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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[613]

Nr. 37.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (1. Fortsetzung.)

Adele Komtesse Degenberg war das Haupt unseres kleinen Umgangskreises, der sich höchst exklusiv hielt. Nur Adel und zwar armen und ärmsten Adel vereinigte er; ein paar pensionierte Offiziere, darunter den Major von Tollen, der dann so schnell am Hochzeitstage seiner Tochter, der schönen Lore, starb; den Postdirektor von Blessow, einen ehemalige Hauptmann; einen Rittergutsbesitzer von Burwitz, der gänzlich abgewirtschaftet hatte und eine Hagelversicherungsgesellschaft vertrat, und einen adligen Pastor, der als Reiteroffizier umgesattelt hatte. Als einziges bürgerliches Element duldete man die übrigen drei Pastoren Westenbergs und den Sanitätsrat, der die Ehre genoß, unser aller Hausarzt zu sein, und gelegentlich auch Herrn Wollmeyer, wohlverstanden, erst seitdem er Witwer geworden.

Das waren die Erlesensten von Westenberg, und man muß sagen, sie hielten zusammen wie Kitt. Sie machten es sich gemütlich untereinander, sie halfen einander, soviel sie konnten, und wenn es einmal einen Zusammenstoß gab, so – noblesse oblige – wurde die Sache in höchster Diskretion in der Stille ausgeglichen; selten kam etwas in die Klatschmäuler der „zweiten“ Gesellschaft.

Komtesse Degenberg bildete, wie gesagt, die Spitze der „ersten“ Gesellschaft. Sie war verwandt mit einigen der vornehmsten erbangesessenen Adelsfamilien der Landschaft, war klug und wohlthätig, ein Schimmer von Wohlhabenheit umgab sie. Sie lebte – man denke – von ihren Renten und besaß ein kleines Haus in Westenberg, ausstaffiert mit dem Hausrat ihrer Eltern. Sie zehrte von der glanzvollen Erinnerung ihrer Jugendzeit, wo sie, die Tochter eines herzogliche Ministers, der Schimmer des Hoflebens

Die neue Kunstakademie in Dresden und das Portal des neuen Kunstausstellungsgebäudes.
Nach Photographien von Stengel und Markert in Dresden.

[614] umgab. Die alte Dame war eine unbestechliche Richteriu in Sachen der Ehrenhaftigkeit und des guten Tones, leutselig gegen Untergeordnete, stolz gegen die „zweite“ Gesellschaft und immer bereit, Freunden ihren Rat zu erteilen, die Vertraute der jungen und alten Frauen in Ehestandsgeschichten. Einem derben Witz nicht abhold in gesetztem Kreise, besonders nicht beim Whist, war sie von naserümpfender Empfindlichkeit bei dem kleinsten Verstoß, den eine jugendliche Person gegen die Etikette machte. Nebenbei konnte sie als lebendes Adelslexikon gelteu und als Chronik sämtlicher interessanter Familiengeschichten. Eine alte Bekannte der Eltern meiner Mutter, duzte sie diese und sprach von mir immer herablassend als dem „Kücken“. Sie hielt gleich mir das Andenken meines Vaters als das eines vollendeten Kavaliers hoch in Ehren und deshalb liebte ich sie ehrfürchtig. Meine Mutter aber war ihr anerkanntes Schoßkind, ihr ganzer Verzug.

„Vornehm ist sie, die Helene, bis in die Fingerspitzen,“ sagte sie einmal zu mir, „Du hast nicht viel von ihr, Anneliese, leider! Sahst Du je ein so edles Profil, eine so aristokratische Hand? Und schon der Gang – diese Ruhe in ihren Bewegungen, in ihren Aeußerungen! Das ist ihr angeboren, das ist Rasse, mein Kücken. Sie hätte eine süperbe Hofdame abgegeben. Und wie sie alles trägt! Wenn ich nicht wüßte, daß es ihr knapp geht, ich hielte sie für eine Millionärin. Comme il faut, sehr comme il faut ist Deine Mutter, Anneliese.“

Zu ihr war Mama gegangen. Sie blieb sehr lange aus. Meine Lehrerin hatte sich längst entfernt, ich aber stand wie auf Kohlen und wartete, denn erstlich hatte die Base nach ihr gefragt und zweitens war der Geldbriefträger mit einem Schreiben dagewesen und dieses Schreiben hatte fünf große Siegel gehabt und durfte nur an Mama persönlich abgegeben werden – jedenfalls etwas noch nicht Erlebtes seit Papas Tode.

Ich hielt es endlich nicht mehr aus, nahm Jacke und Mantel und suchte Mama bei der Komtesse auf. Die alte Dienerin öffnete mir und flüsterte – bei der Komtesse gehörte das Leisesprechen zu den Erfordernissen des guten Tones, nur sich selbst gestattete sie eine Ausnahme; sie hatte ein Organ wie ein Wachtmeister und machte den ergiebigsten Gebrauch davon – Frau von Sternberg sei noch anwesend, ich möchte doch im Gartensaal warten, derweil sie mich melden gehe. Ich stand gleich darauf dem Spiegel gegenüber in dem recht kühlen Zimmer, das einen Saal zu nennen nur eine sehr kühne Phantasie sich erlauben konnte, und studierte meine Persönlichkeit, einen Spiegel, in dem man sich ganz sehen konnte, gab’s zu Hause nicht.

Komtesse hatte recht, so schön wie Mama sah ich nicht aus – ach, du lieber Himmel, es fehlte dazu sehr viel! Das kastanienbraune seidige Haar, das in üppiger Fülle Mamas zartes längliches Gesicht umrahmte, vertraten bei mir kurze krause dunkle Locken, der Teint war etwas gelb, das Gesicht nicht länglich, sondern rund. Dunkle gerade Brauen zogen sich über einem Paar Augen, die etwas allzu weit aufgeschnitten waren – wie die Komtesse meinte, beinahe so groß wie die der Mutter. Ein zu kurzes Näschen und leidliche Zähne vervollständigten das Gesicht; dazu mager wie ein junges Kätzchen und klein, sehr klein, während Mama gewachsen war wie eine Juno.

Mit einem Achselzucken wandte ich mich ab und der Nebenthür zu, die von einem geblümten Kattunvorhang verhüllt wurde; von dort scholl plötzlich die Stimme der Komtesse herüber.

„Also, meine liebe Lene, wenn ich das Quartier für achtzig Thaler bekomme, so mache ich die Sache fest.“

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, liebste Komtesse.“

„Es ist zu dumm, Lene, daß es wieder nichts wurde mit der Stiftsstelle für die Anneliese, es giebt halt zu viele arme adlige Mädel, zu viele, man könnte rein auf den Jahrmarkt damit ziehen. Na, verzage nicht, Len’, ’s ist manchmal wunderlich im Leben, irgend etwas findet sich, und Hungers stirbt heutzutage niemand. Es wird sich schon, wenn alle Stricke reißen, ein gutes Haus aufthun, in dem man eine Erzieherin als Dame respektiert, möglicherweise findet sich auch eine Partie für sie. Halt ihr nur den Daumen aufs Auge, daß sie dereinst nicht anfängt wie die Lore Tollen, die sich da von dem Raubautz, dem Becker, anhimmeln läßt! Ich werd’ der alten Tollen aber ’mal gründlich den Star stechen,“ setzte sie grimmig hinzu. „Du weißt, Len’, ich bin nicht hochwütig, und nimmt sich das Mädel den Doktor Schönberg – in Gottes Namen, wenn’s einmal durchaus geheiratet sein muß! Aber diesen – diesen –“

„Anneliese ist ja noch ein Kind, Komtesse,“ unterbrach meine Mutter die Eifernde, „und sie muß noch lernen, viel lernen, um dereinst auf eigenen Füßen stehen zu können. Armes Ding!“ schloß sie mit einem Seufzer.

