da erhielt ich (im Juni 1873) einen Ruf nach Königsberg. Am 3. August 1873 schloß ich daselbst die Ehe mit meiner geliebten Therese. Sechzehn Jahre – von meinem 38. bis in mein 54. – verbrachte ich in der lieben alten Stadt am Pregel, die mir so ganz ans Herz gewachsen ist; war sie doch die Stätte, da unser unschilderbares Glück erblühte und da meine dichterischen Leistungen die ersten Erfolge errangen; und welch treffliche, treu anhängliche Schüler gewann ich an den Ostpreußen! Im Jahre 1889 im März vertauschte ich Königsberg mit Breslau, das ich sowohl Marburg wie Bonn vorzog. Es hat mich nicht gereut. Die der jüngsten Vergangenheit angehörigen fünf hier verlebten Jahre entziehen sich der Besprechung.
Vielmehr ist nun in Kürze wenigstens Einiges von meiner Entwicklung als Dichter und Gelehrter nachzuholen.
Von Anbeginn hatte die Einbildung des Dichters und den Eifer des Forschers am mächtigsten angezogen die Zeit, da das auftauchende jugendliche Germanentum auf die sinkende Römerwelt und das weltflüchtige Christentum stieß. So haben denn meine rechtsgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Arbeiten fast ausschließlich jene Dinge und Zeiten (bis etwa 814) zum Gegenstand.
Meine Weltanschauung habe ich außer in meinen philosophischen Schriften (z. B. „Die Vernunft im Recht“ 1879 und „Bausteine“ IV. 1883) auch in meinen Romanen ausgesprochen: so in „Sind Götter?“ (1874), „Odhins Trost“ (1880), „Odhins Rache“ (1891), dann dem König Teja (im „Kampf um Rom“) und dem Merovech in „Julian dem Abtrünnigen“ in den Mund gelegt.
Was meine Dichtung anlangt, so bekundete gleich meine früheste Veröffentlichung, „Harald und Theano“ (1855), jene Neigung zu der Zeit der „Völkerwanderung“, ich bin ihr bis in den eben erschienenen „Julian“ treu geblieben; habe ich doch eine Anzahl kleiner Romane aus der „Völkerwanderung“ geschrieben, die aber keineswegs, wie man – unbegreiflichermaßen! – behauptet hat, lediglich das Heldentum-Motiv des „Kampfs um Rom“ wiederholen; wo ist in „Felicitas“, „Bissula“, „Die schlimmen Nonnen von Poitiers“, „Fredigundis“, diesen Seelenmalereien und (zum Teil) Idyllen, jenes Motiv? Ueber jene Zeit hinab greifen die Erzählungen „Bis zum Tode getreu“, „Weltuntergang“ und „Die Kreuzfahrer“, deren Stoffe der Zeit Karls des Großen, dem Jahre Tausend n. Chr. und den Tagen Friedrichs II. entnommen sind.
Aeußerlich betrachtet, hatte den größten Erfolg der Roman „Ein Kampf um Rom“ (1876. 19. Aufl. 1893). Der Stoff erwuchs mir aus meinen Forschungen über das Ostgotenreich in Italien schon 1859. Die Kämpfe, die Oesterreicher, Italiener und Frannzosen in jenen Jahren um das schöne Land führten, regten allerlei Vergleiche, besonders aber geschichtsphilosophische Fragen an; vor allem jedoch war der großartige Gegenstand geeignet, meine Weltanschauung, die durchaus nicht pessimistisch ist (das ist mir ein Greuel!), aber tragisch-heroisch, dichterisch zum Ausdruck zu bringen. Lange stockte die Fortführung des Werkes – sie war nur bis zum Tode des Vitiges gediehen – und in Königsberg wollte ich (Winter 1873) die ganze Handschrift ins Feuer werfen. Die Dichtung schien mir zu archäologisch, zu gelehrt; schon kniete ich, die Blätter in der Hand, vor der geöffneten Ofenthür, da fiel mein Blick auf die Schilderung von Teja und Totila; ich stand auf, das meiner lieben Frau vorzulesen – sie kannte das Ganze nicht – bevor es die Flammen verzehrten; sie legte so warme Fürbitte ein, daß ich die Vernichtung aufschob, dann, nachdem ich ihr das gesamte Fertige vorgelesen, ganz aufgab und die Vollendung beschloß. Ist es ein Verdienst, jenes Werk gerettet zu haben, so gebührt der Dank dafür Theresen.
Schon in München hatte ich, ein begeisterter Schüler Jakob Grimms, über die Edda gelesen und auch sonst eifrig in germanischer Mythologie und Heldensage geforscht; nun gab ich eine volkstümliche Darstellung der germanischen Göttersage heraus, der nach vieljähriger selbständiger Arbeit Therese die der Heldensage anfügte („Walhall“, 1884). Drei Jahre darauf (1887) veröffentlichte sie ein Buch über Karl den Großen und seine Paladine, in welchem ich nur die geschichtliche Einleitung verfaßte. Meine Erzählung „Rolandin“ (1891) ist aber nicht im Zusannmenhang mit diesen Roland- Sagen entstanden. Als kleine Späne, wie sie in der Werkstatt bei der Arbeit an breiteren Stücken abfallen, sind anzusehen die dünnen Erzählungen „Was ist die Liebe?“ (1888), „Friggas Ja“ (1888), „Skirnir“ (1889), „Odhins Rache“ (1891), „Die Finnin“ (1888 bis 1892), die freilich immer wiederkehrende seelische Fragen in jenem altnordischen Rahmen aufstellen und zu lösen versuchen.
Was meinne Lyrik und lyrische Epik anlangt, so ward sie für die Ballade angeregt durch Percys „Reliquien der altenglischen Dichtung“, durch Walter Scotts „Gesänge des schottischen Grenzlands“, durch Uhland und durch Theodor Fontane. Für die reine Lyrik und für die lehrhaft philosophische wirkte eine Zeitlang sehr stark Rückert, der schon „Harald und Theano“ und die erste Gedichtsammlung (1856) warnn begrüßt hatte. Er lud den Unbekannten in sein Haus; das wahrhaft schöne Idyll dieses Besuches in seinem Landhaus zu Neuseß bei Koburg mag man in dem III. Band der „Erinnnerungen“ betrachten. Jenem ersten Bändchen folgten noch vier Sammlungen: II. Sammlung (darunter auch etwa 50 Gedichte von Therese) (3. Auflage 1883), III. Balladen und Lieder 1878, IV. Sammlung (Felix und Therese Dahn) 1892. V. Vaterland 1892. Der schnöde Vorwurf, ich sei erst patriotisch geworden [92] nach 1871, „da es keine Kunst mehr gewesen“, wird widerlegt durch die schon 1849 bis 1866 entstandenen, in die erste Sammlung von 1856 (und in die zweite) aufgenommenen Vaterlandsgedichte. Meine deutsche, liberale, den Partikularismus wie die Ultramontanen bekämpfende Gesinnung war mir in Bayern von 1852 an gar vielfach ein Hemmnis; hielt man doch an entscheidender Stelle die „Könige der Germanen“ für eine die Vorherrschaft Preußens empfehlende Arbeit (sie schließt mit dem Jahre 814!). Ebenso falsch ist der Vorwurf, mein Drama „König Roderich“ sei ein erst während des „Kulturkampfes“ (1874) zu dessen Verherrlichung geschmiedetes Tendenzdrama. Ein Mann, der 1874 schon etwa 15 Jahre vom Studium des Mittelalters hinter sich hatte, brauchte wahrlich nicht erst den Kulturkampf, um auf den echt tragischen Stoff des Kampfes zwischen Staat und Religion aufmerksam zu werden, den ja schon ziemlich früher der selige Sophokles in seiner „Antigone“ behandelt hat. Könng Roderich ist entstanden, als ich 1869 bis 1871 den Untergang des Westgotenstaates studierte, also lange vor jenem Kampf; daß die Aufführung seit 1874 vermöge jener Aufregungen stärkeren Erfolg hatte, ist selbstverständlich. Meine übrigen Dramen, „Markgraf Rüdiger“ (1875), „Deutsche Treue“ (1875), „Staatskunst der Frauen“ (1877), „Sühne“ (1879), der „Kurier nach Paris“ (1883), „Skaldenkunst“ (1882), hatten nicht den gleichen Erfolg wie „König Roderich“, der in Berlin, Hamburg, Königsberg und anderwärts zusammen etwa hundertzwanzigmal gegeben ward. Zwar gefielen sie, wo und wann sie aufgeführt wurden, aber sie wurden eben nicht oft aufgeführt! Neben recht vielen äußeren Gründen dieses Nichterfolges wiegt am schwersten der innere, daß meine Stoffe, die Zeit, in der sie spielen, die heutigen Theaterbesucher eher abstoßen als anziehen, und was jene anzieht, dessen ekelt es mich.
Ganz unmöglich ist es, hier auch nur die Namen alle aufzuzählen der Männer, die als Gelehrte und Dichter (und Freunde wie Scheffel und Steub) auf mich eingewirkt haben: von Rückert, den Berliner Tunnelgenossen, den Münchener „Krokodilen“ (Geibel vor allen, dann Wilhelm Hertz) bis zu den Würzburgern, Königsbergern und Breslauern (d. h. den in diesen Städten Lebenden, die aber oft ganz wo anders her waren und sind). Hierfür muß ich auf die „Erinnerungen“ verweisen.
