Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[629]

Nr. 38.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (2. Fortsetzung.)

Es blieb sehr still im Zimmer, nachdem der Sanitätsrat gegangen. Meine Mutter hatte sich in der tiefen Fensternische niedergelassen und blickte hinaus. Ich wartete auf ein Wort von ihr, ebenfalls in das verglimmende blasse Gold des Horizontes starrend, von dem sich die Häuser des Dorfes jenseit der weitgestreckten Wiesen in harten Umrissen abzeichneten.

Kein Wort kam aus der Fensternische herüber, endlich ein leises Stöhnen.

„Mama!“ Ich war gleich bei ihr; sie ließ mir die Hand und wandte das Gesicht ab. „Mama, Du wärst lieber hier ausgezogen? So laß es uns doch thun, wir haben keinem Menschen Rechenschaft zu geben. Ich gehe hinunter zur Base und sag’ ihr: wir ziehen doch!“

„Nein!“ antwortete sie fest.

„Wir bleiben hier?“

„Ja. Es wird ja wohl so sein sollen,“ antwortete sie mit einem kurzen Auflachen. Es war ein überaus harter Klang darin. Ich erinnere mich noch ganz deutlich dieses Abends, der so bedrückenden Stimmung, welche mich beherrschte wie vor einem Gewitter. Die Ahnung drohenden Unheils überkam mich, der Anfang von etwas unsagbar Traurigem kündigte sich an.

Mama zündete endlich Licht an, schrieb der Komtesse, daß wir blieben, und sandte mich zur Base, ihr zu sagen, wenn wir dieselben Räume behalten könnten wie bisher, und zwar zu dem nämlichen Preise, so wollten wir alles unverändert lassen.

Ich fand das alte Fräulein in der Küche im Erdgeschoß, einer so blanken, von Messing und Kupfer strahlenden Küche, wie man sie nur dort sieht, wo die Hausfrau selbst noch gern kocht und ihren Stolz darein setzt, die weißesten Tische und die glänzendsten Kessel zu haben. Die Base selbst, in ihrem schwarzen Kleid, die blendend weiße faltige Schürze darüber, sah aus wie aus dem Ei geschält und war so geräuschlos und so flink bei ihrem Thun, als hätte sie achtzehn und nicht vierundsechzig Jahre auf dem Rücken. Dabei zeigte ihr mageres Gesicht mit den tiefen Sorgenfalten und dem schmalen festgeschlossenen wortkargen Munde stets den gewohnten herben Ausdruck, ganz gleich, ob sie süße Aprikosen oder Essiggurken kostete.

Heute besonders fiel mir ihr Gesicht auf, sie sah ja immer aus, als habe sie sehr viel Leid getragen, stillschweigend getragen, sehr viel Ungerechtigkeiten gesehen, stillschweigend gesehen, als betrachte sie das Leben überhaupt nur als eine notwendige Arbeit, welche noch vor Schlafengehen gethan werden müsse, ordentlich und richtig, damit man gut ruhen könne. Heute aber war noch etwas ganz anderes darin, etwas so Aengstliches.

Sie richtete eben dem Hausherrn das Abendessen an – es bestand aus Krammetsvögeln, jeder auf einem Schnittchen

Vom Innsbrucker Volkstrachtenfest: Beim „Schuhplattler“.
Nach der Natur gezeichnet von Oscar Graef.

[630] gerösteter Semmel liegend, so appetitlich wie die Base Himmel selbst, aber gottlob nicht so mager, dachte ich in meinem unartigen Mädchenkopf.

„Guteu Abend, Base,“ sagte ich, und als sie den Teller mit den Gerichten dem hübschen Stubenmädchen zum Servieren übergeben hatte, rückte ich mit meiner Bestellung heraus.

Ueber das alte runzelvolle Gesicht unter der schneeweißen Mullhaube zog ein flüchtiger roter Schimmer. „Ist recht, Fräulein Anneliese,“ sagte sie ruhig, „werd’s bestellen.“ Und dann schickte sie sich an, dem Herrn Stadtrat Gesellschaft zu leisten bei seinem „Souper“, indem sie die Schüssel Hafergrütze, die sie an jedem Abend ihres Lebens zu essen pflegte, ergriff und der Küchenthür zusteuerte. Bis in den großen Flur gingen wir miteinander, dann sagte sie noch einmal. „Ist recht, werd’s bestellen“ und verschwand in dem Eßzimmer, zu dem ihr das Mädchen die Thür öffnete. Ich konnte, mit dem Blicke folgend, den Herrn Stadtrat am Tische sitzen sehen, wie er bereits so einen unglücklichen Krammetsvogel zerbiß. Jedenfalls hatten ihm seine Gedanken und Beschlüsse den Appetit nicht verdorben.

Kaum war ich wieder oben in unserer Wohnung, da hastete das Stubenmädchen hinter mir her. Eine schöne Empfehlung, und der Herr Stadtrat freue sich sehr und wäre einverstanden, und seiner Zeit werde er den erneuerten Vertrag zur Unterschrift heraufsenden.

Meine Mutter, die hinter der Lampe am Tische saß, noch immer mit dem nämlichen blassen Gesicht, antwortete nur: „Ich lasse danken.“

Dann versank sie wieder in ihr Brüten. Ich holte meine Bücher herbei, das Schreibzeug und schickte mich an, ein Gedicht von Beranger in deutsche Verse zu übersetzen. Da schlug sie mit einer rascheu Handbewegung das Buch zu.

„Laß das!“

„Aber – Mama!“

„Laß das! Du siehst blaß aus – – es wird – es muß auch so gehen.“

„Aber diese Arbeit soll ich –“

„Nein! Nein!“ rief sie heftig, „Du sollst nicht! Es ist ja eine Thorheit von mir,“ setzte sie, sich fassend, hinzu. „Als ob’s durchaus nötig wäre, daß Du das Examen bestehst! Du kannst ja auch irgend etwas anderes – vielleicht später, Anneliese – aber erst erhole Dich – – wir machen Ferien, Anneliese, lange Ferien.“

Ich war noch so unbefangen, noch so jung, kannte damals das Leben noch so wenig, daß ich thatsächlich eine große Erleichterung fühlte nach ihren Worten. Meiner ganzen Natur widersprach es, Lehrerin zu werden; ich hatte Lust am Lernen, aber das Drillen zum Lehrerinnenberuf war mir verhaßt, und mein Kopf hatte längst nachgegrübelt, ob es denn gar nichts anderes in der Welt für ein Mädchen geben könne, als Lehrerin zu werden – der einzige Beruf, von dem Tante Komteß meinte, daß er einigermaßen standesgemäß sei.

Der Seufzer der Erleichterung mochte wohl sehr laut und ehrlich geklungen haben, denn über das Gesicht meiner Mutter flog ein liebes Lächeln und sie reichte mir die Hand über den Tisch. „Werde gesund, Anneliese, dazu kann ich Dir vielleicht helfen – ob Du glücklich wirst, weiß Gott allein.“

Ach, in der nächsten Zeit war ich sehr glücklich! Mit dem Aufhören der fortwährenden Anspannung aller Geisteskräfte durch meine so unglaublich viele Unterrichtsstunden kam zwar eine ungeheure Mattigkeit, ein völliges Erschlaffen über mich. Ich konnte stundenlang schlafen am Tage oder müßig am Fenster sitzen. Dann aber regten sich die Kräfte, und nun trieb es mich fort; ich ließ Mama keine Ruhe, bis sie mit mir hinaus in die Schneelandschaft wanderte, wer weiß wie weit auf der einsamen Landstraße, wo höchstens ein Torf fahrendes Bäuerlein mit seinem Ochsengespann uns begegnete, ein Schwarm Krähen mit heiserem Geschrei aufflatterte, so weit, daß wir den Schloßturm von Uetze nahe vor uns sahen und umwendend die abendlichen Lichter Westenbergs kaum noch zu erkennen vermochten, daß meine Mutter seufzte, sie könne nicht mehr fort und ich übertreibe eben alles, früher das Lernen und jetzt die sogenannte Erholung. Der Sanitätsrat aber lächelte und beschwichtigte Mamas Klagen mit dem Bemerken: „Es war die höchste Zeit, daß es so kam, lassen Sie sie, die unterdrückte Jugend will ihr Recht.“

Mama hatte plötzlich eine erwachsene Tochter. Mit vollen Zügen genoß ich die höchst primitiven Vergnügungen Westenbergs, die Kaffee- oder Theeabende und die Mondscheinbälle, die viel weniger romantisch waren als ihr Titel, denn es handelte sich bei diesem einfach um die Erleuchtung der Landstraße für die Herrschaften vom Lande, die in rabenfinsterer Nacht nicht gern die Beine ihrer Pferde oder gar die eigenen Hälse riskieren wollten und deshalb nur bei Mondschein kamen.

Das Tanzen hatte mir, zu meinem unsagbaren Kummer, der Doktor verboten; nebenbei mangelte es auch gewaltig an Tänzern, mit Ausnahme von Weihnachten, wo meistens etliche Brüder und Vettern auf Urlaub anwesend waren. Der Herr Stadtrat pflegte bei diesen Festlichkeiten, in Ermangelung eines Sohnes, einen jungen Mann einzuführen, den er stets mit den Worten vorstellte: „Mein Neffe, von Brankwitz.“ Dieser Neffe mit der Berliner Aussprache, von dem man nie erfuhr, welchen Beruf er ausübe und der, wie man sich zuraunte, viel Geld hatte, imponierte uns zwar spottwenig, war jedoch schließlich als Tänzer willkommen. Er wurde auch Mama und mir zugeführt, nahm aber wenig oder gar keine Notiz von mir, wahrscheinlich weil ich nicht tanzte oder weil ich über ihn hinwegsah. Nun, jedenfalls störte er mich nicht in meinem Vergnügen; ich amüsierte mich und war es auch nur über die Toiletten der Damen, die Riekchen Wobser, die Schneiderin der Honoratiorenwelt, mit rührender Konsequenz sämtlich nach dem nämlichen Schnitt verfertigte, wobei sie nur die Farben verschiedentlich wählte, so daß wir aussahen wie eine Flaggensammlung: schwarz-weiß, rot-weiß, grün-weiß, blan-weiß etc.

Die schönste Erscheinung war und blieb unbestritten meine Mutter, trotz ihres einfachen schwarzen mit Spitzen garnierten Seidenkleides, das sie einmal wie allemal trug. Der wundervolle Hals hob sich daraus so schwanenweiß hervor und ließ ihre schlanke Gestalt nur noch ebenmäßiger erscheinen. Ich bewunderte sie über die Maßen und nahm es nicht im geringste übel, als der alte Major von Tollen in seiner soldatischen Derbheit sagte. „Ja, ja, kleines Fräulein, die Mutter erreichen wir nicht, die ist noch in zehn Jahre schöner, als wir heutzutage sind, ja, ja!“

Ich hatte gar nicht die Absicht, für schön zu gelten, ich war so neidlos – wie hätte ich meine Mutter beneiden können! Und ich war so glücklich über meine Freiheit – mit achtzehn Jahren hat man ein Recht auf Jugendfreiheit. In unserem Mädchenkreise war ich die Uebermütigste von allen ich lebte in den Tag hinein wie ein losgelassenes Füllen und fand das Dasein trotz aller Kargheit bezaubernd – diesen einen Winter lang.

Zum Frühjahr aber kam die Mattigkeit wieder stärker über mich, ich fühlte meine Glieder wie Blei, ich konnte die Treppen nicht ersteigen ohne atemloses Herzklopfen, und so sehr ich mich auch bemühte, den Husten zu unterdrücken, ich ward seiner nicht Herr.

„Anneliese, aber Anneliese!“ klagte dann meine Mutter, das blasse Entsetzen auf den zitternden Lippen.

Doch ich lachte sie aus. „Was bildest Du Dir ein, Mama! Ich habe jedes Frühjahr gehustet, im Sommer geht’s wieder vorüber.“

Die Base kam und brachte Eingemachtes und frische Eier und tröstete mich mit allerlei kleinen Aufmerksamkeiten und ermunternden Worten, und der Herr Stadtrat hielt es für nötig, sich alle Augenblicke höchstselbst nach meinem Befinden zu erkundigen oder sich zu Mama und mir in den Garten zu setzen, wenn wir die Frühjahrssonne aufsuchten. Ich antwortete ihm kaum, mischte mich nie in ein Gespräch und behandelte ihn, wie Papa ihn behandelt hatte. Aber Mama unterhielt sich mit ihm viel mehr als sonst. Er erzählte oft von seiner Besitzung im Thüringer Wald und der herrlichen Gegend, in der sie liege.

„Sie meinen wohl die Mühle?“ fragte ich einmal.

„Die Mühle,“ gab er zurück, „und das Rittergut nicht weit davon, mit seinem reizenden Schlößchen. Die Luft sollten Sie atmen, Fräuleiu Anneliese!“

„Anneliese ist die feuchte Luft hier sehr angenehm, und der Garten ist ja so schön,“ antwortete Mama ablenkend. Und sie nahm das Buch empor, aus dem sie mir vorlas, jedenfalls in der Hoffnung, der Herr Stadtrat werde sich empfehlen. Aber er empfahl sich nicht, er blieb stundenlang da bei uns sitzen und unsre Bekannten, die sich in treuer Gewohnheit nach Mamas und meinem [631] Befinden erkundigen wollten, trafen beständig die rührende Gruppe unter der Linde an, Mama auf der Bank, mich im bequemen Lehnstuhl, mit Decken eingehüllt, und den Herrn Wollmeyer, im grauen Hausjackett und großen Panamahut mit schwarzem Bande, uns gegenüber.

Man nahm das so hin, wie es hingenommen werden mußte, es war ja sein Garten; man sprach auch mit ihm und ließ sich die ersten Rosen und ungeheure Fliedersträuße von ihm schenken man pries uns glücklich, einen so liebenswürdigen Hauswirt zu haben.

Mama allein schien unruhig und ihre Augen hingen mit einem so fragenden gespannten Ausdruck an den Gesichtern unserer Freunde, als wollte sie ausrufen. „Was denkt Ihr denn? Ihr glaubt doch nicht – um Gotteswillen!“

Mir ist gar vieles erst später klar geworden, damals war ich zu matt zum Denken, zu Folgerungen aus all den kleinen Vorkommnissen; ich ärgerte mich nur immer wieder über die Vertraulichkeit des redseligen Mannes, dessen Aufmerksamkeite so grob waren wie Kanonenschläge. Ich wunderte mich, daß Mama dieselben in einer hilflosen Ergebenheit über sich ergehen ließ, ohne sie zurückzuweisen, und sah sie groß und verständnislos an. Sie wich dann meinen Augen aus, und eine feine Röte stieg in ihr blasses Gesicht. Ach, wenn ich geahnt hätte, weshalb!

Sie war so gut gegen mich, zu gut und aufmerksam. Alle meine Lieblingswünsche erfüllte sie – man kennt ja die tausenderlei kleinen Launen, die ein leidender Mensch hat. Alles geschah für mich, alles, und ich fragte nicht: Mama, womit bestreitest Du eigentlich die vermehrten Ausgaben? Und als ich endlich einmal etwas Aehnliches sagte, da antwortete sie: „Du weißt doch, Onkel Herbert schickte Geld, und außerdem – denke, was wir ersparen an all Deinen teuren Unterrichtsstunden.“

Ich hatte sehr wenig finanziellen Ueberblick. Die Ersparnisse an dem höchst billigen Unterricht, von dem die teuersten, die Klavier-Stunden, zwei Mark kosteten – Englisch gab mir Mama – diese Ersparnisse beruhigten mich, so daß ich mit größtem Behagen alles genoß, was Mama mir bot.

Der Sanitätsrat kam jetzt täglich zu uns, ich begriff nicht, warum.

„Sie thun, Herr Doktor, als wäre ich schwer krank,“ bemerkte ich eines Tages ärgerlich. „Wir freuen uns ja sehr, wenn Sie kommen, aber Mama wird sich schließlich einbilden, ich sei am Sterben, und sich schrecklich ängstigen.“

„Gott bewahre, Fräulein Anneliese! Ich kann aber auch fortbleiben,“ antwortete er scheinbar gekränkt. „Ich komme übriges so wie so ins Haus, da drängt’s mich denn, nach Ihnen zu schauen.“

„So? Wer ist denn krank bei Wollmeyer?“

„I, der Herr Stadtrat höchstselbst, aber nichts von Bedeutung; ein bissel Rheuma, ein bissel Gicht – das ist alles!“ Damit ging er.

Es war ein regnerischer Junitag, an dem dies Gespräch stattfand, und wir mußten natürlich im Zimmer bleiben. Ich weiß nicht mehr, ob mich das Wetter so unruhig machte oder was eigentlich auf meine Stimmung drückte – ich fühlte, wie mir alle Nerven zitterten, und konnte nur mit Mühe meine Thränen zurückhalten. Im Nebenzimmer saß die Komtesse bei meiner Mutter; ihre laute Stimme klang wie eine Trompete bis zu mir herüber.

„Du wirst Dich krank sorgen, Len’, sei doch vernünftig!“ sagte sie. „Wie kannst Du Dir Vorwürfe darüber machen, daß Du noch einmal an Deinen Bruder geschrieben hast! Was hat er das übel zu nehmen! Kranksein ist ein kostspielig Ding, das wird er auch wissen, und – es kann ja alles wieder besser werden.“

Was meine Mutter antwortete, konnte ich nicht verstehen.

„Wie? Ja, das weiß Gott, Len’, Du fragst zu viel. Lasse den Kopf nicht sinken, hörst Du – der alte Gott lebt noch, er hat immer geholfen, er hilft auch diesmal.“

Da lachte Mama. Es war ein schneidendes höhnisches Lachen, wie mit Messerspitzen fuhr es mir in die wehe Brust.