„Lene, die alte Geschichte mit Deiner Selbstanklage, daß Dir der Bruder lieber war als das eigene Kind! Das laß unterwegs und fang’ nicht an zu flennen; die paar Thaler hätten sie wahrlich auch nicht auf eigene Füße gestellt. Du hast Dir das Leben damit verbittert und Deinem Manne dazu; mach’ nicht so weiter, es ist unrecht!“

„Komtesse, ich weiß nicht, was ich vor Freude thäte, könnte ich das kleine Kapital wieder ersetzen, das ich ihr für meinen Bruder stahl – jawohl, gestohlen hab’ ich es. Oder ist es kein Stehlen,“ fuhr sie mit erhobener Stimme fort und machte damit den Einwand der alten Dame verstummen, „wenn ich in meiner Sorge um den Bruder das Kind in der Wiege vergesse und immer vor den Augen meines Mannes umhergehe in meiner Verzweiflung und meiner Angst um Herbert und was aus ihm werden solle? Und als er nun so traurig und still dasaß und überlegte, ob er mir helfen dürfe oder nicht, da habe ich – – aber das können Sie nicht verstehen, Komtesse,“ schaltete sie ein mit jener drolligen Ueberlegenheit, die verheiratete Frauen den unverheirateten gegenüber unwillkürlich an den Tag legen. „Ich will nur sagen, daß er mich unvernünftig lieb hatte, daß er mir keinen, selbst nicht den nur geahnten Wunsch abschlagen konnte, wenn ich wollte, und in diesem Falle wollte ich, daß er mich verstand, daß er das erste Wort spreche, wollte, daß er ebenfalls die Zukunft seines Kindes vergesse. Und ich erreichte es – leise, als ob ihm die Sprache schwer werde, sagte er: ‚Nimm doch das kleine Kapital, Helene, nimm, aber werd’ ruhiger! Und weine nicht mehr, ich kann’s nicht sehen.‘ Und ich pflichtvergessenes Menschenkind, ich schlang den Arm um seinen Hals und nahm das Opfer an! Als das Geld abgesanbt war, ich hatte es selbst zur Post getragen, da kam ich mit leichtem Herzen nach Hause und wollte zu ihm, ihm danken. Ich fand ihn nicht in seiner Stube, und als ich ihn suchte, da saß er an der Wiege und hatte das Kind herausgenommen und herzte und küßte es. ,Du armer Wurm!‘ sagte er, mit einem Tone, Komteß – ach da begriff ich erst, was ich gethan und – –“

„Lene,“ unterbrach ae die Komtesse, „die Geschichte kenn’ ich auswendig, sie wird zur fixen Idee bei Dir! Laß das Grübeln darüber! Ihr habt beide nicht recht und doch recht gethan! Du lieber Himmel, macht denn das bissel blöder Mammon allen Segen aus? Nebenbei ändert Dein Heulen nicht das Geringste mehr an Eurer Thorheit – das Kind muß eben ohne die dreitausend Thaler durchs Leben. Und jetzt hörst Du auf zu weinen, Len’! Was ist los?“ unterbrach sie sich, zu jemand anders sprechend. „Wie? Anneliese ist da, Len’ – und das sagt das alte Kamel mir erat jetzt! Nicht finden konnten Sie mich? Herr des Himmels, ich bin doch keine Stecknadel! Wo ist sie denn? Na, das fehlte noch, Len’, daß das Kücken Deine Bußlitanei mit angehört hätte!“

„Anneliese! Anneliese!“ scholl ihr Ruf hinter mir her, die ich schleunigst in den Garten geflüchtet war und mich dort bemühte, mit möglichst unbefangener Miene die großen roten Weinranken der Laube zu betrachten. Um die Welt hätte ich Mama nicht sehen lassen mögen, daß ich nun wußte, weshalb sie sich so grämte, und nur um – lächerlich – um dreitausend Thaler! Mama hatte doch ihre Witwenpension!

„Da steht ja das Gör’, Len’. – Also ich geh’ zu Schulzen und miete die Wohnung, er wird sie schon lassen für achtzig Thaler.“

Ich kam artig herbei und küßte der Komtesse die Hand.

„Siehst blaß aus, Du Taternkind! He, Lene, wo hast Du dieses Kücken eigentlich den Zigeunern abgejagt? Weiß Gott, sie ist wie geradeswegs aus Spanien verschrieben – und Dein Mann war so ein urdeutscher Blonder.“

Meine Mutter zog mich lächelnd an sich und strich mir zärtlich über das Gesicht. „Wie lieb von Dir, Anneliese, daß Du mich abholst,“ sagte sie weich.

Auf dem Heimwege berichtete ich Mama von dem Briefe. Sie sah mich nicht an, sie nickte nur leise und beschleunigte ihren Schritt. Zu Hause angelangt, fanden wir den Briefträger, der eben die Treppe wieder herabkam, nachdem er vergeblich an unserer Thür geklingelt hatte. Mama öffnete das Schreiben und las es im Stehen, ohne Hut und Mantel abgelegt zu haben. Natürlich hing ich mit brennender Neugier an ihrem Gesicht.

„Mama, hast Du schlechte Nachrichten?“ fragte ich ängstlich, [615] denn sie war plötzlich von einer fahlen Blässe und die Augen schienen wie eingesunken. Sie schüttelte den Kopf, ließ das Blatt sinken, besah ein paar Kassenscheine – von welchem Wert konnte ich nicht erkennen – las wieder den Brief und ging dann rasch der Thür zu, die in ihr Zimmer führte.

„Mama!“ rief ich verzweiflungsvoll, denn ich war gewöhnt, daß sie mir alles rückhaltlos mitteilte.

Sie wandte sich und sagte: „Von Onkel Herbert ein Brief.“

„Von Onkel Herbert? Gute Nachrichten? Er schrieb ja ewig nicht, Mama!“

„Gute Nachrichten, Anneliese, es geht ihm nach Wunsch, er hat sich verheiratet, und –“

„Und das schreibt er erst jetzt?“

Aber sie antwortete nicht, sie ging. Erst viel später habe ich jenen Brief gelesen, der mir damals ein Geheimnis blieb. Ich besitze ihn noch, er lautet:

  „Liebe Schwester!

Es thut mir wahrhaft leid, daß Du Dich in einer so bedrängten Lage befindest, und schwer, sehr schwer wird es mir, Dir die Hilfe, die Du von mir heischst, nicht in vollem Umfange gewähren zu können. Ich habe zwar augenblicklich eine Stellung gefunden mit leidlichem Einkommen, aber – auf wie lange? Man muß doch auch an die Zukunft denken, denn, liebe Helene, ich – ich hätte es Dir längst mitteilen sollen – ich habe mich verheiratet vor drei Jahren, und schon sind zwei Kinder unser. Meine Frau, sie ist die Tochter des hiesigen Oberinspektors, ist sehr praktisch und führt genau Buch über unsere Einnahmen. Sie hat den Plan, unsere Buben sollen dereinst auf eigenem Grund und Boden sitzen, und legt jeden Pfennig für die Kerlchen zurück. Ich hoffe, ich kann Dir öfter unter der Hand eine Kleinigkeit schicken wie heute, und später auch wohl eine größere Summe, ich habe es nicht vergessen, daß ich Dir viel schulde. Wer helfen könnte! Du hast ja aber nur ein Kind und dazu eine Witwenpension, vor wirklicher Not bist Du also geschützt. Leb’ wohl, liebe Helene, grüße Dein Kind und sei versichert, daß wenn ich in bessere Lage komme, ich an Dich

denken werde. Jetzt – man ist eben nicht Alleinherr seiner Handlungen – leb’ wohl!
Dein treuer Bruder Herbert.“ 

Unten war vermerkt: „Anbei zwei Fünfzigmarkscheine.“

Das schrieb der Mann, dem sie einst den Sparpfennig geopfert, der sie und ihr Kind vor äußerster Not schützen sollte!