Ziehe ich nun die Rechnung meines Lebens, so sahen wir, daß ich in München um Haaresbreite gezwungen ward, die akademische Laufbahn und alle Geistesfreiheit aufzugeben. Die Hauptursachen einer späten und langsamen „Karriere“ sind der Mangel an jeder ... nun, sagen wir Betriebsklugheit in mir und dann das „verfluchte Dichten“, das ja den echten und gerechten Profeffor Kaste verlieren läßt unter seinen Amtsgenossen.
Habe ich also in der praktischen Lebensgestaltung nie Glück gehabt – was ich errang, hab’ ich schwer arbeitend errungen – so ward mir doch das unaussprechliche Glück, den Traum meiner Knaben- und Jünglingszeit, die Herstellung des Deutschen Reiches, sogar die Wiedergewinnung der Reichslande zu erleben, ja die großartige dramatische Entscheidung des Kampfes mit Frankreich bei Sedan mit Augen zu sehen. Das allein würde alle nicht geringen Schmerzen meines Lebens voll aufwiegen! Und ich habe das ebenfalls unaussprechliche Glück gehabt, meine Therese gefunden und schließlich erkämpft zu haben; ich glaube nicht, daß es eine glücklichere Ehe geben kann, als die unsere seit nun zwanzig Jahren ist.
Als Dichter ward ich bis auf „König Roderich“ und den „Kamps um Rom“ überhaupt nicht beachtet, später hat man mich dann wohl auch überschätzt (zumal wegen des „Kampfs um Rom“, dem ich aber „Odhins Trost“ „Rolandin“ und „Sind Götter?“ vorziehe). Denn ich bin nur ein Dichter dritten Ranges, wenn Goethe und Schiller ersten, Uhland, Rückert, Platen, Scheffel zweiten Ranges sind. Ich glaube, diese meine aufrichtige Selbsteinschätzung ist nicht eitel und unbescheiden.
Aber eins wird bleiben und nachwirken im deutschen Volke, wann meine Dichtungen vielleicht vergessen sind: das ist der Same von Idealität und Begeisterung, der Same von Enthusiasmus für Wahrheit, für Aufopferung, eben für „Heldentnm“ im Dienst des Vaterlandes und der Idee, den ich seit nun zweiundsiebzig Semestern in junge Seelen gestreut habe. Ich habe Glück als Lehrer mit den jungen Leuten, weil sie spüren, daß ich ein Herz – ach immer noch ein junges! – für sie habe und daß ich’s gut mit ihnen, ernst mit der Wahrheit meine. Es ist eine stattliche Schar von „Gefolgen“, von denen ich sagen darf, daß ich entscheidend auf ihre Entwicklung eingewirkt habe. Und diese meine ideale Einwirkung auf deutsche Jünglinge und Männer wird fortdauern, wann vielleicht meine anderen Leistungen tot liegen. So werde ich – unbemerkt und ganz bescheiden – fortleben in meinem Volke.
- ↑ Ueber meinem Dache kreuzten sich die habsburgischen und die hohenzollernschen Granaten, unter denen hinweg ich ruhig in die Universität ging, eine angesagte Prüfung abzuhalten, bei der außer mir nur noch 1 Professor und 0 Student erschien.
Auf vulkanischem Boden.
Die allgemeine Schilderung der Zustände auf Sicilien, welche wir in unserem ersten Artikel gegeben haben, sei im folgenden durch ein paar aus dem Leben gegriffene Beispiele ergänzt, deren Sprache deutlich genug ist. In Siculiano, einem Bezirksvorort in Kreis und Provinz Girgenti mit etwa 6500 Einwohnern, ist Herr und König, d. h. Besitzer des Gesamtbodens, der Baron Aniello, mehrfacher Millionär, der aus seinem Schlosse hervorgeht genau wie die mittelalterlichen, noch von Manzoni in seinem Roman „Die Verlobten“ geschilderten gewaltthätigen Barone: begleitet von zwölf schwerbewaffneten uniformierten „Bravi“, könnte man sagen, denn Maffiosi sind sie ohne Ausnahme, aber trotzdem gemeine Vasallen, da sie (wie alle sicilianischen abhängigen Bauern!) gezwungen werden, ihren Bart zu scheren, den erst der freie Brigant wieder wachsen läßt. Das Schloß ist durch eiserne Thore, Fallgitter und Zugbrücken von der Außenwelt abgesperrt, nur eine Person auf einmal hat Zulaß. In ähnlicher Weise halten sich viele Grundbesitzer eine Art von Leibwache. Sicher ist so ein Herr aber doch nie und seine eigenen Kreaturen scheuen den Verrat nicht, wenn es gilt, ihm gehörig zur Ader zu lassen, zu welchem Zwecke dann die Maffia ihre besten Truppen, den Brigantaggio, ins Gefecht führt. Der Feldzugsplan wird stets im Hauptlager entworfen und von diesem geht der Befehl zum Angriff aus.
Hier vorerst ein leichter Fall aus jüngster Zeit.
Der Baron Antonio Spitalieri, ein allbekannter catanesischer Großgrundbesitzer, begab sich am 21. August 1893 in Begleitung seines Sohnes von Catania aus auf eines seiner Grundstücke in der Nähe von Paternò, 21 km von Catania, am Aetna. Der Abend kam, und um der hier herrschenden Malaria auszuweichen, suchte der Baron Nachtquartier im Landhause seiner ihm befreundeten [93] Nachbarin, der Baronin Ciancio in Poiera, um am nächsten Morgen zur Besichtigung seiner Felder zurückzukehren. Diesmal begleiteten ihn vier bewaffnete Campieri. Er war noch nicht weit gekommen, als ihm sechs Reiter auf trefflichen Tieren den Weg versperrten. Die Campieri waren rasch entwaffnet und geknebelt, der Baron wurde in die Mitte genommen. Er hatte kein Geld bei sich und die Briganten führten ihn kecklich vor das Hans der Baronin Ciancio, die als Loskaufssumme 50000 Lire zum Fenster hinauswarf. Diese Summe wurde als zu klein befunden, so stürmten die Briganten in das Haus, erbrachen Thüren und Schränke und brachten endlich 110000 Lire zusammen. Damit erklärten sie sich vorläufig zufriedengestellt, ließen den Baron los und verabschiedeten sich von ihm mit ehrerbietigem Handkuß. Die Ausführung oder richtiger Aufführung hatte von früh 8 bis nachmittags 4 Uhr gedauert und war so ziemlich glatt (sogar mit Frühstück) verlaufen, bis auf einen eigenartigen Zwischenfall. Bei der Baronin zurückgeblieben war der vierzehnjährige Sohn Spitalieris. Als er vom Balkon aus seinen Vater in den Händen der Räuber sah, schoß er unter die Bande – eine kindliche Thorheit, die ihn beinahe teuer zu stehen gekommen wäre, denn fünf Schüsse wurden auf ihn abgegeben, von denen einer ihm die Haare versengte. Uebrigens waren die Briganten selbst über diese That erstaunt und umarmten und küßten später den jugendlichen Helden zum Zeichen der Bewunderung.
Schwerer ist der folgende Fall, der sich in der Provinz Palermo,
in der Nähe der schönen Kreisstadt Termini Imerese, zutrug. Er
gestattet auch Einblick in den wohlorganisierten „Manotengolismo“,
den Helfershelferdienst, dem selbst Priester angehören.
An einem Maientage des Jahres 1892 ging der Kavalier Filippo Arrigo, ein schöner starker und wohlgelittener Mann und Großgrundbesitzer, mit seiner Familie zur Villeggiatura auf sein Landgut. Am 25. Mai stand er um fünf Uhr früh auf, ließ sich durch den Inspektor ein Pferd satteln, um auf eine andere Besitzung zu reiten, und führte, außer dem Inspektor, noch seinen vierzehnjährigen Sohn Francesco auf einem Esel mit. Nach Erledigung der Geschäfte nahm Signor Arrigo, da es die Zeit des Wachtelstrichs war, die Flinte und wanderte ein wenig durch die Saatfelder. Er traf auf zwei andere Jäger, die ihn grüßten und weitergingen, dann stieß er wieder mit seinem Sohne und dem Inspektor zusammen. Da, vor der Oeffnung eines Thälchens, entdeckte der Inspektor plötzlich fünf Carabinieri. Hierbei war freilich nichts Auffälliges, denn bei den unsichern Zeitläufen hatte diese Waffe in zahlreichen Streifwachen die Campagna abzusuchen.