„Ich will versuchen, es zu glauben, Komteß,“ sagte sie laut, „ich will hintreten und ihn bitten, mit gefalteten Händen will ich schreien Lieber Gott, hörst Du, ich hab’ ein krankes Kind, ein Kind, das alles ist, was Du mir gelassen hast, und dies Kind soll Luftveränderung haben zu seiner Rettung – gieb mir das Geld dazu, denn ich habe keins, nicht ein paar Dreier hab’ ich, und keine Seele, die mir helfen könnte! Hörst Du, gieb mir das Geld, oder thu’ ein Wunder!‘ – Vielleicht hilft’s, Komteß!“

Ich fühlte während dieses höhnischen verzweifelten Ausbruchs, wie mir eine Eiseskälte zum Herzen emporstieg, dann eine glühende Hitze – rote Lichter und Funken tanzten vor meinen Augen. Ich wollte aufstehen und rufen, aber ich war nicht Herr meiner schweren Glieder, meiner Stimme. Ich hörte nicht mehr, was scheltend die Komteß sprach, ich weiß auch nicht mehr, was ich dachte in jener fürchterlichen Stunde, die ich allein und halb ohnmächtig zubrachte, nur daß es entsetzlich war, weiß ich noch. Als meine Mutter endlich mit mühsam beherrschter Miene zu mir trat, fand sie mich fiebernd und verwirrt, unfähig, ihr Antwort zu geben auf irgend etwas, und schwerkrank.

Ich weiß nichts von der nächsten Zeit. Als ich wieder zur Besinnung kam, saß Mama an meinem Bette, ein müdes liebes Lächeln in dem abgezehrten Antlitz. Sie bog sich zu mir herunter und küßte mich.

„Ganz still, Anneliese, ganz still – Du darfst nicht viel sprechen.“

Ich sah mühsam umher, ich mußte mich erst auf alles besinnen. „Mama, wie lange war ich krank?“ Mit Entsetzen überkam mich plötzlich die Erinnerung an ihre bedrängte Lage. Ob sie wohl Hilfe gefunden hatte?

„Drei Wochen, Anneliese, aber frage nicht – werde nur wieder gesund!“

„Mama, wer half Dir denn?“

„Wieso?“

„O, Mama, wer gab Dir Geld?“

„Ich verstehe nicht, Kind, ängstige Dich nicht! Nimm an, Onkel Herbert schickte mir wieder; wir sind außer Sorge, Anneliese, ganz außer Sorge.“

Ich konnte nicht klar genug denken, um die Unwahrheit dieser Worte zu erkennen.

„Schlafe wieder ein, schlafe! Wenn Du wohl genug bist, reisen wir, Anneliese.“

„Wohin?“

„Irgendwohin, wo Du gesund werden sollst. Schlafe, Kind!“

Und ich schlief, ich schlief zuweilen tagelang, ich schlief mich zu Kräften und aß mich zu Kräften. Die Genesung kam mit Macht unter der treuen Pflege der Mutter. Sie war so durchsichtig bleich, sie ging so müde, und das eigentümliche wehe Lächeln wollte gar nicht mehr von ihrem Gesicht weichen. Sie sah aus wie eine Märtyrerin.

„Mama, hast Du Kummer?“

„Nein, mein Herz. Du wirst gesund – weiter braucht es nichts!“

„Du hast Dich bei meiner Pflege zu sehr angestrengt,“ klagte ich.

„Nein, Herz! Die Base, siehst Du, die Base hat Dich fast ganz allein gepflegt, Du mußt Dich sehr bei ihr bedanken – und auch bei Herrn Wollmeyer; sie habe beide viel gethan. Ja, ja, Anneliese, Du hast seine teuersten Weine getrunken, und schau’, die herrliche Blumen!“

„Ich werde mich bedanken, Mama, die Blumen soll er mir jedoch nicht mehr schicken, ich mag sie nicht riechen. Aber die Base soll mich besuchen.“ Und so beruhigte ich mich und merkte nicht, was Mama gethan, und ging unvorbereitet einer furchtbaren Entdeckung entgegen.


Es war an einem warmen Juliabend, kurz vor dem Tage, der für unsere Abreise nach St. Moritz bestimmt war, dessen Luft der Sanitätsrat mir verordnet hatte. Die Schneiderin hatte mich den ganzen Tag mit Anprobieren gepeinigt, Mama war darauf bedacht gewesen, für sich und mich eine einfache aber sehr nette Reisegarderobe anfertigen zu lassen, auch sonst waren alle Vorbereitungen getroffen worden, und was noch fehlte an jenen kleinen praktischen Dingen, die das Reisen so sehr erleichtern, sollte in Frankfurt am Main erstanden werden. In Westenberg hätte man vielleicht eine Botanisiertrommel zu kaufen bekommen, aber keine Umhängetasche, und eine solche gehörte notwendig dazu, das fand auch Mama. Und sie konnte ja kaufen, Onkel Herbert hatte ihr allem Anscheine nach reichlich Geld geschickt; er sollte, wie Mama mir erzählte, eine sehr vermögende Frau geheiratet haben.

[632] Trotz des ärztlichen Verbotes konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, an diesem letzten Abend noch gegen neun Uhr den Garten aufzusuchen; in den Stuben brütete eine so dumpfe schwere Luft. Mama war nicht daheim, sie war vor kurzem mit Hut und Umhang durch das Zimmer gegangen und hatte von einem Besuch bei Fräulein Melitta von Tollen gesprochen, der sie Lebewohl sagen wolle. Ich hatte ihr einen Gruß an das Puppenfräulein aufgetragen, und sie solle doch ja fragen, ob das Unerhörte wahr sei, daß Adalbert Becker sich um Lore von Tollen bewerbe. Nun suchte ich ebenfalls ein leichtes Tuch und schlich die Treppe hinunter.

Im Hausflur brannte die Lampe, die Base saß dort neben der Köchin und schnitt Bohnen zum Einlegen. Mit einem flüchtigen: „Guten Abend!“ ging ich vorüber und zur Thür hinaus. Die Uhr der Marienkirche drüben schlug Neun. Ein blasser Mondenschein, der nur mühsam durch Gewitterwolken drang, lag über dem stillen Hof; die Pforte der Gartenmauer stand weit geöffnet und in der Gärtnerwohnung brannte Licht. Die kleinen Kinder des Mannes hockten noch in Nachtjäckchen auf der Schwelle der Hausthür und riefen ihr „Guten Abend, gnä’ Fräulein!“ hinter mir her.

In dem großen parkähnlichen Garten atmete ich auf; von dem Weiher, der die Grenze nach den Wiesen zu bildete, kam eine feuchte dufterfüllte Luft herüber. In der Ferne, hinter dem Dorfe, wetterleuchtete es unaufhörlich. Langsam schritt ich dem am Wasser gelegenen Teil der Anlagen zu. Dort stand ein kleines Mooshüttchen, da wollte ich sitzen und träumen. Es war ja ein Sommerabend wie im Märchen, so schön, so stimmungsvoll weich, und ich war achtzehn Jahre alt, und wiederkehrende Gesundheit und lichte Hoffnungen klopften in meinem Herzen, die Erwartung von irgend etwas Wundervollem, Herrlichem, das Verlangen nach Glück.

Der Schatten der Bäume, unter denen das Hüttchen lag, war sehr tief; desto lichter hob sich die mattglänzende Wasserfläche ab, in der sich das Zucken der Blitze spiegelte. Fast lautlos war ich herangekommen, da stockte mein Fuß – aus der Mooshütte, an deren Seitenwand ich eben stand, im Begriff, im nächsten Augenblick den Eingang zu erreichen hörte ich die halblaute flötende Stimme des Herrn Wollweyer: „O, sei doch nicht so eilig, bleib’ doch noch, ich darf Dich ja wochenlang nicht sehen!“

Halb hatte ich mich schon gewandt, da blieb ich wie angewurzelt stehen, ein Schrei des Entsetzens wollte sich mir entringen und erstarb doch in der Kehle in einem krampfhaften Schluchzen. Meine Mutter, meine Mutter hatte geantwortet! Ich weiß noch jedes dieser Worte, die mich so unglücklich gemacht haben wie nichts mehr im Leben, denn sie vernichteten das Vertrauen, die Liebe, die anbetungsvolle Achtung eines Kindes für seine Mutter in einem einzigen Augenblick, wie ein gewaltiger roher Hammerschlag ein Götterbild zertrümmern mag.

„Wochenlang nicht, aber ich komme ja wieder und dann –“ hörte ich meine Mutter sagen.

„Dann?“ fragte er halberstickt.

„Dann löse ich mein Wort und werde die Ihre.“

„Helene!“ hörte ich ihn leidenschaftlich rufen, „Helene!“

Ich aber flüchtete über den nächsten Rasenplatz, und weit drüben kniete ich am Fuß einer großen Linde nieder, schlang die Arme um den alten Stamm, stieß den Kopf gegen die Rinde und wand mich wie in körperlichen Schmerzen. ,O, Papa! Papa!‘ Weiter konnte ich nichts sagen, aber ich wiederholte es mechanisch immerzu. „Wäre ich mit Dir gestorben, wäre ich bei Dir, Papa!“

Endlich raffte ich mich auf, zur rechten Zeit, um mich zu verbergen, denn sie schritten dicht an mir vorüber auf dem Kies, diese schlanke königliche Gestalt und neben ihr der verhaßte gewöhnliche Mensch, der entweihend den Arm um ihre Hüften gelegt hatte. Und dann blieben sie stehen, er brach eine Rose, die leuchtend weiß aus dem Dunkel schimmerte, und überreichte sie ihr mit einer süßlichen Redensart, die mir das Blut in die Wangen trieb – und sie nahm sie, meine Mutter nahm sie! Sie warf sie ihm nicht ins Gesicht, sie stieß ihn nicht zurück, sie dachte nicht an den Mann, dem sie einst gehörte, sie dachte nicht an ihr Kind!

„O, Papa, Papa!“

Mit einer Entschlossenheit, die schier über meine körperlichen Kräfte ging, folgte ich ihnen. Am Gartenthor trennten sie sich; er schritt zurück einen andern Weg. Mama ging ins Haus; fast unmittelbar hinter ihr trat ich in die Stube.

„Du bist noch aus?“ fragte sie und kam durch die Dunkelheit zu mir herüber, „willst Du Dich nicht legen, Herz?“ Und sie streckte die Hand aus, um mir kosend über die Wange zu streichen. Und da – da packte es mich wie Wahnsinn, ich schleuderte diese Hand zurück.

„Laß mich!“ schrie ich, „rühr’ mich nicht an!“

Einen Augenblick hörte ich nur das Keuchen meiner eigenen Brust.

„Anneliese?“ fragte sie leise und erschreckt.

„Laß mich fort von hier, ich will nicht bei Dir bleiben!“ Und unfähig, meine Erregung zu bemeistern, griff ich nach der weißen Rose, die sie in der Hand hielt, warf sie auf den Boden und trat mit den Füßen darauf.

„Ah!“ sagte sie leise, als gehe ihr ein Verständnis auf, und sie wandte sich rasch. An der Thür blieb sie stehen, aber sie redete kein Wort, als habe sie die Sprache verloren in der Scham vor ihrem Kinde. Dann ging die Thür und ich war allein. Ich hockte mich auf das Fensterbrett und nahm meinen Kopf in beide Hände. Ich kam zu keinem andern Ergebnis als zu dem: du hast keine Mutter mehr! Ich wollle fort von ihr, sie brauchte mich nicht, sie hatte ja den Bräutigam, bald einen Gatten, einen reichen Gatten, ich konnte mir allein meinen Weg suchen Ich fühlte Riesenkräfte in diesem Augenblick. Nur nicht hier bleiben, nur nicht mit ansehen müssen, wie das Geliebteste auf Erden, zu dem man aufgeschaut hat wie zu einem Heiligenbild, hinabsteigt in den gemeinen Staub des Lebens! Wenn ich nur hätte weinen können! Aber ich konnte nicht. Mein Kopf, mein noch immer so angegriffener Kopf – – lieber Gott, hilf mir, daß ich nicht wahnsinnig werde!

Stundenlang saß ich so, dann traf ein Lichtschimmer meine Augen.

„Du findest nicht den Weg zu mir, Anneliese?“ fragte Mama.

Ich rührte mich nicht.

„Du wirst Dich wieder krank machen,“ fuhr sie fort und setzte die Lampe auf den Tisch. Dann kam sie zu mir herüber und kniete neben mir nieder. „Anneliese, versprich mir, jetzt nicht darüber nachzudenken; wenn wir von der Reise zurückgekehrt sind, wollen wir alles bereden – nicht wie Mutter und Kind, nein wie zwei Freundinnen. Komm, sei gut, laß mich noch diese einzigen paar Tage genießen, wo ich – – noch frei bin.“ Sie hatte das letzte halb erstickt gesprochen.

„O, ich will nicht, daß Du das thust, ich will nicht reisen – ich – ich schreibe an Onkel Herbert, er soll kommen, er soll –“

Ein kurzes schrilles Auflachen von ihr unterbrach mich. „Onkel Herbert!“

„Er hat sich doch brüderlich gegen Dich benommen, er schickt Dir ja so oft Geld, wie Du selbst sagst!“

,Onkel Herbert! Ja, ja freilich!“

„O, ich wollt’, ich wäre tot! Ich wollt’, ich wäre bei meinem lieben Papa!“

Ihr schmales schönes Antlitz sah fast verzerrt aus in diesem Augenblick, aber sie schwieg und blickte starren Auges auf die Diele.

„Du darfst es nicht thun!“ schrie ich aufspringend, „Du kannst es nicht thun, Du kannst Papa nicht vergessen, sein Andenken nicht beschimpfen wollen, indem Du diesen – diesen – –“

„Schweig’!“ gebot sie, indem sie sich aufrichtete. „Ich kann nicht anders handeln – frage nicht mehr! Vergiß nicht, daß Du das Kind bist, dem es nicht ziemt, die Handlungen der Eltern zu beurteilen. Denke, daß ich diesen Schritt thun muß, daß ich ihn reiflich überlegt habe und daß er mir, Gott weiß, nicht leicht geworden ist. Denke nach und versuche, Dich darein zu finden – es ist unabänderlich!“

Sie hatte die Lampe wieder ergriffen und hielt mir die Hand hin. „Komm, laß uns schlafen gehen, Anneliese; wenn Du mich auch jetzt noch nicht begreifst, später, meine liebe –“

Das Kosewort erstarb ihr auf den Lippen, ich hatte mich hastig umgewandt, ohne die Hand zu ergreifen. Sie stand noch ein Weilchen; endlich ging sie. (Fortsetzung folgt.)     


[633]

Des Streites Ende.
Nach einem Gemälde von G. Weiß.

[634]

Ein Reisespiegel.

Von Heinrich Noë.

Es vergeht kaum ein Sommer oder ein Herbst, wo nicht in der von der Reisezeit ins Leben gerufenen Litteratur Klagen über unliebsame Dinge zum Vorschein kämen, mit denen die Wandervögel in Wirklichkeit oder in der Einbildung in Berührung gekommen sind. Man hört da von Unbilden, welchen man hier und dort in Gaststätten ausgesetzt gewesen sei, von Uebelständen, die man auf Eisenbahnen angetroffen habe, von Uebervortheilungen, deren Opfer man gewesen, und Aehnliches mehr.

Die Fruchtbarkeit, welche alljährlich auf diesem schriftstellerischen Gebiet zu beobachten ist, kann nicht anders als dahin gedeutet werden, daß eben auch im Reisewesen die menschliche Unvollkommenheit in einer allerdings oft lästigen Weise sich offenbart. So zweifellos das ist, so nützlich dürfte es sein, gelegentlich auch einmal den Gebrechen die nicht den erwähnten Dingen, sondern den Reisenden selbst anhaften, einige Aufmerksamkeit zuzuwenden, ihnen zur Beförderung menschlicher Selbsterkenntnis einen klaren Spiegel, welcher nicht schmeichelt, vorzuhalten.

Unsere Vorfahren hatten eine Liebhaberei für derartige „Spiegel“ in Gestalt von Büchern. Da gab es ein Speculum puerorum. (Knabenspiegel), ein Speculum morum (Sittenspiegel), einen Ritterspiegel, einen Spiegel deutscher Leute etc. Auch der „Reisespiegel“, den ich im Sinne habe, könnte ein recht stattliches Buch werden. Es sollen hier indessen nur einzelne Augenblicksbilder herausgegriffen und dem Leser vorgeführt werden.

Als Einleitung zu denselben wäre im allgemeinen zu bemerken, daß die Menschen heutzutage aus dem Grund nicht mehr so viel geistigen Gewinn von ihren Erholungsreisen mit heimbringen wie noch etwa vor einem halben Jahrhundert, weil sie sich verhältnismäßig selten ordentlich vorbereiten. Jeder, der es an sich selbst erfahren hat, weiß, welcher Unterschied im Reisegenuß daraus hervorgeht, ob man vorher ein gut geschriebenes Buch über das Land, das man besucht, in sich aufgenommen hat, oder ob man es in gänzlicher Unwissenheit betritt. In letzterem Falle entgehen dem Reisenden ungezählte Beziehungen, die im anderen seine Teilnahme anregen. Wie sehr verschieden wirkt beispielsweise der Eindruck einer Stadt auf jemand, der sich im voraus ein wenig um ihre Geschichte bekümmert hat, und auf einen anderen, der davon nichts weiß! Für jenen sprechen die Steine, für diesen schweigen sie. Und ähnlich verhält es sich mit der Landschaft.

In unseren Alpenländern ist jetzt den meisten Bahnzügen ein sogenannter „Aussichtswagen“ eingefügt, der von wohlhabenderen Reisenden gern benutzt wird. Ein nicht geringer Teil dieser Reisenden zieht indessen aus dieser bequemen Einrichtung nicht den geringsten Gewinn. Während die Bilder vorüberfliegen, liest der eine emsig in seinem Bädeker, aus welchem er erfährt, was er sehen könnte, wenn er zum Fenster hinausschaute. Und Leute, welche das thun, gehören noch zu den geistig Regsameren. Andere begnügen sich damit, die Eintretenden zu mustern, die verlegenen Bewegungen zu beobachten, mit welchen diese sich nach einem nicht mit Gepäckstücken belegten Sitzplatze umschauen. Für solche liebenswürdigen Reisegenossen besteht die Bildung in der zur Schau getragenen gleichgültigen Miene, in frostiger Wortkargheit und Zugeknöpftheit, in modefarbenen Handschuhen und in der möglichsten Bethätigung des echt modernen Grundsatzes, die Grenzen des eigenen vermeintlichen Rechtes so weit wie möglich vorzuschieben. Wieder andere behelfen sich mit Kartenspielen auf dem von Sitz zu Sitz gebreiteten Plaid, oder kauen in banalstem Zwiegespräch während des zweiten Teils ihrer Fahrt den Inhalt der Zeitung wieder, die sie während des ersten Teils vom Leitartikel an bis zu den Verlobungsanzeigen durchgelesen haben.