Wie gesagt, damals kannte ich den Inhalt dieses Briefes nicht und ebenso wenig die wirkliche Notlage, in der sich Mama befand. Ich hatte sie nie klagen hören, ich dachte zwar, wir wären arm, aber doch vor dem Aeußersten geschützt, und glaubte, Onkel Herbert, von dem wir so lange nichts gehört hatten, sei in guter Stellung und Lage, besaß ich doch keine Ahnung, daß er noch als Assessor umgesattelt hatte und Oekonom geworden war, nicht gerade aus Lust und Liebe zur Landwirtschaft, sondern um sich vor seinen Gläubigern zu retten; er hatte in Berlin etwas zu viel Geld verausgabt und war dann nach Ungarn gegangen, und der Brief meiner Mutter mußte ihn dort gefunden haben.

Von alledem wußte ich nichts, ich wunderte mich nur, daß Mama so verstört gewesen war und so lange in ihrem Zimmer blieb. Wir nannten es den „Salon“; Mamas Schreibtisch stand darin, ihr Nähtischchen, eine Chaiselongue und ein paar nette Rokokomöbel, die noch von Mamas Großmutter herstammten. Das Zimmer hatte durch die ganze Anordnung, durch Blattpflanzen, die Mama zärtlich liebte, und durch einige nachgedunkelte alte Familienbilder ein behagliches, fast elegantes Aussehen, und wir wetteiferten beide, es noch durch allerhand kleine Spielereien zu verschönern. Dort empfing Mama ihre Besuche, dort hielt sie ihre Whistkränze und dort schloß sie sich ein, wenn sie weinen wollte.

Ich mußte noch lange pochen, ehe sie öffnete und ich den alten Freund unseres Hauses, den Sanitätsrat, anmelden konnte. Sie war sogleich bereit, ihn zu empfangen, und ich hörte nur noch, wie er sagte: „Ei, ei! Was ist’s denn wieder einmal, Frau von Sternberg? Sie weinen ja!“ Dann schloß sich die Thür hinter ihm, und ich stand allein am Fenster unserer Wohnstube und sah in dem sinkenden Oktoberabend auf den todeseinsamen Hof hinab, der recht herrschaftlich mit einem großen von eisernem Kettenwerk eingefriedigtem Rasenplatz geschmückt war. In der Mitte erhob sich ein schön gemeißelter Sandsteinbrunnen, dessen wasserspeiender Löwe das Wappenschild derer von Serrenburg noch immer in den Pranken hielt, sicher zur besonderen Freude des Herrn Wollmeyer, dessen drittes Wort war: „Feudal!“

Merkwürdigerweise war Wollmeyer bei allen Leuten im Städtchen beliebt, ich wenigstens fand es sehr merkwürdig, denn ich mochte ihn nicht leiden. Warum? Ich hätte es nicht zu erklären gewußt, hätte auch nichts Greifbares gegen ihn vorbringen können und hütete wich daher, mit meiner Meinung herauszurücken, denn in diesem Falle hätte ich sogar Tante Komtesse gegen mich gehabt. Der Herr Stadtrat legte ja alljährlich um Weihnachten herum eine große Summe in die Hände der alten Dame, ohne die ihre „Armekinderbescherung“ höchst mangelhaft hätte ausfallen müssen. Der Herr Stadtrat that überhaupt unendlich viel Gutes. Er hatte ein Asyl gebaut für alte erwerbsunfähige Frauen, das er zu Ehren seiner Gattin „Johannen-Heim“ nannte; er hatte der Stadt ein Siegesdenkmal geschenkt und ein kunstreiches schmiedeeisernes Gitter um die Luther-Eiche; auf einem Dutzend Ruhebänken in den städtischen Promenaden waren die stolzen Worte zu lesen: „Gestiftet von Herrn Stadtrat Wollmeyer, seinen Mitbürgern zur Erholung“, sein Name stand obenan bei allen Sammlungen. Er vertrat die konservative Partei der Stadt im Landtage; er fehlte Sonntags niemals in der Kirche, gab ausgesuchte Diners und lud Jagdfreunde zu seinen Feldjagden ein, deren großes Revier er den Bauern teuer genug abgepachtet hatte. Er schickte der Reihe nach in die Häuser der Honoratioren Hasen oder ein paar Rebhühner, je nachdem, beschenkte die Kinder seiner Bekannten zu Weihnachten mit den leckersten Süßigkeiten und zu Ostern mit bunten Eiern, kurz, Männer, Frauen und Kinder Westenbergs fanden keinen Tadel an ihm, dahingegen sehr viel zu loben. Schade nur, daß er Hannchens wegen doch von der eigentlichen Gesellschaft ausgeschlossen geblieben war, daß er nie einen Platz am Stammtisch der alten verabschiedeten Offiziere behaupten konnte, daß der Landrat bei seinen offiziellen Herrendiners zu Ehren des Präsidenten der Provinz stets vergaß, für Herrn Wollmeyer decken zu lassen, und daß das Knopfloch seines Fracks bis jetzt gänzlich ungeschmückt geblieben war. Ich wußte aus feinem Benehmen, daß er diese Mißerfolge seinem Hannchen zur Last gelegt und sie in solcher Stimmung abscheulich behandelt hatte. Kinder haben ein scharfes Auge für Ungerechtigkeiten. Das war’s wohl auch, weshalb ich den Herrn Stadtrat nicht leiden mochte; ich war empört über die absichtlich nachsichtige mitleidige Art, mit der er vor andern von seiner Frau sprach und auch von der Base, die übrigens nie in Gesellschaft erschien. Ich wußte ja, wer regierte, wußte, daß er eine Taktlosigkeit über die andere begangen haben würde ohne diese einfache Frau.

Eben sah ich ihn über den Hof kommen, neben ihm schritt die Base, sie kehrten wohl vom Kirchhof zurück, wohin sie einen Kranz zum Gedächtnis getragen hatten. Ja richtig, die Base hatte ja mit meiner Mutter sprechen wollen, wohl wegen der Wohnung! Ach, diese Wohnung! Es würde doch sehr schwer sein, sie zu verlassen und in so ein kleinbürgerliches Haus zu ziehen, fort aus diesen Räumen, die trotz aller Mängel der Tapeten und Oefen, trotz der Mäuse und der altersschwachen ungenügend schließenden Fenster so vornehm waren.

Wie lange der Sanitätsrat heute blieb und wie leise sie sprachen!

Da klopfte es – ein ganz ungewohntes lautes unverschämtes Klopfen, das ich noch nie gehört. Wer mochte es sein? Der Base Himmel ihr schüchternes tapp, tapp! war es nicht.

„Herein!“ sagte ich zögernd.

„Störe ich, gnädige Frau?“ fragte eine Männerstimme. „Ah, Sie sind da, Fräulein Anneliese? Würde ich die Frau Mama sprechen können, einen einzigen Augenblick nur?“

Der Stadtrat selbst! Wunderbar, daß er jetzt heraufkam! Er war nie wieder dagewesen, seit er, noch zu Papas Zeiten, bei seinen wiederholten freundschaftlichen Besuchen die „Herrschaft“ merkwürdigerweise niemals zu Hause getroffen, selbst wenn er sie kurz vorher hatte die Treppe hinaufgehen sehen.

„Mama?“ fragte ich verwundert. „Mama hat Besuch vom Herrn Doktor.“

„Erlauben Sie, daß ich etwas warte, Fräulein Anneliese, da ich nun doch einmal hier bin.“

Er könnte auch „Gnädiges Fräulein“ sagen, dachte ich ärgerlich, mir war eben nichts recht an dem guten Mann.