Die Carabinieri kamen langsam näher und der Wachtmeister grüßte höflich: „Guten Tag, Herr Arrigo. wie geht’s?“ In diesem Augenblick traten weitere drei Personen an die Gruppe heran, sie hatten durchlöcherte Taschentücher vor dem Gesicht, und nun wußte Herr Arrigo, woran er war: die vermeintlichen Carabinieri waren
[94] Briganten. Dem Inspektor wurden die zwei Gewehre, die er über der Schulter trug, abgenommen, dann ward er geknebelt. Einer der falschen Carabinieri ergriff das Pferd des Herrn beim Zügel, und vorwärts ging’s. Der Sohn, der die Lage seines Vaters vollständig begriff, begann bitterlich zu schluchzen. An Flucht war nicht zu denken. Ein Bauer, der seines Weges kam, wurde gleichermaßen geknebelt mitgenommen. Dasselbe Schicksal hatten die beiden Jäger, denen Signor Arrigo kurz vorher begegnet war. Bei einer Strohhütte wurde Halt gemacht. Die drei zuletzt Aufgegriffenen, ferner der Inspektor und Arrigos Sohn mußten eintreten. Diesem hatte der Wachtmeister noch in drohendem Tone gesagt. „Ich bin Giorgio Bruno (ein landein, landaus wohlbekannter Bandenführer), sage Deiner Mutter, daß sie so rasch als möglich dreißigtausend Onzen[1] flüssig mache und mir schicke; sage ihr aber auch, daß sie das fein stille abmache und nicht etwa die Gewalt aufbiete, da Ihr sonst Euren Vater nicht wiederseht.“
Herzzerreißend war der Abschied zwischen Vater und Sohn. Der Vater wurde weiter dem Gebirge zugeführt, bei der Strohhütte blieben als Wache bis zu hereinbrechender Dämmerung jene drei vermummten Bauern zurück. Nach deren Entfernung flohen die Eingeschlossenen nach Termini, wo die Sache bald ruchbar wurde. Die erschreckte Familie Arrigo that, wie es bisher ohne Ausnahme alle gethan, sie schwieg der Obrigkeit gegenüber und begann insgeheim durch Zwischenträger, die sich rasch anboten, mit den Briganten zu unterhandeln. Die Behörden in Anspruch nehmen, würde heißen, das Todesurteil des Gefangenen unterschreiben. Aber auch so ist der Ausgang immerhin zweifelhaft. Denn wenn die „Sequestration“ – so nennt man die Aufhebung einer Persönlichkeit durch die Briganten – aus Rache erfolgte, so verliert die Familie das Geld und dazu die geliebte Person. Der Gefangene wird unterdessen aufs strengste bewacht, erfährt aber meist eine rücksichtsvolle Behandlung, die Räuber sind um ihn herum wie treue Diener.
„Ew. Excellenz möchte rauchen? Wir haben hier ‚Minghetti‘, denn wir wissen, daß Sie nur diese Sorte lieben.“
„Excellenza möchte einen Bissen essen? Es thut uns unendlich leid, daß wir nichts Ihrer Würdiges haben, aber in der Campagna muß man die Dinge nehmen, wie sie sind.“
Und doch wird zumeist eine Tafel bereitet, auf der weder das Weißbrot, noch ein wohlgebratenes Huhn, noch ein guter Wein fehlen. Ja, oft giebt es silberne Bestecke und ein feines Kaffeeservice. Die Herren Wächter erlauben sich dabei nicht, mit „Sr. Excellenz“ zusammen zu essen, sie verkennen den socialen Abstand durchaus nicht und tragen ihm Rechnung, trotzdem sie eben das Heft in Händen haben.
Alongi erzählt eine Anekdote von einem jungen Baron S., der bei seiner Sequestration gegen 150 Lire in der Tasche hatte. Davon bereiteten die Briganten dem Herrlein ein prächtiges Mahl und übergaben ihm am Schlusse, genau wie in einem Speisehause Neapels oder Palermos, auf einem Teller die Rechnung, in welche natürlich auch das abseits von den Briganten verzehrte Essen einbegriffen war. So gut wurde es dem Cavaliere Arrigo nicht, und zwar aus dem Grunde nicht, weil die Soldaten und Gendarmen den Räubern auf den Fersen waren und ihnen nirgends lange Rast zu machen erlaubten. Oft ward der Gefangene mit verbundenen Augen geführt, oft in Höhlen versteckt, oft fehlte es an einem Bissen Brot. Vier bis fünf Tage lag er unter einem Treppenabsatz in irgend einer Behausung und ward mit dem Tode bedroht, weil Nachrichten von den Seinen ausblieben. Hierauf mußte er einen neuen dringlichen Brief nach Hause schreiben.
Endlich kam einiges Geld (man braucht bei diesen Gelegenheiten die Vorsicht, nur wenig auf einmal zu schicken, um die Mühsal des Herbeischaffens deutlich zu machen), den nächsten Tag mehr, und als 120000 Lire beisammen waren, wurde der Cavaliere Arrigo eines Abends in die Felder hinabgeführt und seinem Schicksal überlassen. Nach einer Abwesenheit von drei Wochen traf er, schwer an der Gesundheit geschädigt, bei den Seinigen ein. Die Gattin fand er sterbend.
Was hatte die Maffia bei diesem Fall zu thun?
Es ist natürlich, daß ein so gewichtiger Streich wie ein „Sequester“ nicht im Handumdrehen gemacht werden kann, er wird von lange her vorbereitet und verlangt die höchste maffiose Technik. Die Briganten sind dabei nichts als der Arm, das Werkzeug, alles andere ist Werk der unbekannten Verbrecher und Hehler. Von diesen studiert eine Gruppe lange und genau die Gewohnheiten des auserlesenen Opfers und der es umgebenden Personen. Zu diesem Zwecke wird einer der Knechte oder Campieri gar leicht gewonnen. Dieser treulosen Diener einer ist es auch immer, der sich zum nachherigen Vermittler beim Loskauf anbietet. Die Familie weiß genau, wes Geistes Kind der Mann ist, der ihr diesen Dienst leistet; sie nimmt aber dennoch gern und dankbar seine Hilfe an. So kommt es, daß der Gefangene draußen in irgend einer Schlucht seine Cigarrensorte, seinen Lieblingswein findet. Ebenso peinlich genau wird der zur Ausführung bestimmte Platz studiert. Eine zweite Gruppe, aus Bauern, Winzern, Hirten, Feldhütern, Hausierern und Bettlern bestehend, bildet die Gegenpolizei. Sie beschäftigt sich mit steter Berichterstattung über die Bewegungen der wirkliche Polizei und bestimmt die Wege der ihr Opfer führenden Briganten.
Zuletzt wird der Bergungsort ausgewählt. Ein Häuschen, ein Stall inmitten der zahlreichen Baulichkeiten eines großen Besitztums, eine von außen nicht sichtbare Höhle, meist in größter Nähe des Schauplatzes der That, oft auch ein Haus mitten in einem Dorfe. Alle diese Orte werden schon vorher reichlich mit Lebensmitteln versehen. Sind diese, wo sich die Dinge in die Länge ziehen, aufgezehrt, so finden sich auf verabredete Zeichen Lieferanten genug, die das Nötige an vorher bestimmten Stellen niederlegen. Verräter kommen hierbei fast nie vor und wenn dennoch, so sind sie früher oder später sicherem Tode verfallen.
Der Befreiung Arrigos folgten zahlreiche Verhaftungen. Der erste, der festgenommen wurde, war der Vermittler zwischen der Familie und der Bande. Der aber schwieg. Ein anderer jedoch, der lange im Kerker gesessen hatte und inzwischen von seinem Weibe verraten worden war, hatte sich, um Rache an diesem und dem Schädiger seiner Ehre zu nehmen, in die Bande Giorgio Brunos aufnehmen lassen; und durch diesen erfuhr man nun, daß Bruno einen großen Streich hatte ausführen wollen, daß die Uniformen seit langem bereit gelegen waren im Hause des Apothekers Pasquale Quattrocchi in Termini Imerese, der zusammen mit seinem Bruder Liborio, Seelsorger der Gemeinde, Haupt und Leiter des Unternehmens gewesen sei.
Inzwischen hatte auch ein auf den Feldern aufgefundener Knopf einer Carabinieri-Uniform Licht in die Dinge gebracht. Der Knopf trug die Firma eines Schneiders von Novara und dieser gab die Adresse des Bestellers in Termini an. Alle Fäden liefen in dem Hause des Seelsorgers Don Liborio Quattrocchi zusammen, der, wie sich im Verlaufe des Prozesses durch Zeugen, durch sein und fast aller Mitschuldigen Geständnis herausstellte, der „Capo assoluto“, das gebietende Haupt der Maffia war und bereits gegen acht „Se- questrationen“ geleitet hatte. Sein Bruder, der Apotheker, und sein Neffe, Giuseppe Giulio, waren Helfershelfer gewesen. Der Großrat der massiosen Verbrüderung versammelte sich abends unter dem Vorwand eines Spielchens in dem Laboratorinm der Apotheke.
Das Geschäft war einträglich, denn der Kassierer der Maffia zahlte von Arrigos Gelde dem Priester allein 30000 Lire aus; 10000 erhielt dieser für gehabte Auslagen, 20000 als Direktor der Maffia. Der Prozeß konnte wegen Bedrohung der Richter und Geschworenen durch die Maffia nicht auf Sicilien geführt werden, er wurde vor das Tribunal von Trani in Apulien verwiesen.
Bis zu welchem Grade von Frechheit, meinetwegen Tollkühnheit, die Hehler der Maffia gelangen, ist aus folgendem Geschichtchen, das in dem Büchelchen „I Masnadieri Giulianesi“ (die Räuber von Giuliana) erzählt wird, zu ersehen.
Ein gewisser Signorelli war von der Bande, die in Giuliana, Kreis Corleone, „ansässig“ war, sequestriert worden. Er wurde eifrig gesucht, war aber nirgends aufzufinden. Eines Tages rückt ein Trupp von fünfunddreißig Soldaten unter Führung des Kommandanten von Mazzara dem stark anrüchigen „Gevatter“ Castrenze Tamburello vors Haus. Der Kommandant tritt ein und findet den Mann „schwerkrank“ zu Bett. „Wie geht’s, Gevatter Castrenze?“
„Wie’s eben mag, teurer Herr Kommandant. Schlecht, in Monreale hab’ ich mir ’s Fieber geholt.“
„Das thut mir leid, und um so mehr, als ich Euch einen guten Vorschlag zu machen hätte.“
„Das ist gleich. Sagen Sie, Herr Kommandant, womit ich Ihnen dienen kann!“
„So hört, Gevatter Castrenze, ich habe einen guten Platz als Flurschütze zu Eurer Verfügung, und das ist nicht alles. [95] Ich füge die schöne Summe von 4000 Lire hinzu, wenn Ihr mir den bewußten Dienst erweist. Ihr wißt Näheres von der Sequestration Signorellis, Ihr wißt auch, daß sie ein Werk der Giulianesen ist. Gebt mir nur einen Faden, an dem ich mich halten kann, um die Bande und den Gefangenen zu finden.“
Und hier ist zu sagen, daß der arme, schon lange so schmerzlich Gesuchte im Nebenzimmer lag, von den Sprechenden nur durch eine dünne Wand getrennt, behütet von zwei Briganten!!
