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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 46.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (10. Fortsetzung.)

Diesmal schritt ich nicht dem Dorfe zu, sondern in entgegengesetzter Richtung, ich mochte all die Weihnachtsvorbereitungen nicht sehen, was kümmerten sie mich! Auf der Landstraße inmitten der großen Wälder wurde ich am wenigsten an sie erinnert. Und so wanderte ich mit raschen Schritten thalabwärts; ein paar Holzschlitten begegneten mir, auf jedem lag ein Weihnachtsbäumchen. In der Luft hing viel Schnee, und einzelne weiße Flocken taumelten auch schon hernieder. Meine Stimmung wurde immer banger, immer trostloser; mein junges Herz schrie förmlich auf vor Sehnsucht. Ich hatte ja gar nichts, gar nichts in der Welt – Mama liebte mich nicht, nein, sie liebte mich nicht mehr; aus Sorge um mich hatte sie sich verkauft und hatte mich unglücklicher gemacht mit diesem Opfer, als ich es in Hunger und Not geworden wäre. Und das war das Schlimmste, sie hatte ihre Seele mit verkauft, sie empfand nicht mehr, daß sie half, mich elend zu machen, sie fühlte wie ihr Gatte, und wenn wirklich noch ein Restchen von Liebe für mich in ihr war, so würde auch dies sich bald einem andern Gegenstand zuneigen. Ach, wie schrecklich der Gedanke, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, die man nicht lieben kann, die man hassen muß! O, ich haßte die Geschwister jetzt schon von ganzer Seele, wie nur ein liebebedürftiges verstoßenes junges Menschenkind zu hassen vermag. Und wie sie es verstanden, alle, alle, mich zu foltern! Ein Gefangener war besser daran, der durfte arbeiten für künftige Jahre der Freiheit – ich saß unthätig da. Ich hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen, war wie ein unmündiges Kind, dessen Willen man nicht beachtet, weil es eben kindisch ist, und dem ein Urteilsvermögen nicht zugebilligt wird. Nicht ’mal einen Pfennig Geld besaß ich.

Mama hatte ich nicht darum bitten wollen, die Base auch nicht; auch nur ein kleines Weihnachtsgeschenk für die alte treue Seele zu besorgen war ich außer stande gewesen. Was sollte mir auch Geld, mochten sie denken. Man gab mir Kleidung und Essen und mehr wäre vom Uebel gewesen, ich hätte ja damit ausreißen können! Nur Zeit ließ man mir, Zeit in Hülle und Fülle, um über mich nachzudenken, um möglichst gründlich einzusehen, welch eine Thörin ich gewesen war, den reichen Freier auszuschlagen.

Ich ballte die Hände im Muff. Da rede man noch vom freien Willen eines Menschen, eines Frauenzimmers obendrein! Lag es in meiner Macht, mich dieser Lage zu entziehen? Sicher nicht. Auf welche Weise denn? Nicht einmal das Reisegeld bis zur nächsten größeren Stadt hätte ich gehabt, nicht ’mal so viel, um in den allerbescheidensten Gasthof zu gehen, bis ich eine Stellung gefunden, oder um ein Vermittlungsbureau oder eine Anzeige zu bezahlen. Ich konnte mich doch nicht auf der Landstraße weiter betteln. Es klingt so einfach: durch eigene Kraft, auf eigenen Füßen durchs Leben! Wie schwer ist es aber für ein Mädchen, das nicht von frühester Jugend auf dazu erzogen ist! Man hatte mich so erziehen wollen, aber das Kranksein, das unselige Kranksein! O, bettelarm war ich an Habe, an Schutz, an Liebe!

In diesen Gedanken hatte ich nicht darauf geachtet, welch

Der neue Kanzler des Deutschen Reiches,
Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst.
Nach einer Aufnahme aus dem Atelier van Bosch in Straßburg i/E.

[774] große Strecke ich gewandert war, und stand nun plötzlich an der Stelle der Waldstraße, wo sie sich um einen schroff vorspringenden Felsen windet und auf der anderen Seite steil nach einer Schlucht zu abfällt, geschützt durch eine einfache niedrige Mauer. Der letzte Tagesschein lag über der tannenbewachsenen Schlucht, über den Bergen, die rings umher aufstrebten; eine große ergreifende Einsamkeit umgab mich. Nichts rührte sich in diesen Wäldern, nur die Schneeflocken tanzten ihren stummen Reigen um mich her. Ich hielt den Atem an und lauschte. Ein Bangen überkam mich plötzlich – so still alles, so totenstill, nicht das Brechen eines Zweiges, nicht der Knall einer Peitsche, kein Schuß, der widerhallte in den Wäldern. Selbst der Wilderer jagte heute nicht – es ist Weihnachten, Frieden auf Erden für jede Kreatur, Frieden und Freude und ein trautes Sichfinden und Beieinanderbleiben – nur für mich nicht!

Da schüttelte mich ein wildes Herzeleid. Ich setzte mich auf das Mäuerchen in den Schnee und die Thränen rannen mir heiß aus den Augen. Wenn mich der liebe Gott lieb hat, dachte ich, läßt er mich hier nicht allein, dann schickt er mir jetzt etwas – etwas – einen Trost, ein Zeichen, daß es besser wird. Und so lange bleibe ich hier sitzen, und sollte ich darüber erfrieren. Finden sie mich hier tot – nun, so ist alles gut.

Und dann ließ ich mein naß geweintes Taschentuch sinken – es klangen Glocken herauf zu mir, abgetönte Schlittenglocken, wie sie die Postpferde hier trugen und ich begann zu überlegen, ob ich nicht mit zurückfahren solle, wenn Platz vorhanden wäre, denn es war stark dämmerig geworden und ich hatte noch weit nach Hause. Und plötzlich schmetterte das Posthorn durch den Wald.

„O Tannenbaum, o Tannenbaum –“

klang es so frisch, so weihnachtlich!

Aber das war doch nicht die gewöhnliche Post? Da bogen sie um die Ecke, die Postpferde, vor einem hübschen Schlitten, der Schwager mit dem Federbusch auf dem Hut nach Herzenslust blasend, und im Schlitten – ich wandte mich enttäuscht ab – ein gewöhnlicher – ich sah noch einmal hin – ein ganz gewöhnlicher Soldat, weiter nichts. Mögen sie voranfahren, dachte ich und rührte mich nicht.

Einen Augenblick verstummte Blasen und Schellengeläut, einen Augenblick nur; dann erklang es wieder, und langsam wandte ich mich dem Heimweg zu. Aber da stand plötzlich dieser Soldat vor mir, ein großer schlanker Mann, die Mütze etwas zur Seite gerückt auf dem krausen Haar, ein Tannenzweiglein zwischen den Lippen. Und nun nahm er dieses Zweiglein aus dem Munde, legte die Hand an die Mütze und fragte. „Fräulein Anneliese von Sternberg?“

Ich starrte ihn wortlos an, erstaunt, verwirrt. Dann erkannte ich das hübsche frische Gesicht, die treuherzigen ernsten Augen – ja, er war es, der Fremde vom Westenberger Kirchhof, von Hannchens Grab. Ich wischte mir eine Schneeflocke aus den Wimpern und fühlte, wie meine Hand zitterte.

„Die bin ich,“ stotterte ich.

„Darf ich Ihnen einen Platz im Schlitten anbieten?“ fragte er weiter, „Sie entschuldigen meine Dreistigkeit, gnädiges Fräulein, aber der Weg ist noch weit und es dunkelt schon – Sie wollen doch sicher nach Langenwalde zurück?“

Ich konnte nichts weiter erwidern als ein halblautes Ja und schickte mich an, neben ihm zu gehen, dem Schlitten nach, der eben dort unten hielt.

„Es ist ein richtiger Weihnachtsabend,“ begann er unbefangen im Weiterschreiten „ein richtiger deutscher Weihnachtsabend.“ Und er lächelte dabei in eigener stiller Weise. Dann half er mir in den Schlitten und langsam ging es bergan. Der Schwager blies ein anderes Lied, ein altes Soldatenlied, das mein Vater zu pfeifen pflegte und das die Rekruten singen, wenn sie ausgehoben worden sind und mit farbigen Schleifen an den Mützen durch die Straßen ziehen, ein Lied, von dem ich nur die Melodie und die erste Strophe kannte:

„Was grüßt so traulich aus der Ferne,
Das liebe teure Vaterhaus?“

Da nahm er wieder das Tannenzweiglein in den Mund und biß darauf, als fühlte er einen körperlichen Schmerz, den er auf diese Weise unterdrücken wollte, und sich. zu mir wendend, sagte er lächelnd: „Ein Deutscher verlernt nicht das Heimweh, selbst wenn die Heimat ihn verstoßen und ihm Steine gegeben hat statt Brot – Herr Gott, das ist alles noch ebenso wie damals, und es muß nun grade so schön schneien, und die drei einzelnen Tannen da oben auf der Höhe müssen auch noch stehen! Schwager, wenn’s möglich ist, hören Sie auf, man wird ja zum kleinen Jungen, man vergißt, daß man – daß man – –“

Der Postillon setzte das Horn ab und sah sich verwundert nach uns um.

„Verzeihen Sie, Fräulein von Sternberg,“ wandte sich mein Nachbar an mich, „es giebt Augenblicke, in denen die Seele Mühe hat, ihr Gleichgewicht zu behalten. – Hören Sie nicht auf mich, wenn ich sentimentales Zeug rede, aber lachen Sie auch nicht darüber!“

„Waem soll ich den lachen?“ fragte ich. „Ich lache nie über jemand, der seine Heimat lieb hat.“

„Wissen Sie denn, daß dies meine Heimat ist?“

Und da kam plötzlich jene kecke Stimmung über mich, die mich rücksichtslos sagen ließ, was mir durch den Kopf zuckte. „Ich denke wohl, Herr Robert Nordmann.“ Ich hatte ihn dabei angesehen, und das Herz schlug mir wie wahnsinnig.

Er wandte mir ein leicht erblaßtes Gesicht zu. „Erklären Sie mir, woher wissen Sie?“ fragte er.

„Ach, ich bitte Sie,“ lachte ich, „wenn man alle Tage erzählen hört von diesem Robert, jeden Abend hört, wie ein Paar alte Frauenlippen inbrünstig beten, daß der liebe Gott ihn beschützen möge und zurückführen und wenn einem morgens immer gesagt wird: ‚Sehen Sie, Annelieseken, aus dieser Tasse hat er getrunken und sehen Sie, diese Beule hat er in den Löffel gebissen und von diesem Apfelbaum hat er seine ersten Aepfel genascht und wegen der Großmutter von der alten Katze hat er einst Ohrfeigen von mir bekommen, weil er das Unglückstier in seinen Kahn setzte und auf dem Mühlgraben schwimmen ließ. Und, Annelieseken, schauen Sie, das hat er für mich ausgesägt und das Gedicht hat er einst als Neujahrswunsch hergesagt, und, Annelieseken, das ist die Kappe, die hat er noch tags vorher aufgehabt, ehe er fortgegangen ist auf Nimmerwiederkehr. Und so hat er ausgesehen und – –‘ Da hat man doch das Porträt so ziemlich! Und dann steht da jemand plötzlich an Hannchens Grab, der hat so braune Haare und solche Augen, wie sie die Base immer beschreibt – nun, gehört da so große Findigkeit zu dieser Entdeckung, mein Herr?“

Er antwortete nicht, er lächelte bloß vor sich hin.

„Nur eines ist mir nicht klar,“ fuhr ich fort, „die Uniform. Sind Sie gekommen, um sich zu stellen, Ihr Jahr abzudienen?“

„Ja,“ sagte er einfach, „spät genug! Aber ich konnte nicht früher, ich durfte meinen alten Vater nicht verlassen.“

Ich hörte gar nicht, was er sprach, mein Herz jubelte plötzlich auf und ich dachte an den alten Schutzengel, die Base. „Die Base,“ rief ich, „was wird die Base sagen! Sie dürfen ihr so nicht in die Stube fallen, Herr Nordmann,“ fügte ich hinzu, „sie stürbe vor Freude. Soll ich sie vorbereiten?“

Ich hatte gar nicht mehr das Gefühl, daß ein Fremder neben mir sitze, ein Mann, mit dem ich soeben das erste Wort gewechselt hatte; ich war einfach glücklich in dem Gedanken an die alte Frau und bemerkte nicht, daß er still wurde, daß er mich sprechen ließ. Beschämt hielt ich plötzlich inne. „Verzeihen Sie!“ stotterte ich.

„Verzeihen? Was denn? Daß mir die alte Heimat einen Weihnachtsgruß schickt aus solch liebem Mädchenmunde? Sprechen Sie nur, spreche Sie weiter, Fräulein von Sternberg!“

„Nein,“ sagte ich verwirrt, „ich störe Sie in Ihren Erinnerungen.“

„Durchaus nicht! Ich will auch keine Erinnerungen in diesem Augenblick, sie sind trübe und schwer.“

„Aber warum kamen Sie nicht früher zur Base?“

„Ich wußte nicht, daß sie hier oben sei, und habe erst allerhand Erkundigungen eingezogen in Westenberg, zudem – es mußte mein erstes sein, mich der Militärbehörde zu stellen; es galt, lange Hinausgeschobenes nachzuholen. Sie sehen, ich stecke schon im bunten Rock, da hat man wenig eigene Zeit. Meinen sonstigen Verwandten beabsichage ich erst dann einen Besuch zu machen, wenn ich des Königs Rock wieder ausziehe. Wir haben einander wenig zu sagen, Ihr Herr Stiefvater und ich. Und dies Wenige –“

„Sie wissen, daß er Mama –“

„Ich weiß, ja; seit ganz kurzer Zeit weiß ich’s.“ Es klang wunderlich; der weiche Ton war fast scharf und absprechend geworden; er schien wenig einverstanden mit dieser Heirat.

[775] „Mama würde sich sehr gefreut haben,“ stotterte ich.

Er lenkte, die Antwort unterlassend, das Gespräch ab. „Bin neugierig, ob ich noch alles so finde wie vor Jahren, die Mühle, das Schulhaus und das Schlößchen. Ich glaube, so lange ich fort bin, war ich jede Woche einmal im Traum hier, und wie deutlich erschien mir alles, wie klar stand es mir vor Augen! – Wenn Sie wüßten,“ fuhr er fort, „wie schmerzlich es mir war, daß ich nicht sofort herübereilen konnte, als der Krieg erklärt wurde! Ich war zu jung, war mitten in meinen Studien und durfte auch meinen Vater nicht verlassen, der schon sehr kränkelte. Er war geradezu lebensgefährlich erregt über meine Absicht, nach Deutschland zu gehen. So blieb ich denn in Cambridge, wo ich die Universität besuchte, und begnügte mich mit den Zeitungsberichten, die ich angesichts der Photographien unserer berühmten Helden in meinem Zimmer verschlang, und – ich muß es bekennen – unter heißen Thränen der Entsagung. Als dann die Kaiserproklamation erfolgte, war ich wie toll, und als echter Deutscher bekneipte ich mich zum erstenmal in meinem Leben sträflich. Sie sehen mich entsetzt an, Fräulein von Sternberg? ’s ist nicht schön, ich weiß es, aber die Begeisterung hatte an dieser Illumination mehr schuld denn der Wein. Am andern Tage natürlich Kopfweh – und trotzdem das beglückende Gefühl: ein deutscher Kaiser, ein einiges Reich!“

„Was studierten Sie denn?“ fragte ich, lachend über seine Schilderung.

„Rechtskunde!“

„Sie sehen gar nicht aus wie ein Jurist.“

„Ich mache auch vorläufig keinen Gebrauch davon, mein Fräulein, ich bin für gewöhnlich Müller.“

„Wie? Was?“ stotterte ich.