„Ihre Frau Mutter hat mich sehr betrübt,“ begann er wehleidig, seinen funkelneuen grauen Cylinder behutsam neben seinen

[616]

Im Hafen von Bergen.
Nach einer Skizze von Th. Jürgensen gezeichnet von F. Stoltenberg.

[617] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [618] Stuhl auf die Diele legend. „Sie schreibt mir da vom Ausziehen. Warum denn? Weshalb denn? Wieso denn? Ich würde außer mir sein, wollte Ihre verehrte Frau Mutter die Wohnung wechseln! Wissen Sie nicht, Fräulein Anneliese, was der Grund ist für diesen Entschluß? Ich kann wohl sagen, die Sache hat mich schmerzlich berührt, gerade jetzt – ich bin noch so weich, so ergriffen – –“

In diesem Augenblick trat meine Mutter ein, die Wangen leicht gerötet, die Augen noch feucht, in Thränen schimmernd, bildschön in ihrem einfachen schwarzen Wollkleide, wie sie es seit Papas Tod zu tragen pflegte. Sie stutzte, als sie den Herrn Stadtrat sah, der den Klemmer am schwarzseidenen Bande ebenso rasch abnahm, wie er ihn bei ihrem Eintritt aufgesetzt hatte.

„Aber, meine Gnädige,“ hub er weinerlich an, „aber meine liebe gnädige Frau, das ist doch unrecht, das ist doch eine traurige Idee, daß Sie mein Haus verlassen wollen. Ich bin gekommen –“ er hatte Mamas Hand erfaßt und zog sie unbehilflich an die Lippen, „bin gekommen, Sie zu bitte, mir erklären zu wollen was Ihnen mißfällt an der Wohnung. Bitte, bitte, sagen Sie mir’s, ich bin zu allem erbötig, ich – –“

„Die Wohnung ist mir zu groß,“ antwortete meine Mutter ruhig.

„Sie würden mir einen Gefallen thun, wollten Sie mir noch eins Ihrer Zimmer abtreten,“ antwortete er; „ich überlasse Ihrem Ermessen, gnädige Frau, welches ^Ilme am entbehrlichen ist.“

„Es thut mir leid, ich habe bereits – ich glaube wenigstens – eine andere Wohnung gemietet.“

„Schon gemietet? Wo denn, wenn ich fragen darf?“ erscholl in diesem Augenblick die Stimme des Arztes, dessen Gestalt auf der Schwelle des Zimmers erschien, „wo denn, meine Gnädige?“

„In der Zimmergasse, beim Oekonom Schulze,“ erwiderte ich statt ihrer, „Tante Komteß will sie mieten.“

„Da soll sie, mit Respekt zu sagen, doch gleich –“ er unterdrückte eine kräftige Redensart. „Wollen Sie dort eine Fisch- oder Entenzucht anlegen? Die Keller stehen einen halben Meter hoch voll Wasser und die Nässe tropft von den Wänden das ganze Jahr hindurch. Kennen Sie denn die Wohnung? Es wäre ja gerade so gut wie Selbstmord, wollten Sie –“

Meine Mutter sah erschreckt aus. „Die Komteß meinte doch –“ stammelte sie.

„Die Komteß hat keine Ahnung von hygieinischen Verhältnissen, das müßten Sie doch wissen, meine liebe gnädige Frau, die Komteß pfuscht an sich und leider auch an anderen mit den wunderbarsten Mitteln herum, und ihre Autorität ist der Böddenstädter Schäfer; es giebt eben nichts, was der Schäfer nicht kurieren könnte. Alle Achtung vor ihr in sämtlichen anderen Beziehungen, aber in dieser Hinsicht mache ich drei Kreuze vor ihr! Aus der Wohnungsmieterei wird nichts!“

„Bravo! Bravo!“ rief der Stadtrat behaglich lachend. „Sie sehen, meine Gnädige, Sie können hier nicht fort. Ueber die Bedingungen, wenn Sie noch eine Stube abtreten, redet meine Kousine mit Ihnen.“ Er sagte nicht: „Base“, das war nicht fein genug. „Und nun kein Wort mehr! Ihr getreuer Hauswirt empfiehlt sich zu Gnaden, meine Damen.“

Er schenkte sich diesmal den Handkuß, schwenkte seinen Hut im Halbkreise gegen uns und dienerte rückwärts zur Thür hinaus, als habe er Eile, fortzukommen. Ich wandte mich um, damit er mein Lachen nicht sehe. Er kam mir nun einmal halb verächtlich, halb lächerlich vor, dieser mittelgroße beleibte Herr mit dem blühenden Gesicht, das an einen Borsdorfer Apfel gemahnte, und dem vergeblichen Bemühen, elegant sein zu wollen.

„Aber, meine Gnädige,“ begann der Arzt, „wie kommen Sie denn darauf, ausziehen zu wollen? Danken Sie doch Gott, daß Sie eins der wenigen gesund und gut gebauten Häuser in ganz Westenberg bewohnen können!“

„Lieber Doktor, Sie wissen doch, es ist mir zu teuer. Und da der Vertrag abläuft, so wollte ich auch einer Kündigung Wollmeyers zuvorkommen –“

„ Warum sollte er denn kündigen?“

Mama ward verlegen. „Ach, ich glaubte es bestimmt, ich nahm es an, und in der That muß er erst seit kurzem seine Ansicht geändert haben, denn vor einigen Wochen erzählte er mir noch, daß er später den oberen Stock beziehen wolle.“

„Na, wie Sie sehen, will er Sie aber nicht verlieren, und so bleiben Sie, ich rate Ihnen dringend. Abgemacht? – Nun, mein Fräulein, husten wir noch sehr viel?“ wandte er sich an mich und betrachtete mich mit forschendem Doktorauge.

„Ach, es geht – nicht mehr so oft,“ antwortete ich.

„Nicht zu viel sitzen, mehr Bewegung in freier Luft!“

„Ja, bester Herr Doktor“ – Mama sprach es erregt und nervös – „wie soll sie das machen?“ Und ihr Gesicht sah plötzlich wieder ganz verändert aus. Ich erkannte sofort, daß jener tiefe Leidenszug sich um ihren Mund legte, der sich stets zeigte, sobald von meiner Zukunft die Rede war. „Denken Sie doch, sie arbeitet für ihr Examen! Es wird so viel verlangt heutzutage, sie muß immer die späten Abendstunden zu Hilfe nehmen –“

„Um sich gesundheitlich zu ruinieren! Nachher hat sie den Kopf voll gelehrten Krams, und es wird sie nur eins hindern, besagten Kram praktisch zu verwerten – ihr elender Körper. Aber das habe ich des öftern schon zur Genüge erörtert, Sie kennen meine Ansicht, gnädige Frau. Guten Abend!“

Er hatte ärgerlich gesprochen und verließ uns rasch. Ich hatte ihn noch nie so erblickt.

(Fortsetzung folgt.)

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Das Wallenstein-Festspiel in Altdorf.

Von Hans Bösch.0 Mit Zeichnungen von L. Raum.

Der Hof der alten Universität.

Altdorf ist ein hübsches Landstädtchen, einige Stunden von Nürnberg gelegen, zu dessen Gebiet es ehemals gehörte. Man sieht es dem bescheidenen Orte nicht an, daß er einst eine hervorragende Universitätsstadt gewesen ist und manche Leuchte der Wissenschaft hier ihr Licht glänzen ließ. Noch steht aber das 1575 errichtete Kollegiengebäude mit seinem Turm und dem Hofe, in dessen Mitte ein reizendes Brünnchen, gegossen von Georg Labenwolf, seine Wasser plätschern läßt. Seit lange ist das Gebäude Sitz eines protestantischen Lehrerseminars, nachdem die Universität im Jahre 1809 im Zusammenhang mit der Einverleibung Nürnbergs durch das Königreich Bayern aufgeboben worden war.