„Ich bin schwer krank, Herr Kommandant, zu nichts gut. Das Fieber wird mich verbrennen; um aber Ihrem Vertrauen, mit dem Sie mich beehren, entgegenzukommen, nehme ich den Vorschlag an. Sobald ich mich nur einigermaßen wieder rühren kann, werde ich etwas thun und Sie von dem, was ich in Erfahrung bringe, schleunigst, auch telegraphisch, in Kenntnis setzen.“
Und der Kommandant, der eine Luft mit den Räubern atmete, solche Frechheit aber nicht ahnte, ging weg, zufrieden, einen „Confidente“, einen „Vertrauensmann“ gefunden zu haben.
Siebenunddreißig Tage schon lag der Gefesselte in Gevatter Castrenzes dumpfiger Kammer, als an einem Novemberabende das Haus plötzlich und gänzlich unerwartet von einem Trupp Bersaglieri und Carabinieri umstellt wird. Gevatter Castrenze steht auf der Schwelle und schaut, die Hände in den Hosentaschen, dem Vorgange gelassen zu. Das Volk läuft neugierig herbei. Der Offizier tritt kurz auf Castrenze zu und fragt:
„Seid Ihr Castrenze Tamburello?“
„Zu dienen, Herr Lieutenant.“
„Gut. Wen habt Ihr im Hause, Tamburello?“
„Niemand.“
„Dann öffnet die Thür!“
„Ihnen zu dienen. Ecco!“
„Gut! Oeffnet auch die Thür zu jenem Zimmer!“
„Das thut mir wirklich leid. aber den Schlüssel hat mein Bruder mitgenommen.“
„Wenn der Schlüssel fehlt, so ist hier eine Axt, die als Schlüssel dienen kann. Brecht die Thür auf!“
„Trotz des Schadens, der meinem Eigentnm zugefügt wird, gehorche ich, Herr Lieutenant.“
Durch diese Bereitwilligkeit glaubte er den Offizier zu überzeugen, daß wirklich niemand da drinnen sei, und er hatte sogar die Frechheit, die ersten Schläge gegen die Thür zu thun. Da er aber sah, daß der Lieutenant ruhig wartete, bis die Thür aufspränge, setzte er ab und suchte einen andern Ausweg.
„Ich bin ein ehrlicher Mann,“ sagte er, „und will mein Gewissen nicht mit dem Schaden belasten, der daraus entstehen könnte. Hören Sie, meine Herren, ich sage Ihnen die Wahrheit ... Hier drinnen stecken wirklich die Räuber und ihr Gefangener Signorelli mit ihnen. Wenn Sie mir erlauben – es ist nur, um größeren Schaden zu verhüten – so gehe ich hinein und werde alles thun, die Dinge zu einem friedlichen Abschluß zu bringen.“
Und Offizier, Carabinieri und Bersaglieri gingen wiederum auf den Leim. Sie ließen ihn im guten Glauben eintreten, die Thür hinter sich schließen und mit den Briganten unterhandeln.
Die Kapitulation schien gesichert. Gevatter Castrenze aber hatte kaum die Thür fest hinter sich geschlossen. als er den befreundeten Räubern zurief: „Eine Flinte her und geben wir Feuer!“
Sofort wurde das Feuer eröffnet und die überraschte Truppe sah einen der Ihrigen nach dem andern fallen durch die wohlgezielten Schüsse der Verzweifelten, die ihr Leben teuer verkauften, nur mit großer Mühe überwältigt und der Behörde überliefert wurden.
Das sind Fälle des in seiner „Technik“ wohlbewanderten, vortrefflich organisierten (vortrefflicher jedenfalls als bisher die öffentliche Gewalt) „Brigantaggio militante“. Handwerkspfuscherei, bloßes Dilettantentum ist der gemeine „Malandrinaggio“ (Straßenräuberei), der sich schließlich an jedermann vergreift, der auch in seiner jüngsten Ueberhandnahme dem fremden Besucher der Insel verderblich werden könnte.
Hier ein letzter Fall vom 29. Oktober 1893. An diesem Tage erschienen vier lumpige Kerle, mit Hinterladern bewaffnet, vor einer einsamen Meierei der Herzogin Fernandina und sprachen den Campiere Salvatore Albo um Brot an. Albo suchte sie rasch zu bedienen, ging ins Haus und ließ sie allein mit dem Aufseher Ortolevo. Dieser wurde jetzt zu Boden geworfen, gebunden und beraubt. Plündernd drangen die Räuber darauf in die Wohnung ein, raubten 200 Patronen, 4 Kilo Pulver, 3 Flinten und für 500 Lire Geld und Wäsche. Der Campiere Albo entfloh, doch schossen die Räuber ihm nach und töteten ihn. Der am Boden liegende Aufseher erhielt mehrere lebensgefährliche Dolchstiche und blieb hilflos liegen. Die Nacht verbrachten die Burschen auf dem benachbarten Landhaus Montoscuro, wo sie am nächsten Morgen durch eine Abteilung Carabinieri und Bersaglieri umzingelt wurden. Es waren drei polizeilich „Vorgemerkte“ aus Alcamo dabei, die schon viel auf dem Kerbholz hatten.
Man spricht von der Schwäche der Behörden und von ihrer Bestechlichkeit, man weiß für seine Sicherheit keinen Rat und unterwirft sich dem mächtigeren Gesetz, dem der Maffia. Es ist wahr, die hierher versetzten, meist oberitalienischen Beamten, Präfekten, Unterpräfekten, Präfekturräte, Justizbeamte, Quästoren und Prätoren kennen die Sitte des Volkes nicht, beleidigen den Stolz und die Eitelkeit der Sicilianer und werden doch von diesen als „Hungerleider“ angesehen. Daneben wird tausendfach geklagt, daß die Insel als Strafplatz angesehen werde, daß die, die in den anderen Provinzen „drüben“ sich unmöglich gemacht, Bestecher und Bestochene, hierhergeschickt werden. Die Gerichtsbehörden sind überfaul, ihr Ruf ist sehr bedenklich. Ganz öffentlich erzählt man sich entsetzliche Geschichten von ihrer Bestechlichkeit und grausamen Ungerechtigkeit. Auf der andern Seite freilich ist die Arbeit an den Tribunalen und Schwurgerichtshöfen erdrückend groß und nicht zu bewältigen. Mit der überhandnehmenden Not wächst das Verbrechen. So lagen Ende 1893 allein in dem Gefängnisse von Girgenti, das für 375 Gefangene knapp eingerichtet ist, deren 450, und obschon sich die Gerichtshöfe in Dauer erklärt haben, müssen doch viele Gefangene zwei, drei, vier und mehr Jahre warten, ehe die „Reihe“ an sie kommt.
Das Volk ist müde und hungrig. Es nimmt den letzten Rest seiner Kraft zusammen, schüttelt die letzte Scheu ab, und was vordem im Finstern rachsüchtig sich der Maffia anschloß, tritt jetzt offen auf den Markt. Wie schon einmal!
Damals, im römischen Altertum, wo die Sklavenkriege das unerträgliche Joch brechen sollten. Das war vor 2000 Jahren. Wie Feuer im Stroh strich der Brand des Aufruhrs über die Insel und 200000 Sklaven liefen alsbald dem Freiheitsbanner zu. Das machte dem mächtigen Rom viel zu schaffen, fast sechs Jahre lang hielten sich die schlechtbewaffneten Knechte gegen die Kohorten der Römer, den Staat hart bedrohend.
Nur wenig hat sich seit jener Zeit im „Herzen“ Siciliens geändert; mag es mit Eisenbahnen, Maschinenfabriken, Telegraphen und elektrischem Licht beglückt worden sein: das Sklavenwesen dauerte an und Moder und Staub des Mittelalters liegt auf allen socialen Verhältnissen und Einrichtungen.
Es sind die Nachkommen jener antiken Sklaven, die sich heute, von wirklicher Not gedrängt, zu Bünden (Fasci), zu einem großen Inselbunde zusammenschlossen, zahlreicher als ihre Vorfahren, denn der lawinenhaft anwachsende Körper zählte Ende letzten Jahres bereits über 350000 Mitglieder, Männer und Weiber.
Auf den Fahnen des alten deutschen Bundschuhs stand geschrieben: „Nichts als die Gerechtigkeit Gottes!“ Mit Gott und Kirche wollen aber die sonst so demutsvollen, religiös fanatischen Bauern und Arbeiter der „Fasci“ nichts mehr zu thun haben, sie wollen ihre Wunder selbst verrichten, dazu hat man sie aufgerufen. Ihre Vorsteher huldigen fast alle socialistischen Dogmen; von diesen versteht das tief unwissende Volk nichts, aber man hat ihm gesagt, daß aus der Union eine Revolution, aus dieser eine Verbesserung ihrer Lage hervorgehen werde. Sie folgen ihren Führern, die leider oft genug der Maffia angehören, blindlings, legen Hacke und Schaufel nieder und wollen die Herren aushungern.