„Müller,“ wiederholte er, „Mehl, Weizenmehl. Ja, aber Sie müssen dabei nicht an so ein Idyll denken wie das vor uns – schauen Sie, da ragt eben das Dach und die Linde über die Höhe – Himmel, noch ganz wie einst, und das Storchnest ist auch noch da! Nein, so ein Idyll am rauschenden Bächlein mit dem klappernden Rad ist’s nicht – Dampfbetrieb ist’s bei uns und lange nüchterne Gebäude mit mächtigen Essen stehen da, und drinnen surrt und klappert es, und zwischen dem Räderwerk hantieren tausend geschäftige Menschenhände. Keine Mühlenpoesie freilich, der Müllerbursch hat keine Zeit, für die schöne Müllerin zu schmachten, dem Bach seine Liebe zu klagen und Vergißmeinnicht zu pflücken. Eins greift dort ins andere, eins schiebt das andere, bis der weiße feine Staub wohlverpackt auf den Schienen dahinrollt in die Bäckereien der Großstädte.“

„Und dabei und Sie Jurist?“

„Auf besonderen Wunsch meines verstorbenen Vaters. Ich höre jetzt sogar Vorlesungen in meiner Garnisonstadt.“

„Woher kommen Sie denn?“

„Von Halle, gnädiges Fräulein. Ein bißchen alt, der Student, nicht wahr? Aber es ging nicht anders. Halt!“ rief er plötzlich dem Postillon zu, „ich steige hier aus. Die Dame fahren Sie vor das Herrenhaus, kehren dann im Gasthof ein und lassen sich Essen und Trinken geben! Also, Fräulein von Sternberg, bereiten Sie die alte Frau vor, ich möchte trotz der Dunkelheit vorher durch das Dorf gehen, ich hätte sonst keine Ruhe, und ich will mir auch Quartier bestellen.“

„Aber wohnen Sie denn nicht im Schloß?“ fragte ich erstaunt.

„Nein!“ antwortete er kurz, „auf Wiedersehen! Ich muß erst noch die Schwelle des Hauses begrüßen, wo ich mich mit den Dorfjungen balgte und an dessen Fensterscheiben ich meine Nase platt drückte.“

Er war währenddem aus dem Schlitten gestiegen, grüßte, und ich sah, wie er einen Kranz aus der Schachtel nahm, die neben dem Postillon auf dem Bocke stand, dann ging er rasch fort, und nun wußte ich, wohin er wollte – zum Grabe seiner Mutter.


Ich stürzte nur so aus dem Schlitten, als ich vor dem Langenwaldener Hause hielt, und über den Hof ins Schloß, so daß ich beinahe Frau Hübner umgestoßen hätte, die ein großes Holzbrett voll duftiger Wecken trug.

„Mein Gott, sind die Wölfe hinter Ihnen, Fräulein von Sternberg?“ schalt sie lachend. „Sie sind lange ausgeblieben, die Base läuft vor Angst aus einer Stube in die andere.“

Ich hörte das nur noch undeutlich, denn ich wae die Treppe hinaufgerannt, als ob ich wirklich verfolgt würde. Dann stand ich still, um mein Herzklopfen zu beruhigen und des raschen Atmens Herr zu werden. Wie sollte ich sie denn nur vorbereiten? Jede diplomatische Fähigkeit ging mir ab, und ein Weihnachtsmärchen zu ersinnen, das verstand ich nicht; es erschien mir selbst ja alles so unglaublich, so wunderbar. Wäre er doch lieber gleich mitgekommen!

Und dann faßte ich mir doch ein Herz und trat ein. Die alte treue Seele saß müßig am Ofen – das Spinnrädchen durfte heute nicht angerührt werden – und hatte ganz rot geweinte Augen.

„Annelieseken,“ sagte sie vorwurfsvoll, „kommen Sie endlich? Um ein Uhr sind Sie fortgegangen, und jetzt ist’s gleich Sechs. Ich habe eine Todesangst ausgestanden.“

„Base, meinten Sie, ich sei davongelaufen?“ rief ich lachend.

„Ei, was muß man denn Ihnen nicht zutrauen?“ schalt sie. „Und da sind Kisten und Pakete gekommen, vier Stück, und ich habe auch ein kleines Bäumchen geputzt und die Kisten geöffnet, Sie brauchen’s nur auszupacken. Da drinnen steht alles, aber ehe ich die Weihnachtslichter anbrenne, müssen Sie Thee trinken.“

„Ach, Base,“ brachte ich mühsam hervor und preßte ihre Hand, daß sie vor Schmerz Gesichter zog, „ach, Base, nicht böse sein, ich bin ja nur ausgegangen, um ein Weihnachtsgeschenk für Sie zu besorgen.“

„Herrje, so ’was!“ sagte sie, „das ist doch unrecht. Haben Sie denn Geld, Fräulein Anneliese?“ setzte sie dann wie erschreckt hinzu.

„Zwanzig Pfennig, Base! Aber sehen Sie, Auslagen habe ich, Gott sei Dank, nicht zu machen brauchen für meine Christbescherung, und doch ist’s das Liebste, das Sie sich wünschen – ich kenne ja Ihre Wünsche. Bitte, keinen Kuchen jetzt, nachher, später – ich kann jetzt nicht essen. Später, beste Base! Aber nun raten Sie – ganz hoch! Ich habe nämlich etwas auf der Landstraße gefunden und das hab’ ich aufgelesen, oder vielmehr – es hat mich aufgelesen, sonst wäre ich noch nicht hier, und das bekommen Sie. Können Sie's denn noch nicht erraten?“

Die alte Frau schob die Brille zurück, die sie noch vom Gesangbuchlesen trug, und warf einen besorgten Blick auf mich, die ich Pelzmütze, Jackett und Galoschen auf einen Stuhl geworfen hatte und vor Aufregung wie ein ausgelassenes Füllen umhersprang.

„Etwas, was Sie immer für unmöglich hielten, obgleich es Ihr größter Wunsch ist, Base,“ quälte ich sie weiter, „etwas Lebendiges – so groß ist’s!“ Und ich reckte mich auf den Zehen und hielt den Arm empor.

Sie warf mir nur einen schmerzlichen vorwurfsvollen Blick zu. „Ach, Anneliese, spotten Sie doch nicht über mich!“

Ich fiel ihr um den Hals. „Gott sei dafür, liebste Base, ich spotte gewiß nicht!“

Da schob sie mich mit beiden Händen zurück und sah leichenblaß in meine Augen. „Annelieseken!“

„Base!“

Und dann tastete sie nach dem nächsten Stuhl. „Es ist ja nicht wahr! Was ich meine, meinen Sie nicht – nein, nein, ’s ist nicht wahr, das ist ja gar nicht möglich!“

„Doch!“ platzte ich los, „doch – Ihr Robert –“ Dann hielt ich inne, denn die alte Gestalt sank wie gebrochen in den Stuhl und hielt mir ihre zitternden Hände entgegen.

„Ich überleb’s nicht, wenn’s nicht wahr ist!“ schluchzte sie. „Anneliese, ach, liebes Fräulein Anneliese!“

Und nun hatte ich Mühe und Not, sie zu beruhigen, denn sie weinte und weinte, ganz still, immer dabei leise den Kopf schüttelnd. Sie war noch mitten drin, da klopfte es, und ich lief hinaus zur andern Thür, ich wollte nicht stören; ich hörte nur noch den Klang seiner Stimme: „Grüß Gott, Base! Meine alte gute – –“ Und dann hatten sie sich wohl umfaßt und das Wort erstickte in dem Kuß, den sein Mund auf ihre weinenden Augen preßte.

Ich saß in meiner Swbe, ohne mich zu rühren. Eine Lampe brannte auf der Kommode, auf dem Tisch standen die vier Kisten mit den Weihnachtsgaben, und das Tannenbäumchen der Base rauschte mit seinen Blattgoldfähnchen. Ich ahnte nicht, was da mit dem großen schmucken Soldaten in mein Leben getreten war, ich fühlte mich nur so glücklich, sein hübsches Gesicht, sein freimütiges Wesen gefielen mir so gut, und daß er herübergekommen war, um seiner Militärpflicht zu genügen, das hatte mich als Soldatentochter geradezu begeistert. Wenn man den [776] Brankwitz dagegen nimmt, dachte ich, und „Scheusal!“ setzte ich hinzu. Was nur der Wollmeyer sagen wird, wenn er erfährt, daß Robert Nordmann – – ja, da war wieder das Unheimliche, das sich meinem Wissen entzog! Der Schleier der Vergangenheit, der eine Schuld barg! Und Robert Nordmanns Mutter war mit hinein verflochten und sein Vater. Ach, sein Vater, der war ja bestraft, der sollte ja –

Ich empfand plötzlich wieder diese niederdrückende unheimliche Angst – sein Vater hatte gesessen, war der Unterschlagung verdächtig – die ganze Freude an der Begegnung war mir mit einemmal genommen. Aber was konnte er dafür? Pfui, Anneliese! schalt ich mich. Und er sprach so ruhig von seinem Vater. Ob er tot war, der Mann, ob er nicht doch schuldlos war?

In Gedanken versunken, hob ich den Deckel von einer Schachtel ab. Ein betäubender Blumenduft quoll mir entgegen, prachtvolle frische Rosen, Orangeblüten und Veilchen. Für mich? Von wem? Ich sah den Postvermerk: Cannes. Ah, Brankwitz! Mein Erstes war, die Schachtel zu nehmen, um sie aus dem Fenster zu werfen, da fiel mir auf, daß das Paket als Wertsendung bezeichnet war. Nun untersuchte ich den Inhalt näher, und da kam ein wohlbekanntes Etui von rotem Juchtenleder zum Vorschein, das meinen Namenszug in Goldpressung trug. Das Armband! Er wagte es, mir das Armband zu schicken, den ersten Vorboten des wieder beginnenden Kampfes! Der Waffenstillstand neigte sich also seinem Ende zu. Gab’s denn kein Entrinnen?

Ich will es nicht, ich will es nicht haben! stieß ich hervor, warf die Blumen in die Schachtel zurück und setzte den Deckel darauf. Wohin damit? Die Adresse des Absenders war mir unbekannt. Cannes? Wieviel Fremde sind in Cannes! Behalten wollte ich es auch nicht, es hätte eine falsche Deutung zugelassen. Ich werde es Herrn Wollmeyer schicken mit der Bitte, es seinem Neffen zurückzustellen, beschloß ich. Herrn Wollmeyers Kiste rührte ich nicht an, auch Mamas Sendung nicht. Dann kam die Base und holte mich.

„Jetzt müssen Sie etwas essen, Anneliese,“ sagte sie, „und den Baum nehme ich mit in meine Stube, damit auch der Junge etwas davon hat.“

Und nun saßen wir zu Dreien an dem weiß gedeckten Tisch, dem „Jungen“ gegenüber ich, die Base zwischen uns. Die Weihnachtslichter warfen ihren Schein über das traute Zimmer und aus den Punschgläsern kräuselte duftiger Dampf. Die alte Frau konnte vor Freude und Aufregung kaum essen, sie nötigte uns nur immerzu, und dann fragte sie mich: „Ist es nicht wie ein Traum, Annelieseken?“

„Ja, Base, wahrhaftig!“ Ich sah den schlanken Mann dort an, der mir so fremd war und doch so vertraut. Wie hübsch er mit der Alten verkehrte, wie ernst und wie herzlich klang sein Lachen! Er streichelte der Base die Hand und erinnerte sie an kleine Geschichten aus ferner Zeit, und als sie wie unter schwerer Last den Kopf senkte, da sagte er freundlich: „Kopf oben, Altchen! Sieh’ mal, es hilft doch nichts. Und mach’ Dir keine so trübe Gedanken, es wird sich alles ganz glatt abwickeln, glaub’ mir’s! Vorläufig ist’s noch nicht so weit – so lange ich im bunten Rock stecke, unternehme ich nichts.“

„Ach, Robert, das bringt mich noch ins Grab – ich wollt’, ich läge da, wo das Hannchen liegt,“ klagte sie.

Ich saß dabei in peinvoller Verlegenheit und wagte nicht, ein Auge aufzuschlagen. Da war es – das Schreckliche!

„Hör’ mal, Base, sei vernünftig,“ ermahnte er ernsthaft, „Dich brauche ich noch. Soll ich etwa – –“

„O Jesus, nein nein!“ wehrte sie. „Wenn ich nur wüßte, wie’s enden soll!“

„Gut, gut! Prosit, Base! Lassen wir Deutschland leben und alle, die das Herz auf dem rechten Fleck haben! Ihr Wohl, Fräulein von Sternberg!“

„Ach Gott, das Annelieseken!“ murmelte die Base.

„Wie meinst Du?“ fragte er hastig, und als ich ihn erschreckt ansah, flammte eine jähe Röte über seine Stirn auf der ich jetzt deutlich eine tiefe Falte gewahrte, die ihm ein älteres Ansehen gab als vorher. Dann aber verstummte auch er, setzte das dampfende Punschglas auf den Tisch zurück und schaute an mir vorüber, als interessierte ihn der alte grüne Kachelofen augenblicklich am meisten auf der Welt.

„Nun bist Du wohl böse?“ fuhr die alte Frau leise fort, mit niedergeschlagenen Augen, die knochigen Hände auf dem Tischtuch gefaltet. „Robert, ich mein’s ja nur gut. Laß doch, rühr’ nicht daran Robert, Du stichst in ein Wespennest!“

„Base, Base, was ist aus Dir geworden!“ sagte er nun. „Ist Dir so wenig gelegen an Recht und Ehre? Verstehst Du nicht, was ich meine? Doch, Du weißt’s, Du willst es nur nicht wissen, aber ich sage Dir, früher setze ich meinen Fuß nicht wieder auf das Schiff, ehe nicht in jeder Zeitung zu lesen steht, daß – –“

„Pst, um Gotteswillen!“ unterbrach die Base den jungen Mann, der erregt aufgesprungen war. „Denk’ doch an die Anneliese! Ach, Annelieseken, gehen Sie lieber in Ihre Stube – Robert, überlege doch, Wollmeyer ist ja nicht allein, er hat doch jetzt –“ und ihre Blicke hingen in Seelenangst an mir.

Der Neffe antwortete nicht; er war ans Fenster getreten und starrte in die Nacht hinaus. Ich erhob mich zum Gehen, da wandte er sich, und schweigend sahen wir uns in die Augen.

„Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein,“ bat er, „bleiben Sie! Wenn Sie jetzt fortgehen, werden die Schatten der Vergangenheit uns erdrücken, die alte Frau und mich. Ich verspreche Ihnen, ganz sanft und artig zu sein; es ist nur alles so fürchterlich lebendig geworden und wenn eine Wunde, die niemals heilen will, wieder frisch aufgerissen wird, dann ist der Schmerz stärker als zuvor. – So, Base, nun sei gut!“ Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter. „Jetzt reden wir nicht mehr von früher, jetzt blicken wir nicht in die Zukunft, wir wollen der Gegenwart froh werden. Base, stecke frische Kerzen auf die grünen Zweige, die alten sind heruntergebrannt, und dann erzähl’ mir ein Kindermärchen aus alter Zeit, ein Weihnachtsmärchen! Es war einmal – Wie? Du weißt keines mehr?“

Die alte Frau schüttelte den Kopf, während sie einen Wachsstock in längliche Stückchen zerschnitt und wir einen Platz am Ofen für sie zurecht machten. „Nun, dann will ich eins erzählen,“ lachte er, und wir setzten uns zusammen, alle Drei; er auf der Ofenbank und ich auf dem Fußschemel vor der alten Frau in ihrem Lehnstuhl.

„Es war einmal ein kleines Mädchen,“ begann er neckend, „das lief am Weihnachtsheiligenabend seiner Wärterin davon und saß am Straßenrand im Schnee und weinte.“

„Das ist ja gar nicht wahr!“ sagte ich verlegen.