Der berühmteste aller Altdorfer Musensöhne ist Wallenstein gewesen, der nachmalige kaiserliche Generalissimus. Wie er sich auf der Universität aufgeführt, hat schon der Holksche Jäger in „Wallensteins Lager“ erzählt:

„Denn zu Altdorf im Studentenkragen
Trieb er’s, mit Permiß zu sagen,
Ein wenig locker und burschikos.“

Das Leben Wallensteins in Altdorf und seinen Abgang von dieser Universität schildert nun Lehrer Franz Dittmar in Nürnberg in dem Volksschauspiele „Wallenstein in Altdorf“, das am Kirchweihsonntag den 12. August und am folgenden Tage und dann wiederholt am 19. August in Scene gegangen ist.

In dem prächtigen alten Universitätshofe, neben dem Turm, ist ein Podium aufgeschlagen und es wickelt sich hier das Spiel auf demselben Platze ab, auf welchem die geschichtlichen Ereignisse, die ihm zu Grunde liegen, vor beinahe 300 Jahren stattgefunden haben. Eine Rotte übermütiger Studenten erscheint und beginnt auf Vorschlag des ausgelassenen Studiosus Sebisch, entgegen dem Einspruche des Pedells, ein fröhliches, lustiges Gelage. Der Student Nößler ist der einzige, der Widerspruch erhebt, was ihm natürlich nur Spott und Hohn einträgt. Eine Kundgebung des Rates zu Nürnberg, welche den Excedenten, die erst kürzlich das Haus des Professors Schopper gestürmt und schwer beschädigt haben, strenge Maßregeln androht, wird mit Hohngelächter aufgenommen und Wallenstein zum Anführer der Studenten erkoren. Jener Professor Schopper nun hat ein liebreizendes Töchterlein, das nicht nur auf Nößler, [619] sondern auch auf den wilden Wallenstein tiefen Eindruck gemacht hat. Rasch fliegen die Degen der beiden Nebenbuhler aus der Scheide. Waffengeklirr erschallt auf dem Hofe, der Pedell schlägt Lärm, läutet die Glocke, der Rektor Taurellus tritt auf und bedroht die Ruhestörer mit harter Strafe. Auf die Kunde von dem Erscheinen der verhaßten Nürnberger Stadtknechte, welche den Maßregeln des Rates Nachdruck verleiben sollen, stürzen die Studenten diesen entgegen.

Inzwischen wächst sich der Gegensatz zwischen Wallenstein und Nößler wegen Schoppers Aennchen weiter aus und letzterer weiß dem Famulus Wallensteins einen Blumenstrauß abzunehmen, den dieser Aennchen überbringen soll. Schwere Züchtigung des Famulus durch Wallenstein ist die Folge. Die ganze Universität gerät deshalb in Aufruhr und Wallenstein wird zu strengem Karzer verurteilt. Es ist ein prächtiges Bild, wie die Studenten mit Musik und Gesang ausziehen, wie sie den Eingang zum neuen Karzer, der durch Wallenstein als ersten Arrestanten eingeweiht werden und danach auch dessen Namen erhalten soll, mit Laub und Blumen schmücken, wie dann Wallenstein geradeswegs vom Podium in den Karzer des nebenstehenden Turmes hinabsteigt, vorsichtigerweise aber seinen schwarzen Pudel vorangehen läßt, weshalb heute noch dieser Karzer den Namen „Hundeloch“ führt.

Wallenstein treibt seinen Hund voraus in den Karzer.

Im dritten Akte wird der aus der Haft entlassene Wallenstein von seinem Oheim, der Elternstelle bei ihm vertritt, wegen seines wilden Lebens von Altdorf abberufen, zu gleicher Zeit aber spricht der Nürnberger Rat die Relegation über ihn aus. Der herrschsüchtige und rücksichtslose Student wird weich; er söhnt sich auf Aennchens Zureden mit Nößler aus, dessen Verlobung mit der Angebeteten zum Schlusse erfolgt, und fordert seine unruhigen Kommilitonen auf, ihre Thatenlust mit ihm in den Dienst des Kaisers zu stellen. Die Gefährten seines wilden Lebens schließen sich ihm freudig an und unter dem Gesange des Liedes „Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!“ ziehen die Studenten ab und schließt das Hauptstück.

Das Nachspiel beschäftigt sich mit der Gefangennahme des früheren Studenten und nunmehrigen Rektors Nößler durch die Kroaten im Dreißigjährigen Kriege. Nößlers Gemahlin Anna tritt auf und beklagt das harte Los ihres Mannes, der von Wallenstein mit nach Sachsen geführt wurde; alle Anstrengungen, ihn aus der Gefangenschaft zu erlösen, sind vergeblich gewesen. Ja, in dem Augenblicke, als man eben an der Möglichkeit, Nößler die Freiheit zu erringen, verzweifelt, kommt dieser, von einem kaiserlichen Hauptmann geleitet und mit einer goldenen Kette beschenkt, zur Freude aller zurück, gerührten Herzens begrüßt von seiner Hauswirtin. Frau Anna hat ihn befreit durch einen Brief an den Gewaltigen, der sie einst geliebt. Die Stadt und der Senat beglückwünschen den Geretteten und zum Schlusse knien alle nieder und stimmen zum Dank für die Erlösung Nößlers aus der Gefangenschaft das Lied „Nun danket alle Gott“ an. Vom hohen Turm nebenan erschallt hierzu die Glocke, mächtige Orgeltöne hört man aus dem Innern des Gebäudes, und so schließt das Volksschauspiel mit einem Bilde, das ebenso malerisch wie ergreifend ist.

Wie in Rothenburg wurden auch in Altdorf schon vor Beginn des Spiels alle Thore der Stadt, die erfreulicherweise noch erhalten sind, mit Stadtknechten besetzt. Und nach dem Spiele zogen unter fröhlichen Klängen alle Mitwirkenden in malerischem Zuge zur Festwiese, wo sich ein fröhliches Leben entwickelte. Das Stück selbst aber bietet so mannigfache Schönheiten, daß es wohl verdient, noch öfter aufgeführt und weiteren Kreisen bekannt zu werden.

Der Pedell kündigt Wallenstein die Relegation an.

[620]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Von der Weltausstellung in Antwerpen.

Von F. Neubaur. Mit Zeichnungen von W. Döll und H. Kammer.

Der Haupteingang.

Eine Weltausstellung in Antwerpen! Welch eine merkwürdige Vereinigung von Gegensätzen! Hier die Stadt mit ihren steinernen und ehernen Zeugen einer großartigen Vergangenheit, auf Schritt und Tritt historischer Boden – dort die Ausstellung mit dem Neuesten vom Neuen, was unser 19. Jahrhundert in unaufhaltsamem Vorwärtsdrängen auf den Weltmarkt wirft! Hier das geschlossene Erzeugnis einer jahrhundertealten, zusammenhängenden Entwicklung, dort, aus allen Himmelsrichtungen zusammengeweht, die mannigfaltigsten Kraft- und Kunstproben der verschiedensten Völker und Kulturen! Gewiß eine äußerst reizvolle Gegenüberstellung für den Besucher, der mit offenem Auge und offenen Sinnen Stadt und Ausstellung hintereinander durchwandelt.