Das Volk hat einen neuen Glauben gefunden, läutet die Glocken, schwingt die Fahnen und sein Feldgeschrei lautet: „Abbasso le tasse! pane e lavoro!“ „Nieder mit den Steuern! Brot und Arbeit!“
Für den Augenblick scheint es, als ob das Massenaufgebot von Truppen, die man nach Sicilien gesandt hat, den lodernden Brand etwas gedämpft habe. Aber es steht zu fürchten, daß dies nur eine trügerische Ruhe sei, daß unter der scheinbar geglätteten Oberfläche die alten vulkanischen Gewalten weiter kochen, um eines Tages mit erneuter Glut hervorzubrechen, Schrecken und Zerstörung um sich her verbreitend. Nur von einer gründlichen Neugestaltung der verrotteten Zustände auf der Insel – und das wird eine lange, mühevolle, von einem zielbewußten Geiste geleitete Arbeit erfordern – darf man für dieses von der Natur so verschwenderisch ausgestattete Land wirklich bessere Tage erhoffen.
Aus allen Häusern, welch ein Klingen
Durch Wochen schon, tagaus, tagein –
Ein Rufen, Lachen, Jubeln, Singen,
Musik und Tanz für groß und klein!
Vergessen schienen Not und Plagen,
Womit die Menschheit täglich ringt!
Die Freude herrscht – wer wollte wagen
Zu stören, wenn sie lockend winkt!
Und huldvoll lächeln schöne Frauen
Und nippen am Champagnerglas,
Aus Maskenhüllen blitzend schauen
Die Augen in das goldne Naß.
In wildem Tanze sie sich schwingen
Bei Pauken- und Trompetenschall;
In hellem Ton die Gläser klingen:
„Hoch Amor! Hoch Prinz Karneval!“
So ging die Lust, bis früh am Morgen
Die fahle Dämmerung zog herauf,
Mit seiner Arbeit, seinen Sorgen
Ein neuer Tag begann den Lauf.
Was aber seh’ ich heute wallen?
Was zieht so grau die Straße her?
Die Maske will mir nicht gefallen –
Die Züge alt und freudeleer!
Ja, seh’ ich recht, daß Kater schleichen
Der Alten nach mit leisem Tritt,
Um wie ein Spuk scheu zu entweichen
Bei eines Menschen festem Schritt?
Sie huschen hin auf leisen Sohlen,
Gespenstern gleich im Dämmerschein,
Sie gleiten lautlos und verstohlen
Mit jedem in das Haus hinein.
Vorüberschleicht mit den Genossen
Die graue Alte; ihr Gewand –
Schon ist’s im Nebel grau zerflossen:
Der Aschermittwoch zog ins Land!
(5. Fortsetzung.)
Als Doßberg bei den in seinem Arbeitszimmer weilenden Herren eintrat, erhob sich der Landrat aus seiner bequemen Stellung und ging dem Eintretenden mit ausgestreckter Hand entgegen. „Hab’ es mir in Ihrem famosen Faulenzer ’n bißchen gemütlich gemacht, lieber Doßberg! Servus, Servus, Freundchen! Bin wie gerädert noch von gestern – scharfe Sitzung im ‚Landsknecht‘ bis um drei Uhr, nichts mehr für unsereinen! Erlaube mir, vorzustellen: Chevalier de Montrose – Baron Doßberg, hoffe, die Herren werden in nähere Beziehung treten!“
Es sah nicht danach aus. Doßberg warf einen raschen angstvollen Blick auf den Fremden, der gekommen war, ihm seine „Perle“ zu nehmen, und verneigte sich frostig; der andere grüßte höflich zurück und blieb stehen, wo er stand, ganz kühle Zurückhaltung.
Justizrat Sorau fühlte sich nun verpflichtet, einzugreifen. „Wär’ es den Herren recht, sofort zu den notwendigen geschäftlichen Verhandlungen zu schreiten? Unser lieber Landrat und ich, Herr von Doßberg, sind bemüht gewesen, Herrn von Montrose einen möglichst klaren Ueberblick über die vorliegenden Verhältnisse zu gewähren; daß dieser aber aus eigener Anschauung zu prüfen und zu entscheiden gedenkt, versteht sich wohl von selbst. Es handelt sich also darum, ob wir zunächst eine Einsicht in die Bücher nehmen oder die Rundfahrt um die Besitzung antreten sollen.“
In Doßbergs Gesicht zuckte und arbeitete es. Er setzte zweimal an, um seiner Stimme Festigkeit zu geben und die wenigen Worte hervorzubringen: „Ich stehe den Herren ganz nach deren Belieben zu Diensten!“
Der Landrat räusperte sich und sah ihn mitleidig von der Seite an. „Armer Kerl!“ dachte er für sich, und seine kleinen gutmütigen Augen zwinkerten hastig. „Fahren wir zuerst?“ schlug er vor und wandte sich an Herrn von Montrose.
„Ja, ich möchte dafür stimmen.“ Montrose wandte sich bei diesen Worten mit einer höflichen Gebärde an alle drei Herren.
„Gut denn, fahren wir! Doßberg, haben Sie das Anspannen bestellt?“
„Gewiß, Philipp kann jeden Augenblick vorfahren.“
„Aber ohne ’ne kleine Herzstärkung geh’ ich keinen Schritt!“ rief der joviale Landrat. Teufel auch! Sie waren alle wie die Oelgötzen, man mußte wenigstens versuchen, etwas „Leben in die Bude zu bringen“! Er ging mit langen Schritten auf einen kleinen geschnitzten Schrank in der Tiefe des Zimmers zu. „Da haben wir ja meinen lieben alten Freund, den braven Liqueurschrank! Haben schon manch vertrauliches Wort miteinander geschwatzt, er und ich, das können mir die Herren dreist glauben!“ Er öffnete die Thür und hielt ein paar Flaschen mit Kennermiene gegen das Licht. „Na, da ist noch mancher liebliche Tropfen! Prosit, meine Herren!“
Er führte sich ein Gläschen Cognac zu Gemüt und setzte eifrig für die übrigen Herren Gläser zurecht. Doch nur der Justizrat that ihm Bescheid. Doßberg schüttelte stumm den Kopf und Montrose lehnte höflich ab.
Draußen war inzwischen der Jagdwagen vorgefahren. Der Landrat ließ Montrose und Sorau vorausgehen und hielt den Baron in der Thür beim Aermel fest. „Nehmen Sie sich ein bißchen zusammen!“ flüsterte er hastig. „Harter Bissen für Sie, ich geb’s zu, aber ’s hilft doch nun ’mal nichts! Der ganze Kerl ist kalt wie ’ne Hundeschnauze, hat aber schwer Geld, das kann ich Ihnen sagen – also machen Sie ’nen schönen Preis und zapfen Sie ihn tüchtig an; viel von der Landwirtschaft soll er ohnehin nicht verstehen. Kopf hoch, und machen wir, daß bei der ganzen Geschichte wenigstens ’was Vernünftiges herauskommt!“
Doßberg nickte nur, ohne zu antworten. Sein schwerer dunkler Blick ging wie abwesend an dem Sprecher vorbei, so daß es zweifelhaft blieb, ob er diesen überhaupt verstanden hatte. Der Landrat schüttelte unmutig den Kopf und nahm seinen Sitz im Wagen ein. Sein scharfes Auge flog musternd über die Fensterreihen des alten Schlosses – er hätte gern als zweite „Herzstärkung“ irgendwo die schöne Ilse erspäht. „Hat sich was – es regt sich keine Gardine!“ murmelte er enttäuscht in sich hinein.
Die Fahrt verlief schweigsam. Notgedrungen machte Doßberg hier und da den Erklärer – man stieg aus, ging ein Stück Weges zu Fuß, besichtigte Scheunen und Ställe, stieg wieder in den Wagen, fuhr durch den Wald, hier und da langsamer, um das aufgestapelte Holz, das zum Verkauf kommen sollte, die jungen Schonungen und Anpflanzungen zu prüfen. Man musterte die Felder, fuhr am Waldrand und an den Wiesen entlang, kam zu den Vorwerken Belten und Gnadenstein, die früher zu „Perle“ gehört, jetzt aber abgelöst waren. Jedes Wort, das Doßberg
[97][98] zum Lobe seines Gutes, zur Erläuterung seiner Bewirtschaftung sagen mußte, that ihm beinahe körperlich weh, die eigene Stimme klang ihm hohl und fremd. Wie ein Träumender schritt der unglückliche Mann durch den Wald und hörte den Specht klopfen und den Kuckuck rufen wie damals, als er seinen Sohn hier traf, seinen einzigen Sohn, der nie das Erbe seiner Väter antreten sollte! Aus dem feuchten Waldboden quoll würziger Duft, fernher brauste die See mit tiefem ernsten Klang, und das Birkenlaub bebte im flüchtigen Windeshauch. Scheu wandte der Baron sein Haupt: kamen dort nicht in langem Zuge, unhörbar herangleitend auf dem weichen Moosboden, die Ahnen seines Hauses hinter ihm her, den Stammherrn Hans Gottfried in Harnisch und Eisenhut an der Spitze? Er kannte sie ja aus der Ahnengalerie, alle diese Gestalten, die jetzt drohend die Augen auf ihn gerichtet hielten. Weh’ Dir, was wagst Du zu thun? Einen Fremden willst Du schalten und walten lassen auf dem Grund und Boden Deiner Väter, und Du lebst noch? Du erträgst dies? Die „Perle“ willst Du hingeben, die Dein Urahn, der Stammvater Deines Geschlechts, einst aus der Hand seines Landesfürsten erhielt als ein unvergängliches Zeichen von dessen Huld und Gnade? – Wie mit glühenden Buchstaben geschrieben, verfolgten den Erregten plötzlich die Anfangsworte jener Schenkungsurkunde, die er so oft mit stolzer Freude sich eingeprägt hatte, die ihm nun zur Qual wurden: „Und maßen Du, Hans Gottfried Doßberg, mir hast beygestanden in schwerer Lebensgefahr und hast mich gedecket mit Deinem eigenen Leibe und mich errettet aus großer Todesnoth, darumb also will ich für Dich und Dein nachkommend Geschlecht seyn ein fürsorglicher Landesvater und will geben als fürstliches Gnadengeschenk Dir wie Deiner Sippschaft als meiner großen Huld und Dankbarkeit allewigen Beweys aus meyner Krone Ländern die Perle. Als welche gemeynt sei das Stück Landes ostwärts von Niederdamm bis zum Meer, mit Eynschluß von Wald und Wieswuchs, von Feld und Moor, und was sunsten noch zu benamsetem Länderstrich gehöret. Und soll unser Kanzler Dir festmachen die Schrift sammt Schenkbrief und Insiegel, also daß keines Menschen Hand an dies Dein geschenktes Eigenthum habe zu rühren. Und soll forterben auf Kind und Kindeskind, ein bleibend Angedenken –“
„Soll forterben auf Kind und Kindeskind, ein bleibend Angedenken,“ wiederholte der Baron flüsternd. Er zog sein Taschentuch heraus, trocknete sich die glühende Stirn und stammelte entschuldigend mitten in eine Auseinandersetzung über den Waldbestand, es sei ihm so schwül und die Luft unter den Bäumen so drückend.