Er achtete aber nicht darauf und fuhr fort: „Da kam ein Schlitten angefahren, und da saß ein Mann drin, der sah ihre Thränen und nahm sie mit in den Schlitten und sagte: ‚Ich will Dich nach Hause bringen.‘ Und er ward so froh, als sie neben ihm saß, denn er war traurig und einsam gekommen und die Gespenster der Vergangenheit hatten sich in seinen Schlitten gesetzt und ihn gefragt mit blassen Lippen und toten Augen: ,Weißt Du dies noch? Weißt Du jenes noch?‘ Da hat er gemeint, das Herz müsse ihm zerspringen vor Angst. Als aber das kleine Mädchen eingestiegen war, flohen die Schatten vor dem leuchtenden Blick der dunklen Augen, den selbst die Thränen nicht hatten trüben können. Und dafür kam allerlei lustiges lachendes Gesindel, flachsköpfig und barfuß wie Dorfkinder, das lief neben dem Schlitten her und kletterte auf die Pritsche und setzte sich auf die Pferde zwischen die Schlittenglocken und kicherte und lachte und fragte ebenfalls: ,Weißt Du dies noch und das noch? Denkst Du noch an den Christbaum in Deines Vaters Hause, an die Weihnachtskuchen, die die Mutter Dir ins dicke Fäustchen gab? Denkst Du noch, wie Du dem Fuchs nachgeschlichen bist durchs Tannendickicht und wie Du den Vögeln des Waldes ihr Pfeifen abgelauscht hast? War’s nicht herrlich, wenn durch die duftenden Tannen die Sonnenstrahlen spielten? War’s nicht wunderbar, wenn sie sich in Sturm und Wetter bogen, die starken Bäume?‘ Und da hatte der Mann sie plötzlich wieder lieb, seine schöne grüne Heimat, und vergab ihr, daß sie ihn einst verstieß. Und in des Mädchens Augen waren auch die Thränen versiegt und ihr Mund lächelte wieder. Die kleinen Gesellen hatten alles Herzeleid in die Flucht geschlagen, alle die bösen bleichen Gespenster. Aber dann ist das kleine Mädchen ausgestiegen und der Mann ist allein auf den Kirchhof gegangen, an das heiligste schmerzvollste Grab, das es auf Erden geben kann für jeden Menschen, an das Grab seiner Mutter. Und da standen sie wieder neben ihm, die bösen Geister, und schüttelten ihn mit übermenschlicher Kraft<, sie folgten ihm durch die Gassen des Dorfes, peitschten seine arme Seele, schrieen ,Rache, Rache!‘ und drangen mit ein in den Frieden einer trauten Stube, ja sie

[777]

Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach, Vertreter Hugo Grosser in Leipzig.
Die Taubenpost.
Nach einem Gemälde von Diana Coomans.

[778] wollten selbst vor den Lichtern des Christbaumes und unter dem Druck zweier alter Frauenhände nicht still werden; sie achteten auch nicht des kleinen Mädchens, das mit niedergeschlagenen Augen und blassem Geacht dasaß, bis – bis sie die Augen aufhob und den verfolgten Mann anschaute. Da zerstoben sie, wie der Nebel zerfließt. Es liegt ein Zauber in Menschenaugen, in jungen reinen Menschenaugen.“

„Guck’ mich ’mal an, Annelieseken,“ sagte die Base, als er geendet, und ich mit nie gekannter Verwirrung auf meinem Bänkchen saß, „hast Du ’was Besonderes in Deinen Augen?“

Er lachte herzlich und laut und ich lachte fröhlich mit.

„Ach ja so, das sollte ein Märchen sein. Und lch hab’ gedacht, Du meintest Anneliese! Ja, lacht nur, lacht nur, Kinder! Ihr habt’s beide nötig, auch Sie, Anneliese. Ein Gottesglück, daß bei der Jugend Regen und Sonnenschein wechseln wie im April.“ Und sie nickte mit dem alten sorgenschweren Gesicht. „Wie alt seid Ihr denn beide? Anneliese wird neunzehn, und Du? Es war ja doch wohl im Anfang der fünfziger Jahre, als Du auf die Welt gekommen bist, Robert? Bald nach die große Teuerung war’s, aber auf Deiner Taufe merkte man davon nichts, da hatten wir Kalbsbraten und Forellen, die waren aus dem Mühlenfischkasten. Hab’ sie selbst gekocht, wie wir aus der Kirche gekommen sind, ganz blau, und jede hatte ein Blättchen grüner Petersilie im Maul. Und Du lagst so hübsch in Deinem Kissenbund, so recht wie ein Prinz, und hast Dich so brav betragen in der Kirche; und ich habe Dir das alberne Löffelchen geschenkt, das liegt noch in meiner Kommode.“

Leise redete die alte Frau so vor sich hin, wie ein zweites Märchen klang es. Draußen flockte der Schnee, der Weihnachtsschnee; meilenfern war alles Leid, aller Kummer, alle drohende Zukunft, wie auf einer einsamen glücklichen Insel weilten wir, und alle üblen Geister hatten uns verlassen. Nur einer war geblieben, unsichtbar, und doch ahnte ich seine Nähe, ohne sie zu begreifen; ein böser kleiner geflügelter Schlingel mit Pfeil und Bogen, der Rosen knospen ließ selbst in tiefer Winternacht – ja, ja, er war da, aber noch verstanden wir ihn nicht, ganz gewiß nicht.

Als das immer leiser werdende Plaudern der alten Frau verstummte, als der Schlummer sie übermannte, blieb es ganz still im Zimmer, denn wir beide sprachen kein Wort. Plötzlich sprang er empor und ergriff meine Hand. „Schlafen Sie wohl, mein gnädiges Fräulein! Werd’ ich Sie morgen wiedersehen? In der Kirche?“

Ich nickte. Dann war ich allein mit der alten Frau; der Schall seiner Tritte verhallte auf der Treppe. Die Base erwachte plötzlich und war ein wenig ärgerlich, daß man sie hatte schlafen lassen, ging aber doch mit glückseligem Gesicht in ihr Bett. Ich stand noch lange am Fenster und sah einer langsam dahinschreitenden Männergestalt nach, bis sich die Straße hinter den Häusern des Dorfes verlor. Dann warf ich mich in die Kissen, aber schlafen konnte ich nicht.


Am andern Tage schien eine erbarmungslos grelle Wintersonne über das weiße Laad und schmolz mit ihren Strömen von Licht, die in jedes, auch das kleinste Winkelchen drangen, allen Märchenzauber hinweg. Die Base sah um Jahre gealtert aus in der hellen Morgenbeleuchtung; sie war in mein Zimmer gekommen und beobachtete mit trüben Augen, wie ich die Rosenschachtel aus Cannes wieder postfertig machte und an meinen Stiefvater adressierte. Ich war sehr traurig; ich hatte vorhin Mamas Kiste ausgepackt und ihr außer einem sehr oberflächlich gehaltenen Brief ein paar nichtssagende Geschenke entnommen, Sachen, wie sie ein Mensch schenkt, dem das Geben eine Unbequemlichkeit ist, der ärgerlich das erste beste kauft und giebt. Erstlich ein ledernes Täschchen mit Näheinrichtung, wie sie zu Dutzenden in den Galanteriewarenhandlungen hängen; zweitens ein Tagebuch, in rotes Leder gebunden; drittens Glacéhandschuhe, hier oben kaum zu benutzen; dann ein eingerahmtes Kabinettbild des alten Kaisers, wie er sich über die Wiege seines Urenkels beugt, die sehr schlechte Wiedergabe eines sehr schlechten Bildes; ein bissel Näscherei und ein bissel rosa Briefpapier mit blauen Veilchen in den Ecken.

So schenkte Mama früher nicht. Die armseligen Kleinigkeiten, sie waren immer mit Verständnis, mit so zartfühlender Liebe ausgewählt gewesen – letztes Jahr gab sie mir Papas winziges Eisernes Kreuz, das er im Knopfloch zu tragen pflegte, wenn er in Civil ging. Ich hing es, zu Thränen gerührt, an meine Uhrkette und war so glücklich darüber. Ein einziger solcher Beweis, daß sie mich noch liebte, und ich wäre heute herzensfroh gewesen, aber – sie hatte an anderes zu denken. Mein Stiefvater schrieb mir, sein Weihnachtsgeschenk erwarte mich daheim, Mama habe bereits Sehnsucht nach mir und in der ersten Hälfte des Januar werde er mich persönlich abholen.

„Es wird Unangenehmes drauf kommen, Annelieseken,“ sagte die Base, als sie die Schachtel hinuntertrug, um sie Herrn Hübner zu übergeben. Und als sie zurückkehrte, wiederholte sie: „Es wird Unangenehmes kommen, wenn er die Schachtel aufmacht – wie soll’s nur noch werden. Ich hatte mich alles so anders gedacht. Ich kann mich gar nicht freuen über den Jungen, Annelieseken; das Beste wär’, man läg’ da drüben unter dem weißen Schnee.“

(Fortsetzung folgt.)

Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Tötende Geister.
Von C. Forst.


Der Aberglaube, das düstere Erbe vergangener Jahrtausende, flackert noch immer in den Seelen civilisierter Menschen fort. Nur langsam weicht er der Aufklärung; mit tausend Scheinbeweisen sucht er sie zu widerlegen, ja mit listiger Art entreißt er der Wissenschaft ihre Waffen und versteht dieselben geschickt zu seinem Nutzen zu verwerten.

Gerade in der Neuzeit ist es durch ein eifriges Studium gelungen, in rätselhafte Zustände des Körpers und der Seele genauere Einblicke zu erhalten. Nach langem Streiten und Schwanken wurden endlich der Somnambulismus und der magnetische Schlaf in ihrem wahren Wesen erkannt; an Hypnotisierten erfuhr man, welche Macht die Erweckung einer bestimmten Vorstellung, die Suggestion, auf die Menschen ausübt. Wunder und Zeichen früherer Zeiten erschienen endlich als natürliche Vorgänge, die ein geübter Hypnotiseur bei einem dazu sich eignenden Menschen zu jeder Zeit hervorrufen kann. Aber der Aberglaube kehrt sich nicht daran; seine Jünger hypnotisieren gleichfalls, suggerieren fleißig die seltsamsten Dinge ihren willfährigen Medien und verblüffen durch ihre Leistungen die weniger erfahrenen und unterrichteten Zuschauer. So wird die Hypnotisierte zu einer Hellseherin erhoben und die Visionen, denen sie ausgesetzt wird, giebt man für Geistererscheinungen aus; man entdeckt prophetische Träume und bringt Beweise bei für Ahnungen der Seele.

Die bedauernswerten Verblendeten! Sie glauben wunder wie weit sie in ihrer Geheimwissenschaft fortgeschritten seien, und in Wirklichkeit sind sie lediglich Opfer einer Selbsttäuschung; die Geisterwelt, die sie scheinbar umgiebt, steckt nur in ihrem eigenen überreizten Gehirn, auf der vermeintlichen Höhe der Bildung stehen sie ganz im Banne des Aberglaubens und seufzen gleich den nackten Wilden auf der untersten Kulturstufe unter der peinigenden Gewalt der Dämonen, die ihre eigene Einbildungskraft entfesselt hat. Daß diese Wahngebilde dank der Macht der Suggestion recht gefährlich werden können, unterliegt keinem Zweifel, und für jeden Vernünftigen der seinen Geist und Körper nicht zerrütten will, sollte dies ein Grund sein, die verwegenen Versuche, in das Land der Geister einzudringen oder Hellseherei zu erlangen, zu unterlassen sowie andere von solchem Vorhaben fern zu halten; denn es giebt allerdings „tötende Geister“, wenn sie auch anders beschaffen sind, als die Abergläubischen meinen.

Daß aufregende, womöglich mit hypnotischen Experimenten verbundene Sitzungen mitunter ein tragisches Ende nehmen, ist wohl bekannt. Erst vor einiger Zeit hat sich auf dem oberungarischen [779] Schlosse Tucser ein Aufsehen erregender Unglücksfall ereignet. Man beschäftigte sich dort eifrig mit spiritistischen und hypnotischen Kunststücken, denn die Tochter des Schloßbesitzers Fräulein Ella v. Salamon stand im Rufe eines höchst begabten Mediums. Eines Tages wurde das Fräulein von einem Laien hypnotisiert und sollte als „Hellseherin“ über das Lungenleiden des schwer erkrankten Bruders des Hypnotiseurs nähere Angaben machen. In großem Erregungszustande entledigte sie sich der ihr gestellten Aufgabe; aber nachdem sie in gebrochenen Lauten erklärt hatte, daß das Schlimmste zu erwarten sei, sank sie mit einem heiseren Aufschrei vom Stuhle und war nach einigen Augenblicken tot. Es ist dies der erste Todesfall, der sich während der Hypnose ereignete, und man fragt sich, ob die Hypnose für sich ihn herbeigeführt haben könne, oder ob die Todesursache in der heftigen Gemütserregung, in welche die „Hellseherin“ versetzt wurde, zu suchen sei. Ein berühmter Fachmann, Prof. v. Krafft-Ebing, war geneigt, auf Grund der ersten Mitteilungen über diesen Vorfall, sein Urteil dahin zusammenzufassen, daß die ungeschickt von einem Laien unternommene Hypnotisierung und die suggestiv hervorgerufene heftige Gehirnerregung mit dem Tode in ursächlichem Zusammenhange stehen, daß aber eine durchaus krankhaft veranlagte, abnorm auf Reize reagierende Persönlichkeit im Spiele war, ein Wesen, das auch durch einen heftigen seelischen Schreck in wachem Zustande vom Tode hätte ereilt werden können. Einem sachverständigen Arzte wäre ein derartiger Unglücksfall nicht begegnet, meint Prof. v. Krafft-Ebing und fügt hinzu, daß Laien nicht hypnotisieren sollen, daß man mit der Hypnose nicht spielen und keine das Gemüt heftig bewegende Suggestionen geben darf.

Dieser Unglücksfall sollte aber für weitere Kreise auch in anderer Beziehung als Warnung dienen. Man sollte sich dabei erinnern, daß Gemütserregungen auch ohne Hinzutreten der Hypnose und Suggestion schwere Gesundheitsschädigungen und selbst den Tod verursachen können. Bekannt ist die Thatsache schon, aber leider nicht in vollem Umfange gewürdigt, denn wie häufig wird mit dem Erschrecken anderer Scherz getrieben! Nur selten hat der Spaßmacher eine Ahnung von den Folgen, die sein übel angebrachter Scherz nach sich ziehen kann. Der Unfug, mit Gespenstern zu spielen kommt z. B. in der Kinderstube oft genug vor; nur die wenigsten dürften aber wissen, daß vor nicht langer Zeit ein Mann des Todschlags angeklagt wurde, weil er, indem er einem Knaben als Gespenst erschien, dessen Tod durch Schreck veranlaßt hatte. Während des Bombardemeuts von Straßburg erkrankten viele Personen durch plötzlichen Schreck, der durch Einschlagen von Granaten in unmittelbarer Nähe erregt wurde; die Geretteten aus dem Ringtheaterbrande in Wien trugen vielfach nervöse und seelische Störungen davon. Furchtbar pflegt die Erregung des Gemüts den Menschen während der Erdbeben mitzuspielen. Ueber das Erdbeben auf der Insel Chios, das im Jahre 1880 gegen 14000 Häuser zerstörte und 3541 Menschen tötete, schrieb ein Arzt auf Chios, Dr. Schwarz: „Die heftigen, oft wiederholten Gemütsbewegungen haben viele nervöse Erkrankungen hervorgerufen. Mit Bedauern muß ich mitteilen, daß der größte Teil des jungen weiblichen Geschlechtes nach dem Beginne der Erdbeben erkrankte, und zwar teils an Epilepsie, teils an Krämpfen. Nach der ersten schrecklichen Katastrophe verließ die Mehrzahl der Bewohner die Stadt Chios; es blieb aber immer noch eine ziemliche Anzahl zurück. Wenn ein Menschenkenner jetzt diese elenden, mehr bläulich als rötlich gefärbten Antlitze erblickt, so muß ihn wundernehmeu, daß Furcht und Schrecken eine solche Verwandlung bewirken können.“

Wir wissen alle aus Erfahrung, daß schon bei leichteren Graden eines plötzlichen Erschreckens der Atem stockt und das Herz für einen Augenblick still steht. Der Schreck wirkt hemmend auf die Nervencentren, welche die Atmung und den Blutkreislauf regeln, und diese Hemmung kann so gewaltig sein, daß Atmung und Herz für immer stillstehen und in einem Augenblick der Tod eintritt. Eine Frau erschrak über einen neben ihr vom Straßendamme herabstürzenden Wagen und brach in demselben Augenblick tot zusammen; ein Pascher wollte über den Fluß setzen, als eine Patrouille der Grenzwächter auf seine Genossen ein heftiges Feuer eröffnete; voll Schrecken erreichte er noch das Ufer, stürzte aber dort, ohne die geringste äußere Verletzung, tot nieder.