Nicht gering ist die Anzahl derjenigen Reisenden, die nicht einmal ein Reisehandbuch besitzen. Reiu aufs Geratewohl fahren sie im Lande umher. Ihre Erkundigungen ziehen sie bei Mitreisenden ein, die oft selbst nicht besser unterrichtet sind, bei Bahnbediensteten, Hotelportiers, Dienstmännern u. dergl. Namentlich Frauen, welche ohne männliche Begleitung reisen, verfügen selten über ein Buch. Man scheut die Ausgabe dafür und muß dann oft den Mangel durch einen einzigen Fehlgriff teurer büßen, als das Buch gewesen wäre. Das ist um so verwunderlicher, als kein Volk Reisehandbücher besitzt, die sich in Bezug auf Brauchbarkeit und verständige Anordnung des Inhalts mit den deutschen messen können.

Mit welcher Unwissenheit gereist wird, ist oft geradezu unglaublich. Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich, einmal auf einer Fahrt von Wien nach dem Süden die Bekanntschaft einer aus neun Köpfen bestehenden Familie gemacht zu haben. Als wir uns schon in der Nähe der Adria befanden, jammerte der Familienvater über die Länge und Kostspieligkeit der Reise, deren Ziel Venedig war. Auf meine verwunderte Frage, warum er diese Eisenbahnlinie, die über den Karst führt, gewählt habe und nicht die weit kürzere und viel billigere über Villach und Pontebba, antwortete er unter Berufung auf seinen Bädeker, daß es von Wien nach Venedig keine andere Eisenbahnlinie gebe als eben diejenige, auf welcher wir fuhren. Und sein Bädeker hatte recht – aber nur für die Zeit, in welcher er gedruckt war, nämlich für zwanzig Jahre vorher. Hätte sich der Mann mit einer neuen Auflage versehen, so würde er sich einen guten Teil der Weglänge erspart haben, über die er jetzt jammerte.

Ein anderes Mal hatte ich Gelegenheit, einen ähnlichen Familienjammer zu beobachten. Auf einer Fahrt von Wien nach dem Semmering befand sich ein norddeutscher Hausvater mit seinen zahlreichen Angehörigen. In der Nähe von Vöslau frug er mich über die Bedeutung eines langhingezogenen brückenähnlichen Mauerwerkes. Er meinte damit den Aquäduct von Wien. Ich sagte, es sei die Hochquellenleitung, die Wien mit Gebirgswasser versorge. „Das muß ja furchtbar teuer sein,“ bemerkte der Herr. Etwas verwundert antwortete ich, daß wohl der Bau der Leitung viel Geld gekostet habe, im übrigen aber mir von einer Wasserteuerung in Wien nichts bekannt sei. Darauf zeigte er mir eine Rechnung seines Gasthofs, auf welcher „Bäder in Hochquellenwasser“ zu unglaublichen Preisen berechnet waren. Man hatte ihm die Meinung beigebracht, Hochquellenwasser sei eine Flüssigkeit eigener Art. „Ich konnte es ja thun,“ fügte er selbstgefällig hinzu, „und ermahnte den Hotelbediensteten, nur das teuerste Wasser zu nehmen.“ Meine Bemerkung, daß es in der Wasserleitung der Stadt Wien überhaupt kein anderes gebe, bereitete ihm nachträglich Verdruß. Ergötzlich war auch sein Erstaunen über die bergige Umgebung, durch die wir dahin fuhren. Niemand in der Familie hatte gewußt, daß Wien eine solche Umgebung habe. Die Leute waren auf die Empfehlung eines Lohndieners hin am ersten Tag in den Prater gefahren und hatten diese Fahrt während ihres Aufenthaltes von über zwei Monaten alltäglich wiederholt, weil es ihnen dort gefallen hatte.

Einmal wurde mir an einer Bahnhaltestelle, die etwa hundert Kilometer von der Küste entfernt liegt, eine Frage gestellt, die meine kühnsten Anschauungen über den Unverstand, mit dem manchmal gereist wird, über den Haufen warf. Es befindet sich dort neben dem Bahnhof ein etwa zwanzig Meter langer und zehn Meter breiter Sammelteich, der das Wasser zum Speisen der Lokomotiven enthält. Mein Reisenachbar wollte wissen, ob das „schon das Meer sei“. Ich antwortete verneinend und fügte belehrend hinzu, das Meer sei viel größer. Doch konnte ich mich nicht enthalten, meinerseits ihn zu fragen, wie er auf die Vermutung komme, hier das Meer vor sich zu haben. Er antwortete, daß er gehört habe, das Meer sei grün, und in der That besaß das Wasser des schlammigen Sammelteiches einen Schimmer von apfelgrüner Farbe.

Ein anderes Mal hatte ich Gelegenheit, mich über die Vorbildung zu verwundern, mit welcher mancher unserer Zeitgenossen seine italienische Reise antritt. In einem Garten zu Florenz ging ich hinter zwei Herren her, welche diese Anlage als eine pflichtschuldige Sehenswürdigkeit „abthaten“. Plötzlich blieb der eine der beiden vor einem Baume stehen, faßte ein Blatt an und rief seinem Begleiter im Tone der Ueberraschung zu: „Da sieh, das ist ja ein Lorbeerblatt!“ Und als der andere, nicht minder überrascht, hinblickte, fuhr der erste fort: „Ein ganzer Baum! Und hier wieder einer, viele, viele!“ Bis jetzt hatte er ein Lorbeerblatt offenbar nur für ein Ding gehalten, welches man zeitweilig in Bratensaucen und hinter den Auslagefenstern von Fleischwarenhandlungen auf den Stirnen von Schweinsköpfen wahrnimmt. Daß es auch haufenweise auf Bäumen vorkomme, davon hatte er offenbar keine Vorstellung. Ich erwog, wie viele deutsche Schriftsteller [635] sich um das Land, wo die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, abgemüht hatten und wie vielen Lyrikern beim Preise des Laubes, welches das Haupt des Musengottes schmückt, die Saiten zersprungen waren. Alles umsonst!

Ich füge hinzu, daß diejenigen, welche in diesen Augenblicksbildern auftraten, durchweg Reisende erster Klasse waren.

Wenn es einem in Anbetracht solcher Erfahrungen mitunter vorkommt, als wenn diese sammetgepolsterten Abteilungen vorzugsweise von dem Protzentum der Halbbildung in Beschlag genommen würden, so möchte dieser Eindruck noch durch die Beobachtung der Sitten verstärkt werden, die sich hier nur allzuhäufig breit machen. Endlosen Stoff verwöchten Schaffner und Bahnbedienstete über die seltsamsten Auftritte beizubringen, die sich hier zwischen Reisenden abspielen. Da giebt es Streitigkeiten wegen des Belegens der Plätze, wegen Fensteröffnens und dergleichen, die in der Form, in welcher sie geführt werden, meistens der Bildung weder des einen noch des anderen Teils Ehre machen. Nicht selten kommt jemand ganz schuldlos dazu, daß ihm eine Stunde, von der er sich gerade recht viel Schönes versprochen hatte, durch seine verehrten Mitmenschen verbittert wird. Ein Beispiel.

Ich steige an einem der schönsten Schweizer Seen, längs dessen die Bahn hinführt, ein, und zwar im letzten Augenblick, bevor der Zug abgeht, vom Schaffner gewissermaßen in den Wagen hineingeschoben. Der Schaffner entfernt sich alsbald wieder. Die Insassen der Abteilung sind ein Herr und eine Dame. Sämtlicher Raum oben und unten ist von ihnen mit Hutschachteln, Körbchen und Taschen belegt. Ich bleibe stehen in der Erwartung, daß man mir einen Platz freimachen werde. Weder Herr noch Dame rühren sich. Endlich beseitige ich mit der Bitte um Entschuldigung eine Tasche, und lege sie auf einen Koffer, der einen der Sitze einnimmt. Nach wenigen Augenblicken entspinnt sich folgendes Gespräch:

Der Herr: „Mit welchem Rechte berühren Sie einen Gegenstand, welcher mir gehört?“

Ich: „Das Sachverhältnis ist klar. Ich besitze Anspruch auf einen Sitzplatz. Ihr Gepäck verhindert mich, einen solchen einzunehmen. Sie treffen keine Veranstaltung, Ihre unrechtmäßige Inanspruchnahme des Raumes hier einzuschränken. Demnach bleibt nur die Selbsthilfe übrig.“

Der Herr: „Das war nicht korrekt von Ihnen. Sie hätten den Schaffner rufen sollen, der mußte Jhnen Platz schaffen.“

Ich: „Der Schaffner läßt sich vor der nächsten Station, zu welcher wir nahezu eine halbe Stunde zu fahren haben, nicht mehr sehen.“

Der Herr. „Es war inkorrekt.“

Ich: „Jedenfalls nicht mehr als Ihr vorhergehendes Verhalten.“

Nun entstand eine Pause, während welcher die beiden Reisenden mich mit ingrimmigen Blicken maßen, während ich die meinigen der blauen Wasserfläche zuwandte, über welcher in blendender Pracht die Eisfelder glänzten. Aber ich hatte nicht mehr die Freude daran wie früher. Die flüchtige Stunde war mir durch den geschilderten Auftritt getrübt, nicht etwa, weil mich das Treiben dieser Menschen persönlich berührt hätte, sondern durch den Gedanken, daß in diesen Kreisen der Gesellschaft solche Denkungsweise überhaupt möglich ist.

Es kam aber noch anders. Nach einer Weile folgte Fortsetzung des Gespräches.

Die Dame: „Wie kommt mein Mann dazu, sich von Ihnen Unterweisung in der guten Lebensart geben zu lassen?“

Ich: „Wenn der Vater Ihres Herrn Gemahls die Erziehung seines Sohnes vernachlässigt hat, so kann es diesen kaum in Verwunderung setzen, wenn unter Umständen von anderer Seite nachgeholfen wird.“

Diese Bemerkung veranlaßte eine Reihe von Schimpfworten, die dem Gehege der Zähne meines holdseligen Gegenübers entflohen. Ich erwiderte, daß ich die Kunst des Insultierens nicht verstände und den Zwischenfall als geschlossen erachte. Und dabei blieb es, obwohl es noch eine Weile auf mich herabhagelte. Die schöne Stunde der Fahrt längs des Sees aber, auf die ich mich gefreut hatte, war gründlich verdorben.

In den meisten Fällen, wo man zum Zeugen solcher Reiseunarten wird, kann ja von persönlicher Kränkung nicht die Rede sein, und doch fühlt man sich im Innersten empört. Wer würde beispielsweise, obwohl ihn die Sache als Person gar nicht berührt, nicht eine Anwandlung des Unwillens empfinden, wenn er sieht, wie Leute der sogenannteu gebildeten Stände im Gastzimmer aufliegende Zeitungsblätter, von deren Inhalt ein von tagelanger Wanderung im einsamen Hochgebirge zurückgekehrter Reisender erwartungsvoll Kenntnis zu nehmen wünscht, ohne weiteres auf ihr Zimmer mitnehmen oder auch ganz behalten? Wer ärgert sich nicht darüber, wenn elegante Herren Ballen von Edelweiß und anderen schönen Alpenblumen, die sie kaum zu schleppen vermögen, von einem Ausfluge mit ins Hotel bringen? Wenige Tage später liegt ein großer Teil dieser Blumen zertreten draußen im Staub der Straße.

Alle diese scheinbaren Kleinigkeiten gehören mit zu dem modernen Zuge der Gesellschaft, sich um andere so wenig wie nur möglich zu bekümmern. Und dieser Zug tritt auf Reisen mit besonderer Stärke hervor. Erwähnenswert ist auch das, was ein nicht geringer Teil von Reisenden sich selbst anthut. Statt auf der Reise, wie man es vor Jahrzehnten zu halten gewohnt war, Genuß und Anregung zu suchen, reisen jetzt viele nur, um anzukommen. Um sich die Fahrt selbst so langweilig als möglich zu machen, pflegen solche, die ihrer persönlichen Würde durch Steifheit Ausdruck zu geben vermeinen, harmlose Gespräche so gut wie vollständig abzulehnen. Vor wenigen Jahrzehnten noch war der Ton zwischen Reisenden ein anderer, gemütlicherer. Gerne wurden flüchtige Bekanntschaften angeknüpft, welche zu nichts verpflichteten und man ging in dem Gefühl auseinander, den Dingen, von welchen die Menschen bewegt werden, wieder irgend eine neue Seite abgewonnen zu haben. Das ist heutzutage schon viel seltener geworden In jene vergangenen Jahrzehnte ragten eben noch die Nachwirkungen aus der guten alten Zeit der Postwagen und Landkutschen herein, während unser Geschlecht sich in seiner Empfindungsweise mehr und mehr dem rücksichtslosen Getriebe einer Beförderung durch Maschinen anpaßt. Darum lernen die heutigen Reisenden verhältnismäßig wenig über die Menschen. Mit unbekannten Reisegenossen kommen sie meist nicht viel, noch weniger aber mit den Einheimischen der von ihnen durchreisten Länder in Berührung, Sie erinnern an jene Koffer, welche mit einer Menge von Hotelmarken beklebt sind.

Eine Einrichtung, welcher an und für sich die Nützlichkeit nicht abzusprechen ist, trägt hierzu bei. Ich meine die sogenannten „Zusammenstellbaren Rundreisehefte“. Da wird um billigen Preis das Recht erkauft, so und so viele hundert Kilometer Eisenbahn fahren zu dürfen. In vielen Fällen wäre etwas weniger mehr gewesen. Aber da wird den Bahnverwaltungen kein Kilometer geschenkt. Die Schienen müssen abgefahren werden.

Eine weitere Einrichtung, welche geradezu zur Verblödung des ganzen Reisewesens beiträgt, sind gewisse Coupons, die von Cook’s ticket office, einer englischen Unternehmung, ausgegeben werden. Sie sind von verschiedener Farbe und bedeuten je nach dieser die Fahrkarte auf der Eisenbahn für eine bestimmte Strecke oder Wohnung, Frühstück, Mittag- oder Abendessen in bestimmten Gasthöfen, mit welchen jenes Reisebureau in Verbindung steht. Diese „Vereinfachung“ des Reisewesens wird vornehmlich von Engländern benutzt. Es wird ihnen dadurch ermöglicht, zu reisen, ohne irgend ein Wort von einer fremden Sprache zu verstehen, zu speisen, ohne von der landesüblichen Lebensweise, von der Verschiedenheit der Gerichte und der Erzeugnisse des Bodens irgend welche Anschauung zu gewinnen, weil eben jenes Bureau in seinen Verträgen die von den Auftraggebern gewünschte Bewirtung und Abfütterung zur Bedingung macht. Der Gehirnaufwand, den das Reisen in fremden Ländern erfordert, wird durch diese schöne Erfindung auf das denkbar geringste Maß herabgesetzt.

Es ist eine unleugbare Thatsache, daß unendlich viel Schönes, das in einiger Entfernung von den durch die Eisenschienen vorgezeichneten Linien der hastigen Rundreise liegt, abseits gelassen wird, weil man nicht einen halben Tag „opfern“ kann, sondern von Anschluß zu Anschluß eilt - und leider ebenso unleugbar die weitere, daß manche sehr merkwürdige Oertlichkeit, zu welcher keine Eisenbahn hinführt, nicht etwa unmittelbar wegen Mangels einer solchen vernachlässigt, sondern deshalb nicht besucht wird, weil man sich denkt, daß eine Eisenbahn dorthin führen würde, wenn der Ort in Wirklichkeit ein beachtenswertes Wanderziel böte. Angesichts solcher Thorheiten und Gebrechen in unserem neuzeitlichen Reisewesen thut man gut, sich auf die guten Gepflogenheiten früherer Tage zu besinnen und dafür Sorge zu tragen, daß der bildende und anregende Wert des Reisens nicht gänzlich zu nichte werde.


[636]

Der Walzerkönig.
Zum fünfzigjährigen Dirigentenjubiläum von Johann Strauß.

Gar selten ist es in den Reichen der Kunst, daß ein Königssohn den väterlichen Thron ererbt. In der Dynastie der Wiener Walzerkönige ward dieser seltene Fall Ereignis. Der liebenswürdige Meister, der im Oktober sein fünfzigjähriges Kapellmeisterjubiläum feiert, könnte sich nennen: Johann II., von Gottes Gnaden – König im weiten Reiche des Walzers.

Johann Strauß Vater, der erste Walzerkönig, hat nicht gewollt, daß sich sein Sohn der Tonkunst widme. Der Alte mochte fürchten, daß des Sohnes Ruhm den eigenen verdunkeln werde. Aber trotz alledem war Johann I. kein Tyrann. Und ohne Zweifel hat Paul Althof das Richtige getroffen, wenn er in einem Jubiläums-Lustspiel den Vater Strauß auf die Kunde, sein Sohn habe in der Uniform der Nationalgarde öffentlich dirigiert, neugierig ausrufen läßt: „Schaut er gut aus?“ Trotz aller Entrüstung über die Unbotmäßigkeit des Jungen kommt doch die väterliche Eitelkeit zum Durchbruch.

In der That mußte sich Strauß der Sohn ganz ernsthaft gegen den Willen des Vaters auflehnen, um seinem Berufe folgen zu können. Schon im Jahre 1844, als 19jähriger Jüngling, stand Johann II. an der Spitze eines eigenen Orchesters. Alsbald unternahm der junge Kapellmeister mit seiner Schar eine Kunstreise nach dem Osten: nach Ungarn, Serbien und Rumänien.