Herr von Montrose war nicht nur ein höflicher, er war auch ein vorsichtiger Herr. Er sprach auch jetzt wenig, verhielt sich nicht zustimmend, aber auch nicht ablehnend und ließ in keiner Weise merken, ob ihm das Gut zusage oder nicht. Er hörte sehr aufmerksam zu, wenn Doßberg oder der Landrat eine Erklärung abgaben, machte sich viele Bemerkungen in sein Taschenbuch und warf ab und zu eine kurze Frage dazwischen, die wohl von Verstand, aber oft von wenig landwirtschaftlicher Erfahrung Zeugnis ablegte.
Der Justizrat langweilte sich beträchtlich während der ganzen Fahrt. Er gab sich zwar das Aussehen eines Sachverständigen und ließ zuweilen eine etwas dunkel klingende Phrase hören, war aber im übrigen bemüht, die Besichtigung möglichst abzukürzen. Endlich konnte er getröstet aufatmen – die Hauptpunkte waren erledigt, man fuhr nach dem Schloß zurück. Doßberg hatte den Herren ein Frühstück auf seinem Zimmer angeboten, ehe man an die Durchsicht der Bücher ginge. Sorau sah verstohlen nach der Uhr: gleich halb Zwei – unglaublich, wie eine solche Gutsbesichtigung aufhielt!
Im Schlosse angekommen, setzten sich die Herren um den runden Eichentisch im Arbeitszimmer des Barons, das im Erdgeschoß gelegen war. Selbst der muntere Landrqt war verstummt, so hungrig und übermüdet fühlte er sich und so drückend war ihm die ganze Lage der Dinge. Erst der wohlbcsetzte Frühstückstisch regte seine erschlafften Lebensgeister wieder an.
„Auf glückliches Zustandekommen unseres Unternehmens!“ sagte Sorau verbindlich und nähertn sein gefülltes Weinglas dem des Herrn von Montrose, der ihm mit seinem ruhigen unbewegten Gesicht Bescheid that.
„Der Teufel soll mich reiten,“ dachte der Landrat, „wenn ich weiß, ob dieser Halbfranzose nun eigentlich will oder ob er nicht will! Statt eines ehrlichen Menschengesichtes sieht man ein Buch mit sieben Siegeln vor sich, die reine Sphinx!“
Der Fremde hatte seinen Platz dem Fenster gegenüber und ließ den Blick verloren über den Hof schweifen. Plötzlich hob er interessiert den Kopf. Da draußen bot sich ihm ein wunderbares Bild. Von der linken Seite, von dort, wo an der Auffahrt der Weg ein wenig abschüssig angelegt war, kam in vollem Lauf ein kleines drei- bis vierjähriges Mädchen. Es war ländlich gekleidet, aber zierlich und nett – ein hübsches dralles Geschöpfchen. Lachend und jauchzend, die kleinen nackten Arme emporstreckend, sprang es daher, so schnell die Füßchen es nur tragen wollten, die Augen auf ein Ziel geheftet, das zweifelsohne die Ursache seiner Glückseligkeit bildete. Auf den Weg achtete die Kleine nicht im mindesten, und so kam es, daß sie stolperte, taumelte und offenbar zu Fall gekommen wäre, wenn nicht eben jetzt von der andern Seite eine junge Dame erschienen wäre, die sich hastig niederbeugte, die Wankende in ihren Armen auffing und gleich darauf, um sie den Schreck vergessen zu machen, hoch emporhob und küßte. Welch eine Erscheinung, welch ein Gesicht! Das schneeweiße Kleid, das offene, lang herabfallende Goldhaar, durch ein blaues Band im Nacken zusammengefaßt, konnte fast ein wenig theatralisch erscheinen, aber der reizend unbefangene Ausdruck des Gesichtes, das dem Beobachter am Fenster ganz nahe war, hob den phantastischen Eindruck ganz und gar auf.
Ilse war bei der kranken Mutter gewesen, hatte einen langen Brief geschrieben, selbst die Vorbereitungen zu dem Frühstück für die Herren übernommen – und endlich hatte sie an ihre Blumen gedacht und war in den Garten gelaufen, sie zu holen. Es war schön im Freien, die Sonne hatte sich schüchtern hervorgewagt. Da war Ilse tief und tiefer in den Park gegangen, und als sie nun umkehrte, ahnte sie nichts davon, daß die Herren bereits zurück waren und in ihres Vaters Zimmer saßen. Sie sah nur das Töchterchcn ihrer Wirtschafterin, einer jungen Witwe, jauchzend auf sich losstürmen – sie liebte das zutrauliche Kind sehr, und die Kleine vergalt ihr das mit ungestümer Zärtlichkeit – Trudchen drohte zu fallen, und so fing Ilse sie rasch in ihren Armem auf, herzte und küßte sie und blieb ahnungslos dicht vor dem Fenster zur „braunen Stube“, wie die Leute das Arbeitszimmer des Barons zu nennen pflegten, stehen.
Die Kleine haschte mit den dicken Händchen nach den schönen Haaren, in denen die Sonnenstrahlen ein lustiges Spiel trieben, aber Ilse bog den Kopf zurück und versuchte, ein sehr ernstes Gesicht zu machen. „Das darf man nicht!“ Dann wollte Trudchen die Lilien haben, die Ilse gepflückt hatte, und diese schenkte ihr eine und wollte sie das Näschen tief in den Kelch stecken lassen, aber die Kleine wußte ganz gut, was das abgab, und wollte durchaus, daß Ilse zuerst ihre Erfahrungen machen sollte. Endlich setzte Ilse das zappelnde Geschöpfchen auf die Erde – dann eine schnelle Bewegung, ein zufälliger Seitenblick – und das junge Mädchen stand wie angewurzelt, einen heftigen Schreck in den dunklen großen Augen, eine fliegende Röte in dem zarten Gesicht. Achtlos fielen die Lilien zu Boden. Hastig bückte sie sich danach … wie ihr die Hände zitterten! Mein Gott, es war doch nichts Besonderes geschehen! Sie hatte nichts Unrechtes gethan – nur mit dem Kinde gespielt und gelacht, freilich so dicht vor dem Fenster – wer sie nicht kannte, der konnte denken, sie habe sich absichtlich dahin gestellt. Ihr war, so flüchtig sie auch hingesehen hatte, das Gesicht des Mannes, der sie beobachtete, merkwürdig vorgekommen – ein Gesicht, wie man es nicht jeden Tag sah. War er derjenige, der die „Perle“ kaufen wollte, der neue Herr? Sie sammelte in Hast die Lilien, schüttelte unmutig das Haar zurück und lief mehr, als sie ging, zum Eingang des Schlosses, ohne auch nur den flüchtigsten Blick zurückzuwerfen.
Unterdessen sagte drinnen, im Arbeitszimmer des Barons, Justizrat Sorau: „Ich weiß nicht, Herr von Montrose, ob nach gehabter Einsicht in die Bücher Ihre ursprüngliche Absicht irgend welche Wandlung erfahren hat –“
Der Angeredete machte eine höflich ablehnende Gebärde. „Durchaus nicht. Wenn Baron Doßberg es mir gestattet, komme ich bald wieder. Ich bin so gut wie entschlossen.“
[99]
Es ging heute lebhaft zu im Garten des Offizierskasinos zu St. Fortwährend kam frischer Zuzug, die Offiziere schwärmten ein und aus, die Ordonnanzen liefen mit roten heißen Gesichtern herum. Man hatte eine Erdbeerbowle angesetzt – aber keine so schwache süße, bei der auch Damen mithalten könnten, diese hier war für stärkere Nerven, Baron Mock von Mockshausen hatte sie eigenhändig gemischt, und was der braute – alle Achtung! Ein bißchen heiß machte der „Stoff“, und heiß war’s ohnehin – na, das that nicht viel zur Sache! Die Uniformröcke wurden aufgeknöpft, die Halsbinden locker gemacht, man war ja „unter sich“, und „Ordonnanz, frisches Eis her!“ hieß es, sobald in der Kühlwanne der blinkende Wall, der die Bowle umschloß, zu schmelzen begann.