Zumeist tritt in solchen Fällen der Tod durch Lähmung oder selbst Zerreißung des Herzens ein und ereilt auf diese Weise in der Regel Leute, die bereits herzkrank waren, obwohl auch ganz gesunde Personen in gleicher Art vom Schreck getötet werden können.

Bei weitem seltener kommt es vor, daß auch der Gegensatz vom Schrecklichen, eine plötzliche freudige Ueberraschung in derselben Weise dem Beglückten einen jähen Tod bringt. Eine Mutter glaubte, daß ihr Sohn bei einem Unglück getötet sei, der Totgeglaubte erscheint plötzlich vor ihr und mit einem Aufschrei sinkt sie tot in seine Arme. Die Eltern eines jungen Mädchens wollteu in die Heirat mit seinem Herzenserwählten aus Standesrücksichten nicht einwilligen; das Mädchen kränkelte infolgedessen und litt an „gebrochenem Herzen“; die Eltern gaben nach und wollten ihrem Kind eine freudige Ueberraschung bereiten. Der Weihnachtsabend war gekommen, man führte die Haustochter zum glänzenden Christbaume und neben diesem stand der Geliebte – ihr Christgeschenk. Die bereits durch Liebeskummer Erschöpfte konnte das Uebermaß des Glückes nicht ertragen; auch sie stürzte tot zu Boden.

Außer diesen blitzschnellen verderblichen Wirkungen heftiger Gemütserregungen kennt man auch langsamere, aber gleichfalls verhängnisvolle. Wie Gewissen und Furcht den Menschen töten können, möge nur an einem Beispiel gezeigt werden, das von Professor Bollinger in München beschrieben wurde. Ein Bauernknecht hatte in der Erregung einen Mitknecht derart verletzt, daß dieser nach tagelangem Krankenlager starb. Im Gefängnis wurde der Schuldige von Angst und Gewissesbissen geplagt, aß wenig, machte aber sonst den Eindruck eines völlig gesunden Menschen. Da kam der Tag, an welchem er vor den Geschworenen erscheinen mußte. Er wurde unwohl, und als er den Gerichtssaal betrat, sah er so schlecht aus, daß der Arzt seine sofortige Ueberführung ins Krankenhaus anordnen mußte. Die Arme und Beine waren blau und kühl, der Puls kaum zu fühlen. Im Krankenhause dauerte der Zustand fort und trotz aller ärztlichen Hilfe starb der Knecht nach kaum 24 Stunden.

Erschütternd ist auch die Wirkung des Heimwehs, das sich zu einer wirklichen körperlichen, mit Fieber verbundenen Krankheit entwickeln kann. Hat es diesen Grad erreicht, so hilft kein Arzneimittel mehr dagegen, unerbittlich führt es zum Tode und nur durch die Rückkehr in die Heimat kann Heilung erzielt werden.

Aus diesen und ähnlichen Beispielen kann man bereits ersehen, wie groß die Macht ist, die Geist und Gemüt auf den Körper ausüben. Seit uralten Zeiten hat man darum mit Recht in den Zuständen des Gemüts auch nach Ursachen von Gesundheit und Krankheit geforscht. In neuester Zeit hat man noch andere Wechselbeziehungen zwischen geistiger Thätigkeit und den Verrichtungen des Körpers entdeckt. Indem man Leute in Hypnose versetzte, konnte man bei ihnen durch Suggestion oder Erweckung bestimmter Vorstellungen die mannigfaltigsten Veränderungen in den Funktionen der Körperorgane, die sonst von Einflüssen des Willens unabhängig sind, hervorrufen. Fieber, blutige Male auf der Haut u. dergl. traten bei ihnen in der vom Hypnotiseur angegebenen Weise ein. Auf dieselbe Weise konnte man auch vermittelst der Suggestion eine Reihe nervöser Krankheitserscheinungen zu mehr ober weniger vollständigem Schwinden bringen. Man überzeugte sich ferner, daß zum Erwecken der Suggestion die Mitwirkung eines Hypnotiseurs nicht immer nötig ist, daß empfindliche Menschen sich selbst bewußt oder unbewußt die verschiedensten Dinge suggerieren können, und fand schließlich, daß Suggestionen auch ohne Zuhilfenahme des hypnotischen Schlafes in wachem Zustande verwirklicht werden.

Kann nun die Macht der Suggestion derart gesteigert werden, daß sie sogar den schlimmsten Ausgang, den Tod, herbeiführt? Wie unglaublich dies auch auf den ersten Blick erscheinen mag, man muß die Möglichkeit selbst dieser unheimlichen Wirkung der Suggestion zugeben. Professor v. Krafft-Ebing hält diese Behauptung aufrecht und führt folgenden Beweis für die Richtigkeit seiner Anschauung an. Eine höchst sensitive und hypnotisch in tiefen Somnambulismus versetzte Kranke seiner Klinik bekam unter der Selbstsuggestion, sich vergiftet zu haben und zu sterben, so bedenklichen Verfall der Kräfte, daß er sie in Hypnose versetzen und in diesem Zustande von ihrer Selbstsuggestion befreien mußte. Hier zeigte sich in klassischer Weise die Macht seelischer Einflüsse auf das körperliche Leben. Dieses Beispiel steht nucht vereinzelt da. Eine von dem Arzte Bertrand behandelte Somnambule hatte sich den Tod für einen bestimmten Zeitpunkt angesagt und siechte in bedenklichster Weise dahin. Bertrand suggerierte ihr nachdrücklich, daß das Vorausgesehene nicht eintreten würde, von da an stellten sich die erschöpften Kräfte wieder ein. Dr. A. A. Liebault hat in seinem Werke „Der künstliche Schlaf und die ihm ähnlichen Zustände“ eine Reihe von [780] Beobachtungen zusammengestellt, die weit schlimmere Fälle betrafen. Er erzählt, daß eine junge Engländerin infolge einer nächtlichen Vision zu der Ueberzeugung kam, daß sie an demselben Tage mittags sterben würde; sie traf demnach ihre Anordnungen und starb zu der angegebenen Stunde, trotz der Bemühungen zweier Aerzte, die erschienen waren um ihr die thörichte Vorstellung zu benehmen. Nach Angabe des Irrenarztes Brière de Boismont giebt es Familien, in denen jeder seinen Tod voraussagt. Liebault hat einen Geistlichen gekannt, der einer solchen Familie angehörte, auch selbst sein Lebensende angab und sich nicht irrte. Der Irrenarzt Josef Franck erzählt, daß er so viele Fälle erlebt habe, wo Menschen ihre Krankheit und ihren nahen Tod genau voraussagten, daß er zum Glauben an die Ahnungen der Seele genötigt sei.

Für uns ist es wohl zweifellos, daß ein von einer festen Vorstellung erfaßter Mensch seinen Organismus in Verwirrung bringt und im Sinne dieser Vorstellung verändert. Solche Einflüsse der Suggestionen wurden namentlich bei Geisteskranken beobachtet. Die Irren reden sich nämlich manchmal den Tod so nachdrücklich ein, daß sie ihren Körper in krankhafte Verhältnisse versetzen, deren Endergebnis unmöglich ausbleiben kann. „Wenn wir in unserer ärztlichen Praxis,“ berichtet Liebault, „heilbaren Schwerkranken begegneten, die immer wieder sagten, ich bin verloren, ich werde nicht wieder gesund werden, ich werde an dem und dem Tage sterben, so waren wir uns fast sicher, sie zu verlieren. Die Erinnerung an den Tod eines bereits bejahrten Mannes, der seit dem Tode seiner Frau melancholisch geworden war, ist uns stets im Gedächtnis geblieben. Von einer Lungenentzündung genesen, wiederholte er unaufhörlich, daß sein Lebensende nahe sei. Bei unserem letzten Besuche erwiderte er uns ironisch: ja, ich befinde mich besser, aber Sie werden mich nicht wiedersehen. Noch an demselben Tage traf er seine letzten Anordnungen und gab die Stunde seines Todes an. Durch den festgehaltenen Gedanken, zu sterben, hatte er seine Nervenkraft zu dem vorausgesehenen Augenblicke erschöpft.“

Durch diese Beobachtungen wird ein klares Licht auf die bekannten Ahnungen des eigenen Todes geworfen, die, wenn sie eintreffen, auf die Zeugen und die große Menge so verblüffend wirken und dem Aberglauben neue Anhänger zuführen.

Die betreffenden Kranken sahen nicht das Künftige voraus, die Dinge, die da kommen sollten, waren ihnen wie anderen Sterblichen völlig verhüllt, aber durch die Macht der Vorstellung führten sie das, was sie zu ahnen glaubten, herbei. Dieses Voraussagen des eigenen Todes ist keine Ahnung, man könnte es eher eine Art unbewußten Selbstmords nennen.

Die Wirkung der Selbstsuggestion wird besonders verhängnisvoll, wenn sie sich mit dem Gefühl der Furcht verbindet. So ist es zur Genüge bekannt, daß Menschen, die von einem der Tollwut verdächtigen Hunde gebissen wurden, unter Symptomen der Wasserscheu erkranken können, selbst wenn der Hund an dieser schrecklichen Krankheit nicht litt. Eine derartige falsche oder, wie man früher sagte, hypochondrische, auf Einbildung beruhende Tollwut ist öfters bei Menschen beobachtet worden.

Ein Arzt, der die Leiche eines an Wutkraakheit gestorbenen Mannes seciert hatte, wurde von einer solchen Furcht, sich angesteckt zu haben, befallen, daß er Appetit und Schlaf verlor; alle Flüssigkeiten erregten ihm Schrecken, und wenn er sich zum Trinken zwang, fühlte er den Schlund sich zusammenschnüren, als ob er ersticke. Drei Tage lang strich er durch die Straßen wie verzweifelt. Es gelang, den Kranken durch freundlichen Zuspruch von seiner Erregung zu befreien. Daß aber eine solche eingebildete Hundswut einen tödlichen Ausgang nehmen kann, beweist folgender Fall. Zwei Brüder wurden von einem tollen Hunde gebissen. Der eine mußte unmittelbar darauf nach Amerika verreisen und blieb gesund; der andere erkrankte inzwischen wirklich an dem schrecklichen Leiden und starb. Man verheimlichte dem abwesenden Bruder die wahre Todesursache. Nach langer Zeit kehrte er in seine Heimat zurück und erhielt durch Unbesonnenheit einer Person Kenntnis davon, daß sein Bruder der Tollwut erlegen war; durch diese Nachricht wurde er derart erschüttert, daß auch er erkrankte und unter allen Zeichen der Wasserscheu starb.

Ein Bundesgenosse der Suggestion ist ferner der Aberglauben selbst. Wer in seinem Banne steht, ist ein Sklave, ein willenloses Opfer verkehrtester Vorstellungen, die er mit vernüuftigen Gründen nicht zu widerlegen vermag. Diese Verquickung der beiden unheimlichen Mächte spielt namentlich im Leben der Naturvölker eine verhängnisvolle Rolle. Diese glauben fest an Dämonen und Zauberkünste und leben in steter Furcht vor Geistern und Geisterbeschwörern. Inmitten der Naturvölker gestalten sich darum Drohungen, die einem aufgeklärten Menschen geradezu lächerlich erscheinen, zu einer furchtbaren Waffe.

Unter den Eingeborenen der Sandwichinseln bestand eine religiöse Gemeinschaft, die sich den Besitz der Himmelsgabe zuschrieb, durch ihr Gebet die Feinde töten zu können. Wenn jemand sich ihren Haß zuzog, so zeigte sie ihm an, daß sie mit ihren Verwünschungen gegen ihn beginnen würde. Meist genügte diese Erklärung, um den Unglücklichen vor Schreck sterben zu lassen.

Auf den Hervey-Inseln benutzen Zauberer einen „Seelenfänger“, um die Seele ihres Feindes zu fangen. Es ist dies eine ungefähr drei Meter lange Schnur aus Kokosfasern, an welcher Schlingen befestigt sind. Man hängt dieses Gerät an einem Baume auf, an dem das Opfer vorüber muß. Erblickt nun der Betreffende die Schnur, so glaubt er fest, daß seine Seele in derselben hängen geblieben ist, und regt sich dadurch so auf, daß er krank wird vor Angst und Schrecken und bald stirbt. Die Eingeborenen selbst betrachten dieses Instrument als ein sicheres Mittel, um jemand aus der Welt zu schaffen. Hier haben wir also auf der untersten Kulturstufe ein Mordmittel, das durch einen „psychischen Insult“, wie sich die Wissenschaft ausdrückt, durch Suggerieren des bald eintretenden Todes den abergläubischen Nächsten zu töten vermag!

Verständlich wird uns die Möglichkeit solcher gewaltsamen Tötungen ohne Anwendung mechanischer Mittel, wenn wir uns in den Gedankenkreis der Naturmenschen versetzen. Sie haben keine Ahnung von natürlichen Ursachen der Krankheit; diese erscheint ihnen vielmehr stets als etwas Dämonisches, das von außen in den Körper hineinfährt und auch von Zauberern und Hexen gegen den Menschen losgelassen werden kann. Kein Wunder, daß bei den Naturvölkern Suggestionskrankheiten nicht selten sind und auch auf suggestivem Wege durch Medizinmänner geheilt werden.

Die Indianer in Victoria an der Westküste Nordamerikas glauben z. B., daß ein böser Dämon, ein „wilder Schwarzer“, dem Menschen das Nierenfett rauben könne und daß der also Beraubte dem sicheren Tode verfallen sei, wenn es dem Medizinmanne nicht gelingt, das Nierenfett dem Dämon im magischen Fluge abzujagen und es dem Kranken wieder an den rechten Ort zu setzen. Der Reisende Thomas war Zeuge einer solchen Kur. Ein Indianer war gerade auf der Jagd, als durch irgend einen Zufall die Vorstellung in ihm erweckt wurde, daß ihm der „wilde Schwarze“ sein Nierenfett gestohlen habe. Müde und schwach kehrte er in das Lager zurück. Der Mann schien totkrank und man rief den Zauberarzt herbei. Unter allerlei geheimnisvollen Ceremonien gelang es dem Heilkünstler, dem Dämon das Nierenfett abzujagen und es dem Kranken an die richtige Stelle zu setzen. Der Kranke erhob sich alsdann, zündete seine Pfeife an und rauchte ruhig in der Mitte seiner Freunde – er war geheilt.

Unter solchen Umständen kann der Medizinmann seinen Einfluß auf die Gemüter seiner Landsleute leicht mißbrauchen, was auch in der That oft genug vorkommt. Der Missionar Crosby berichtete, um nur noch ein Beispiel anzuführen, daß ein junger Indianer seiner Station in Vancouver einst einen Medizinmann neckte. Dieser rief ihm im Zorne zu: „Du wirst in sechs Wochen sterben!“ Der junge Mann ging, aber die Drohung des zauberkundigen Mannes lastete schwer auf ihm. Er wurde nach und nach fest überzeugt, daß der Zauberarzt ihm einen magischen Stein ins Herz geschossen habe, der seinen Tod unfehlbar herbeiführen müsse. Er wurde stiller und stiller und zuletzt wirklich krank; aller Zuspruch war vergeblich und der Lästerer starb noch vor Ablauf der sechswöchigen Frist.