Zu jener Zeit war das Reisen noch von Poesie umwoben. Wenn der Meister heutzutage gut gelaunt ist, schwelgt er gern in Erinnerungen an seine erste Kunstreise. In Belgrad suchte er den türkischen Pascha heim, der dort residierte, der fahrende Künstler in seiner schmucken Uniform, die er als Kapellmeister der wahrlich doch harmlosen Wiener Bürgergarde trug, wurde für einen hohen Würdenträger gehalten und mit allen militärischen Ehren empfangen. Das Blatt wendete sich freilich, als böse Gläubiger den Musikern die Instrumente pfänden wollten. Nur durch List gelang es, die Absicht zu vereiteln. In Rumänien siegte wiederum der Uebermut. Die dort lebenden Oesterreicher stellten an Johann Strauß das Ansinnen, den österreichischen Konsul abzusetzen. Es scheint, daß seine Uniform allenthalben Eindruck gemacht hat! Der junge Musiker besuchte den Konsul und erklärte ihm kurz und bündig, das Volk wünsche seine Abdankung. Eine vor dem Hause versammelte Menge verlieh dieser Erklärung Nachdruck, und der Mann ward thatsächlich auf solche Weise seines Amtes enthoben. Als Johann Strauß der Jüngere nach Wien zurückgekehrt war, verlangte die Behörde Aufklärung über diesen unerhörten Fall. Aber das Jahr achtundvierzig stand vor der Thür, die Wogen der Volkserregung gingen schon gar hoch, und der junge Strauß, der – nunmehr in der Uniform der Nationalgardisten – die Marseillaise dirigierte, hatte Macht über die Gemüter. Die Behörden hielten es für klüger, diesem Volksliebling nichts anzuhaben.

Jahre vergingen. Der Kaiser Franz Josef ernannte den Walzerkönig zum Hofballmusikdirektor, die deutschen Fürsten, der Zar von Rußland und der Kaiser der Franzosen zeichneten den Künstler aus – ein Liebling des Volkes ist Johann Strauß dabei immer geblieben. Im raucherfüllten Biersaal hat er den Taktstock weiter mit derselben Anmut und demselben Eifer gehandhabt wie in den Prunksälen der fürstlichen Paläste.

V. Tilgners Statuette von Johann Strauß.

Johann Strauß der Sohn war der erste, der die Wiener mit Tonstücken von Richard Wagner bekannt gemacht hat. Als er Wagners Weisen in Wien spielte, war die musikalische Welt noch nicht in die großen Lager der Wagnerianer und derAnti-Wagnerianer gespalten. Unbefangen und ohne Vorurteil konnten die Hörer Wagnerische Kunst genießen. Mit besonderer Freude gedenkt heute Strauß seiner Triumphe als volkstümlicher Konzertgeber.

Sein eigentliches Reich aber war von Anbeginn der Ballsaal. Wer nach den Klängen der Straußischen Kapelle getanzt hat, der weiß, daß sich der Taktstock in des Meisters Händen zum Zauberstab verwandelt, und die sprichwörtliche Lebenslust der Wiener kann sich nicht lieblicher entfalten als im Rhythmus Straußischer Musik.

In Wien wurde die Sprache, die Johann Strauß mit seinen Instrumenten zu reden weiß, stets verstanden. Gleichwohl ist dieses Verständnis nicht an die Scholle gebunden. Im kalten Norden wurde dem „Walzerkönig“ nicht weniger zugejubelt als im warmen Süden; in allen Reichen [637] Europas, ja selbst jenseit des Weltmeeres feierte er glänzende Triumphe.

Wer mag die Frage entscheiden, ob Strauß der Kapellmeister oder Strauß der Tondichter höher zu stellen ist? Jene liebenswürdige Heiterkeit, die den Menschen auszeichnet, bildet auch das Merkmal des Komponisten, und darüber sind die Musikgelehrten wohl einig, daß Johann Strauß der Sohn die künstlerische Form des Walzers zu einer vorher nicht gekannten Höhe emporgehoben hat. Während die Jugendwerke so sehr ins Volk gedrungen sind, daß sie wohl nicht so bald aus seinem Besitze verschwinden dürften - wer kennt nicht den Walzer „An der schönen blauen Donau“, dessen Anfangstakte, in getreuer Nachbildung von Strauß’ eigener Handschrift, der Leser an der Spitze dieses Artikels findet – werden seine neueren Stücke als Muster tonkünstlerischer Durchbildung geschätzt. Just als Tonsetzer verdient Johann Strauß den Namen eines Walzerkönigs. Denn auch in seinen Bühnenwerken ist es stets ein Walzer, der am meisten zündet. Als unser Künstler auf der Höhe seines Schaffens stand, beherrschte die Operette den Geschmack. Mit seiner „Fledermaus“, die einen förmlichen Siegeszug durch Europa hielt, bewies Johann Strauß auch auf diesem Gebiete seine unerreichte Meisterschaft. Die Operetten „Prinz Methusalem“, „Das Spitzentuch der Königin“, „Der lustige Krieg“ und „Eine Nacht in Venedig“ trugen dem Komponisten nicht nur theatralische Erfolge ein, sondern lieferten auch zahllose Stücke für Tanz- und Konzertmusik. Der „Zigeunerbaron“, mit dem uns der nahezu Sechzigjährige eine Fülle eigenartiger Melodien von großer orchestraler Wirkung geschenkt hat, wurde in verschiedenen Städten mehr als hundertmal aufgeführt.

An die Operette „Simplicius“ knüpft sich der bedeutendste Eindruck, den ich persönlich von Johann Strauß erhielt. Während der Erstaufführung im Theater an der Wien, die Strauß selbst leitete – es mag sieben Jahre her sein –, brach ein wüster Feuerlärm aus. Die Insassen der Logen erhoben sich von den Plätzen, im Parkett begann ein furchtbares Gedränge, von den Galerien hörte man gellende Angstrufe, und auf der Bühne liefen die Darsteller in wirrem Durcheinander auf und ab. Nur das Orchester blieb in Ordnung. Man hätte glauben sollen, daß Johann Strauß, der als nervös bekannt ist und der Frau und Kind im Hause wußte, als einer der ersten aufspringen werde, um sich und die Seinen zu retten. Aber er blieb auf dem Posten! Ohne mit einer Wimper zu zucken, den Taktstock in der erhobenen Rechten, stand er aufrecht, bis der Sturm ausgetobt hatte. Das dauerte Minuten. Bei der ersten Pause, die in dem allgemeinen Lärm entstand, ließ Johann Strauß die Musik wieder einfallen, und von der Bühne her erklang das Walzerlied: „So denk’ ich auch so gern der schönen Zeit, die fern ...“ Das Publikum beruhigte sich.

Und so wird Johann Strauß in meiner Erinnerung fortleben: eine wilderregte Menge durch der Töne Macht besiegend und von gemeiner Todesfurcht zurückzwingend zum Genießen heiterer Kunst ...

Spät, wenngleich nicht zu spät, hat Johann Strauß in das Wiener Hofopernhaus seinen Einzug gehalten mit dem „Ritter Pazmann“, für welchen Ludwig von Dóczy die Worte gedichtet hatte. Für sein neuestes Werk verfassen der Musikschriftsteller Max Kalbeck und der Lustspieldichter G. David gemeinsam das Textbuch. Eben jetzt arbeitet Johann Strauß mit nicht versiegender Schaffenskraft an seiner neuen Oper, während sich Wien zur fünfzigjährigen Jubelfeier rüstet. Ein kunstverständiges Mitglied des österreichischen Hochadels, Hanns Graf Wilczek, steht an der Spitze der Männer, die sich zur Ehrung des Meisters vereinigt haben. In allen Wiener Theatern werden Festaufführungen geplant, und auch die bildenden Künste tragen zur Huldigung das Ihre bei. Karl Rudolf Huber schuf ein lebensgroßes Bildnis des Walzerkönigs, Anton Scharff fertigte das trefflich gelungeue Modell für eine Denkmünze zum Straußjubiläum, Viktor Tilgner verewigte seine Züge in einer Büste, die ein ernsteres Gegenstück zu desselben Künstlers genial skizzierter Statuette bildet, welche die „Gartenlaube“ mit diesen Zeilen ihren Lesern vorführt.

Möge Johann Strauß, der heute noch trotz seiner 69 Jahre – er ist am 25. Oktober 1825 zu Wien geboren – mit dem elastischen Schritt und dem leuchtenden Auge eines Jünglings dahinwandelt, in ungetrübter Freude den schönen Abend seines schönen Lebens genießen; an der Seite seine liebenswürdige, reizvolle Gemahlin, der er eines seiner besten Stücke, den „Adelenwalzer“, gewidmet hat.

So lange die Menschheit empfänglich ist für heitere Anmut in der Kunst, wird sie Johann Strauß, dem Walzerkönig, als dem Spender so vieler glücklicher Stunden, dankbare Erinnerung weihen. Gerhard Ramberg.     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Mäuschen.

Humoreske von Ernst Lenbach. Illustriert von A. Mandlick.
1.

Ein freundliches geräumiges Zimmer mit zwei hohen Bogenfenstern, die auf einen wohlgepflegten Garten hinausgehen. Die Einrichtung halb die eines Schulsaales, halb die eines behaglichen Wohnzimmers. An den Wänden hängen Landkarten, aber auch eine zierlich geordnete Sammlung von Photographien in vornehmen dunklen Rahmen, ausschließlich Damenporträts, darunter zwei Gruppenbilder. Auf einem „stummen Diener“ steht ein mächtiger Globus, anmutig umgeben von eleganten Stickrahmen und Nähkörbchen. Es ist ein Schulzimmer, aber ersichtlich von Damen geleitet und von solchen, die es werden wollen, besucht. An dem Rokoko-Arbeitstischchen, das auf zwei Stufen hoher Estrade zwischen den Fenstern steht, sitzt Frau Doktor Ulrich, seit dem Tode ihres Mannes die Besitzerin und Leiterin des vornehmsten Pensionats in der schönen Universitätsstadt. Sie liebt es, persönlich die Ehrenwache zu übernehmen, wenn Professor Seeling ihren demnächstigen Abiturientinnen Litteraturgeschichte vorträgt.

Bei seinen Hörerinnen genießt Professor Seeling die vorteilhafteste Stellung, die ein Mädchenlehrer haben kann: ein Fünftel Furcht und vier Fünftel Schwärmerei. Man kann ihn nicht um den Finger wickeln wie den alten Zeichenlehrer Rabe, er ist mit seinem dichten roten Schnurrbart und den männlichen kräftigen Zügen kein Bild eines sanften Adonis wie der junge Pastor Frommlieb, aber er ist weit mehr als sie alle – er ist „furchtbar interessant“. Die leisen Schauer möchte man nachher um nichts missen, die einen – oder vielmehr eine – überrieseln, wenn er so mit einem blitzschnellen Ruck den goldenen Kneifer abspringen läßt und, die grauen Augen gemütlich auf sie richtend, langsam sagt: „Was Sie uns da eben erzählen, Fräulein von Siegendorf“ – oder „Fräulein Menzel“ – oder „ Fräulein Meyer“ – auf die hat er es besonders abgesehen – „ist mir sehr interessant. Also Goethe ist in Königsberg auf die Welt gekommen? Das hat man mir in der That noch niemals verraten.“ Und dann setzt er den Kneifer wieder auf und fährt in mildem Tone fort: „Nun, schließlich muß es ja irgendwo gewesen sein. Aber sagen wir lieber: in Frankfurt am Main.“ Dabei lächelt er ein wenig, und dann sieht man, was für schöne Zähne er hat. Aber sein Vortrag ist doch noch viel schöner. Paula Meyer hat neulich laut geweint, als er Körners Tod schilderte, und alle stimmten darin überein, daß Körner genau so ausgesehen haben müsse wie Professor Seeling.

„Und dabei hat er es nicht einmal nötig,“ bemerkte Thusnelde Lehmann. „Er brauchte uns gar nichts vorzutragen. Sein Vater ist fabelhaft reich: Buckskin und Wollwaren. Er ist Konkurrent von uns. Auch von Euch, Margot, aber Ihr fabriziert ja jetzt mehr Halbseide.“ – Also ein freiwilliger Wohlthäter!


2.

Die Nachmittagssonne lugt zwischen den weißen Vorhängen durch und läßt ihre goldroten Strahlen wohlgefällig über die hübschen Köpfchen spazieren, von Paula Meyers Tituslocken zu [638] dem pechschwarzen Mozartzopf ihrer Nachbarin Thusnelde Lehmann. Jetzt blinkt sie gar ganz unverschämt in den Spiegel an der Wand, und der Widerschein blendet die blonde Hamburgerin Paula so sehr, daß sie errötend das Köpfchen auf Schillers dritten Band neigt – oder ist es, weil der Professor, der neben ihr steht, sie gerade so scharf angesehen hat?

Sie faßt sich aber und beginnt mit schulmäßigem Tonfall die gewünschte Inhaltsangabe des „Don Carlos“ zu liefern.

„Don Carlos wurde geboren 1555 und entstand im Jahre 1787. Der tragische Konflikt in diesem Drama beruht darauf, daß Don Carlos seine Schwiegermutter liebt …“

„Das gesteh’ ich,“ unterbricht sie der Professor, indem er sie mit unendlichem Vergnügen ansieht, „das ist doch einmal ein tragischer Konflikt, wie er sein soll. Woher haben Sie denn diese Weisheit, Fräulein Meyer?“

„So haben wir es aus dem Lehrbuche in der Prima gelernt,“ versichert die Gekränkte mit der Ruhe des guten Gewissens.

„So, so. Ja, da haben Sie sich leider verlernt. Selbst in einem Lehrbuch dürfte so etwas nicht stehen. Die Königin Elisabeth ist nicht die Schwiegermutter des Infanten, sondern – – bitte, Fräulein Lehmann?“

„Die Stiefmut – Huh!!“

Und „Huh! Huh!“ tönt es auf beiden Seiten des Tisches, und im nächsten Augenblick hat Professor Seeling die Freude, seine schönen Zuhörerinnen unter einem wesentlich erhöhten Gesichtspunkt zu betrachten. Sie stehen oder knieen nämlich auf ihren Stühlen oder sitzen auf dem Tisch. Mit beiden Händchen raffen sie die Kleider eng zusammen, und angstvoll starren die blauen, grauen, braunen und schwarzen Augen in eine dunkle Zimmerecke.

„Eine Maus! Eine Mau – Mau – Maus!!“

Nur zwei haben ihren Platz bewahrt: der Professor, dem der Vorfall eine innige Freude zu bereiten scheint, und die Maus, welche vor Schreck einem Schlaganfall nahe ist. Nun steht der Professor langsam auf, die Maus huscht in den Winkel – erneuter allgemeiner Aufschrei – und verschwindet, der Professor aber untersucht mit dem Zeigefinger die Ecke – diesmal nur ein Schrei, und den stößt Paula aus dann nimmt er einen marmornen Briefbeschwerer vom Schreibtischchen und legt ihn bedächtig vor das entdeckte Mauseloch.

Die jungen Damen nehmen ihre Plätze wieder ein, sehr verwirrt, sehr erhitzt und sehr beschämt.

„So, Meine Damen, der Feind ist vorläufig geschlagen und eingesperrt. Ja, die Mäuse! Die alten Aegypter, wie Ihnen Professor Ebers jedenfalls schon irgendwo verraten hat, fürchteten sie als das Tier des Todes. Merkwürdig, wie zähe sich manche von diesen altägyptischen Vorstellungen erhalten haben. – – – Darf ich bitten, fortzufahren, Fräulein Meyer?“


3.

„Sie sind der Held des Tages, Herr Professor,“ bemerkte Frau Doktor Ulrich lächelnd, als sie vor der nächsten Litteraturstunde mit dem jungen Professor allein in ihrem hübschen „Studierzimmer“ saß. „Eigentlich sollte ich es Ihnen gar nicht verraten, aber es ist Thatsache, daß Sie seit Ihrem glorreichen Mäusesieg von meinen Mädchen wie ein Lohengrin bewundert werden. Aber nun raten Sie mir einmal, lieber Professor, was soll ich gegen diese schrecklichen Mäuse machen? Nie hätte ich geahnt, daß sich ein solches Tier in unserem Hause aufhält.“

„Aber ich bitte – in einem Hause, wo soviel Süßes beisammen ist! Mäuse lieben Süßigkeiten. Uebrigens empfiehlt man gegen diese Tiere die Anwendung von Katzen.“

„Wir haben aber keine Katze!“

„Ich werde mir ein besonderes Vergnügen daraus machen, Ihnen eine zu besorgen.“

„Wirklich, wollten Sie das? Ach, wie reizend! – Meinen besten Dank im voraus!“

„Bitte! Wünschen Sie das Tier in Grau, Weiß, Schwarz oder Rot, oder ziehen Sie Melange vor?“

„Ganz nach Ihrem Belieben, bester Professor! – Beiläufig, Wie gedenken Sie die nächsten Stunden – leider sind es ja nur noch drei bis zum Semesterschluß! – zu verwenden? Wollen Sie bis zu Ende mit Ihren Wiederholungsfragen fortfahren?“

„Es wäre zu grausam. Mit Ihrer Erlaubnis gedenke ich heute das Examen abzuschließen und den Rest der Stunden auf die Annette von Droste-Hülshoff zu verwenden; sie gehört jedenfalls von allen Dichterinnen am ersten in unsere Litteraturstunden.“

„Ein reizender Gedanke, lieber Professor! Meine Mädchen werden sich sehr freuen.“ – – –


4.

„Wenn ich nur wüßte, wo ich jetzt eine Katze herbekomme,“ murmelte Hans Seeling, als er nach seiner Vorlesung die Villa Ulrich verließ. „Da muß Freund Holm wieder einmal aushelfen, wozu ist die Presse denn da?“ Dann hüllte er sich fester in den Mantel und schritt durch Märzsturm und Regenschauer der Altstadt zu. Sein Herz aber war der Zeit voraus. In lichtem Maienglanze stand vor seinem inneren Blick eine zarte Gestalt mit blonden krausen Haaren und blauen ernsthaft schauenden Augen, fast noch Knospe, doch die lieblichste Blüte verheißend. Es war so köstlich, vor diesem Bilde zu weilen, daß der einsame Wanderer schier verstimmt ward, als er sich nach einer halben Stunde vor der „Villa Medici“ angelangt fand.