Ein neu in die Garmison versetzter Lieutenant, schon längere Zeit Premier, auf dem Sprung zum Hauptmann, sah sich mit vergnügten Augen im Kreise um und wirbelte unternehmend seinen Schnurrbart, ein wahres Prachtstück von einem Schnurrbart, rotbraun, lang und weich, der reine Staat. Wetter noch eins, hier kann es einem gefallen, dachte der Lieutenant, das hab’ ich nicht schlecht getroffen! Daß St. eine angenehme Garnison war und schön lag, das natürlich hatte Kurt von Oesterlitz längst gewußt und war daher recht gern hierher gegangen, aber daß die Kameraden ihm so „passen“ würden, daß der ganze Ton so ausbündig „sein eigenstes Genre“ sei – nein, das hatte er sich nicht vorgestellt. Wenn es nun hier noch hübsche Mädchen gab – der Sport konnte sich sehen lassen, das hatte er gleich herausgebracht – dann würde das ein verteufelt lustiges Leben geben.
„Hm, Kamerad, hübsch bei uns, nicht?“ fragte Baron Mock, genannt „der dicke Mock“, sein kupfrig rotes Gesicht nahe zu dem Neuling hinüberbiegend, während sein linkes Auge verschmitzt zwinkerte.
„Denk’ ich just!“ gab der Angeredete mit Nachdruck zurück, trank sein Glas leer und wischte sich die Weinperlen vom Bart. „Und Sie, Kamerad, sind ein Arrangeur ersten Ranges. Schneid’ und Gemütlichkeit, sehen Sie, das ist’s! Schneid’ und Gemütlichkeit – beides muß zusammengehen, eines ohne das andere ist fauler Zauber. Wenn Sie mich nur noch über einen Punkt beruhigen wollten, der mir nicht wenig am Herzen liegt, dann erklär’ ich Ihre Garnison für mein Ideal!“
„Na, los damit! So ein paar Punkte hätten wir heut’, sollt’ ich denken, schon durchgesprochen –“
„Aber nicht diesen einen! Und, wie gesagt –“
„Mock, was soll das heißen? Kamerad Oesterlitz hat ein leeres Glas vor sich!“ – „Darf überhaupt gar nicht vorkommen!“ – „Infamer Anblick!“ – „Ordonnanz! Ordonnanz!“ – „Sparen Sie doch Ihre schöne Stimme, Zeno, da ist ja schon die Ordonnanz und thut ihre heilige Pflicht!“ – „Zum Wohl, Kamerad Oesterlitz!“
In dem Durcheinander von Stimmen vernahm niemand sein eigenes Wort. Mock machte einen langen Hals und sah in die Bowle hinein, ob man ihr noch einiges zumuten könne. Er klopfte liebkosend gegen die dicke Wand des mächtigen Gefäßes, wie wenn er ein braves Pferd loben wollte – sie hielt noch aus.
„Sie haben Glück, Kamerad,“ wandte er sich zu Oesterlitz zurück, „daß Sie so mitten in die Fidelität hineingekommen sind – alle Tage klappt’s nicht so schön. Aber jetzt schweben die Beförderungen und der Urlaub in der Luft, das giebt dann so ’ne angenehme Spannung und eine allgemeine Beteiligung. Sie finden heute alles, was bei uns mitzureden hat, in gedrängtem Auszug beisammen –“
„Aber Mock, Mock! Redet der Mensch von ‚gedrängtem Auszug‘, wenn Montrose und Jagemann fehlen!“
„Also zwei Kameraden?“ fragte Oesterlitz dazwischen. „Wollen die Herren mich freundlichst au fait setzen?“
„Natürlich! Zeno – wo ist er hin?“ – „Zeno, heran!“ – „Kamerad,. Sie müssen wissen, dies ist die Scheherezade des Regiments – Zeno, machen Sie Ihren Knix!“
Zeno, ein schmächtiges blasses schwarzes Kerlchen mit einem klugen Fuchsgesicht, zündete sich gleichmütig eine Cigarette an. „Man erhitze sich nicht! Bei dem Gebrüll red’ ich keinen Ton.“
„Pst, pst! Ruhe!“ – „Wind, hör’ auf zu säuseln, Blätter, wollt ihr wohl euer Geflüster bleiben lassen, merkt ihr denn nicht: der Zeno will reden!“ – „Wohin mit ihm? Keine Tribüne da? Mock, gieb’ mal den Ehrensessel her!“
Der Ehrensessel war ein weißangestrichener Gartenstuhl, der etwas breiter und bequemer als die übrigen Sitze gebaut und mit einem rot und schwarz gestreiften Polster belegt war. Zeno nahm ohne weiteres auf diesem Prunksitz Platz, winkte der Ordonnanz, in gemessener Entfernung zu bleiben, und wendete sich verbindlich an Oesterlitz. „Sie wünschen, Herr Kamerad, von mir einiges Nähere über die Herren von Montrose und Jagemann zu hören?“
„Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen!“
„Gern! Da muß ich aber erst ein paar Worte von Montroses Familie sagen, wenigstens, was man sich da so erzählt. Verbürgen kann’s keiner, aber geredet wird, Ihnen muß es auch zu Gehör kommen, wie uns allen – besser also, Sie erfahren es durch uns, damit Sie gleich Stellung nehmen können.“
„Sehr hübsch, Zeno! Guter Anfang! Das nennt man Stimmung machen!“
Zeno zuckte mit einem kleinen spöttischen Lächeln die Achseln. „Die Montroses sind ein sehr altes Geschlecht – der Kamerad, den wir hier haben, hat so oft erzählt, seine Vorfahren hätten schon unter Heinrich dem Vierten eine Rolle in Frankreich gespielt, daß ich es schon erwähnen muß. Sie führen eine Rose im Wappen, es soll da vor ein paar Jahrhunderten eine bedeutungsvolle Geschichte mit einer schönen Dame und einer Rose gespielt haben –“
„Die Montroses sind überlieferungstreue Leute,“ fuhr Mock mit einem listigen Augenzwinkern dazwischen. „Noch heutigestags spielen bedeutungsvolle Geschichten mit schönen Damen bei ihnen ... mit und ohne Rosen.“
Oesterlitz hob den Kopf. „Damen? Ein Thema, das mich interessiert. Sie wissen, Herr Kamerad, ich hatte da noch eine Frage –“
Zeno schnitt mit der Hand durch die Luft. „Zu den Damen kommen wir später, für jetzt sind wir bei der Familie. Ja, also, die Familie wanderte aus, als die große Revolution kam, und zog zuerst nach Belgien, dann nach Deutschland. Der Vater des jetzigen Herrn von Montrose, der Großvater unseres Kameraden, war – das ist eine Thatsache – ganz arm nach Belgien gekommen und wurde dort in verhältnismäßig kurzer Zeit reich; hier in Deutschland wurde er noch reicher.“
„Sehr nett von ihm, wie hat er denn das gemacht?“ kam eine vorwitzige junge Stimme aus dem Hintergrund, von dorther, wo die Bowle stand.