Dieser Fall ist ebenso erklärlich wie das Sterben der Menschen, die den Seelenfänger erblickt haben. Hier wie dort sind Krankheit und Tod die Folgen einer Suggestion, und je mehr wir in den Berichten der Reisenden blättern, desto mehr drängt sich uns die Ueberzeugung auf, daß bei den Naturvölkern solche durch Suggestion bewirkte Leiden eine bei weitem wichtigere Rolle spielen als bei civilisierten Völkern, und während bei uns die Tötung durch „psychische Insulte“ zu den seltensten Ausnahmen gehört, kommt sie unter den armen Wilden häufig vor. Die Wahngebilde des Aberglaubens gestalten sich dort in der That zu unerbittlichen tötenden Geistern.


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Aufbruch im Kriegshafen.

Skizze von Gustav Gerbrecht. Mit Illustrationen von F. Lindner.

Scheiden! – ein inhaltschweres Wort!

Am Quai des Krieghafens sehen wir ein Kauffahrteischiff. Wie eine Friedenstaube nimmt es sich aus zwischen den mächtigen Panzerkolossen, deren Kanononenmündungen uns drohend entgegenstarren. Aber so ganz dürfen wir dem Frieden doch nicht trauen, denn das Schiff, ein Schraubendampfen, soll jedenfalls mittelbar einem kriegerischen Zweck dienen.

Vor ihm zeigt sich unseren Augen ein buntbewegtes Bild. Zahlreiche Angehörige der Kaiserlichen Marine, vom gewöhnlichen Matrosen bis zum höheren Offizier, bewegen sich zwischen Männern, Frauen und Kindern aus allen Klassen des Bürgerstandes. Jene sind soeben von dem gleichfalls am Quai des Binnenbassins liegenden kleineren Marinedampfer ausgeschifft worden, von welchem sie mit Sack und Pack, d. h. mit Gewehr, Seitengewehr, Kleidersack und Brotbeutel ausgerüstet, zu dem gecharterten Handelsdampfer, dem „Rhein“, hinüberziehen. Andere Mannschaften der Marine sehen wir bereits an Bord des „Rheins“, unthätig an die Reeling gelehnt, ernsten Antlltzes auf die wogende Menschenmasse niederschauend.

Thränen in den Augen der Weiber und Kinder? Was soll das? Wir forschen, fragen.

„Ein Ablösungskommando von 300 Mann nach den Gewässern der Südsee“, wird uns zur Antwort. Da wird’s auch uns weich ums Herz. Mit anderen Augen betrachten wir jetzt die Menge. Nun verstehen wir das schmerzbewegte Gesicht der jungen Frau mit dem Säugling auf dem Arme, das verhaltene Schluchzen des jungen Mädchens, den trüben Blick des alten Mütterchens. Soll doch der Gatte, Vater, Bräutigam, Bruder, Sohn ihnen auf Jahre entrissen werden, in fernen, fremden Erdteilen weilen, preisgegeben den mannigfachen Gefahren einer langen Seereise, eines tückischen Klimas, eines Kampfes mit wilden Völkerstämmen!

Die Scheidenden bewahren eine bewunderungswürdige Fassung; nur hin und wieder zeigt uns ein verräterisches Zucken im Gesicht, daß auch sie ein Herz haben. – Noch einige kurze, herzergreifende Abschledsscenen, dann ist alles an Bord, die starken Trossen, die Befestigungstaue, werden losgeworfen – die Verbindung mit dem heimatlichen Boden hat aufgehört! Die Schleusenthore öffnen sich, langsam bewegt sich das Schiff durch den langen Kanal und in den Vorhafen hinein. Hier bleibt es noch einmal dicht am Quai liegen, auf genügend Hochwasser zum Durchschleusen wartend und gleichzeitig, um die letzte Inspektion durchzumachen. Die Menge ist gefolgt und harrt trotz des eingetretenen Regens geduldig aus. Die Kapelle der Matrosendivision hat sich eingefunden, die schwere Abschiedsstunde durch muntere Weisen erleichternd. Das Oberdeck des Schiffes ist dicht besetzt von denjenigen Scheidenden, welche ihre am Quai harrenden Lieben wenigstens noch sehen wollen.

Mittschiffs, neben dem Maschinenluk des „Rheins“ steht plaudernd eine Gruppe junger Applikanten. Sie unterhalten sich über ihre nächste Zukunft. Welch vielartige Anregungen und Abwechslungen stehen ihnen bevor! Ein längerer Dienst auf einem fernen Kriegsschiffe, eine Reise um die Erde ist ihre Bestimmung, fürwahr geeignet, ein phantasievolles Gemüt zu berauschen. Einer aber aus ihrer Mitte, ein neunzehnjähriger Jüngling, nimmt keinen Anteil an der Unterhaltung. Nicht als ob er gleichgültig wäre gegen das, was ihn erwartet – er hat sich gewiß nicht weniger auf diese erste Reise gefreut als die andern – ihm ist jetzt so weh, so weh! Die Kameraden verlassen heute nur ihre Garnison, das Vaterland – er alles: Heimatort, Elternhaus, Freunde. Er lebte hier bei seinen Angehörigen und war noch nie in der Fremde. Bleich, starren Auges blickt er zum Quai, wo seine betagten Eltern, seine Geschwister stehen und ihren Schmerz zu verbergen suchen. Jetzt fühlt er, was „scheiden“ heißt.

Der Telegraphenbote ist an Bord gekommen. „Matrose Kalczuk!“ Der Aufgerufene erscheint, er erblaßt, als ihm das Telegramm übergeben wird. Sagt eine Ahnung ihm Schlimmes? „Mutter sterbend, sofort kommen“, lauten die wenigen, mit Blaustift geschriebenen Worte. Doch mit dem Kommen ist es nun vorbei. Er meint, umsinken zu müssen bei dieser Nachricht. Hat er doch seine arme, alte, jetzt mit dem Tode ringende Mutter, deren einziger Sohn er ist, in der letzten Zeit arg vernachlässigt. Vor einigen Monaten hatte sie ihm das unter den größten Entbehrungen ersparte Reisegeld geschickt, damit er in Urlaub kommen könne. Das Geld hatte er erhalten, aber sein Mütterchen nicht besucht. – Der Urlaub sei ihm verweigert worden, hatte er ihr vorgespiegelt, während er in Wirklichkeit nicht reisen konnte, weil er das Geld in leichtsinniger Gesellschaft verjubelt hatte! – Wieder ein Achtungspfiff – „Antreten in Musterungsdivisionen!“ Seine Excellenz der Herr Stationschef ist nebst Begleitung an Bord gekommen um die Leute zu besichtigen und sich von den Offizieren und Mannschaften des Ablösungstransportes zu verabschieden. Nachdem die Vorgesetzten ihren Rundgang gemacht haben, richtet Seine Excellenz warme, zum Herzen dringende Worte an die Scheidenden, allen eine frohe Heimkehr wünschend.

Jetzt ist die Zeit der Ausfahrt gekommen. Der Vice-Admiral hat den „Rhein“ verlassen; langsam bewegt sich dieser zum Vorhafen hinaus. Als er die geöffneten Schleusenthore passiert, fällt ein Blumenregen auf das Deck nieder. Ein letztes „Adieu!“ „Auf Wiedersehen!“ „Glückliche Reise!“ – dann setzt das Schiff mit Halbdampf ein, und, begleitet von dem unaufhörlichen brausenden Hurra der die Molen dicht besetzt haltenden Volksmenge, teilt es kräftig die Fluten und gleitet majestätisch dem Meere zu. Die Matrosen erwidern das Hurra, indem sie mit überraschender Behendigkeit die Wanten erklettern und ihre Mützen schwenken. Am äußersten Molenkopf hat sich das Publikum besonders dicht angesammelt, um dem „Rhein“ länger mit den Augen folgen zu können. Als er sich diesem Molenkopf nähert, sind die Hurrarufe plötzlich verstummt – ein Lieutenant zur See geht dort hin und her: „Stille! Noch nicht schreien, wir rufen gleich alle zusammen!“ Schier betroffen schauen die Scheidenden auf die stumme Menge, als sei ihnen das Schweigen unerklärlich – da [782] ertönt laut die kräftige, metallische Stimme des Lieutenants: „Den scheidenden Kameraden glückliche Reise, fröhliche Heimkehr!“ – und ein mächtig brausendes, nicht endenwollendes Hurra schallt aus allen Kehlen, vom „Rhein“ aus begeistert erwidert. Dann läßt die Kapelle, die sich jetzt gleichfalls am Molenkopf aufgestellt hat, das Volkslied: „Muß i denn, muß i denn zum Städtele ’naus“, darauf den „Preußenmarsch“ ertönen, unter dessen Klängen das Schiff die Reede erreicht. Lange noch schaut die Menge trüben Auges dem Dampfer nach, lange noch werden hüben und drüben Tücher und Mützen geschwenkt, aber der Dampfer nimmt volle Fahrt, und nach kurzer Zeit erscheint er nur noch als dunkler Punkt am Horizont.

Wie mancher der im Dienste des Vaterlandes hinausgezogenen jugendkräftigen Männer wird die verlassenen Fluren nicht wiedersehen, wie viele werden bei der Heimkehr Angehörige nicht wiederfinden! Wenn aber nach jahrelanger Abwesenheit die rückkehrende Besatzung von ferne die hohen roten Kasernengebäude erblickt, die vom Meere aus als erstes von der vertrauten Garnison dem Auge sichtbar werden, dann werden diese nüchternen Bauten mit kaum zu schilderndem Entzücken begrüßt werden. Auch die Fremde hatte ihre Reize; was aber bedeuten sie im Vergleich zu dem Schönen, das hinter jenen einförmigen grünen Deichlinien harrt! Dort ist das Paradies, denn dort ist die Heimat!


Zeit bringt Rosen.

Novelle von Stefanie Keyser.

      (2. Fortsetzung.)

Ilse, von dem Stubenmädchen bedient, trödelte noch zwischen Brenneisen und gefältelten Unterkleidern umher, als Antwort auf eine neulich von Holl empfangene Vorlesung über Pünktlichkeit.

Gabriele war mit ihrer Toilette schon fertig. Sie schob den Ring, den sie vorher abgelegt hatte, wieder an den Finger. Nachdenklich sah sie auf die Edelsteine herab, die sich ohne Rücksicht auf die Farbe aneinander reihten. Sie bildeten einen nach altem Glauben zusammengestellten Segensspruch. Aber die Juwelen hielten nicht, was derjenige, der sie zusammenfügen ließ, dessen Namenszug mit einem anderthalb Jahrzehnte zurückliegenden Datum in das Innere des Ringes graviert war, sich von ihnen wenn auch nur im Scherz versprochen hatte. Die prophetischen Träume, die der wie ein feuriges Veilchen funkelnde Amethyst verhieß, blieben aus. Der olivenfarbige Chrysolith vermochte mit seinem heiteren Goldglanz die Schwermut ihr nicht fern zu halten, der Zauber des bläulich schimmernden Beryll erwies sich machtlos dem Herzen gegenüber, das er fröhlich machen sollte. Und ebensowenig verlieh der dunkelgrüne Jaspis hellen Blick. Sie sah zum Beispiel nicht klar, wie der zwischen Ilse und Holl sichtlich immer ernster werdende Streit enden konnte. Eine leise Mahnung zur Vorsicht schlug Ilse mit dem Uebermut der im Schatten eines großen Geldschrankes aufgewachsenen Tochter in den Wind. Und doch – trotz des Kampfes meinte Gabriele ein tiefes Interesse der beiden aneinander herauszufühlen. Vielleicht war es ein Glück, wenn der ernste gereifte Mann der warmherzigen aber unerzogenen Ilse zur Seite trat. Holl genoß sowohl als Mensch wie als Offizier höchste Achtung. Das hatte ihr Schersen gesagt auf eine leis andeutende Frage, die der fein Empfindende sofort verstand, die sie wagen durfte, weil sie auf seine Verschwiegenheit bauen konnte. Er war ein vollendeter Kavalier. Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen. Ein vollendeter Kavalier, aber –

Sie blickte auf den Ring nieder. Auch hier versagte der Jaspis den Dienst.

Spielerei der Gedanken! Das Wirkliche waren die schönen mit Kennerauge ausgesuchten Edelsteine und die Liebe, die durch ihre einstige Wahl bekundet wurde. Ach, einmal dieser von elektrischen Strömungen durchkreuzten Luft entrinnen können! Einmal allein sein!

Ilse beobachtete die Freundin, und hinter dem Goldgelock stiegen allerhand prophetische Gedanken auf von sanften Ermahnungen, von stillem Sitzen unter der älteren Altersklasse, von ausgleichenden Bestrebungen, wenn sie unbefugten Einmischungen gegenüber – ein verschlagener Blick ging hinter Holl her – sich kräftig wehrte.

„Sie sind angegriffen, Gabriele,“ sagte sie. „Ruhen Sie ein wenig! Ich kann mich Frau Kern anschließen.“ Und mit dem Ungestüm der Jugend jeden Widerspruch beiseite schiebend, schickte sie sofort das Stubenmädchen zu der Dame, um ihren Schutz zu erbitten.

Frau Kern hatte bereits ihren Hut aufgesetzt, den ein kostbarer Reiherstutz überragte. „Mit dem größten Vergnügen!“ rief sie zur Thür herein. „Vertrauen Sie mir Fräulein Großheim ruhig an! Merkwürdig! Wir hätten nicht Feuerrot zu Rosa tragen dürfen. Hören Sie, da wird schon die Polonaise gespielt. Nun, guten Abend, Fräulein Raunthal!“

Sie gingen. Gabriele wartete noch ein paar Minuten, dann verließ sie ebenfalls die Villa. Als sie die Stadt erreichte, schmetterte ihr das Signal einer Extrapost entgegen. Ein offener Wagen, dem ein anderer, mit Gepäck beladener folgte, rollte vorüber. Neben dem Postillon saß ein Diener, dessen braunes Gesicht scharf gegen seinen weißen arabischen Burnus abstach. Vom Rücksitz wandte sich ein kokettes Jüngferchen um und rief ihm in französischer Sprache einen Befehl zu. Der Schwager schüttelte zu dem gebrochenen mit englischen und italienischen Worten gemischten Deutsch des Dieners den Kopf. Da richtete sich die in die Polster zurückgelehnte Herrin auf und nannte das Renaissanceschlößchen und den dort wohnenden Baron. Die Stimme klang dunkel: aber der Aussprache nach war die Dame eine Deutsche. Gabriele sah in ein Paar großer grauer Augen; dann verschwand der Zug.

Wer war die Dame? Sie erschien ihr bekannt. Aber sie konnte sich nicht auf die frühere Begegnung besinnen. Leises Rauschen spülte das Grübeln hinweg. Es drang aus der tiefen von alten Bäumen überwölbten Schlucht, wo die Salzquellen der Erde entstiegen. Jetzt waren die Badehäuser geschlossen, die lauschigen Wege vereinsamt. Gabriele brach einen Zweig blühenden Flieders aus dem Boskett und drückte das Gesicht in die duftenden Trauben. Tiefe Stille herrschte, nur das Wasser brauste und plätscherte. Und die Quelle murmelte von einem Jahrtausend, während dessen sie Segen gespendet hatte – von den grauen Tagen, da das umwohnende Volk im rauhen Bärenfell sich andächtig vor ihr neigte, von der Zeit, da die erste Mauer um sie gezogen wurde, da die neu gegründete Stadt den am Salzborn dienenden Hallknecht als Wappenbild erkor. Aus den Winkeln der von Abenddämmerung umwobenen Gebäude schwebten die Geister der alten Stadt an die langsam Hinwandelnde heran und raunten in ihrer Sprache, die Alltagsmenschen nicht verstehen, ihr zu von dem Salzgericht, das hier gehalten wurde, von den Sölden[1] dort, wo die weißgeschürzten Sieder um die brodelnden Pfannen hantierten.