Die „Villa Medici“ war ein altes winkliges Haus mit gefährlich steilen Treppen und schmalen dunklen Gängen, unweit der Klinik. Ihren Namen hatte sie daher, daß stets eine Anzahl Assistenzärzte und Kandidaten der Medizin dort hauste. Auf dem Treppenpodest des zweiten Stocks stand ein wohlgefügtes Skelett, das in der erhobenen Rechten zwei Visitenkarten hielt; auf der Karte rechts stand gedruckt „Dr. med. Engelbrecht“, auf der linken mit Bleistift geschrieben „Otto Holm, Vertreter der Presse“.

„Ein netter Vertreter!“ brummte der Professor und klopfte an der ersten Thür links an.

Ein starker Tabaksqualm füllte das ziemlich große, im stillosen Stile der Studentenbuden bunt möblierte Zimmer und lagerte besonders dicht um das Haupt des am Schreibpult sitzenden Bewohners, „wie eine Wolke um die ambrosischen Locken des Zeus“, meinte Otto Holm. Er trug einen geblümten Schlafrock, der mehr Löcher als Blumen zeigte. Links neben dem Pult stand ein Bierhumpen neben einer dickbäuchigen Kanne, rechts lag auf dem Boden eine Anzahl beschriebener Blätter wüst durcheinander.

„Willkommen in der Klause!“ rief der Reporter, indem er seinem Freunde herzhaft die Hand schüttelte. „Es ist Dir vergönnt, einen Blick in die Werkstatt des schaffenden Geistes zu thun. Hier aus diesem Kruge strömt das elektrische Fluidum durch meine Kehle in die Hand, von dort durch die Feder aufs Papier, welches sich unten rechts am Boden niederschlägt. Sammle ich hernach diese Blätter, zähle die Zeilen, multipliziere mit fünf und dividiere durch die schlechte Laune der Redaktion, so habe ich das Ergebnis des chemischen Prozesses in Reichspfennigen ausgedrückt.“

[639] „Was schreibst Du denn da eigentlich?“ fragte der Professor, indem er sich vorsichtig auf ein ächzendes Sofa niederließ und die angebotene Cigarre anzündete.

„Ach, nichts von Bedeutung,“ erwiderte der Reporter. „In diesem Rattennest passiert ja überhaupt nichts während der Universitätsferien. Drei Diebstähle, ein werlegtes Kind und ein Zimmerbrand, das ist die ganze Ausbeute meines heutigen Feldzugs. Aber ein großartiges Feuilleton über merkwürdige Beispiele von treuen Hunden habe ich da eben hingelegt. Großartig, sage ich Dir! Ich hätte nie gedacht, daß ich so lügen könnte.“

Der Professor schüttelte den Kopf. „Du solltest doch suchen, auf einen anderen Zweig zu springen, Otto!“ meinte er.

„Ja,“ erwiderte der andere, „spring’ Du ’mal gütigst! Das Glück ist mir nun einmal nicht so treu geblieben wie Du, alter Freund und Leibbursch. Die Welt will es mir nicht verzeihen, daß sich das Referendarexamen hartnäckig weigerte, von mir bestanden zu werden. Wie ungerecht! Alexander der Große hatte auch niemals sein Referendarexamen gemacht. Hat man es dem je nachgetragen?“

„Du hast aber noch mehr gethan, Otto, zum Beispiel ein Vermögen durchgebracht.“

„Erlaube, lieber Freund, drei Vermögen Du vergissest die Legate meiner beiden Erbtanten. Und wenn meine dritte Erbtante nicht noch immer so schwer zu leiden hätte, so hätte ich heute das vierte Vermögen sicher.“

„Und würdest es auch durchbringen.“

„Nein, Hans, da thust Du mir doch unrecht. Ich sage Dir, ich bin im besten Gange, mich riesig zu versittlichen. Ja, sieh’ mich nicht so zweifelsüchtig an. Das sind die Wunder der Liebe!“

„Der wievielten?“

„Der letzten, Freund!“ versicherte der Reporter pathetisch. „Ach, ich sage Dir, ein Mädchen – ein Herz wie – wie ...“

„Sagen wir: wie Gold,“ ergänzte der Professor. „Na, Otto, wenn’s diesmal Ernst ist, mich soll’s freuen. Aber weshalb ich eigentlich herkam – kannst Du mir eine Katze verschaffen?“

„Kuriose Frage. Die ‚Villa Medici‘ wimmelt von diesen Tieren. Unsere alte Philöse besitzt allein ein ganzes Rudel.“

„Es muß aber ein hübsches sauberes Tierchen sein. So eine weiße oder weißgraue, verstehst Du, mit weichen langen Haaren.“

„Ja, die hat der Doktor Engelbrecht nun gerade gestern mitgenommen, der Unmensch. Er macht Versuche über Gegenmittel gegen Schlangengift, weißt Du. Aber wenn Du eine schwarze annimmst – garantiert stubenrein, da nimm sie, sie sei Dein!“

Damit hatte Otto Holm bereits aus einem halbgefüllten Wäschekorb einen kleinen fauchenden Sammetballen hervorgeholt, der sich als ein wirklich sehr hübsches Kätzchen entpuppte.

„Du könntest mir aber auch einen Gefalleu thun, lieber Freund,“ fuhr Holm fort. „Ich habe da eben an meinem Ueberzieher Dinge entdeckt, die nicht mehr zu entschuldigen sind. Wenn Du mir vielleicht für diese letzten paar kühlen Abende – ich weiß, Du hast zwei und wir sind ja wohl beide ziemlich von gleicher Figur –“

„Gerne,“ erwiderte der Professor. „Ich werde Dir meinen anderen, gleich wenn ich nach Hause komme, senden. Hier diesen gebrauche ich schon, um die Katze zu tragen.“

„Schön, besten Dank! Uebrigens sollst Du zu der Katze, nach deren Verwendung zu fragen ich zu zartsinnig bin, auch noch diese thönerne Maus in Lebensgröße haben.“

„Ei sieh, welch hübsches Kunstwerk!“ rief der Professor erfreut. „Wie kommst Du denn dazu?“

Der andere lächelte schwermütig. „Unterpfand für fünf Mark, die ich dem Bildhauer Härlein in einer weihevollen Stunde gepumpt habe. Hin ist hin, verloren ist verloren! Weißt Du, er sollte für den Medizinischen Verein eine weibliche Idealfigur liefern, eine Allegorie der Löfflerschen Entdeckung des Mäusetyphus- Bacillus, was durch eine Maus zu den Füßen der Dame angedeutet war. Großartige Idee, was? Die Sache zerschlug sich aber, ehe der Thon trocken war. Darauf hat er dann die Maus entfernt und statt ihrer eine Zahnzange angebracht, natüralistisch, im Original. Das Kunstwerk hat er später dem Zahnärztlichen Klub als ‚Odontia‘ verkauft, aber die fünf Mark ist er mir schuldig geblieben.“


5.

Als der Professor das nächste Mal vor seinen Schülerinnen erschien, war auch Pussy das Kätzchen da. Sie lag auf einem weichen Sessel nahe dem Ofen, labte sich an der behaglichen Wärme und schien für gar nichts anderes Sinn zu haben. Paula Meyer hatte ihr ein blaßblaues Sammetband um den Hals geschlungen, mit einer großen Schleife, deren Enden wie zwei große blaue Ohren über dem kugelrunden Katzenschädel aufragten.

Fürs erste verlief die Stunde ohne Störung. Der Professor las vor aus den Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff. Er las sehr gut und ausdrucksvoll. Mit atemloser Spannung lauschten die Mädchen. An die Katze dachte keines mehr.

Plötzlich klang mitten in die grausige Todeslandschaft, die seine Recitation eben schilderte, ein leiser Klaps, wie wenn ein weicher Ball auf den Boden aufschlägt, dann ein ängstliches Piepsen, die jungen Damen schrieen auf, und als der Professor sich umwandte, hatte Pussy das vorwitzige Mäuschen bereits in die Mitte des Teppichs getragen und schickte sich an, der neuen Herrschaft die erste Vorstellung zu geben.

Die Maus piepste und zappelte unter den angelscharfen Krallen. Nun lösten sich diese von ihr, sie glaubte sich frei und wollte weghuschen, aber sogleich fuhr die kleine Tatze wieder mit einer blitzschnellen zierlichen Wendung in ihren Nacken, und das grausame Spiel begann von neuem.

In diesem Augenblick aber fühlte sich Pussy von einer übermächtigen Gewalt selber im Nacken gefaßt und emporgehoben. Ihre halbtote Beute zwischen den Zähnen, strampelte sie heftig und kratzte in großer Entrüstung mit den Hinterfüßen blindlings um sich. Eitel wie alle Katzen, hatte sie auf Lobsprüche und Streicheln gerechnet, und nun kam man ihr so. Es half ihr aber nichts, der Professor hielt fest und trug sie samt der Maus vor die Thür.


[640]
6.
Aus Paula Meyers Tagebuch.

. . . Und wie er sich dann hernach entschuldigte – ach, er und entschuldigen!! – und sagte, es gebe für ihn nichts Unerträglicheres als diese kalte spielende Grausamkeit … Und dann lächelte er, sein herrliches Lächeln, und strich sich mit der rechten Hand über die Stirn und sagte: er habe noch eine besondere Schwäche für die Mäuse, und erzählte, wie er als kleiner Junge ’mal so krank gewesen sei und so einsam, da habe ihm der alte Hausknecht seines Vaters ein paar weiße Mäuschen in einem Käfig gebracht, ganz reizende Tierchen, schneeweiß mit rosenroten Näschen und Aeuglein, und das sei dann tage- und wochenlang seine größte Freude gewesen, und die eine konnte sogar singen, was ich entzückend finde!

Thusy sagt, er hätte mich immer dabei angesehen und mir hätten die Thränen in den Augen gestanden, was recht häßlich von ihr ist, aber ich glaube, sie hat recht. Es muß ja auch einen Indianer rühren, wenn ich mir das denke, so ein starker herrlicher Mann – er, der Herrlichste von allen!! und dann hilflos und ans Lager gefesselt und hat nichts zur Unterhaltung als zwei kleine Mäuschen! O, hätte ich ihn pflegen können! Das heißt, damals war er ja noch klein, welch ein reizendes Kind muß er gewesen sein, ich wollte, ich hätte ein Bild davon!

O, dürfte ich ihn immer pflegen und brauchte ihn nie zu verlassen!!! Aber ach, nur wenige Tage noch, und dann … Ich habe mir heute in Schillers Gedichten „Des Mägdleins Klage“ mit der Häkelnadel angestrichen – wie ganz empfinde ich da mit dem großen Dichter!! – – Oder sollte es – sollte es wahr sein, was Thusy neulich, als sie nachts zu mir herüber flüchtete, weil sie meinte, es könnten doch welche von den häßlichen alten Mäusen hier sein, und der Mondschein fiel so breit herein – da war sie wieder recht abscheulich und neckte mich und sagte – – – aber nein, erröte, meine Feder, und schweige!!!!

Thusy schläft schon, und ich will nun auch zu Bett gehen. In den anderen Zimmern ist auch schon alles dunkel und still, sogar drüben bei Hetty und Margot, wo sie gestern so einen Lärm gemacht haben mit der Katze, diesem abscheulichen Tier. Die kann lange warten, bis ich ihr wieder ein Band schenke. Wie sie ihn giftig anstierte aus ihren grünen falschen Augen, den edlen Mann!!! – Wie die anderen nur schlafen können nach so einem Tage!

Ich wollte, ich hätte ein paar weiße Mäuse. Es sind zu süße Geschöpfe!


7.

Professor Hans Seeling lehnte im Sessel vor seinem Schreibtisch und starrte träumend auf eine Photographie, die in dunklem Stehrahmen auf dem Tische den Ehrenplatz einnahm. Sie stand neben der Lampe, so, daß er beim Schreiben aufblickend sie stets vor sich sah. Vor ihr lag die thönerne Maus, und um Bild und Maus schlang sich ein junger blaßgrüner Epheuzweig.

Nach langem Sinnen reckte sich der Professor, ergriff die Feder und schrieb einen Brief zu Ende, zu dessen Fortsetzung er so viel Zeit gebraucht hatte. Er schrieb:

„Aber das ist alles nur wirres Zeug, wirst Du sagen, und giebt noch nicht einmal eine Antwort auf die höchst einfache Frage, ob ich in acht Tagen komme oder nicht. Nun, lieber Vater, Du hast immer darauf bestanden, daß Dein erwachsener Sohn Dir gegenüber offen sei wie ein junger Kamerad, und wie sollte ich vor Dir auch ein Geheimnis haben? Seit ich zu denken vermag, bist Du mir Vater und Mutter zugleich gewesen, und wenn die liebe selige Mutter, die ich kaum gekannt habe, noch lebte, ich würde vor ihr so offen sein wie vor Dir. Aber zuerst muß ich selbst klar sehen. Es giebt Dinge, die kann und soll ein Mann nur allein durchfechten. Ich bin in den letzten Wochen in mich gegangen, habe unter Verbrauch von bedenklich viel Cigarren – die letzte Sendung war herrlich! – mit allerlei abgeschlossen und möchte nun einen kleinen Sturm auf den Himmel wagen. Es ist mir, als schwebte ein großes Glück dicht vor mir, als fühlte ich den Hauch seiner Fittiche an der Stirne, und ich will greifen und sehen, ob ich es halten mag. Und also – um Dich nicht länger zu behelligen – komme ich in acht Tagen, so bringe ich Dir etwas Köstliches mit, und kommen wir nicht, so mache ein Kreuz auf diesen undisciplinierten Brief und wisse, Dein Sohn hat sich in die Wissenschaft vergraben, wo sie am tiefsten ist, und Gott weiß, wann er wieder herauskommt.

 In inniger Treue und Dankbarkeit Dein Hans.“

Nachdem der Professor dies geschrieben, den Brief adressiert und durch den Diener fortgeschickt hatte, zündete er sich eine Cigarre an, lehnte sich wieder zurück und starrte durch die blauen luftigen Wölkchen nach dem Bilde hin, mit einer Ausdauer und Hingabe, als ob er vom Staate eigens zu diesem Zwecke angestellt wäre.


8.

Um dieselbe Stuude saß Paula Meyer allein in dem traulichen Zimmer, das sie mit ihrer Busenfreundin Thusnelde teilte, vor einem kleinen Tischchen. Sie blickte lange mit verweinten Augen auf den Lampenschirm, der weiß auf grün zwei kosende Täubchen zeigte. Dann fuhr sie sich mit ihrem in Kölnisches Wasser getauchten Tüchlein über die erhitzten Wangen, strich das gestickte weiße Negligé von ihrem hübschen Arme zurück und schrieb, häufig schluchzend, in ihr silberbeschlagenes Tagebuch:

 „Freitag, abends spät.
Brich zusammen, du Gebäude schüchterner Hoffnungen, das ich auf diesen Blättern vorgestern aufgerichtet!!! Meine Liebe ist verraten, mein Herz geknickt, und ich wollte, ich wäre tot!!! O, wer hätte so etwas geahnt! Hätte ich doch nur Margot statt meiner mit Hetty Siegendorf zu ihrer Tante gehen lassen, so hätte ich wenigstens das Entsetzliche nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber es ist am Ende besser so. Gewiß war es eine Fügung!

Hetty that so groß, als ob sie ihn zuerst erkannt hätte – o Gott, als ob ich ihn nicht mit verbundenen Augen aus Millionen heraus erkennen würde, mit seiner stolzen Haltung, seiner ungeduldigen Kopfbewegung, wie er unter der Laterne auf die Uhr sah – und dann sein großer Mantel mit der Kapuze, der graue, wo er noch vorige Fastnacht auf dem Eise drin so lieb zu mir gewesen war – der Heuchler! O diese Falschheit – aber so sind sie!! Alles Don Juans. Mozart hat ganz recht . . . Und wie es dann unter dem Thorweg so p–st machte, pst–pst– und dann er gleich hin und wir hinterdrein und da stand sie – o dieses Geschöpf, wer sie wohl sein mag, die ihn so umstrickt hat!!! Hetty sagt, sie hätte ihn zuerst geküßt, daß es nur so klatschte – und sie wollte immer noch mehr zusehen, aber ich lief fort, wie mit Furien gepeitscht … O, wenn er ahnte, wer ihn auf seiner schwarzen That belauschte. Aber morgen gehe ich wieder mit Hetty hin – ich will wissen, wer sie ist. Hetty sagt, die träfen sich gewiß

[641]

Vom Innsbrucker Volkstrachtenfest: Tiroler Bauernhochzeit.
Nach der Natur gezeichnet von Oscar Graef.

[642] jeden Abend und sie habe ihm nie getraut. O diese Männer! Krokodile sind sie, und noch schlimmer!

Ich muß schnell abschließen, gleicht kommt Thusy, und dann soll ich wieder mit der von ihm reden, und am Ende – o Gott! – verrate ich mich. Nein, ich lege mich ins Bett und thue, als wenn ich schliefe, und wenn sie mich in den Arm kneift, ganz egal!! Aber wenn sie eingeschlafen ist, dann werde ich mich satt weinen.

000000000000000

Ich mache das Buch noch einmal auf, Thusy schläft wie ein Bär, und es ist zu häßlich, was ich da geschrieben habe. Ich habe es mir jetzt klar gemacht, er ist gewiß nur umstrickt worden, ach, er ist ja von Natur so gütig und vertrauend, und er wird gewiß recht unglücklich durch sie werden. Ich wollte, ich könnte ihn trösten, ich habe ihn ja so lieb, aber ach, er hat es ja nie gewußt! So wandelt die Sonne an dem bescheidenen Vergißmeinnicht vorüber und sendet ihre wärmsten Strahlen auf die stachlige Distel!“


9.