„Ja, mir hat er’s nicht anvertrant, lieber Grottwitz.“ sagte Zeno gelassen, „ich hatte nicht das Vergnügen, diesen interessanten alten Herrn zu kennen. Man sagt von ihm – wofür ich indessen in keiner Weise die Verantwortung übernehme – er sei ein hervorragendes Finanzgenie gewesen und außerordentlich sorglos in der Wahl seiner Mittel. Er wollte Geld machen um jeden Preis, und er machte es; er wollte emporkommen um jeden Preis, und er kam empor – das heißt, mit einer gewissen Einschränkung. Es hat Kreise gegeben, die sich ihm hartnäckig verschlossen hielten, trotzdem er mit einem goldenen Zauberstab anklopfte. Wieder andere öffneten sich ihm langsam und zögernd ... immerhin, sie öffneten sich! Noch andere nahmen ihn mit offenen Armen auf und folgten errötend den Spuren seiner Spekulationen. So saß er in Berlin schon hübsch fest im Sattel, aber da kam eine dumme Geschichte – ein Manöverchen, wissen Sie, bei dem sich ungeheuer verdienen läßt, wenn man gewisse Bedenken übersieht. Der alte Herr besaß diese Vorurteilslosigkeit und strich einen schönen Gewinn ein, zugleich aber mußte er aus Berlin verschwinden, denn Friedrich Wilhelm der Vierte verstand in manchen Dingen keinen Spaß, und die gute Gesellschaft that es ihm nach und sah den Mann der kühnen Spekulation nicht weiter an. Da ging er denn samt seiner Gattin und dem einzigen Sohn nach Brüssel zurück und machte seine betriebsamen Pläne im stillen. Sehr schlecht war bei der ganzen Geschichte besagter einziger Sohn, eben der Vater unseres Kameraden, davongekommen. Er war zum Diplomaten bestimmt, soll hervorragend begabt und sehr ehrgeizig gewesen sein und hatte seine Laufbahn bereits an einem der ausländischen Höfe aufs beste begonnen; die Finanzthaten seines Herrn Vaters aber brachen dem jungen Mann kurzerhand den ganzen Lebensplan und die schöne Laufbahn entzwei.“
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Der Schillerpreis ist durch die Ereignisse der letzten Zeit der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit geworden. Gestiftet wurde der Preis bei der Säkularfeier Schillers 1859 durch den damaligen Regenten Prinz Wilhelm von Preußen, den späteren Kaiser Wilhelm I. Nicht wie bei anderen Preisen handelt es sich bei diesem um einen ausgeschriebenen Wettbewerb, sondern der Preis soll – alle drei Jahre – stets dem besten innerhalb dieses Zeitraums veröffentlichten Drama zuerteilt werden. Der Erfolg der Aufführungen soll dabei mitsprechen; doch ist er allein keineswegs maßgebend, und nach den Satzungen kann der Preis auch einem nur durch den Buchhandel veröffentlichten Drama zufallen. Das Prüfungskomitee ist nicht ständig, sondern wird durch den preußischen Kultusminister allemal für drei Jahre von neuem ernannt. Sein Vorschlag unterliegt der Entscheidung des Königs von Preußen. Ist kein Drama vorhanden, das die Auszeichnung verdient, so wird dem Komitee ein gewisser freier Spielraum gewährt; der Preis, bestehend in 3000 Mark und einer goldenen Medaille, kann auch an Dichter verliehen werden, welche sich im allgemeinen und durch frühere Werke um die dramatische Litteratur verdient gemacht haben, ja selbst an solche, deren Talent sich in anderen Dichtgattungen bewährt hat. So ist vor drei Jahren der Preis zwischen Theodor Fontane und Claus Groth geteilt worden, welche beide niemals ein Drama geschrieben haben. Außer diesen haben bisher den Schillerpreis erhalten Friedrich Hebbel für seine „Nibelungen“, Albert Lindner für „Brutus und Collatinus“, Emanuel Geibel für „Sophonisbe“, Franz Nissel für „Agnes von Meran“, außerdem Adolf Wilbrandt, Ernst von Wildenbruch, Paul Heyse, Ludwig Anzengruber. Bei diesen letzteren allen wurde mehr der Nachdruck auf ihr ganzes dramatisches Schaffen gelegt. Seit dem Bestehen des Schillerpreises ist den Entscheidungen der Kommission noch nicht die königliche Bestätigung versagt worden. Dies ist bei Fuldas „Talisman“ zum erstenmal geschehen.†
Ein Marabut in Verzückung. (Zu dem Bilde S. 89.) Die Glut der afrikanischen Sonne zeitigt ungewöhnliche Arten von Frömmigkeit. Das zeigt unser Bild, zu welchem dem Maler ein von ihm geschauter Vorgang in Tanger an der Nordküste von Afrika den Stoff gegeben hat. Zwar die Worte, die in arabischen Schriftzeichen an der Wand stehen, muten auch uns vertraut an, wenn wir sie uns ins Deutsche übersetzen lassen: „Gott möge Dich beschützen. Möge Gott seinen Segen herabsenden auf Dein Haupt!“ Aber die Erregung, die Leidenschaft derer, die auf dem Bilde uns entgegentreten, versetzen uns unter fremden Himmel. Da fallen die Blicke zuerst auf den Mann, der, verzückt und weltentrückt, den Mittelpunkt des seltsamen Kreises bildet. Es ist ein „Marabut“ – so nennen die mohammedanischen Bewohner des nordwestlichen Afrika jene Fanatiker, die Allah zu Ehren ein „heiliges“ Leben führen, indem sie sich mit aller Glut versenken in die heiligen Dinge und ihre Andacht bis zur Verzückung steigern. Dafür wird ihnen unbedingte Verehrung zu teil, man sieht in ihnen Propheten, denen die Zukunft enthüllt sei, Wunderthäter, die in allerlei Not noch eine letzte Hilfe geben können. Wie tritt auf unserem Bild diese Verehrung auf jedem Gesicht hervor! Der eine berührt mit scheuer Gebärde das zerrissene Gewand des Marabut, als wollte er es küssen, ein anderer, der Alte rechts mit dem grauen Bart, streckt betend und segenflehend seine Hände aus, und im Vordergrund hat sich einer im Ueberschwang seines Gefühls zur Erde geworfen, nur die gefalteten Hände über seinem Kopf deuten an, daß andächtige Schauer ihn erfüllen. Selbst die beiden, die aus dem Koran Gebete murmeln, wenden ihre Augen wie gebannt dem „Heiligen“ zu. Der aber verharrt in seiner Unbeweglichkeit, sein Blick bleibt starr nach oben gerichtet, als schaute er seinen Gott in lebendiger Nähe.
Nächtlicher Kaffeeschank in Berlin. (Zu dem Bilde S. 93.) Das nächtliche Leben in einer Großstadt treibt allerlei sonderbare Blüten. So kann man in der Friedrichstraße zu Berlin des Nachts einen Wagen umherfahren sehen mit einem großen Kessel, aus dem ein Mann ein dampfendes Getränk verzapft. Es ist eine fliegende Kaffeeküche, die ihr Erzeugnis zu 10 Pfennig den Topf an die dort viel verkehrenden Zeitungs- und Streichholzhändler, Blumenverkäuferinnen, Droschkenkutscher, Straßenreiniger u. dergl. abgiebt. In kalten Nächten ist der Wagen stets von einer zahlreichen Kundenschar belagert, und wie in Berlin der Volkswitz gern allem und jedem seine scherzhafte Bezeichnung giebt, so hat er auch für diese nächtliche Kaffeeschenke den stolzen Namen „Café Bauer“ erfunden, in ironischer Anlehnung an das benachbarte wirkliche „Café Bauer“. Aber vielleicht wird manche arme durchkältete Seele bei ihrer Tasse Kaffee auf der vom eisigen Windhauch durchfegten Straße mehr Genuß haben als der flotte Nachtschwärmer bei seinem Schälchen „Melange“ in den wohlig durchwärmten Prachträumen.
Straßenbild aus dem alten Pompeji. (Zu dem Bilde S. 85.) Das alte Pompeji, das im Jahre 79 n. Chr. durch einen furchtbaren Ausbruch des Vesuvs verschüttet, dann um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wieder entdeckt und seitdem zu einem großen Teile – und zwar dem wichtigsten – wieder ausgegraben wurde, bietet für uns Kinder einer anderen Zeit das treueste und anschaulichste Bild einer alten griechisch-italienischen Stadt aus der ersten römischen Kaiserzeit. Mit Vorliebe hat darum auch die Kunst dort ihre Studien gemacht, wenn sie das Privatleben der Römer und römischen Unterthanen jener Zeit zu schildern unternahm. Einmal bevölkerten sich sogar die zweitausendjährigen Ruinen wieder mit festlichem Menschengedränge, die alten Trachten, die alten Sitten lebten wieder auf zwischen den gebrochenen Mauern, als wären die glücklichen Tage des Kaisers Titus zurückgekehrt – es war vor zehn Jahren, als zum Besten der vom Erdbeben schwer geschädigten Bewohner der Insel Ischia jenes antike Kostümfest in Pompeji veranstaltet ward, das die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1884, Nr. 25 beschrieb. Auch der italienische Maler, dem wir unser Bildchen verdanken, hat mit der Kraft der Phantasie den Trümmern wieder Leben eingehaucht. Durch die wohlgepflasterte Gasse wandelt die schöne Sklavin mit der bauchigen Amphora, das Blumenmädchen weiß ihr ein zärtliches Geheimnis zuzuflüstern, indes der wohl von griechischer Erde stammende Tabellarius oder Sekretär – auch er nach dem Brauch der Zeit ein Sklave – zu einem durstigen Zug aus dem Inhalt des Wasserkruges sich anschickt. Knechte eines Fechterhauses haben sich zu ihnen gesellt, von denen einer mit großen Buchstaben die Ankündigung des nächsten Gladiatorenspiels an die Wand des mit freundlichem „Salvete“ („Willkommen!“) grüßenden Hauses malt. Ein halbwüchsiger Knabe trägt auf seinem Kopfe ein Brett mit den Farbentöpfen, während im Hintergrund der Laden eines Geflügelhändlers sich aufthut. Ja, so mag es wohl ausgeschaut haben in der altberühmten Colonia Venerea Cornelia Pompeji, in der blühenden Stadt der Venus, ehe der Vesuv sie unter der Asche begrub.
Kleiner Briefkasten.
Treue Abonnentin in Dresden. Wir können von Ihrer freundlichen Gedichtsendung leider keinen Gebrauch machen.
H. in A. Sie möchten sich rasch über die wichtigsten Fragen der Gesundheitslehre unterrichten und wünschen, daß wir Ihnen zu diesem Zwecke ein nicht zu umfangreiches Buch empfehlen, da Sie als Kaufmann, mit Geschäften überhäuft, nicht viel Zeit zum „Studieren“ übrig haben. Wir möchten Sie neben dem bekannten Werke von Baas, „Gesundheit und langes Leben“, auf das Buch „Schutz der Gesundheit für Jedermann“ von Dr. J. Ruff (Straßburg i. E., Straßburger Druckerei und Verlagsanstalt) aufmerksam machen. Es ist ein kleines illustriertes Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege, in welchem die brennenden Fragen der Gegenwart berücksichtigt sind.
Inhalt: [ Verzeichnis des Inhalts von Heft 4/1894 - hier nicht dargestellt.]
In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Die Band-Ausgabe von E. Werners Romanen erscheint vollständig in 10 Bänden zum Preise von je 3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.
Inhalt der Bände: 1. Glück auf! 2. Am Altar. – Hermann. 3. Gesprengte Fesseln. – Verdächtig. 4. Frühlingsboten. – Die Blume des Glückes. 5. Gebannt und erlöst. 6. Ein Held der Feder. – Heimatklang. 7. Um hohen Preis. 8. Vineta. 9. Sankt Michael. 10. Die Alpenfee.
Auch in 75 Lieferungen zum Preise von 40 Pfennig zu beziehen. (Alle 14 Tage eine Lieferung.)
Bestellungen werden jederzeit in beinahe allen Buchhandlungen angenommen. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die
- ↑ Onze, eine sicilianische Rechnungseinheit alten Stils = drei neapolitanische Ducati = 10 Mark unseres Geldes; 30000 Onzen also = 300000 Mark.