Beim Schein einer schwankenden Laterne las sie den Straßennamen „Kräme“. Alt wie das Haus da mit den vorspringenden Stockwerken, dem steilen spitzen Ziegeldach! Das war gewiß dereinst das behagliche Heim eines Pfannherrn, der Feuer und Rauch zu Frankenhausen erhalten mußte, wenn er Miteigentümer des Salzwerkes sein wollte. Diese tiefe Fensternische mochte vielleicht sein Lieblingsplatz gewesen sein, wo er saß, mit pelzverbrämter Schaube angethan, geruhig sich des Bewußtseins getröstend, daß selbst ein Bibelwort die Unentbehrlichkeit dessen anerkannte, was er förderte. Aus der rundbogigen Pforte trat allabendlich zu dieser Zeit sein Töchterlein, dem das blonde Haar wie ein Mantel unter dem goldenen Schappel herabwallte, und zündete ein Lämpchen an vor St. Wolfgang, dem Schutzpatron des Salzwerkes, der damals unter der noch erhaltenen steinernen Krönung stand. Und auch allabendlich zu dieser Zeit sprang der junge Salzschreiber in seinen Schnabelschuhen über den die Straße durchrauschenden Bach, um dem hochmögenden Herrn zu berichten, wie viele Gespanne in den Herbergen Salz begehrten. Es durfte ja beileibe nicht mehr gekocht werden, als man gewißlich abzusetzen vermochte. Gestattete die ehrsame Jungfrau ihm heute, ein kurzes Weilchen mit ihr zu sponsieren? Warum sonst stocherte sie so lange an dem Lämpchen herum, bis er herankam? Nein, heute wie immer, wenn er seinen Gruß bot, richtete sie sich hoffärtig auf und rauschte davon, daß die Silberglöckchen, die sie als Patrizierin am Saume der lasurblauen Schleppe tragen durfte, ihm in die Ohren gellten, er sei noch weit von den hohen Graden eines Salzgräfen[2] entfernt, dem sie ebenbürtig war. Bei St. Wolfgang, er wollte ihr den Hochmut heimzahlen! Zum letztenmal überschritt er die Schwelle. Hinfüro schickte er an seiner Statt den geringeren Bornschreiber!

Gabriele fuhr plötzlich aus ihren Träumereien auf. Sprang dort nicht wirklich eine schlanke Männergestalt über den murmelnden [783] Rinngraben? Langsam kam ihr die Erscheinung entgegen. Aber kein längst verblichener Salzschreiber wandelte daher, breitspurig die Fersen zuerst aufsetzend, wie es den Schnabelschuhen entsprach – mit den feinen Fußspitzen vorstechend, nahte ein unternehmender Mann von heute! Der Laternenschein fiel auf silbern schimmerndes aschblondes Haar. Nun, auch sie war eine Dame von heute! Sie ging, ohne ihn anzusehen, an ihm vorüber. In der Dämmerung kennt man sich nicht. Deutlich hörte sie, daß der Nachtwandler anhielt, dann sich wendete und von fern folgte. Sie mußte sich zwingen, daß sie nicht in einen rascheren Schritt verfiel, um diesem Geleit zu entgehen. Es war am besten, sie begab sich noch zu der Tanzunterhaltung.

Schon von weitem leuchtete das Festgebäude ihr entgegen. Bunte Lampions glühten zwischen den dunklen Bäumen, aus der geöffneten Glasthür des Saales strömte Lichtglanz und Musik. Etwas atemlos trat sie durch das eiserne Gitterthor; und jetzt, wo all die erleuchteten Laubgänge von plaudernden Gesellschaftsgruppen belebt waren, warf sie einen Blick rückwärts, wie wohl der vor einem Gespenst sich Fürchtende thut. Und sie fuhr auch wirklich zusammen. Schersen trat nach ihr ein, die Augen auf sie geheftet, ein Syringenträublein im Knopfloch. Also war er ihr schon von der Schlucht des Salzborns an gefolgt!

Ihre Finger zuckten, als wollten sie den eigenen Zweig wegwerfen. Aber im selben Augenblick fragte er neben ihr: „Haben Sie den weißen Nebelstreifen gesehen, der wie der feuchte Saum eines Nixengewandes an dem Quell verschwand? Und schaute nicht aus den tiefen Fensternischen und den an Kirchenpforten erinnernden Rundbogenthüren das alte Bürgertum mit seinen behäbigen Männern, den sittsam herben Jungfrauen?“

Sie schwieg betroffen. Die Ueberraschung ließ sie die Beängstigung vergessen, welche sie vorher empfunden hatte. In seinen Augen war ein Lächeln. „Wir müssen nun einmal immer dasselbe denken. Ist es Hypnose, Suggestion?“

Sie faßte sich. „Es ist die Verwandtschaft unserer Talente,“ sprach sie ruhig.

Er antwortete nicht sogleich. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als wüßte er es besser. Dann verbeugte er sich doch tief, wie dankend für eine höchste Ehre, und sagte: „Das Wort läßt mich hoffen, daß mein sehnlichster Wunsch sich noch erfüllt. Ich möchte nämlich so gern ein gemeinsames Werk mit Ihnen schaffen, mein gnädiges Fräulein. Ich bin etwas Konzertzeichner und denke es mir herrlich, wenn Sie erzählen wollten und ich dürfte zugleich die Zeichnungen dazu entwerfen.“

„Mir geht die Arbeit nicht so schnell von der Hand wie Ihnen,“ antwortete sie ausweichend. „Von der Novelle, die Sie erraten haben, ist nur der Anfang vorhanden.“

Er ließ sich, nicht abweisen. „Wollten Sie nicht als Samariterin ein Märchen für Ihre Armenschule liefern? Würden Ihre Schülerinnen sich nicht freuen, wenn kleine Bilder es schmückten? Wir könnten zum Beispiel einen Ausflug nach der Höhle machen, die zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend gehört. Da hausen Kobolde, Gnomen. Ich zeichne auch bei Licht, o, nötigenfalls im Finstern – in Ihrer Gesellschaft!“ kam es leise von seinen Lippen, während er mit ihr den Saal betrat. Und einem Einwand zuvorkommend, setzte er hinzu: „Bitten wir Frau Kern, daß sie eine Partie zur Höhle veranstalte. Ich werde mit ihr sprechen. Sie wünschen doch auf dem Eckdiwan dort zu sitzen, gnädiges Fräulein?“

Mit der vollendeten Höflichkeit des Kavaliers und der Geschwindigkeit des eine Ueberrumpelung bewerkstelligenden Offiziers geleitete er Gabriele zu dem Platz. Dann glitt er hinweg.

Herr von Stöckei, der bei einer Flasche Schaumwein gesessen hatte, vertrat ihm den Weg. „Wollte Ihnen noch Lebewohl sagen, Baron; es geht morgen fort.“

„Glückliche Reise!“ sagte Schersen eilfertig.

„Vorderhand bleibe ich noch im Thal,“ sprach Stöckei weiter. „Unser gemeinschaftlicher Bekannter hat mich zur Rehbockjagd eingeladen. Wollen Sie nicht mit, Ihren Besuch dort zu machen? Das Renaissanceschlößchen – ein wahres Bijou – und der vornehme Park bieten eine Fülle malerischer Punkte.“

„In der That!“ antwortete Schersen zerstreut und war fort.

Stöckei klemmte das Monocle vor das Auge. Dort saß Schersen neben dieser etwas spießigen Frau Kern mit so liebenswürdiger Miene, so einschmeichelndem Lächeln, wie er es vielleicht als Militärattaché in London für die Frau eines Gesandten gehabt hatte, die ihm bei politischen Aufträgen hilfreiche Hand leisten sollte. Aber hier, wo man nicht einmal ein Menuett à la reine zustande bringen konnte! Er verließ kopfschüttelnd den Saal.

Das Fest nahm den bade- und kurgemäßen raschen Verlauf. Ueber den Tanzenden lag es wie eine leichte rötliche Wolke; an den Wänden reihten sich die Ballmütter, kleine Spitzenrosetten über den von der Wärme aufgelösten Stirnfransen; die Nebenzimmer waren gefüllt von älteren Herren, die bei Cigarren und Bier, L’hombre und Skat saßen. Nur wenige Nummern noch zeigten die Tanzkarten.

Eben waren die „Nachtfalter“ von Strauß gespielt worden, nach deren Klängen junge Mädchen, von lichten Sommerkleidern und wehenden Schärpen umflattert, und Herren in spitzen Lackschuhen, bunte seidene Tücher in den weiten Ausschnitt der Westen gesteckt, sich gedreht hatten. Jetzt eilte Ilse zu Gabriele heran. Zugleich nahte dem Platz derselben auch Hauptmann Holl, der bis dahin am Thürrahmen zum Büffettzimmer gelehnt hatte.

„Ich amüsiere mich himmlisch,“ beteuerte Ilse so inbrünstig, als habe jemand daran gezweifelt. „Aber Herr Hauptmann Holl spielt sich heute auf den Methusalem hinaus, er hat erklärt, Rundtänze und Kinderkrankheiten lägen hinter ihm, und sich nur herabgelassen, mich zur letzten Française zu engagieren.“ Sie warf einen gereizten Blick auf die stattliche Gestalt, die so elegant aussah in dem mit Seide aufgeschlagenen Jackett.

Gabriele strich dem jungen Mädchen sanft die Locken aus der erhitzten Stirn, die, glatt wie die eines Kindes, zeigte, daß noch kein schwerer Gedanke, kein Kummer sie gefurcht hatte; dann zog sie Ilse neben sich auf den Diwan.

Holl lachte und seufzte zugleich. „Das ‚nur‘ ist dem Methusalem sehr schmeichelhaft, doch würde ein kleiner Gewissensbiß Ihrerseits ihm noch viel, viel lieber sein.“

Gabriele erriet. Daß er nicht getanzt hatte, war die Strafe gewesen für Ilses Nichtbeachtung seiner Ansichten, für die abermalige Unpünktlichkeit beim Erscheinen und die ausgesucht grelle Toilette. Vermittelnd sagte sie: „Die leidenschaftliche Tanzlust eines Fähnrichs verträgt sich nicht mit den Majorsepauletten, die bei Herrn Hauptmann Holl jeden Tag eintreffen können.“

„Nicht vor dem Manöver,“ berichtigte Holl und zog sich einen Stuhl an Gabrieles andere Seite.

Gabriele nickte. „Ach ja, ich habe gehört, daß Sie sich nie Illusionen hingeben wie so viele andere, sondern auf den Tag berechnen, wann frühestens die Beförderung eintreffen kann. Und welche Garnison wünschen Sie sich?“

„Mit Wünschen gebe ich mich nicht ab“ – er hielt inne; ein rascher verletzter Blick von Ilse hatte ihn getroffen. Seine schwarzen Augen blitzten mit den weißen Zähnen um die Wette, als er hinzufügte: „Ich meine – nur nach dieser Seite hin. Ich gehe, wohin man mich schickt.“

„Sie würden sich doch umgucken,“ sagte Ilse mit einiger Verwirrung über seine Einschränkung, „wenn man Sie in ein Nest an der Ostgrenze schickte, wo es keine Frühstückskeller mit Austern, keine kleinen famosen Spielhöllen giebt, wo alle schneidigen Paletots und Mützen ein Jahrhundert zu spät Mode werden.“

„Solche Passionen habe ich nie gekannt,“ erwiderte er heiter, „auch als junger Lieutenant nicht, da mein Vater kein Krösus, sondern Professor der Mathematik war, das heißt für Luxus nichts übrig hatte.“

Sie machte eine zweifelnde Bewegung mit der Hand. „Na, da wird gepumpt; das kennt man!“

„Dagegen muß ich mich verwahren,“ antwortete er, ernst werdend. „Ich bin zur Kriegsakademie einberufen, zur Reitschule kommandiert gewesen und mit der mäßigen Extrazulage ganz gut ausgekommen, die mir von zu Hause gewährt werden konnte. Man muß nur nicht nach den Anschauungen anderer, sondern nach der eigenen Einsicht, den eigenen Verhältnissen sein Leben ordnen, sich sagen, daß nicht die famosen Spielratzen und die Löwen mit den schneidigen Mützen, sondern die, welche die famosen Examina machen, die schneidigen Pläne ausarbeiten, zu den höheren Graden aufrücken.“

„Und daran wollen Sie als junger Lieutenant immer gedacht haben?“ fragte Ilse ungläubig.

„Selbstverständlich!“ Es lag eine unbeirrbare Festigkeit in seiner Stimme, als er hinzusetzte: „Mein Beruf, meine Laufbahn war und ist mir zu allen Zeiten das Höchste gewesen.“

[784]

Ein Wintertag in St. Petersburg.
Nach einem Gemälde von Jan V. Chelminski.

[785] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [786] Ilse sah ihn finster an. Das Höchste? Allen, die ihr bisher huldigten, war sie das Höchste, und dieser Hauptmann, den sie auszeichnete, erklärte, daß ihm ein Paar breiter roter Streifen oder das stumpfe Karmoisin des Generalstabs die Hauptsache im Leben sei. Er kam ihr beschränkt vor, aber das Herz that ihr weh dabei.

Da wurde die Einleitung zur Française gespielt, die das Fest beschließen sollte. Auf die Bitte des Vorstandes hatte Holl übernommen, dieselbe vorzutanzen und durch allerhand Kotillontouren zu erweitern. Er trat zu Ilse und verbeugte sich. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, die blauen Augen wichen ihm aus. Sie ließ ihn eine Sekunde warten. Er schüttelte leise den Kopf.

Gabriele sah ihn voll Teilnahme an. Neben ernster Mahnung meinte sie in seinen Augen noch einen anderen Ausdruck zu lesen, eine tiefe Zärtlichkeit, die dem Mädchen an seiner Seite zu sagen schien: das Liebste bist Du mir doch. Aber das Wort kam nicht über die spröden Lippen.

Nachlässig reichte ihm Ilse die Hand. Seine Brauen zogen sich zusammen, er wurde ungeduldig. Unverweilt führte er sie in das Carré und rief mit lauter Stimme die erste Tour aus.

„Jetzt sind Sie ganz in Ihrem Element, Sie kommandieren,“ spottete Ilse, vor ihm balancierend.

„Es ist leider immer notwendig,“ antwortete er, den Pas zu einem energischen schnellen Schritt umwandelnd.

„Aber man braucht nicht zu gehorchen,“ stieß sie heraus.

Er reichte ihr die Hand zur Tour des mains. „Wer sich mit mir – sei es auch nur zu einem Tanz – vereint, muß bereits die Entscheidung getroffen haben, meine Führung anerkennen zu wollen.“

Sie zuckte die Achseln. Sein Kopf reckte sich höher. „Zweiter Herr, erste Dame: en avant deux!“ rief er so befehlend, daß Ilse unwillkürlich gehorchte und davonflog. Aber plötzlich besann sie sich. Und ihr Kleid mit gespreizten Fingern fassend, hopste sie, die regelrechten Pas bis zur Karrikatur übertreibend, dem Referendar entgegen, der sofort eine Darstellung von Hirsch in der Tanzstunde gab. Alle lachten. Nur Holl sah mißbilligend zu.

„Soll ich vielleicht zur Strafe nachexerzieren?“ warf Ilse hin, sein strenges Gesicht mit kurzem bösen Blick streifend, während die andere Seite die Tour ausführte.

Er blickte ihr fest in die Augen. „En avant quatre!“ Dann sagte er, scheinbar auf den Tanz hindeutend: „Ist es nun nicht Zeit, vernünftig zu werden?“

„Ach, Vernunft, wohin sie gehört!“ rief Ilse, ihm die Hand entziehend. „Ein Ball ist keine Arbeit, sondern ein Vergnügen. Ich will mich amüsieren.“

Es wetterleuchtete in den dunklen Augen. „Herrenronde!“ kommandierte er, in dem Ton eines Feldherrn, der meuterischen Truppen gegenübersteht, und gab dem Bürgermeister und dem Ingenieur die Hände. Die Musik spielte aus dem Troubadour:

„Lodernd zum Himmel
Steigen die Flammen!“

Nach dem feurigen Takt chassierte Ilse als rosiger Kopf der Damenschlange um die Herren herum – und plötzlich zur Saalthür hinaus.