„Hans,“ rief Otto Holm, „lieber treuer alter Hans, umarme mich – oder besser, reiche mir einen Cognac, eine Havanna und Deine Rechte, denn ich sage Dir, frei nach Goethe bei Valmy: Von hier an und von diesem Tage hebt eine neue Epoche in meiner Lebensgeschichte an, und Du kannst sagen, daß Du dabei gewesen bist!“

Verwundert betrachtete der Professor seinen späten Gast. „Hier hast Du alles Gewünschte, aber nun setze Dich, bitte, und sage mir einmal ruhig und in Ordnung, was Dich hierher führt, zu so später Stunde, in solcher Stimmung und so feierlich schwarz gekleidet?“

„Aber Hans,“ fragte der andere in maßlosem Erstaunen, „merkst Du’s denn nicht? Meine alte Tante ist endlich von ihren Leiden erlöst, vor drei Tagen war das Begräbnis. Nein, sieh mich nicht so moralisch entrüstet an, es war wirklich eine Erlösung. Bedenke, seit fünf Jahren gelähmt und fast blind! Aber ihr Herz war gut geblieben, Gott segne ihr Andenken! Ein großes Legat hat sie für ihren nichtsnutzigen Neffen ausgesetzt. Heute nachmittag war Testamentseröffnung. Ja, Hans, was sagst Du nun? Seit drei Uhr dreißig Minuten bin ich Kapitalist.“

„Nun, ich gratuliere von Herzen! Aber gespannt bin ich, wie lange –“

„Nein, teurer Freund, diesmal giebt’s keine Dummheiten mehr. Du kennst eben die Macht der Liebe nicht. Morgen gehe ich zu Gretchens Vater, wir haben es vorhin miteinander ausgemacht. Jetzt wird mir der Alte keinen Korb mehr geben. Ich trete ins Geschäft ein und werde Geflügelzüchter.“

„Was wirst Du?“

„Na, Geflügelzüchter. Der Alte hat eine große Geflügelhandlung und -züchterei; weißt Du, schon mehr Geflügelfabrik. Als Journalist übernehme ich natürlich zunächst die Abteilung für Enten. – Es war übrigens an der Zeit, daß es mit der heimlichen Liebe und den Stelldicheins aufhörte. Seit zwei Abenden wurden wir immerfort von ein paar Damen belauscht. Gretchen fing an, gehörig eifersüchtig zu werden. Na, das schadet ja nie.“

„Wie steht es denn aber mit Deinem Preßdienst?“

„Aus ist’s, Freund! Die Ketten sind gefallen, ein freier Mann steht vor Dir und bittet Dich, schleunigst Deine Lenden zu gürten und ihm zu folgen, denn heute abend mußt Du mein Gast sein, Hans, deshalb kam ich her. – Uebrigens habe ich der Dame Presse gedient bis zuletzt. Heute noch, dicht vor der Testamentseröffnung – denke Dir! – habe ich eine feine Personalnotiz für die Rubrik ‚Aus der Gesellschaft‘ erwischt und abgegeben – sensationell. Verlobung des Rittmeisters von Wildenstedt, früher hier in Garnison, berühmter Sportsmann, mit der Tochter des reichen und kunstsinnigen Industriellen Meyer aus Hamburg, in Firma H. H. C. Meyer sel. Söhne. Diese Notiz – –“

„– ist erlogen, nicht wahr? Bitte, Otto, sage ja!“ stammelte der Professor.

Der Exreporter sah ihn entrüstet an. „Wie, denkst Du, daß ich meinen Posten im Dienste der zeitgenössischen Geistesbildung mit einer Lüge verlasse? Nein, lieber Freund, diesmal ist es wahr. Der Oberkellner im Schwanen hat mir persönlich die Fenster gezeigt, hinter welchen der selige H. H. C. Meyer und Söhne diese Nacht hier in unsern Mauern zu weilen gedenkt. Vermutlich will er sich vergewissern, welche Marke sein Schwiegersohn früher im Schwanen zu trinken liebte. Aber wozu jetzt davon schnaken! Komm, altes Haus, ich habe dem Jean eine stille Bowle in Auftrag gegeben – natürlich im Hinterzimmer, der Trauer wegen. Es wird ein gemütlicher kleiner Kreis, und Du sollst die Perle darin sein. – Was stehst Du denn da und starrst auf Deinen Schreibtisch, Hans?“

Der Professor wandte sich hastig um. „Du mußt mich entschuldigen, lieber Freund. Ich kann heute nicht.“

„Das wäre noch schöner,“ rief Otto Holm. „Morgen ist Sonntag, da kann der Mensch ausschlafen, und ich sage Dir, es wird eine sehr hübsche Gesellschaft. Der Redakteur Schmitz, Doktor Engelbrecht mit dem Schlangengift, zwei unbesoldete Assessoren, und übrigens – Du brauchst Dich nicht zu genieren, Du sollst nicht der einzige Professor sein – Dein Kollege Wolf von der medizinischen Fakultät wird auch da sein und Dir jedenfalls sein Lehrgedicht ‚Der Tisch für Magenkranke‘ vortragen. Ich weiß es schon halb auswendig. Es sind wahrhaft erhabene Stellen darin.“

Und Otto Holm reckte die rechte Hand aus und schickte sich pathetisch an, seinem Freund eine Probe zu geben.

„Hör’ auf,“ flehte der Professor. „Ich sage Dir, Otto, ich kann nicht, ich – ich muß allein sein.“

Otto Holm sah sehr betrübt drein. „Dann nicht,“ sagte er, nahm Hut und Stock und schritt zur Thür. „Dann will ich Dich auch nicht weiter aufhalten.“

Hans eilte ihm nach. Es war, als ob sie beide noch Knaben wären, die sich eben gezankt hätten. „Otto, bist Du mir böse?“ fragte Hans.

„Nein,“ sagte der andere, „nur so traurig. Als ich noch ein armer Kerl war, hast Du mir’s nie abgeschlagen, wenn ich auch ’mal wieder den Wirt spielen wollte.“

„Ich thu’ es auch jetzt nicht,“ rief Hans, „warte, ich gehe mit! Hier – halte ich es doch nicht aus . . .“

„Du bist so verstört. Was hast Du nur?“ fragte Otto teilnehmend.

„O, nichts. Ich habe nur etwas verloren.“

„Etwas sehr Wertvolles?“

„Für den Liebhaber, ja.“


10.
Auszug aus Paula Meyers Tagebuch.

Samstag, abends spät. 
Befreit, o welche Seligkeit! So rufe ich mit Fidelio aus – oder ist es die Leonore im Troubadour? Wie konnte ich nur glauben, daß er es wäre!!! Es war ja ein ganz gewöhnlicher [643] Mensch, als er sich umdrehte. Vielleicht hat er ihm den Mantel gestohlen, oder hat ihn von ihm geschenkt bekommen, er ist ja so gut. Ich habe es Hetty aber gleich gesagt. O wie froh ich bin!! Ach, und heute morgen in der Schlußstunde war ich so garstig, sie haben es alle gemerkt. Wie kann ich es nur wieder gut machen?!! Aber morgen, beim Fest, will ich recht freundlich zu ihm sein.

Ich kann nicht weiter schreiben, ich bin zu glücklich. Warum nur, du dumme Paula?! Aber einerlei, ich muß jetzt ’was lieb haben, am liebsten ginge ich zu meiner lieben Thusy hin ans Bett und weckte sie und küßte sie halb tot, und wahrhaftig, ich klappe das Buch zu und thue es.

Sonntag, vormittags zwölf Uhr. 

Ich möchte schreiben, aber ich kann nicht, ich zittere vor innerem Weinen. Maus!!! Das sagt alles. O wie kann ich jetzt meinem Vater . . . . . . . . . . (Ein Klecks.)


11.

„Das Schauderhafteste ist der andere Morgen!“ stöhnte Hans Seeling, als er sich am Sonntag endlich gegen Mittag halb zwölf Uhr – es ist leider wahr! – vor den Tisch in seiner Studierstube setzte und mit etwas unsicherem Blick auf das Frühstück blickte. Der Kopf schmerzte ihm furchtbar. „Gottfried, Mensch, warum hast Du mich nicht früher geweckt?“

„Um halb Neun waren der Herr Professor durchaus nicht wach zu kriegen,“ meinte der getreue Gottfried. „Sie waren eben auch sehr spät nach Hause gekommen. Und nachher, als die Damen da waren, die verboten mir, Sie zu wecken.“

„Damen? Was für Damen?“

„O, drei sehr schöne junge Damen,“ grinste Gottfried. „Sie meinten, ich sollte ihn nur dorthin stellen, der Herr Professor werde ihn schon finden. Da steht er.“

Und in der That, da stand „er“: selbstverständlich der Hermes des Praxiteles, schön nachgebildet, mit sanftgeneigtem Haupte, und darunter ein zierliches Kärtchen: „Herrn Professor Doktor Hans Seeling von seinen dankbaren Schülerinnen. Villa Ulrich, Winter-Semester 1893/94.“

„Das hat die eine hingelegt, die mit dem schwarzen Zopf,“ erläuterte der getreue Gottfried. „Ach, Herr Professor, die ist aber kregel! Was die gelacht hat, als sie den Schreibtisch sah!“

„Natürlich Sennorita Thusnelde Lehmann,“ murmelte der Professor. „Was hatte sie denn an meinem Schreibtisch so zu lachen? – Herrgott, Mensch, die haben doch nicht etwa das Bild –“

„Ja, das hat ihnen viel Spaß gemacht. ,Wer ist denn das?‘ fragte die Kleine mit den braunen Augen –“

„Margot Menzel, natürlich!“ brummte Hans für sich.

„– und da sagte ich: ‚Ach, das ist unsere Maus. Der Herr Professor sagen nur immer: Gottfried, nimm mir die Maus in acht!‘ Und da lachten sie alle drei und tuschelten untereinander und guckten zwischendurch immer nach dem Schlafzimmer, ob der Herr Professor auch nicht wach würden. ,Keine Sorge,‘ sagte ich, ,da können Sie ganz ruhig sein, wenn’s abends so früh geworden ist, da schläft er hernach wie ein Igel.‘“

„Sehr freundlich, in der That,“ stöhnte der Professor. „Höre, Gottfried, das wird noch am jüngsten Tage eine Rechnung zwischen uns beiden geben. Nun sage nur noch, daß die dritte schlank, blond und blauäugig war, mit kurzen Löckchen –“

„O nein,“ antwortete Gottfried, „wo denken der Herr Professor hin? Das war ja so eine Große, mit breiten Schultern und fuchsigem Haar, ganz frei, und mit so scharfen grauen Augen –“

„Na, Gott sei Dank! Also die Siegendorf. – Nun geh’, Du Ungeheuer, bringe mir Rheinwein mit Apollinaris, und wenn Du unterwegs einem zerbrochenen Rohre begegnest, so denke an Deinen Herrn. – So trifft alles zusammen,“ philosophierte Hans, als der Diener sich entfernt hatte, verlorene Liebe und der Fluch der Lächerlichkeit – und der Kater. Brr! – Nun, sie freilich wird jetzt Wichtigeres zu thun haben als mich zu besuchen . . . Aber lieb ist es doch von den Mädchen. Hoffentlich haben sie’s nicht gemerkt, daß dieser unvermeidliche Hermes bereits in drei Exemplaren auf demselben nicht mehr ungewöhnlichen Wege in dieses Zimmer gewandert ist. – Wäre es nur erst Abend und diese dumme Feier an Institut vorbei! Aber abschreiben will ich doch nicht. Es sähe jetzt zu lächerlich aus.“


12.

Als der Professor gegen Abend in der Villa Ulrich erschien, wurde er sogleich an der Thür des Vorgartens von Thusnelde Lehmann und Hetty von Siegendorf abgefangen. Man ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. „Ach, Herr Professor,“ klagte Thusy, „es ist schrecklich gut, daß Sie da sind. Ohne Sie sind wir verloren. Bitte, helfen Sie uns, es geht alles drunter und drüber mit der Aufführung, und bei der Probe ging es doch noch so famos! Nicht wahr, Herr Professor, Sie gewähren uns die Bitte?“ Und leise setzte die schlaue Thusy hinzu: „Wir haben auch den anderen heute morgen eine ganze Dankrede erzählt, die Sie uns gehalten hätten.“

Die „Aufführung“ bildete in der Villa Ulrich eine Zierde des Semesterschlusses. Sonst stand sie unter der Leitung einiger erfahrenen Lehrkräfte. Diesmal aber hatten sich die jungen Damen ausgebeten, einmal mehr selbständig zu arbeiten, und die Folgen zeigten sich nun. Die Hälfte der Mitwirkenden kauerte in einem Winkel der Bühne, von allen Schauern des Lampenfiebers gerüttelt, und mit den Bühnenrequisiten sah es sehr übel aus. „Wir wissen nicht einmal, wie wir den Donner machen sollen, auf den Blitz haben wir schon verzichtet,“ klagte Thusy, die noch am meisten den Kopf oben behielt, mit bekümmerter Miene. „Tony Fink hatte ganz sicher behauptet, man könnte es mit einer großen silbernen Schale, wenn man sie an einer Kordel aufhinge und mit einem Pantoffelabsatz daran schlüge. Aber nun klingt es gar nicht wie Donner, hören Sie nur, Herr Professor!“ Und das war sehr schlimm, denn der Donner spielte in dem aufzuführenden Stück eine bedeutende Rolle. Es war das litterarische Vermächtnis eines Amtsvorgängers des Professors an die Schule, die Geschichte von dem edlen Königssohn und der wunderschönen Hirtentochter, die nach unzähligen Verfolgungen seitens der bösen Zauberin Nocturna endlich doch durch den mächtigen Schutz der Elfenkönigin Titania und ihres treuen Oberelfen Puck zusammengeführt werden. Das Schauspiel war eitel Poesie, übergossen mit sanftem Mondenschein und gestickt mit blauen Veilchen, und natürlich donnerte und blitzte es jedesmal, wenn Dame Nocturua oder Titania erschien.

Nun, mit dem Professor trat ein rettender Geist in das Durcheinander der kleinen Bühne, die in einem Nebenzimmer des großen Saales im ersten Stocke aufgeschlagen war, so daß die geöffnete Flügelthür als Rahmen der Scene diente. Mit Hilfe Thusys, die in dem Allerheiligsten der Garderobe – einem Seitenalkoven – das Kommando übernahm, brachte er Schick in die Erscheinungen und dann in das Spiel, und als er versprach, während der Aufführung selbst hinter den Coulissen als Regisseur, Wolkenschieber und Souffleur mitzuwirken, gewannen auch die Verzagtesten Mut, und der Vorhang teilte sich nur wenige Minuten nach der festgesetzten Stunde.

Unheilbarer Verwirrung schien nur der Königssohn Theoderich, im bürgerlichen Leben Paula Meyer genannt, anheimgefallen zu sein. [644] Der weite weiße Rittermantel, den er über seiner spanischen Herrenkleidung trug, ließ zwar an Decenz nichts zu wünschen übrig, dafür erforderte er aber für den Träger die größte Aufmerksamkeit, um nicht beständig über die Schleppe zu stolpern, und die Königliche Hoheit ließ es an dieser Aufmerksamkeit durchaus fehlen. Zudem hielt sie sich stets nach Möglichkeit auf der Seite nach der Garderobe zu, wodurch sie sich der Wohlthat des Soufflierens gänzlich beraubte und das Zusammenspiel häufig zu stören drohte.

„Höre,Paula,“ bemerkte die Hirtentochter Thusy, während draußen auf der Bühne Nocturna und Titania ein Wett-Erscheinen aufführten. „Was ist das nur mit Dir? Ich glaube, Du genierst Dich vor dem Professor mehr als vor einem ganzen Armeekorps Lieutenants.“

„Laß mich! Du bist unausstehlich,“ schluchzte der Königssohn und stampfte mit dem Füßchen auf die Mantelschleppe.

„So? Das ia ja recht nett,“ erwiderte die Hirtentochter. „Na warte, ob ich Dir nachher helfe, wenn Du so bist.“

„Du brauchst mir gar nicht zu helfen, Du – Du – Du bist abscheulich, immer, schon den ganzen Nachmittag.“

Der Professor „donnerte“ gerade während dieses Gespräches, indem er einen großen Sack Kartoffeln langsam und kunstgerecht in eine Waschbütte kollern ließ. Dabei machte er ein entsetzlich trauriges Gesicht und blickte zuweilen nach der anderen Seite zu dem Königssohn hinüber, mit Augen, in denen eine Welt von Jammer dunkelte. Der armen Pussy, die gerade vorbeistreichen wollte, warf er eine Kartoffel an den Kopf, und ihr Wehschrei erhöhte noch den schauerlichen Zauber der Bühnenscene.

Nun, schließlich ging auch dieses Stück zu Ende. Das Publikum, unter welchem neben Frau Doktor Ulrich ein älterer wohlbeleibter Herr mit goldener Brille den Ehrenplatz einnahm, spendete unendlichen Beifall. Die gefeierten Künstlerinnen mischten sich nach und nach – wo dies anging, in ihren Bühnengewändern – in den Zug der gewöhnlichen Sterblichen, der unter Lachen und Plaudern die Treppe hinunter in die Gesellschaftsräume pilgerte. Der Professor blieb noch im Bühnenraum, um einige feuergefährliche Requisiten zu beseitigen – oder weil es ihm sonst so gefiel.


13.

Schließlich stieg auch Hans die breite festlich erleuchtete Treppe hinunter, sehr langsam und sehr traurig. „Ich wollle, es wäre morgen,“ seufzte er. Dabei lehnte er sich an den Pfosten, ohne zu bemerken, daß neben ihm auf dem Geländer Pussy kauerte. Die Gelegenheit war zu verlockend für das kleine rachsüchtige Raubtier. Sie zog den geschmeidigen Leib zusammen und zielte zu einem großen Sprunge, gerade nach dem Gesicht des Mannes. Dann gab es urplötzlich einen Schrei, ein Gezisch und Gefauche, die Katze sauste an Hansens Kopf vorbei auf den Teppich und vor ihm standen – nun wieder in Civil – Thusy und Paula, letztere mit einem roten Streifen über dem zarten Handgelenk.

„Entschuldigen Sie, Herr Professor,“ sagle der verwandelte Königssohn mit einer Stimme, so kühl wie in der Tanzstunde, „das Tier wollte nach Ihnen springen, als wir gerade vorbeikamen, und da habe ich es weggejagt.“

„Und Sie sind statt meiner verwundet worden!“ rief Hans statt jeden Dankes, indem er voll Bestürzung nach Paulas blutendem Händchen griff.