Schon einmal, im Jahre 1885, hat Antwerpen eine Ausstellung in seinen Mauern veranstaltet. Auf demselben Gelände wie damals hat auch die diesjährige ihre Stelle gefunden, am südlichen Ende jener Avenuen, welche in einem von Norden nach Süden ziehenden Bogen die Neustadt von der Altstadt trennen. Während aber im Jahre 1885 die Gärten der Ausstellung eben erst angepflanzt waren und daher äußerst dürftig erschienen, breitet sich heute ein recht hübscher Baumwuchs rings um die Ausstellungsgebäude her aus. Prächtige Rasenteppiche und Blumenbeete erhöhen den künstlerischen Eindruck der Anlage.

Vor dem Thore von Alt-Antwerpen.

Das Hauptgebäude der Ausstellung weist an der Hauptfront den von zwei rampenartigen Treppen flankierten, von einer niederen Kuppel überragten Haupteingang auf, den die obenstehende Abbildung zeigt. Rechts schließt sich an das Hauptgebäude in stumpfem Winkel ein Seitenflügel, an diesen eine breite Galerie, zu der Freitreppen emporführen und die ihrerseits in die Maschinenhalle hineinleitet. Im Scheitelpunkt des stumpfen Winkels ist ein eigenes Gebäude für Festlichkeiten eingeschoben. Vor der Vorderfront des Maschinengebäudes erhebt sich ein Pavillon, welcher die Ausstellung des Kongostaates birgt und vor welchem um einen See herum ein Dorf der Kongoneger aufgebaut ist, belebt von Kongotruppen und Eingeborenen von der Kongomündung. Von hier gelangt man zum Museum der schönen Künste mit einem ebenfalls zur Ausstellung gehörigen großen Aquarium; an dieses endlich

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Eingang zur deutschen Ausstellung.

schließt sich ein weiteres der Kunst gewidmetes Ausstellungsgebäude. – Um all dies herum baut sich nun eine überaus große Fülle kleiner Pavillons und Häuser auf, welche den verschiedenartigsten Zwecken, meist solchen des Vergnügens, dienen. Auf Schritt und Tritt öffnen sich die gastlichen Hallen von Restaurants, Singspielhallen, Theatern etc.; von überall her schallt den ganzen Tag und die halbe Nacht hindurch eine mehr oder minder annehmbare Musik.

Betritt man das Industriegebäude durch den Haupteingang, so gelangt man zunächst in die belgische Industrieabteilung, welche für sich allein etwa den vierten Teil des ganzen Raumes einnimmt. Zur Linken der belgischen Abteilung befindet sich die deutsche, welche außerdem durch einen besonderen in unserer Abbildung dargestellten Eingang zur Seite des Hauptportals zugänglich ist; ihre Lage kann als recht günstig bezeichnet werden; aber sie ist nicht so stark beschickt, wie man es wünschen möchte. Die Ursache dafür mag zu einem Teil darin zu suchen sein, daß die praktischen Erfolge der Weltausstellug in Chicago vorläufig noch auf sich warten lassen und vielleicht erst in Jahren nicht ohne neue Opfer sich einstellen werden, zum andern Teil darin, daß die Antwerpener Weltausstellung von seiten des Deutschen Reiches keine Unterstützung genoß. Anerkannt dagegen muß werden, daß Deutschlands Vertretung diesmal besser, gewählter und gehaltvoller ist als im Jahre 1885. Das Hauptgewicht liegt naturgemäß auf denjenigen Artikeln, welche ausfuhrfähig sind. Insgesamt zählt die deutsche Abteilung etwa 500 Aussteller.

Die Anordnung der deutschen Abteilung ist gut, wenn auch infolge verspäteter Ankunft einzelner Ausstellungsgüter oder um der Raumersparnis willen eine Ineinanderschachtelung verschiedenartiger Gewerbszweige sich hier und da unangenehm bemerkbar macht.

Auf einem Gebiete sind die Deutschen in Antwerpen allen anderen Nationen überlegen, auf dem der Schiffahrt, die auf der Ausstellung zu einer internationalen Gruppe vereinigt ist. Das schönste Schaustück in Antwerpen bildet der Pavillon des „Norddeutschen Lloyd“, in welchem gleichzeitig die Ausstellung des „Vulkan“ in Stettin untergebracht ist. Im Rokokostil, in den Farben Weiß und Gold ausgeführt, hat der Pavillon eine Ausdehnung von 20 Metern Breite, 15 Metern Tiefe und 16 Metern Höhe und wird von einer Kuppel überragt. Die mittlere Halle des Pavillons nimmt ein auf Porzellan gemaltes, von Topfgewächsen umgebenes Bild des Kaisers ein, um welches einige Prachstücke der königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin gruppiert sind. Die beiden offenen Seitenhallen enthalten eine Sammlung Modelle von Lloyd-Schnelldampfern. Eine mächtige Karte zeigt die täglichen Veränderungen in den Schiffsbewegungen der Lloydlinien, aus einer Reihe graphischer Darstellungen entnimmt man mit Staunen die gewaltigen Leistungen der großen Bremer Schiffahrtsgesellschaft, über die ein anwesender Beamter derselben jede gewünschte Auskunft giebt.

Leb nach dem alten Brauch
Behüte Kopf und Bauch


 W. Döll.


Im „Nürnberger Bratwurstglöckchen“.

Die Ausstellung des „Vulkan“ umfaßt die Modelle der kaiserlichen Jacht „Hohenzollern“, des Panzers „Brandenburg“, einiger für China gebauter Panzerschiffe sowie anderer Fahrzeuge.

In der Nähe des Lloydpavillons befindet sich die ebenfalls vorzüglich eingerichtete Ausstellung der Stadt Hamburg. Diese hat ihre Reedereien vereinigt, sie veranschaulicht außerdem in einem offenen saalartigen Raum ihre neuen Wasserwerke und ihre Hafenanlagen. Im übrigen ist die Marineausstellung ausgezeichnet beschickt und steht hinter derjenigen von Chicago in keiner Weise zurück. Alle großen englischen Reedereien sind mit Modellen ihrer Schiffe vertreten, ebenso die großen englischen Werften, darunter Armstrong Mitchell u. Komp. mit dem Riesenhalbmodell des an der syrischen Küste untergegangenen Panzers „Victoria“. Dazu treten noch eine große Reihe von Modellen für Rettungsboote, Segelboote und Wassersport überhaupt.

Auf die Leistungen der anderen Staaten im einzelnen hier einzugehen, verbietet der Raum. Im großen und ganzen geht als einheitlicher Zug durch die Antwerpener Weltausstellung, daß das Hauptgewicht seitens aller Nationen auf die für die Ausfuhr besonders geeigneten oder aber auf solche Artikel gelegt wurde, welche für den Handverkauf besonders vorteilhaft erscheinen. In hervorragendem Maße findet sich dieser letztere Zug in der französischen, österreichischen und italienischen Abteilung.

Wenn die Ausstellung so im allgemeinen ein verhältnismäßig bescheidenes, mehr auf das Praktische zugeschnittenes Gepräge [622] aufweist, so giebt es in ihr doch einen Teil, der an künstlerischer Schönheit sowohl wie an Eigenart seinesgleichen sucht: das ist Alt-Antwerpen.

Die Moselburg.

Wenden wir uns vom Haupteingang der Ausstellung nach rechts, so öffnet sich nach kaum fünf Minuten Weges ein überraschendes Bild vor unserem Auge. Eine Reihe niedriger Wachthäuser zur Rechten und Linken, dann ein mächtiges altes Thor – das Kipdorpthor – hinter einer Zugbrücke, vor den Wachthäusern Büttel in roter, geschlitzter Tracht, mit Hellebarden bewaffnet, daneben Söldner mit dem Ringkragen, den gewaltigen Hieber an der Seite, den Dolch im Gürtel: hier ist der Zugang zu Alt-Antwerpen, dem unstreitig reizvollsten und künstlerisch am besten durchgeführten Schaustücke der Weltausstellung.