Einen Augenblick führte Holl noch seine Partei, die Rückkehr der Damen erhoffend. Dann blieb er stehen, als gedenke er auf dem Parkett festzuwurzeln. Nur ein finsterer Blick richtete sich hinaus. Die andern Herren schauten ebenfalls dahin.

Wie bunte Riesenschmetterlinge flatterten die Damen, geführt von Ilse, in den dunklen Laubgängen hin; bald schimmerte blaue Seide in einem Mondenstrahl, bald glühte eine dunkelrote Schärpe im Licht einer Laterne auf. Gleich sprühenden Funken umschwärmten aufsteigende Leuchtkäfer weiße duftige Gestalten. Noch eine Sekunde hielt die jungen Männer das Beispiel des Vortänzers im Zaum. Dann über stoben sie hinaus, allen voran der Referendar. Leichte Schreie ertönten. Die Mütter erhoben sich und eilten ihren zerstreuten Küchlein zu Hilfe. Eine allgemeine Verwirrung entstand.

Da kam der ganze Schwarm der Mädchen und jungen Frauen hereingeflattert, wie verfolgt vom Habicht. Ilse voran, glühend, vom raschen Lauf das Gelock verwirrt, das Kleid am Gebüsch zerzaust.

Im selben Augenblick winkte Holl die Musik ab und führte Ilse stumm auf ihren Platz zurück.

„Aber der Tanz ist noch nicht zu Ende,“ widersetzte sie sich.

„Ich habe das Ende befohlen,“ antwortete er kurz, nahm die Hacken zusammen, verbeugte sich nach allen Seiten und verschwand. Dagegen trat Frau Kern an Schersens Arm in die Mitte des Saales und schlug, eine Partie nach der Höhle vor. Der neue Plan dämpfte die Aufregung über Ilses Streich.

„Dann wäre morgen der einzige Tag, der sich dafür eignete,“ erklärte der Bürgermeister. „Denn übermorgen haben wir mit den Vorbereitungen zum Kyffhäuserfest zu thun.“

„Also morgen, meine Herrschaften!“ verkündigte Frau Kern.

Gabriele konnte sich nicht ausschließen, da alles so harmlos verlief. Von Schersen geleitet, der ihren weißen Mantel trug, begab sie sich nach Hause, bedrückt und stumm. Auch er sprach nicht. Aber auf seinen Zügen lag eine liebenswürdige Siegesgewißheit: ihre Seelen verstanden sich auch im Schweigen. Und das war gerade das Höchste, Süßeste.

Ilse ging trotzig nebenher. War es denn möglich, was sie erlebt hatte? Umkrempeln, ducken lassen sollte sie sich! „Nun, Herr Hauptmann, Sie sollen mich kennenlernen!“ murmelte sie ingrimmig.

Holl war hinausgestürmt ins Freie. Es war ihm unmöglich, zur Ruhe zu gehen. Der Widerstand, den Ilse ihm entgegensetzte, machte ihn rasend. Zum erstenmal scheiterte sein Wille, seine Ueberlegenheit, und gerade diesmal hatte er sich selbst mit eingesetzt. Sein Mannesgefühl war verletzt bis zu einer Empfindung von Schmerz. So wie sie jetzt war – nein, nein! Eine solche Frau – unmöglich! Wie sollte er die Sammlung des Geistes bewahren, deren heute jeder benötigte, der vorwärts strebte, wenn er zu keiner Zeit vor ihren übermütigen Streichen sicher sein durfte? Woher die Zeit nehmen, um einzudämmen, wo sie überschäumte, aufzuklären, wo sie mißverstanden wurde? So blieb ihm nichts übrig als abzubrechen und zu versuchen, bei dem Bataillon, das er in der Kürze zu führen bekommen würde, die Sache zu vergessen. Es war ihm, als würde seine Brust zusammengeschnürt. Er mußte tief Atem holen.

Der Duft von allen den Blüten, die in die warme Juninacht ihr traumhaftes Leben hauchten, drang ihm bis ins Herz. Ein Summen und Knistern erfüllte die Luft, hervorgebracht von Myriaden unsichtbarer Insekten, von Knospen, die ihre Hülle sprengten; manchmal trat das tiefstimmige Brummen eines vorübersausenden Nachtschmetterlings stärker hervor, um gleich wieder unterzugehen in dem allgemeinen unzerlegbaren Geräusch dieser verheißungsvollen Werdezeit. Da zog ein goldiger Funke über das hohe weite Himmelszelt, das über das Thal sich spannte. Ilse rief dabei immer: „Ich wünsche mir – ich sage nicht, was!“ Er sandte einen Seufzer hinauf. Energisches Aufstampfen mit dem Fuß sollte ihn widerrufen. Zum Kuckuck! Konnte er nicht aus der Schlappheit heraus? Was war ihm früher der Sternenhimmel gewesen? Das viereckige graue oder blaue Stück über dem Kasernenhof, an den er in den letzten Tagen gar nicht mehr gedacht hatte. Ueberhaupt – wohin war es mit ihm gekommen? Wenn ihm sonst nur die Signale auf dem Exerzierplatz wichtig dünkten, so interessierte ihn jetzt schon ein „Tack, tack!“, „Trätsch, trätsch!“

Seine Gedanken hielten an bei der Erinnerung. Er sah wieder das Köpfchen an seinem Gesicht und wie sie davonlief. Die Zorneswellen legten sich. Sie war doch ein echtes sprödes unschuldiges Mädchen. Lohnte es nicht die Mühe, einen letzten Versuch zu machen? Vielleicht kam sie zu sich – eine Nacht lag dazwischen – am andern Tag steht man immer den Ereignissen besonnener gegenüber.

Langsam ging er seiner Wohnung zu.


Eine Reihe von Wagen rollte am nächsten Nachmittag durch die sammetweichen Wiesen, wo würdevoll der Storch spazierte und am Flüßchen die backsteinrote Mühle behaglich klapperte, der Höhle zu, über deren Eingang die wüste Falkenburg sich erhob.

Still und ernst lehnte Gabriele in den Polstern eines Landauers, wo sie mit einer Dame aus dem Chor der Mütter und mit Schersen Platz genommen hatte. Die Träumerei von gestern war verflogen, ihr Blick klar geworden, wie sie es ersehnte. Als der Baron ihr heute entgegengetreten war, die Augen strahlend von sonniger Heiterkeit, um den Mund einen Zug von lachendem Glück, ein Bild schöner Jugendlichkeit, die etwas Rührendes hatte, da wußte sie, daß sie der Entscheidung nicht mehr ausweichen durfte.

[787] Vom nachfolgenden Break klang Ilses Stimme zu ihr herüber, die unaufhörlich plauderte und lustig lachte, zu lustig, als daß es natürlich war. Das Break war von den jungen Herren im Sturm genommen worden; kaum daß Frau Kern, als Anstandsdame, einen Platz bekommen hatte. Der flotte Ingenieur stand sogar auf dem Trittbrett, der Referendar saß schief auf dem Bock, um immer in den Wagen hinein reden zu können. Man suchte aus der Abkühlung Nutzen zu ziehen, die am Schluß des Festes und bei der heutigen Zusammenkunft der Gesellschaft zwischen dem reizenden Goldfisch und Holl sich bemerkbar gemacht hatte.

Im letzten Omnibus entdeckte Gabriele den Hauptmann und sie sagte sich, auch hier stehe eine Katastrophe bevor, die nicht mehr aufzuhalten sei. Ihr vor Schersens Augen fliehender Blick blieb auf einem dunklen Felsgebild haften, das wie ein finsterer Kopf auf den Höhleneingang herabdrohte. „Unheimlich!“ sagte sie. „Es könnte ein Schwarzelb gewesen sein, der versteinerte, als ein Sonnenstrahl ihn traf.“

„Soll damit unser Märchen beginnen?“ fragte Schersen eifrig.

Gabriele streckte abwehrend die Hand aus. „Ich habe kein Vertrauen zu dem Unternehmen,“ antwortete, sie. „Das Märchen würde einen düsteren Inhalt bekommen. Die Berggeister sind nicht unschuldig gleich Wichteln, hilfreich wie Heinzelmännchen, sondern den Menschen feind. Die Elbinnen, die Frauen der Zwerge, deren Spindeln man in den Bergen schnurren zu hören glaubte, sollten Zwietracht und schweren Sinn für die Menschen spinnen.“

Schersen lächelte zärtlich. „Ich vertraue, daß es stärkere Mächte giebt, an denen der böse Zauber der kleinen Leute kraftlos zerschellt.“

Sie fand nicht Zeit zur Antwort. Die Wagen fuhren an dem Eingang der Höhle vor, der eine eisige Luft entströmte.

Die Grubenlichter wurden verteilt. Ilses Verehrer zündeten die Lichter an ihrer unstät hin und her flackernden Flamme an. Der Führer im Bergmannskostüm sprach sein „Glückauf!“ bei der Einfahrt, und „Glückauf!“ tönte es von allen Lippen. Der Ton schien in dem niedrigen langen Eingangsstollen zu ersticken.

„Möchte das Wort von guter Vorbedeutung sein,“ sagte neben Ilse halblaut eine tiefe Stimme. Sie schrak zusammen, sah auf und in Holls Augen, die, das Halbdunkel durchdringend, sich auf ihre Züge hefteten. „Ich erwarte vom heutigen Tag die Entscheidung, ob ich noch hoffen darf oder verzichten muß,“ setzte er hinzu. Das Herz klopfte ihm bis in den Hals; er zwang sich, ruhig zu sprechen; und der Ton wurde dadurch hart und herrisch.

Ihre starke ungebändigte Natur empörte sich dagegen. „Hoffen? Auf was? Auf Subordination Ihrem Kommando gegenüber? Ich dulde keine Tyrannei; ich bin an Freiheit gewöhnt.“

„Sagen Sie lieber: ich dulde kein Gesetz und gehorche nur dem größten Tyrannen, dem wilden Trotz in der eigenen Seele,“ antwortete er mit unterdrückter Stimme, und doch schien es ihr, als wehe eine heiße zornige Lohe über sie hin.

„Ich habe Ihnen nicht das Recht gegeben, so zu mir zu sprechen,“ brach Ilse los.

Er richtete sich jäh auf. Seine, Züge wurden todesernst. Aber noch ein anderer sonderbarer Ausdruck lag darin. Es durchzuckte sie ein furchtbarer Schreck, jedoch nur einen Augenblick. Mit heftiger Schwenkung, daß die Plüschpompons an Schultern, Aermeln, Hütchen sie wie bunte Bälle umflogen, drehte sie sich auf dem Absatz herum und floh in den Kreis ihrer Verehrer hinein.

Die Wanderung begann in die unterirdische Landschaft, die feuchte Gründe, Berge, Seen und Thäler zeigte wie die Oberwelt, aber dunkel und totenstill dalag, von keinem Tier, keiner Pflanze belebt. Hier redete der Stein mit seinen übereinander getürmten Blöcken, den aufgerissenen Klüften von den Kämpfen; welche die Naturkräfte bei Gestaltung unseres Wandelsternes durchgerungen haben. Von den hohen Wölbungen hernieder hingen weiße Gipsstücke, riesigen Steintafeln gleich, auf die eine unbekannte Hand unenträtselbare Hieroglyphen geschrieben zu haben schien. Um die Felsen schlängelten sich schmale Pfade, die in tiefer lautloser Nacht sich verloren.

Die Gesellschaft war diesem ewigen Schweigen gegenüber unwillkürlich auch verstummt. Nur an Ilse und ihrem Gefolge schien der Eindruck abzuprallen. Sie half dem Ingenieur auf einem Berg griechisches Feuer anzünden, probierte mit dem Bürgermeister eine Bank, die zart abgetönte schwellende Polster vorspiegelte, aber steinhart und eiskalt war, legte auf den Gipstisch, der so weiß leuchtete, als hätten Kobolde ihn für ein Mahl gedeckt, samt allen jungen Herren ihre eingebogene Visitenkarte nieder, und in der weiten Halle, die grau schimmernde Schuppen gleich einer grotesken Stuccatur bekleideten, tanzte sie ausgelassen mit dem Referendar, der seinen Hut leichtsinnig auf dem Kopf balancierte, während der Musikdirektor einen Walzer pfiff, den in seiner Oper die Bauern aus Tilleda tanzten. Einen triumphierenden Blick warf sie über die Schulter nach Holl zurück.

Seine Höhlenkarte entfaltend, ging dieser weiter, ohne sie zu beachten. Sie hatte nun keine Lust mehr, zu walzen. Sie entfloh ihrem stürmischen Tänzer und flog, schrill auflachend, über den Steinwall hinweg, der wie ein Scherbenberg vor einem Spalt sich türmte. Als der Referendar folgen wollte, blies sie sein Licht aus. Er haschte nach ihr, aber faßte den Bürgermeister, dessen Baßstimme ihm ein „Nanu!“ entgegenrief. Lachend, suchend brausten die Teilnehmer an der wilden Jagd in andere Gänge. (Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.

Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der neue deutsche Reichskanzler. (Zu dem Bildnis Seite 773.) Vor viereinhalb Jahren, in den Märztagen des Jahres 1890 hatte Caprivi als Nachfolger Bismarcks die Aemter des deutschen Reichskanzlers, des preußischen Ministerpräsidenten und Ministers des Auswärtigen übernommen. Nachdem er den Vorsitz im preußischen Ministerium schon vor zwei Jahren an den Grafen Botho von Eulenburg abgegeben hatte, ist er nun auch seines Postens als Reichskanzler durch kaiserlichen Entschluß entbunden worden, zugleich mit ihm hat Graf Eulenburg seine Entlassung genommen. Die vereinigten Aemter des Fürsten Bismarck ruhen nun wieder auf eines Mannes Schultern, auf denen des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, des seitherigen kaiserlichen Statthalters in den Reichslanden. Ein fünfundsiebzigjähriger Staatsmann tritt damit in einem Augenblick an die Spitze der Reichsregierung, wo Fragen von weitreichender Bedeutung einen Mann von klarer gereifter Einsicht, festem Wollen und warmem Herzen gebieterisch fordern.

Daß der Erkorene die Fähigkeit besitzt, einer großen und verwickelten politischen Aufgabe gerecht zu werden, das lehrt ein flüchtiger Blick auf seine seitherige Wirksamkeit. Mehr als einmal hat er in schwierigen Lagen sich erprobt, mehr als einmal hat man seine Person gerade in solchen Augenblicken herangezogen, die an Takt, Umsicht, Mut und Geschäftskenntnis besonders hohe Anforderungen stellten. So war’s in Bayern im Jahre 1866, als es galt, aus Krieg und Mißtrauen heraus den ehrlichen Anschluß an das siegreiche-Preußen zu finden und die Folgerungen aus dem Schutz- und Trutzbündnisse voll zu ziehen. In den vier Jahren zwischen Kissingen und Weißenburg hat Hohenlohe als bayerischer Ministerpräsident unendlich viel für die Einigung Deutschlands, in dem Sinne, wie sie heute zur glücklichen Thatsache geworden ist, gethan, so daß auch sein Sturz zu Anfang des Jahres 1870 den natürlichen Fortschritt der Dinge nicht mehr aufhalten konnte. Hohenlohe aber fuhr fort, als bayerischer Reichsrat und Abgeordneter zum Deutschen Reichstag seinen gewichtigen Einfluß in den Dienst einer nationalen Politik zu stellen.

Als dann 1874 Graf Harry von Arnim unter erschwerenden Umständen von dem Botschafterposten in Paris abberufen wurde, da erhielt Hohenlohe den heiklen Auftrag, in die Lücke zu treten; durch feinen diplomatischen Takt gelang es ihm, ein beiderseits befriedigendes Verhältnis zwischen den Regierungen herbeizuführen. Und als nach dem Tode Manteuffels 1885 die Notwendigkeit sich herausstellte, die innerliche Verbindung zwischen den Reichslanden und Altdeutschland auf einem neuen Wege zu suchen, weil der alte nicht zum erwünschten Ziel geführt hatte, da war-es wiederum Hohenlohe, dem das Vertrauen geschenkt ward, daß er diesen Weg finden werde. Beidemal hat der Erfolg gezeigt, daß die Wahl auf den rechten Mann gefallen war.