„O bitte, Herr Professor!“ erwiderte sie und hielt die Hand auf den Rücken.

Der kleine Lärm hatte noch einige Mädchen herbeigezogen. Neugierig drängten sie heran, und die rothaarige Hetty von Siegendorf, welche schon längst nur die Fee Nocturna hieß, flüsterte kichernd. „Nun hat die Maus es doch von der Katze gekriegt!“

„Pfui,“ rief Thusy, gab der bösen Fee einen recht kräftigen Puff und zog Paula, welche laut zu weinen anfing, mit sich fort in ein leeres Zimmer. „Daß mir keine von Euch nachkommt!“

„Ich wollte, ich hätte ein Glas Sekt!“ seufzte der Professor für sich. Es fing an, ihm schwindlig zu werden. Und jetzt kam er auch noch in den hellen, menschenerfüllten Saal, und da stand auch schon Frau Doktor Ulrich mit dem dicken Herrn vor ihm.

„Unser Herr Professor Doktor Seeling – Herr Senator Meyer.“

„Nun, es war ja sehr, sehr hübsch,“ meinte der Senator, „aber, aber der Königssohn!“

„Nur zu erklärlich in der bräutlichen Stimmung,“ erwiderte Hans mit grausamer Selbstquälerei. „Gestatten Sie mir, Herr Senator, daß ich Ihnen zur Verlobung von Fräulein Paula meinen herzlichsten Glückwunsch ausspreche!“

Der dicke Herr sah ihn groß an. „Aber, Herr Professor, ich verstehe nicht recht – bis jetzt weiß ich nur von der Verlobung meiner ältesten Tochter Helene mit Herrn von Wildenstedt.“

„Ihrer Tochter He–lene?“ stammelte Hans, „ja dann – dann entschuldigen Sie gütigst, Herr Senator!“

Und fort war er. Der dicke Herr sah ihm nach und blickte dann Frau Doktor Ulrich fragend an. „Er wird etwas vergessen haben,“ meinte sie entschuldigend. „Darf ich Ihnen hier unseren trefflichen Zeichenlehrer, Herrn Rabe, vorstellen?“ Und während die beiden sich begrüßten, murmelte sie. „Herr meiues Lebens, mir ahnt etwas!“


14.

Unterdes war Hans an dem bewußten kleinen Ankleidezimmer angelangt und stürzte höchst ungebildet gleich mit dem Anklopfen hinein. Da saß Paula weinend auf einem Sessel, Thusy stand neben ihr und gleich darauf auch Hans. „Paula!“ rief er.

„Lassen Sie mich, Herr – Herr Professor!“ schluchzte sie und wollte nach der Thür eilen. Aber dort hatte schon Thusy den Platz eingenommen. Sie stand wahrhaft groß da.

„Was hat man eine Not mit den Menschen!“ rief sie. „Nun, Gott sei Dank, daß Sie wenigstens da sind! Nein, hier wird nicht wieder weggelaufen, jetzt kann er Dir ja sagen, wie es wirklich ist. Bitte, sagen Sie’s ihr doch, Herr Professor! Es ist ja alles nur wieder so ein Streich von der Fee Nocturna – die hat nämlich den Spitznamen ,Maus‘ für Paula aufgebracht, Herr Professor, weil Paula seit der Geschichte neulich so für Mäuse schwärmt und sich ärgert, wenn die Nocturna so intim mit der Katze ist, und die hat ihr dann heute morgen vorgelogen, der Herr Professor ulke zu Hause mit seinem [645] Diener über unsere ,Maus‘ – na, nun sagen Sie’s ihr doch, Herr Professor – was das Bild mit dem Epheu bedeutet, das kennt man ja!“

„Thusy,“ stammelte Paula, am ganzen Körper bebend, „schweig’! Schweig, Du – Du –“

„Ach was! Meinst Du, ich könnte den Jammer noch länger mit ansehen – ich hab’ es ja schwarz auf weiß gelesen, was Dir fehlt!“

„O Gott,“ schluchzte Paula ganz geknickt, „mein Tagebuch! Also Du hast? – Weißt Du, was Du bist –“

„Sst!“ machte die tapfere Thusy, „kein Wort! Was ich bin, das kannst Du mir hernach sagen, jetzt stelle ich mich hier vor die Thür, und wenn Du dann nachher noch immer lieber hättest, daß die Nocturna statt meiner Dein Buch erwischt hätte, wie Du hinunterliefst, als Dein Vater vorfuhr, dann – dann – ist es mir auch egal, dann bist Du Deine beste Freundin los!“

„Paula, liebes Fräulein Paula!“ sagte Hans, dessen Seele in einem Meer von glückseligen unbestimmten Hoffnungen umhergewirbelt wurde, und er ergriff die kleine Hand mit dem roten Striemchen und begann leise, innig zu flüstern – – –

„Na ja!“ machte Thusy befriedigt und schloß die Thür hinter sich zu.


15.

Der Herr Senator stand im großen Salon inmitten einer Gruppe von jungen Damen und unterhielt sich köstlich. Er war in bester Laune. „Aber wo steckt denn eigentlich meine Tochter?“ fragte er lachend. Alles blickte sich suchend um, sie war nicht zu sehen.

„Merkwürdig,“ bemerkte Hetty von Siegendorf mit ihrer etwas scharf klingenden Stimme, „der Herr Professor ist auch verschwunden.“

In diesem Augenblick näherte sich Frau Doktor Ulrich dem Senator. „Ach bitte, auf ein Wort,“ flüsterte sie ihm zu und ließ sich von ihm in ihr Privatzimmer geleiten.

Was er dort sah – so anmutig es auch war – beraubte den Herrn Senator zunächst der Sprache, und ehe er sie wiedergefunden hatte, stand Hans bereits vor ihm:

„Herr Senator, ich bitte um die Hand Ihrer Tochter Paula!“

„Aber da hört doch alles auf!“ rief der Ueberraschte, „Paula, was soll das heißen? – Herr Professor, Ihr Antrag ist mir zwar sehr schmeichelhaft, aber ich muß doch bitten – ich kenne ja noch gar nichts von Ihren Verhältnissen –“

„Herr Senator verzeihen,“ sagte Hans, stramm aufgerichtet, „über meine Person und meine gesellschaftliche Stellung stehen Ihnen alle Referenzen zur Verfügung, und was das andere angeht, so glaube ich annehmen zu dürfen, daß Sie, Herr Senator, darüber gerade als Kaufmann selber das beste Urteil haben. Das Haus Seeling –“

„Ja, was der Tausend, Herr Professor,“ unterbrach ihn der Kaufherr sichtlich erfreut, „so sind Sie der Sohn von Johann Seeling und Kompagnie? Richtig, erinnere mich, sollte ja Gelehrter werden. – Nun dann allerdings bin ich in diesem Punkte aufgeklärt. Aber ich weiß doch nicht –“

„Vater!“ flehte Paula, indem sie ihn zärtlich umfing, „ach bitte, lieber Vater!“

„Ja,“ meinte der so Bestürmte ziemlich wehrlos, „was sagen Sie dazu, Frau Doktor?“

„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich sagen soll,“ seufzte diese, und dann nahm Paula mit einem neuen Ansturm die Festung ein.

„Das ist nun das Los der Väter,“ seufzte der alte Herr. „Na, weine nur nicht, Paula, Deine Schwester hat mir’s gerade so gemacht. Aber offen heraus, Herr Professor, Sie gefallen mir! Und also, Kinder – meinen Segen habt Ihr! Aber Ihr Herr Vater?“

„Ich habe Blanco-Vollmacht!“ antwortete der glückliche Hans, und dann folgte eine große Rührscene, abschließend wie üblich in allerlei Scherzreden.

„Ich weiß noch immer nicht, was ich dazu sagen soll,“ meinte die Frau Doktor schließlich. „Gewiß, ich darf von Herzen gratulieren – ich habe ja das Glück, alle Beteiligten zu kennen. Aber, aber, Herr Professor, wie konnten Sie so ’was thun! Sie wußten doch, daß es streng verboten ist, sich in meinem Hause zu verloben!“

„Ich will’s auch gewiß nicht wieder thun,“ versicherte Hans mit lächelndem Gesicht. „Nicht wahr, Paula?“

Da schob sich heimlich ein Köpfchen leise durch den Thürvorhang, ein hübscher Mädchenkopf mit dickem schwarzen Zopf und blitzenden schwarzen Augen. „Thusy!“, rief Paula, riß sich von ihrem Verlobten los und zog die Freundin herein. „Hier, Vater, meine liebe Freundin Thusnelde Lehmann,“ und dann fiel sie ihr um den Hals und küßte sie und flüsterte: „Ach, Thusy, ich bin zu glücklich – Du bist auch meine liebste beste süßeste Freundin, meine einzige Thusy!“

„Na, siehst Du wohl,“ bemerkte der Schwarzkopf, „siehst Du wohl, Du liebe dumme Maus!“


Ein „Kirchtag in Tirol“.

Bilder vom Innsbrucker Volkstrachtenfest. Von J. C. Platter. Mit Zeichnungen von Oscar Graef.

Unüberwindlich schien die Macht, mit welcher der gleichmacherische Geist der Neuzeit bis in entlegene Winkel und stille Thäler vordrang, alte Ueberlieferung, Sitte, Tracht fast mit der Gewalt eines Naturgesetzes vernichtend. Mehr und mehr verschwand das bunte Bild der Besonderheiten vor einem stumpfen Einerlei, und insbesondere auf dem Gebiet der Volkstrachten bedeutete jedes Jahr einen weiteren Verlust. Aber der Rückschlag blieb nicht aus, eine Gegenströmung trat mit steigendem Nachdruck auf, Vereine zur Erhaltung der alten Volkstrachten wurden da und dort gegründet; die Einsicht, wie viel Schönes hier dem Untergange entgegengehe, zeitigte ein eifriges Bemühen um die Rettung des Bestehenden und, nachdem die ersten Erfolge sichtbar geworden, ein mutiges Vorwärtsschreiten zur Wiedereroberung verlorenen Bodens.

Eine lustige festliche Schlacht in diesem Kriege um der Väter Brauch ist am 26. August im schönen Innsbruck geschlagen worden. Tirol gehört ja zu den Ländern, wo dank dem konservierenden Einfluß des Hochgebirges noch verhältnismäßig viel von den althergebrachten Volkstrachten übrig ist. Und so hat die tirolische Hauptstadt am Inn schon seit einer Reihe von Jahren es sich zur Aufgabe gemacht, bei festlichen Gelegenheiten zu zeigen, wie viel eigenartige Schönheit an Gewand und Schmuck der Vorfahren haftet. Diesmal geschah es in besonders anschaulicher Weise, indem man ein geschlossenes Bild echt tirolischen Lebens und Treibens schuf. Den versammelten deutschen und österreichischen Anthropologen zu Ehren hat man am 26. August ein großes Volkstrachtenfest veranstaltet unter dem Titel „Ein Kirchtag in Tirol“, ein Fest, das den Männern der Wissenschaft wie den Tausenden anderer Zuschauer noch lange in Erinnerung bleiben und der Liebe zu den alten Volkstrachten einen mächtigen Aufschwung geben wird.

Der Platz und die Gewerbehalle der Tiroler Landesausstellung vom letzten Jahre wurden zur Abhaltung des Kirchtages in stand gesetzt, die weite Halle mit ihren 4000 Quadratmetern Flächeninhalt glich einem Dorfplatze, auf dem sich zum Jahrmarkt eine [646] Bude an die andere reihte. In der Mitte war, durch einen Holzzaun abgegrenzt, der Bauerntanzplatz ausgespart, aus welchem der reichgeschmückte Maibaum bis nahe an die Hallendecke emporragte. Nebenan stand das eigenartige, täuschend ausgeführte Bauernwirtshaus mit Erkerfenstern und dem Sankt Florian an der Mauer, jenseit des Tanzplatzes luden die Verkaufsstandeln der Grödener Holzschnitzer, der Sterzinger Lebzelter und Stubaier Eisenschmiede mit ihren bekannten Spezialitäten zum Besuche ein; auch die schönen Ampezzaner Filigran- und Holzeinlege-Arbeiten waren in reicher Auswahl vertreten, Beinwaren vom Eisakthal, Meraner Edelobst und Bozener Wein, Vorarlberger Käse und Innsbrucker Wurstwaren, kurz, es war ein richtiger Jahrmarkt, wie er in den Dörfern der Berge sich abspielt. Fast die gesamte tirolische Kleinindustrie war auf dem Markte vertreten, sogar der Vogelhändler fehlte nicht mit seinen Käfigen, in denen Krummschnäbel und Zeisige, Meisen und Finken sich tummelten. Und damit ja nicht das Geringste am Kirchtag mangle, hatte sich in einer Ecke eine leibhaftige „Dörcher“-Familie samt ihrem Karren gelagert; so vorzüglich waren die Kostüme und Masken dieser jedem Touristen bekannten Tiroler Zigeuner gelungen, daß ein mitleidiger Anthropologe dem aus einer halb zerbrochenen Pfeife scheinbar eifrig rauchenden Kärrnerweibe einen Silberzwanziger schenken wollte zur Anschaffung eines neuen Pfeifenkopfes. Das Dörcherweib war aber eine Geschäftsinhaberin von Innsbruck und hatte vorher eine ziemliche Mühe darauf verwendet, den richtigen braunen Ton für Gesicht und Hände herauszubekommen.

Je näher der wunderschöne Sommertag dem Abend entgegenrückte, desto dichter füllte sich der Festplatz und die große Halle mit Menschen, Tausende von Festteilnehmern wogten beim Eintritt der Dunkelheit zu den Klängen verschiedener Musikkapellen fröhlich durcheinander, ein reizendes Bild, dem die verschiedenen Trachten des Landes nun so recht Leben und Farbe verliehen. Da waren rote und gelbe Röcke und braune Joppen, riesige grüne Hüte, violette Jacken und rote Westen, faltenreiche schwere „Kittel“ der Weiber, runde und spitzige zuckerhutartige Hauben, dazwischen wieder die koketten flachen Hüte vom Unterinnthal, die Spitzhütchen und buntseidenen Busentücher der Zillerthalerinnen und natürlich auch Schlagringe, Reggel- oder Passeirerpfeifchen und alte schön ausgenähte Ledergürtel in Menge. Es waren da mehrere alte Trachten zu sehen, von denen jetzt vielleicht nur noch je ein Exemplar im Lande vorhanden ist und die selbst dem beim Fest anwesenden Altmeister Defregger, als ihn der Schreiber dieser Zeilen darauf aufmerksam machte, zum Teil unbekannt waren.

Am Maibaum.

Aufsehen erregte eine Vorarlberger Wälderin in der fast vollkommen weißen Tracht und mit der weißen halbspitzen Haube aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs. Damals ist es ja den tapferen Wälderinnen gelungen, die Schweden aus ihrer Gegend zu verjagen, weil die fremden Eindringlinge die weißen Jacken der ihnen wohlbewaffnet entgegenziehenden Bauernweiber für österreichische Soldatenröcke hielten. Ein Ehepaar aus Kastelruth (am Fuße des Schlern) war in einem Kostüm auf dem Fest erschienen, das gleichfalls dem siebzehnten Jahrhundert zuzuweisen ist. Noch weiter zurück reichte vielleicht die weiße Lederjoppe eines Bauern aus Waidring und dann ganz besonders die an sich unscheinbare Tracht eines Bäuerleins aus dem Lüsenthale bei Brixen. Der ganze Schnitt seiner grünen Jacke, die weiße Halskrause, die Pumphose und die groben Bundschuhe, alles das ließ im Geiste die tirolische Bauernschaft wieder erstehen, wie sie vor Jahrhunderten mit Sense und Streitkolben verzweifelte Freiheitsschlachten schlug. Dazwischen hinein mischten sich dann wieder wahre Speckbacherfiguren mit grauem Lodenrock und schwarzem Spitzhut, auf welchem der Spielhahnstoß trotzige Rauflust bekuubet, zwei bildhübsche Ampezzanerinnen in Sommer- und Wintertracht mit schwarzen Cylinderhüten wurden viel bewundert, ebenso ein Mädchen aus Val Tesino, Frauen aus Alt-Innsbruck, aus Sterzing, aus dem Lechthal. Ganz besondere Anerkennung fanden die strammen Bozener, durchweg junge blühende Männer, welche in der kleidsamen Tracht der uralten Rittener Freibauerngemeinde auftraten.

Als die Anthropologen, von ihrem Ausfluge nach Schloß Ambras zurückkehrend, in der Festhalle erschienen, zeigte auch bald der Meraner Fahnenschwinger seine Künste und die Schuhplattl-Tänzerpaare erfreuten die Kopf an Kopf gedrängt stehenden Zuschauer durch die teils wildverwegenen, teils anmutig graziösen Drehungen und Wendungen und durch die kühnen Turnerstücke, welche die Männer unermüdlich in den Rundtanz einzuflechten verstanden.

Gewandte Burschen erkletterten den Maibaum, schöne Frauen und Mädchen boten Blumen und Glückstopflose zum Kaufe an, Sänger, Jodler, Zitherspieler aus dem tirolischen Unterland, die Stadtkapelle und verschiedene Dorfmusikgesellschaften ließeu in Gesang und Spiel keine Pause eintreten, bis endlich der Brautzug zur Bauernhochzeit zusammengestellt wurde.

Der Hochzeitlader mit blumenumwundenem Stabe, die Ehrenjünglinge oder „Huibuaben“ mit dem Johannissegen-Wein und die lustige Bauermusik bildeten die Spitze des Zuges, der sich mühsam zwischen der wogeden drängenden Menge hindurchwand. Das Brautpaar aus dem Grödnerthal trug reichen Schmuck, auch der schwersilberne Brautgürtel mit all seinen Anhängseln war in üblicher Weise zur Stelle. Nach den Kranzeljungfern folgten die Träger und Trägerinnen der Volkstrachten aus den verschiedenen Thälern und Berggebieten als Gäste des Hochzeitspaares, und da war nun dem Forscher reiche Gelegenheit geboten, an den Kostümen interessante Studien über den Volkscharakter zu machen. Ernft, beinahe düster wie ihre der bunten Farben entbehrende Tracht zeigten sich Oberländer, Alpacher, Buchensteiner, Passeirer und die Leute von Windisch-Matrei, aufgeräumt und zum Hüpfen und Jauchzen geneigt dagegen die immerfort lustigen Unterländer, die Wippthaler, Ampezzaner etc.