Der Gedanke, alte Stadtteile aufzubauen und auch zu bevölkern, ist nicht neu. Im Jahre 1890 gab es, um nur ein paar Beispiele anzuführen, auf der Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung in Bremen Nachbildungen von Bauten der alten Hansestadt, 1892 hatte die Wiener Internationale Musik- und Theaterausstellung ihr „Alt-Wien“; aber alle bisherigen derartigen Veranstaltungen halten keinen Vergleich mit Alt-Antwerpen aus. Insgesamt sind etwa 80 Häuser aufgeführt worden – nicht als Koulissen, nicht aus Holz und Leinwand, sondern aus Holz, Eisen und einem Mörtel, welcher voriges Jahr in Chicago viel zur Verwendung gekommen ist. Er führt den Namen „Staff“ und verleiht den Häusern das Ansehen von massiven Gebäuden. Die Täuschung ist in Alt-Antwerpen infolge der kunstvollen Bemalung so groß, daß man nirgends einem nur für Monate geschaffenen Werke gegenüberzustehen glaubt. Die Durchführung der vor drei Jahrhunderten in Alt-Antwerpen üblichen Stilarten ist bis in die kleinsten Einzelheiten genau, selbst die Aushängeschilde, die schmiedeeisernen Arme, an welchen diese hängen, sind getreue Wiederholungen kunstvoller Vorbilder. Durch zwei Straßen gelangt man vom Kipdorpthor zum Marktplatz, einem weiten Raum, welcher für Turnierspiele bestimmt ist und von einer Reihe öffentlicher Gebäude umrahmt wird. Da ist das Stadthaus, ein Theater mit offener Scene, im Hintergrunde die Börse, Patrizierhäuser etc.

Das ganze Unternehmen ist nicht darauf berechnet, „Geld zu machen“, sondern verdankt seine Entstehung der Opferwilligkeit. Unter den Patrizierhäusern mit ihren vollständigen prächtigen Einrichtungen aus dem 16. Jahrhundert befinden sich mehrere, welche von reichen Antwerpenern aufgebaut und zur Verfügung gestellt wurden; so ganz besonders das unmittelbar neben dem Theater gelegene prächtige Haus Alberts von Bary, eines der ersten deutschen Kaufleute Antwerpens, gleichzeitig des verdienstvollen Vorsitzenden der deutschen Abteilung in der Ausstellung.

Straße in Alt-Antwerpen.

Zur Rechten und Linken der Straßen und Gäßchen Alt-Antwerpens öffnet sich eine Menge von Kaufläden, Werkstätten und Wirtschaften. Hier arbeitet der Pantinen- oder Holzpantoffelmacher, dort gehen aus der Werkstatt des Kunstschmiedes reizvolle schmiedeeiserne Arme und andere Zierate hervor, der Kupferschläger hämmert die hochgeschätzten getriebenen Kannen und Schalen, der Schuhmacher fertigt nach alten Mustern rotlederne Schuhe, wie sie ihrer Bequemlichkeit halber heute wieder Mode geworden sind. Hier in einem Hause, das die Gräfin von Merode-Westerloo, die Frau des belgischen Ministers des Auswärtigen, hat erbauen lassen, wird die Brabanter Teppichknüpferei betrieben, dort werden Brabanter Spitzen in emsiger, überaus mühevoller Arbeit zu lächerlich billigen Preisen hergestellt. Daß die Wirtschaften so stilvoll wie nur denkbar sich darstellen, versteht sich von selbst; ihre Zahl ist Legion. Von den kleinsten Schnapsbutiken, in welchen belgische und holländische Liqueure ausgeschenkt werden, bis zu dem prächtigen Börsensaal oder bis zu der großen Gartenwirtschaft, welche den Namen „In den Aenghenaemen Hof“ führt, finden sich alle Arten von Kneipen. Auf der Straße zieht die Stadtbande umher, etwa 18 Musiker, welche auf altertümlichen Hoboen, Klarinetten und Kesselpauken altvlämische Melodien vor jedem Hause aufspielen. Und was endlich Alt-Antwerpen seinen besonderen Reiz verleiht, das ist der Umstand, daß alle seine gegenwärtigen Bewohner, gleichviel ob Männer, Weiber oder Kinder, in die altvlämische Tracht derartig hineinpassen, als ob sie in ihrem Leben nie etwas anderes getragen hätten.

Da wir gerade bei den Vergnügungseinrichtungen der Antwerpener Weltausstellung sind, so mögen nun die andern hier auch noch erwähnt werden. Sicherlich ist in Beziehung auf das Vergnügen in Antwerpen mehr geboten, als der Durchschnittsmensch vertragen kann. Zunächst ist das gesamte orientalische Gesindel, welches voriges Jahr Chicago unsicher machte, nach Antwerpen [623] übergesiedelt. Es giebt ein ägyptisches Quartier mit Kamelen, Eseln und dem obligaten Schmutz, ein syrisches Quartier mit Schwerttänzern, ein türkisches Quartier, ein anamitisches Theater und Gott weiß was sonst noch für orientalische Vergnügungsplätze. Die Zahl der arabischen oder türkischen Cafés ist Legion. Panoramen verschiedener Art, die üblichen Labyrinthe, ein Wiener Prater, eine unzählige Menge von Musikkapellen aller möglichen Nationen sind auf dem linken Flügel der Ausstellungsgebäude zusammengehäuft, während in der äußersten rechten Ecke die Schwimmkünstler Boyton und Pawnee Bill ihre Vorstellungen geben.

An besseren musikalischen Genüssen bietet die Weltausstellung Vorträge recht guter belgischer Militärorchester, während in der Festhalle abends von 8 Uhr ab die Konzerte eines ganz vorzüglichen Symphonie-Orchesters stattfinden.

Ein reizvolles Bild entfaltet sich des Abends, wenn die Dunkelheit hereingebrochen ist. Da flammt es auf an den Wegen und den Einfassungen der Blumenbeete, Lämpchen aus bunten Gläsern leuchten von den Rasenplätzen herüber oder ziehen den architektonischen Linien der Gebäude nach. Ketten von bunten Lampions schwingen sich an hohen Masten empor und die elektrischen Bogenlampen gießen ihre Lichtfülle über das belebte Gelände. Werden dann um 8 Uhr die Räume der eigentlichen Ausstellung geschlossen, dann wogt eine schier unerschöpfliche Menschenmenge durch dieses Meer von Licht den verschiedenen gastlichen Stätten zu. Unsere deutschen Landsleute werden sich da besonders durch vertraute heimatliche Trinkstätten angezogen fühlen. Im Nürnberger „Bratwurstglöckchen“ und in der „Moselburg“ werden sie sich gern die körperliche Erfrischung durch behagliches Verweilen in vaterländischen Erinnerungen würzen.


Wandlungen.

Novelle von Gerhard Walter.

 (Schluß.)

Ein Vierteljahr nach Irmgarts Abreise verging,“ fuhr Werner tief aufatmend in seiner Erzählung fort. „Eine traurige Zeit. Abends saß ich unten beim Inspektor und rauchte eine Pfeife nach der andern. Mitunter schaute auch die Wirtschafterin herein und saß ein Weilchen bei uns. Eines Abends kam sie mit rot verweinten Augen. Sie wollte nicht sagen, was ihr sei. Wir gingen zusammen den Gang hinunter, der zu unseren Stuben führte; sie schritt still und gedrückt neben mir her. Vor ihrer Thür faßte ich ihre Hand. ‚Sie haben mir damals Gutes gethan, ich möcht es Ihnen vergelten. Was haben Sie für Kummer?‘

Sie fing an zu weinen. ‚Das kann ich Ihnen nicht sagen!‘

‚Sie sollen’s aber; vielleicht kann ich helfen.‘

Da erzählte sie mir nach vielem Quälen, ihr Vater, ein armer Förster mit vielen Kindern, habe ihr in großer Not geschrieben um fünfzig Thaler, deretwegen ihn einer verklagen wolle, und die hätte sie nicht. Ich zog sie in mein Zimmer, machte Licht, lief zum Schreibtisch, holte das Geld heraus und gab’s ihr in die Hand. Blaß stand sie vor mir; aber mit einem Mal griff sie nach meinen Händen und wollte sie küssen.