Der Fürst ist am 31. März 1819 zu Rotenburg an der Fulda geboren als zweiter Sohn des Fürsten Franz Joseph zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Seine Mutter Constantia war eine geborene Prinzessin zu Hohenlohe-Langenburg. Nach gründlichen Studien der Rechts- und Staatswissenschaften, denen er zu Heidelberg, Göttingen und Bonn oblag, wurde er 1841 Auskultator beim Gericht in Ehrenbreitstein, dann Referendar bei der Regierung in Potsdam; doch verließ er 1845 den preußischen Staatsdienst, um die ihm zugefallene Standesherrschaft Schillingsfürst im bayerischen Regierungsbezirk Mittelfranken zu übernehmen. Von seiner Gemahlin Marie, einer geborenen Prinzessin Sayn-Wittgenstein-Berleburg, besitzt er drei Söhne und eine Tochter; von seinen zwei Brüdern ist der ältere, Gustav, Kardinal in Rom, während der jüngere, Constantin, ein hohes Amt am österreichischen Kaiserhof bekleidet.

Der neue Kanzler des Deutschen Reichs übernimmt eine Verantwortung von ungeheurer Schwere vor seinem Volke und vor der Geschichte. Möge ihm, der die Schwelle des Greisenalters schon überschritten hat, Kraft zum Ausharren und eine glückliche Hand beschieden sein!

[788] Vermißten-Liste. Vor allem wollen wir die Namen derer nennen, welche durch die „Gartenlaube“ aufgefunden worden sind!

Zunächst sind es die Geschwister Manger, über die wir ausgiebige Nachrichten zu verzeichnen haben. Nach diesen lebt Heinrich in Philadelphia, Pauline in Washington; Amalie starb in Chicago, während sich Otto in Desmoines, Iowa, befindet. Die Schwester der Vorgenannten, welche in Rußland wohnt, dankt in rührendster Weise für die Briefe, die wir ihr von Otto und Heinrich übersenden konnten, und aus ihrem Schreiben geht deutlich hervor, wie glücklich die Geschwister sind, einander wiedergefunden zu haben.

Ebenso sind Clara Dose und Mathilde Behm, letztere in Buenos Aires, ausfindig gemacht worden.

Frau Catharina Meyer teilt uns dankerfüllt mit, daß die „Gartenlaube“ ihr den Bruder, Mathias Arenz, zurückgegeben habe, und daß sie nun wieder fröhlich beisammen seien.

Von Heinrich Schrader, der seit 12 Jahren vermißt wurde, ist Nachricht eingetroffen und Gustav Hollstein hat infolge unseres Aufrufs an seinen Bruder geschrieben.

Das Oberhaupt der Familie Müller dankt uns für den Abdruck eines Aufrufs, den die Gesuchte, Anna Müller, mit Angabe ihrer Wohnung aus St. Louis nunmehr beantwortet hat.

Auch Ernst Hübner hat sich selbst gemeldet, und wir hatten die Freude, einen Brief von ihm aus Chicago an die Schwester weiterbefördern zu können.

Frau Wagner aus Görlitz benachrichtigt uns hocherfreut, daß ihr Bruder Felix Rudolph infolge unseres Aufrufs aus New-York geschrieben habe.

Die Nachfragen nach Emil Paßmann und Rudolf Franz haben sich ebenfalls erledigt, indem beide ihre Wohnorte angegeben haben.

Der Tochter Anton Obsts vermochten wir die sichere Kunde von dem Tode ihres Vaters in Brasilien schonend zu überbringen und so wenigstens die bange Ungewißheit von ihr zu nehmen, in der sie sich um das Schicksal des Vaters verzehrte.

Ferner hat August Ullrich wieder von sich hören lassen und seine Rückkehr nach Wien in Aussicht gestellt.

Herrn Louis Francke in Stapleton, New York, haben wir einen zuverlässigen Bericht über den Verbleib Gerhard Wilhelm Heilmanns zu danken.

Ueber David Friedrich Lindner liegen nähere Mitteilungen vor. Leider konnten wir bis jetzt den Sohn Lindners davon nicht verständigen, weil er aus der uns angegebenen Wohnung in Chemnitz, Charlottenstraße 17, verzogen ist. Der dorthin gerichtete Brief kam als unbestellbar an uns zurück. Wir fordern deshalb Herrn Max Lindner auf, uns seine genaue Adresse aufzugeben.

Und endlich können wir dem Vorstehenden noch hinzufügen, daß auch über Friedrich Gohl genügende Auskunft vorliegt, nach welcher er sich in Indianapolis niedergelassen hat.

Angesichts dieser erfreulichen Ergebnisse drängt es uns, allen denen, welche uns beim Aufsuchen der Verschollenen behilflich gewesen sind, auch an dieser Stelle unsern herzlichsten Dank zuzurufen. Wir lassen nun die Fortsetzung unserer Vermißten-Liste folgen und bitten unsere Leser, auch dieser ihre Beachtung zu schenken, denn nur so wird es möglich, den bisher erzielten schönen Erfolgen weitere anzureihen.

Fortsetzung der Vermißten-Liste aus Nr. 21 des Jahrgangs 1893.

320) Auguste Emilie Jung, geb. Patz, aus Oelsnitz im Vogtl., welche etwa 50 Jahre alt ist und früher in Crimmitzschau und Meerane wohnte, wird von ihrem Schwager um Nachricht gebeten.

321) Ein Elternpaar verlangt nach seinem Sohne, dem am 24. März 1861 geborenen Fleischergesellen Karl Ernst Reinhold Hübner. Die letzte Kunde von ihm kam aus Duisburg am Rhein am 13. Juni 1889.

322) Von London aus, wo er als Weinküfer arbeitete, hat der am 7. Juni 1863 zu Uetersen (Holstein) geborene Wilhelm Cordts im Juni 1885 das letzte Lebenszeichen von sich gegeben.

323) Richard Duderstedt, geb. am 14. Aug. 1858 zu Leipzig, hat als Kürschner gelernt und ist im Jahre 1881 nach Amerika gegangen, dort hielt er sich in New York und Boston auf, von wo er im Novemb. 1887 schrieb, daß er als Seemann nach Westindien und Westafrika fahren wolle.

324) Von seinem Vater sehnlichst herbeigewünscht wird der Seefahrer August Rathke, geb. am 14. Febr. 1860 zu Stolpmünde, der auf einem englischen Schiff Danzig verließ und später auf den Südseeinseln gesehen worden sein soll.

325) Von seinem Bruder wird gesucht der Schmied August Kügler, geb. am 29. Septemb. 1826 zu Fellendorf, Kr. Liegnitz, welcher im Jahre 1857, nachdem er den Krimkrieg mitgemacht hatte, in der Uniform eines englischen Wachtmeisters in Berlin zu Besuch weilte und später aus Hamburg schrieb.

326) Die letzte Nachricht von dem zu Lützen bei Leipzig geborenen jetzt etwa 64 Jahre alten Kürschner, späteren Maurer Anton J. Holstein kam zu Beginn des Jahres 1874 aus Aliwal North im Capland, seitdem ist Holstein verschollen.

327) Der Buchbinder und Lederarbeiter Heinrich Emil Voigt, geb. den 5. Novemb. 1839 zu Rittersgrün in Sachsen, hielt sich vor einer Reihe von Jahren in den verschiedensten Stellungen, so als Kellner, Zeitungsträger und Reisender, zu St. Louis, Mo. auf. Voigt soll Freimaurer gewesen sein und die Absicht gehabt haben, sich nach San Francisko zu begeben.

328) Seit dem Jahre 1870 hat der frühere Schriftsetzer, spätere Reisende und Zeitungskolporteur in Amerika, August Elster, welcher am 2. Juli 1840 zu Stolberg am Harz geboren ist, nichts mehr von sich hören lassen. Elster weilt vermutlich noch in Amerika oder in Spanien.

329) Eine betagte Mutter möchte vor ihrem Tode noch einmal Nachricht haben von ihrem Sohne, dem Drechslergesellen Heinrich Carl Leonhardt, welcher am 4. Juli 1861 zu Seifersdorf bei Roßwein geboren wurde. Im Oktober 1885 war Leonhardt als Minenarbeiter in Brisbane (Australien) angestellt.

Ein Wintertag in St. Petersburg. (Zu dem Bilde S. 784 und 785.) Während das qualvolle Hinsterben Zar Alexanders III. allenthalben das menschliche Mitgefühl bewegt, vor allem aber die russische Hauptstadt mit Trauer erfüllt, ruft unser Bild das Gedächtnis an Tage wach, da sich das russische Staatsoberhaupt noch im Vollbesitz seiner Gesundheit fühlte und bei schönem Winterwetter gelegentlich auch mitten im fröhlich festlichen Treiben des Schlittenverkehrs in den Promenadenstraßen St. Petersburgs gesehen werden konnte.

Freilich, er kam nicht gern nach Petersburg, das in ihm die Erinnerung an das schreckliche Ende seines Vaters durch die Dynamitbomben der Nihilisten neu belebte. Seine Residenz blieb das alte Schloß in Gatschina, wo er ungestört den Regierungsgeschäften und seiner Familie leben konnte. Aber ab und zu vermochte er sich der Verpflichtung, die Hauptstadt zu besuchen, doch nicht zu entziehen. Er wohnte dann gewöhnlich nicht im Winterpalais, wohin man vor dreizehn Jahren seinen Vater sterbend im Schlitten gebracht hat, sondern im Anitschkowpalast, den er bereits als Thronfolger bezogen hatte. Er liegt am Newski-Prospekt und zwar an einer der schönsten Stellen desselben. In seiner unmittelbaren Nähe hat man das Alexandratheater, die Bibliothek, den Kaufhof und das Stadthaus vor sich, so daß man also hier nacheinander die Petersburger bei ihrem Vergnügen, beim Studium, beim Kaufen und Verkaufen, sowie endlich bei ihren städtischen Verhandlungen beobachten kann. Die glänzendste Lebensentfaltung entwickelt sich aber hier, wenn ein heller Wintertag den Petersburger ins Freie lockt.

Ein Petersburger Wintertag bei zwanzig Grad Kälte! Den deutschen Leser überläuft es eiskalt, wenn er daran denkt, und er schiebt schnell einige Stücke Holz in den Ofen, um die unangenehmen Vorstellungen, die dabei in ihm entstehen, zu verscheuchen. Aber in Wirklichkeit ist der Winter für die besitzenden Klassen in Petersburg eine der lustigsten Sachen, die es giebt. Die Kälte ist dort nicht mit trübem Wolkenhimmel und Nebel verbunden, die uns nervös machen und das unbehagliche Gefühl des Fröstelns erzeugen. Die Luft ist krystallklar, der Himmel hellblau, die Sonne scheint fröhlich hernieder und vergoldet die Spitzen der Kirchen und Kapellen. Der Schnee knirscht unter den Füßen und über ihn hinweg gleiten pfeilschnell unzählige Schlitten. „Das ist heute einmal ein guter Frost,“ sagt der gemeine Mann, indem er sich die Ohren reibt und in das nächste Wirtshaus geht, um ein Gläschen zu trinken. In Petersburg regt die Kälte zur Lebenslust an, man sieht in ihr einen Feind, den zu besiegen Freude macht. Das gilt vor allem gerade vom Newski-Prospekt, der prachtvollen Hauptstraße der Zarenresidenz mit ihren unzähligen Kaufhäusern, Palästen, Kirchen und Denkmälern, vor welchen sich die Menge unaufhörlich drängt. Fast fünf Kilometer zieht sich diese Straße vom Admiralitätsplatze bis zum Moskauer Bahnhof hin. Die Hauptpromenade bildet der Teil von der Polizeibrücke bis zur Anitschkowbrücke.

Unser Bild zeigt uns den schönen Square vor dem Alexandratheater, das durch die korinthischen Säulen des Peristyls und die Quadriga von Erz auf dem Dach charakterisiert wird und vor welchem sich ein Standbild der Kaiserin Katharina II. erhebt. An der Ecke der großen Gartenstraße und des Alexandraplatzes befindet sich die Kaiserliche Bibliothek. Die kahlen Bäume sind von Schnee und Frost versilbert und die Schlitten fliegen nach allen Richtungen durcheinander. Sie haben zum Teil allerliebste phantastische Formen, wodurch sie noch leichter und eleganter erscheinen. Der dicke Kutscher hält die Zügel fest in der Hand und freut sich, wie feurig seine Pferde mit den Hufen den Boden schlagen, wie ihre Nüstern blasen, wie das Schneenetz fliegt und alles lustig und zufrieden ist. Da drehen sich die Fahrgäste und Spaziergänger plötzlich nach einer Seite, die Gorodowois (Schutzleute) stellen sich kerzengerade hin, schlagen die Hacken zusammen und legen die Hände an die Hüften. „Der Zar kommt!“ hört man rufen und schon saust der prachtvolle Schlitten an uns vorbei, in welchem das Kaiserpaar sitzt. Die mächtige Gestalt des Kaisers und neben ihm die zarte, noch immer mädchenhafte Figur seiner Gemahlin werden sichtbar auf der Rückfahrt nach dem Anitschkowpalast. Bei dem tragischen Ende, das inzwischen den bedauernswerten Fürsten ereilt hat, kann man nicht ohne Ergriffenheit bei dieser Straßenscene verweilen, wo er, von der Bevölkerung freudig begrüßt, ein Bild der Gesundheit, dahinfährt. Eugen Zabel.     

Die Taubenpost. (Zu dem Bilde S. 777.), Die Tauben waren im Altertum die Vögel der Venus; wer war darum mehr berufen als sie, die Briefpost der Liebenden zu übernehmen! Das Bild von Diana Coomans zeigt uns zwei anmutige Mädchen, von denen die eine den treuen Boten der Liebe in die Lüfte entsendet. Freudiges Zutrauen spricht sich in den Mienen der Absenderinnen aus, die Hoffnung auf glücklichen Erfolg und auf eine Antwort, welche die heißen Wünsche des Herzens befriedigt. Ein milder Frieden ruht auf der ganzen Landschaft – den Segler der Lüfte wird kein Sturm verschlagen.      


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Musicus 15. Eine ausführliche Biographie von Johann Strauß, dem Komponisten des Donauwalzers, ist erst kürzlich, aus Anlaß seines 50jährigen Dirigentenjubiläums erschienen, verfaßt von Ludwig Eisenberg und verlebt von Breitkopf und Härtel in Leipzig. Dort finden Sie auch über die einzelnen Operetten genauere Nachweise.


Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (10. Fortsetzung). S. 773. – Der neue Kanzler des Deutschen Reichs, Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Bildnis. S. 773. – Die Taubenpost. Bild. S. 777. – Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Tötende Geister. Von C. Forst. S. 778. – Aufbruch im Kriegshafen. Skizze von Gustav Gerbrecht. Mit Abbildungen von F. Lindner. S. 781. – Zeit bringt Rosen. Novelle von Stefanie Keyser (2. Fortsetzung). S. 782. – Ein Wintertag in St. Petersburg. Bild. S. 784 und 785. – Blätter und Blüten: Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der neue Reichskanzler. S. 787. (Zu dem Bildnis S. 773. – Vermißten-Liste. S. 788. – Ein Wintertag in St. Petersburg. Von Eugen Zabel. S. 788. (Zu dem Bilde S. 784 und 785.) – Die Taubenpost. S. 788. (Zu dem Bilde S. 777.) – Kleiner Briefkasten. S. 788.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Sölde = Haus, auf dem das Recht haftete, eine gewisse Menge Salz zu sieden.
  2. = Salzgraf, höchster Vorgesetzter eines Salzwerks.