Den Abschluß des Ganzen bildete in klappernden Holzschuhen und einem Hemd aus sackgrobem Rupfen der Dorfgeißhirt, der seinem Bockshorn steinerweichende Töne entlockte. Nach dem Umzuge hielt der Hochzeitlader vor dem Dorfwirtshause seine halb ernste, halb launige Ansprache, worauf die Brautmutter der jugendschönen Braut den Kranz abnahm und ihr die Weiberhaube auf das Haar drückte, eine rührende Scene, deren Eindruck aber bald wieder im allgemeinen Hochzeitstanz, in Jauchzen und Jodeln und Fahnenschwingen untergiug.

Unterdessen waltete das Preisgericht über die Volkstrachten seines Amtes – eine schwere Aufgabe, da mit wenigen Ausnahmen alle vertretenen Nationaltrachten, beziehungsweise deren Träger und Trägerinnen, Preise verdient hätten. Weil dies aber nicht anging, so mußte man sich auf die älteren und selteneren Kostüme beschränken, wobei auch auf diejenigen Thäler und Orte besonbers Rücksicht genommen wurde, von denen eine weitere kräftige Beihilfe zur Erhaltung und Wiedereinführung der alten Volkstracht mit Grund zu erhoffen ist.

Daß das Innsbrucker Fest in dieser Richtung einen kräftigen Nachhall finden möge, das ist der Wunsch, von dem seine Veranstalter, die Stadtverwaltung Innsbrucks im Verein mit dem „Komitee zur Erhaltung der Volkstrachten in Tirol“, sich leiten ließen. Man giebt sich der Hoffnung hin, daß unter dem Eindruck des Geschauten sich – ähnlich wie schon in Passeier, in Bozen, Gossensaß,

[647]

Meraner Fahnenschwinger.

Meran, Jnzing, im Wippthal – da und dort Musikkapellen, Schützenkompagnien u. s. w. für ihre Uniformierung die altheimische Volkstracht beschaffen werden. Ihnen aber wird gewiß in steigendem Maße auch die übrige Bevölkerung Nachfolge leisten, so daß allmählich das Alte, scheinbar dem langsamen Absterben Geweihte ins wirkliche Leben zurückkehren wird. Gelingt dies mehr und mehr im ganzen Lande – und zur Unterstützung solcher Bestrebungen war auch das Erträgnis des Innsbrucker Festes bestimmt – dann hat das „Komitee zur Erhaltung der Volkstrachten in Tirol“ die ihm obliegende Aufgabe in ihrem größeren Teile glücklich erfüllt. Wohl ist und bleibt es die Aufgabe der Neuzeit, ihre geistigen Errungenschaften auch in die weltentlegenen Winkel und Thäler, bis in die letzte Hütte zu tragen. Aber Fortschritt in Wissen und Bildung verträgt sich sehr wohl mit treuer Anhänglichkeit an das Schöne, das uns die Väter überliefert haben.


Blätter und Blüthen.

Der neue Gartenlaube-Kalender. Lange ehe die Schwalben südwärts ziehen und dem sinkenden Jahr den Abschiedsgruß zwitschern, pflegt ein anderer Zugvogel sich einzustellen, um ein ganzes Jahr uns treu zu bleiben – der Gartenlaube-Kalender! Auch jetzt ist der neue schon wieder da, der 1895er, in hübschem Gewand und wohl ausgestattet mit allerlei Nützlichem und Erfreulichem. Daß er alles bringt, was man von einem Kalender erwarten kann, Kalendarium und astronomische Notizen, Zeittabelle und Regentengenealogie, Bauernregeln und geschichtliche Gedenktage, Meß- und Marktdaten und statistische Mitteilungen aller Art, Post- und Telegraphentarife etc., das ist nur in der Ordnung. Aber der Gartenlaube-Kalender begnügt sich damit nicht: er will nicht bloß ein nüchternes Nachschlagebuch, er will auch ein unterhaltsamer Hausfreund werden, den man sich in den freien Stunden des Jahres mit Freude und Behagen zur Gesellschaft holt. Und so bilden denn allerhand ansprechende Erzählungen, Gedichte und Bilder den Hauptteil seines Inhalts, wozu eine Anzahl Artikel allgemein belehrender Art und eine ganze Reihe von Scherzen und Anekdoten kommen. Von den Erzählungen heben wir besonders diejenige unserer treuen Mitarbeiterin W. Heimburg hervor. Seit Jahren erscheint von ihr im Gartenlaube-Kalender die Novellenserie „Aus meinen vier Pfählen“, prächtige Familienbilder, die untereinander in einem bestimmten Zusammenhang stehen und doch wieder je für sich ein abgeschlossenes Ganzes bilden. Dieser Serie hat W. Heimburg heuer das siebente Stück, „Der silberne Hirschfänger“, hinzugefugt. Ernst Lenbach, durch seine herzerquickende Laune den Lesern der „Gartenlaube“ wohl vertraut, hat eine seiner gemütlichen Humoresken beigesteuert unter dem Titel „Der erste Patient“, während der unsern Lesern ebenfalls bestens bekannte Johannes Wilda in „Kapitänlieutenant Bacchus“ eine ernsthafte Geschichte aus dem Volksleben erzählt, deren Held, ein verabschiedeter Kapitänlieutenant, sich durch die Liebe zu einem schlichten Mädchen aus tiefem Verfall emporringt zu einem geläuterten Dasein. – So möge denn der neue Gartenlaube-Kalender seine gute Statt finden beim deutschen Volke und seine Freunde durch ein gesegnetes Jahr begleiten!

Eduard Unger ist gestorben – ein Künstler von liebenswürdigster Eigenart, ein guter heiterer Mensch, der „Gartenlaube“ ein fleißiger hochgeschätzter Mitarbeiter. Anfangs Juli hatte er sich von München nach Oberaudorf bei Rosenheim begeben, in der Hoffnung, dort Kräftigung seiner durch ein Herzleiden schwer angegriffenen Gesundheit zu finden; allein am 4. August erlag er einem wiederholten Schlaganfalle. Die Hand, die mit dem Pinsel und Zeichenstifte so köstliche Märchengestalten und Phantasiegebilde hervorzuzaubern wußte, so sinnig in der allegorischen Anspielung, so herzerfreuend durch drolligen Humor, so fein in der Ausführung, sie ist allzufrüh im Tode erstarrt.

Eduard Unger hat nur ein Alter von 41½ Jahren erreicht. Geboren am 4. Februar 1853 zu Hofheim in Bayern, kam er 1873 an die Münchener Kunstakademie und ließ sich auch, nach einer mehrjährigen italienischen Studienreise, dauernd in München nieder. Er stand jetzt so recht in der Vollkraft seines Schaffens und wie unerschöpflich flossen ihm die Ideen zu, welch’ reiche Hoffnungen hat hier der Tod zerstört!

Den Lesern der „Gartenlaube“ wird seine frische naive Künstlernatur noch lange in Erinnerung bleiben.

Eine Volksdichterin. Die deutsche Naturdichterin Katharina Koch, von der ich den Lesern der „Gartenlaube“ in Nr. 39 des Jahrgangs 1872 und dann wieder in Nr. 28 des Jahrgangs 1892 berichtet habe, ist nun schon zwei Jahre tot. Derartige Erscheinungen, solch poetische Sonntagskinder sind selten. Als die nun Verewigte ihr Auge für immer geschlossen, dachte ich nicht daran, daß unter den deutschen Frauen im Volke noch eine sei, die unter ähnlichen drückenden Verhältnissen ihre Stimme – freilich fast ungehört – im Dichterwald erhebe. Und doch giebt es eine solche, und ihr Gesang soll nicht verhallen, denn sie verdient, ans Licht gezogen zu werden.

Frau Johanna Ambrosius-Voigt – das ist der Name der Dichterin – lebt als Bauernfrau in Groß-Wersmeningken bei Lasdehnen in Ostpreußen. Die Tochter eines armen Handwerkers, besuchte sie bis zu ihrem elften Lebensjahre die kleine Dorfschule ihres Heimatortes und blieb dann bis zu ihrer Verheiratung bei angestrengtester härtester Arbeit im Hause der Eltern, in dem Armut und Krankheit herrschten. Ihre weitere geistige Ausbildung verdankt sie, wie sie schreibt, dem Lesen der „Gartenlaube“. Es ist rührend, aus ihren Briefen zu vernehmen, wie sie und ihre Geschwister sich den Genuß dieser Lektüre nur dadurch zu verschaffen vermochten, daß sie den Morgenkaffee ohne Zucker tranken. „Wir haben entbehrt,“ heißt es in einem dieser Briefe, „freudigen Herzens, um nur dem Geiste Nahrung zu geben. Wenn wir die Finger blutig gesponnen und die gewisse Anzahl Stücke am Nagel war, dann langten wir nach unserer geliebten ‚Gartenlaube‘.“

Mit zwanzig Jahren verheiratete sich Johanna Ambrosius an einen Bauernsohn, nachdem sie auf einigen Gütern als Wirtschafterin thätig gewesen war. Neue Kämpfe, neue Sorgen! Aber in dem vielen Leid, das ihr zu teil wurde, trat die Muse als Trösterin ihr zur Seite, ihr ward gegeben, zu sagen, was sie litt. Das ist alles, was über ihr äußeres Leben zu berichten ist. Ein doppelter Zweck ist es, der mich zu diesen Mitteilungen veranlaßt hat. Einmal möchte ich erreichen, daß der schönen poetischen Begabung dieser Volksdichterin die gebührende Würdigung zu teil werde, dann aber hege ich die Absicht, der leidenden und in sehr ärmlichen Verhältnissen lebenden Frau durch die Herausgabe ihrer Gedichte helfend beizustehen, wie ich es seinerzeit mit so glücklichem Erfolge bei Katharina Koch gethan habe. Und das wird mir leichter gelingen, wenn ich das Interesse des großen Leserkreises der „Gartenlaube“ wachgerufen habe, ein Interesse, das, wie ich zuversichtlich hoffe, nicht ausbleiben wird, wenn die Leser nur erst mit der nachfolgenden Probe aus dem poetischen Schatze der Dichterin bekannt geworden sind. Karl Schrattenthal.     


 Laßt sie schlafen!
Hart am schatt’gen Waldessaume, wo die goldnen Aehren rauschen,
Wo die bunten Sommerkinder Küsse mit dem Zephyr tauschen,
Wo des Rehes keusche Augen schauen durch das Blattgehege,
Schläft, von Mittagsglut umflossen, sanft ein Mägdlein auf dem Wege.

Mit der Sonne um die Wette flimmern goldig ihre Löckchen,
Leicht bedeckt die bloßen Schultern von dem arg zerriss’nen Röckchen,
Zärtlich um die braunen Füßchen sich die schlanken Halme schmiegen,
Drauf gleich bunten Edelsteinen Schmetterlinge sanft sich wiegen.

Rings umher nur Bienensummen, holder Elfen Zwiegeflüster,
Weltverloren dringt der Tauben traulich Girren aus dem Düster,
Sich die langen Seidenhaare aus der Stirn die Aehre fächelt,
Alles atmet Glück und Friedens hold im Traum das Mägdlein lächelt.

Was es träumt, es gleicht dem Bilde, das Natur ringsum gewoben:
Noch von keinem Feind bedrohet, noch von keinem Sturm zerstoben –
Sieht sich glücklich gleich den Blumen, die um keine Nahrung sorgen,
Schwebt auf leichten Vogelflügeln jubelnd in den jungen Morgen,

Sieht in jedem Menschenkinde holder Engel Spielgenossen,
Vom Palaste bis zur Hütte einem Stamme all entsprossen. –
Kinderzeit, mit deinen Träumen führst, in Lumpen oder Seide,
All die süßen kleinen Lämmlein auf derselben Märchenweide!

Lange stand ich vor dem Mädchen, in Gedanken tief versunken,
Hab’ an diesem Unschuldsbilde, meine Seele satt getrunken,
Wehrte ab den wilden Knaben, der mit seinem Wanderstecken
Wollt’, zum Zeitvertreib und Scherze, aus dem Schlaf die Kleine schrecken.

Singend zog er in die Ferne, als ich leise schlich von dannen,
Und es ging ein ernstes Rauschen durch die immergrünen Tannen:
Gönnt der Jugend ihren Schlummer, laßt die Kindlein ruhig träumen,
Glaubt, es wird das kalte Leben niemals seine Pflicht versäumen!

[648] Ein afrikanisches Häuptlingsgrab. An den unteren Lauf des Kongo führt uns unser Bild, zu den Bakongo, stillen friedlichen Menschen, denen ihre Heimat nur ein karges Leben bietet. Auch ihre Häuptlinge sind arme Leute. Selten herrscht einer von ihnen über mehrere Dörfer; in der Regel hat jedes Dorf seinen eigenen Anführer, der mit dem Rate der Aeltesten die Geschicke der Gemeinde leitet. Und auch die Gemeinden sind nicht groß; Dörfer mit fünfhundert Einwohnern sind schon ganz vereinzelte Erscheinungen.

Wir mußten diese Thatsachen vorausschicken, bevor wir unsere Leser an das Grab eines solchen Herrschers führen. Auf der Kitanda, dem Marktplatz eines der Dörfer, erhebt sich ein kleiner Erdhügel; rings um ihn her stehen Stangen mit Ginflaschen und Töpfen, auf ihm liegen Flaschen, Töpfe und Teller – das ist der Grabschmuck, mit dem man die letzten Ruhestätten vornehmer Westafrikaner ausstattet. Uns erscheint er gering, ja lächerlich, den Bakongo aber groß.

Schon zu Lebzeiten sammelt ein Reicher frühzeitig Material zu diesem Grabdenkmal und stapelt Tücher zum Grabgewande auf. Hat nun seine letzte Stunde geschlagen, und kann in friedlichen Zeiten das Begräbnis mit vollem Pomp ausgeführt werden, so sitzen zunächst die Frauen des Toten an der Leiche und stimmen ihre Klagelieder an; dann erscheint der Zauberdoktor mit Zaubermitteln, mit Schlangenköpfen, Fischgräten, Katzenfellen und Rasseln, führt wilde Tänze auf und verkündet, ob der Mann natürlichen Todes auf Wunsch des höchsten Wesens oder infolge Behexung durch einen Mitmenschen gestorben sei. Es zittern die Ueberlebenden, denn auf den Lippen des Medizinmannes schwebt ihr Heil oder Verderben; gefällt es diesem, sie der Zauberei zu beschuldigen, so müssen sie sich der Giftprobe unterwerfen – und oft sind sie tot, bevor man ihren Häuptling begraben hat.

Ein afrikanisches Häuptlingsgrab.
Nach einem Aquarell von Pechuel-Loesche.

Ist auch diese düstere Beurkundung der Todesursache vorüber, dann wird der Leichnam des Herrschers in eine flache Gruft gelegt, über der nun tage- und wochenlang ein Feuer unterhalten wird, bis die Leiche zur Mumie ausgedörrt ist. Dann wird sie wieder herausgenommen und in die Tuchvorräte des Verstorbenen eingewickelt. Je größer der Ballen, desto vornehmer die Leiche! Nun ist alles zum letzten Gang bereit. Der Zug ordnet sich und setzt sich nach der zwei Meter tiefen Gruft in Bewegung, die man auf dem Marktplatze oder nahe am Wege ausgeworfen hat. Aber nicht langsam wird hier der hohe Tote zur Ruhe getragen. Andere Völker andere Sitten! Hier laufen die Träger mit der schweren Last und ein wilder Haufen umgiebt sie, Rasseln schwingend und Flinten abfeuernd, um die bösen Geister zu verscheuchen. Zuletzt wird ein Erdhügel aufgeworfen und mit dem Grabschmuck verziert, den wir auf unserem Bilde sehen.

Diese Grabstätten sind nicht von langer Dauer; der Afrikaner wechselt öfter seinen Wohnsitz, verläßt sein Dorf und baut sich in der Nähe wieder an. Die alten Wohnhäuser zerfallen bald unter den Zangen der Termiten. Dann wächst Unkraut auf den ehemaligen Straßen und Höfen, Bäumchen sprießen empor, Schlingpflanzen überwuchern die Stätte und ein grüner undurchdringlicher Hain verdeckt alles – die Trümmer der Häuser und die Gräber der Mächtigen. *     

Das Ende des Streites. (Zu dem Bilde S. 633.) Es waren unruhige Zeiten damals in dem Frankreich Ludwigs XIII. und des Kardinals Richelieu, und viel fahrende Glücksritter aller Art trieben im Lande ihr Wesen. Unser Bild führt uns in eine Schenke, in der ein Paar solcher verwilderter Kumpane miteinander in Streit geraten sind. Natürlich flogen alsbald die Degen aus der Scheide und das Ende vom Liede war, wenn nicht der Tod, so doch eine schwere Verwundung des einen, um den sich bereits ein heilkundiger Mann bemüht, während die Genossen den wütenden Gegner zurückhalten.


Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (2. Fortsetzung). S. 629. – Des Streites Ende. Bild. S. 633. – Ein Reisespiegel. Von Heinrich Noé. S. 634. – Der Walzerkönig. Zum fünfzigjährigen Dirigentenjubiläum von Johannes Strauß. Von Gerhard Ramberg. Mit Abbildungen. S. 636. – Mäuschen. Humoreske von Ernst Lenbach. S. 637. Mit Abbildungen S. 637, 638, 639, 640, 642, 643, 644 und 645. – Ein „Kirchtag in Tirol“. Bilder vom Innsbrucker Volkstrachtenfest. Von J. C. Platter. S. 645. Mit Abbildungen S. 629, 641, 646 und 647. – Blätter und Blüten: Der neue Gartenlaube-Kalender. S. 647. – Eduard Unger. S. 647. – Eine Volksdichterin. Von Karl Schrattenthal. S. 647. – Ein afrikanisches Häuptlingsgrab. Mit Abbildung. S. 648. – Das Ende des Streites. S. 648. (Zu dem Bilde S. 633.)


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.     


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.