‚Lassen Sie das, Elsbeth!‘ bat ich, aber sie ließ es nicht, bis ich den Arm um sie legte und sie mit sanfter Gewalt hinausführte. Sie ging schweigend, gesenkten Hauptes auf ihr Zimmer.

Sie mied mich von jetzt an. Scheu huschte sie an mir vorüber, mit befangenem Gruß, und in die Inspektorstube kam sie auch nicht mehr. Aber auf meinem Tisch oder Pult stand, sobald der alte welk wurde, immer ein Strauß frischer Feldblumen. Nur eines Tages klopfte sie bei mir an und blieb, ein Päckchen in den Händen, dunkelrot und scheu in der Thür stehen.

‚Nun, Fräulein Elsbeth?‘

‚Mein Vater,‘ begann sie zaghaft und hob die Augen – und mit einem Ruck riß sie das Papier ab und legte einen Marderjagdmuff vor mich auf den Tisch. ‚Mein Vater möchte Ihnen danken –‘ Sie atmete tief und schwer. Ich faßte nach ihren herabhängenden Händen, sie gab sie mir und trat einen Schritt näher; aber plötzlich schlug sie die Augen auf und sah mich an – ein wunderbarer Blick – und riß ihre Hände los und stürzte hinaus. Und ich legte das Gesicht auf das weiche Marderfell und seufzte tief auf: ‚Irmgart!‘

Und wieder wich Elsbeth mir aus. Da kam nach Wochen der Inspektor zu mir und brachte eine Einladung von einem Nachbar, einem Landsmann von mir, zu dessen Geburtstag. Es war zufällig auch meiner. Nach drei Tagen sollte die Feier sein. Der Baron und seine Frau waren verreist, ich also mein eigener Herr. So sagte ich zu. Es war mir lieb, der Einsamkeit einmal zu entrinnen. Außer mir hatte man noch jemand eingeladen – meine Nachbarin, Fräulein Elsbeth. Sie war mit der Schwester des Geburtstagskindes drüben befreundet. Ich hatte, wie ich die neue Kunde vernahm – sie erzählte es mir freudestrahlend, als wir uns auf der Treppe trafen – ich hatte das Gefühl, die Sache sei eigentlich nicht ganz standesgemäß. Aber jetzt ablehnen, hätte hochmütig und dumm ausgesehen. Doch zog ich es vor, nicht mit dem Inspektor und ihr zu fahren, als der Tag herangekommen war. Es wäre mir auch sonst nicht möglich gewesen. Ich sehnte mich stürmisch nach einigen Stunden einsamen Gehens. Ohne eine begleitende Zeile war am Morgen meines Geburtstages ein kleines Paket angekommen, aus dem ich ein Lesezeichen herausschälte, auf dessen helle Seide ein Epheuzweig zierlich gestickt war. Ich wußte, von wem allein das kommen konnte, und mit meiner kaum oberflächlich erkämpften Ruhe war’s wieder vorbei. Was hatte das kleine Seidenband wieder an- und aufgeregt! Sie hatte mich nicht vergessen, dachte vielleicht mit derselben Leidenschaft der Stunden, die wir zusammen verlebt, der unendlich seligen Augenblicke, die wir dem Leben abgestohlen hatten und doch blieb sie mir unerreichbar für alle Zeit! Berauscht von Erinnerungen, aufgerührt bis in die Tiefen meines Seins, trat ich nach einem stundenlangen Gang durch den Wald in die lärmende Gesellschaft ein. Lauter brave wetterharte Inspektoren, sattel- und trinkfeste Leute. Mit großem Jubel und Hallo ward ich empfangen. Sie hatten mich alle gern, denn ich konnte ein guter fröhlicher Kamerad sein und lief vor einem Scherz nicht weg. Das gab ein Gratulieren und Händeschütteln und Zutrinken. Mir that das stürmische Wesen wohl; ich mußte aus mir heraus. Ich nahm den Humpen, den man mir reichte, und schwang ihn hoch. ‚Komme den Herren nach!‘ rief ich und setzte ihn an und trank ihn aus in einem langen durstigen Zuge – aber ich trank hinüber in die Ferne. ‚Irmgart, Irmgart – Dir bring’ ich’s,’ zog es mir durch den Sinn. Ich setzte den Krug ab. Da traf mein Blick auf Fräulein Elsbeth, deren Auge mit verschleiertem Ausdruck auf mir lag. Sie sah gut aus: blühend, frisch, und das schwarze Wollkleid umschloß knapp ihre Gestalt.“

Er hielt inne.

„Siegfried –“ und er neigte sich zu mir – „nun kommt meine Beichte. Willst Du sie hören?“

„Ja, Werner!“ sagte ich leise und nahm seine Hand. Um uns war tiefe Nacht; die Mondsichel war schon weit hinabgesunken; der Tisch, auf dem meine Hand in seiner lag, war feucht vom Tau.

„Gut, Du weißt, wie solche Feste verlaufen. Die Braten dampften, die Champagnerpfropfen knallten, die Stimmen schwirrten und polterten durcheinander. Es wurde scharf getrunken, wiehernd gelacht: es wurden Reden gehalten und schallender Handschlag ausgetauscht, und die Geister der rauschenden Lust übermannten die Trauergedanken meiner Seele. Mir gegenüber saß Elsbeth. Die Lebenden haben Recht! – ‚Ihr Wohl, Fräulein Elsbeth!‘ Sie hob ihr Glas und stieß stark mit mir an und sah mich an – und lachte; ein eigentümliches Lachen, es lag etwas Wehrloses darin, und ihr Blick war der einer Sklavin, die die Hände über der Brust faltet. Und Blick um Blick flog herüber und hinüber aus Augen, die der Wein glänzen machte. Da stürzte in die tobende Fröhlichkeit ein Unglücksbote. Unser Inspektor wurde abgerufen; mit dem Reitpferd des Barons war der Stallknecht hergejagt der hochedle englische Hengst, der ein Kapital wert war, der Neid aller Zuchtställe, habe Kolik bekommen.

Mit einem derben Fluch sprang der Inspektor auf. ‚Herr Kandidat, dann müssen Sie auf dem Rückweg kutschieren; Sie können’s ja. Geben Sie nur auf das Sattelpferd acht. Adieu allesamt!‘ Und draußen verhallten die Hufschläge des davon sprengenden Reiters in der Mainacht.

Ja – eine dunkle linde Mainacht war’s, in der ich mit Elsbeth nach Hause fuhr. Wir mußten auf dem Waldweg langsam fahren. Meine Stirn glühte. Still saß das Mädchen neben mir. Ueber uns rauschte der Nachthauch in den Kronen der Fichtenbäume.

[624] ‚Ist’s Ihnen kalt, Fräulein Elsbeth?‘

‚Nein.‘

‚Nehmen Sie das Tuch fester um sich.‘ Ich half ihr mit der linken Hand. ‚Danke!‘ kam es klanglos von ihren Lippen. Da sprang das Sattelpferd an, bäumte sich hoch auf und wollte durchgehen. Ein Fuchs oder Hase mochte es erschreckt haben. Mit aller Macht packte ich die Zügel. Meinen linken Arm hielten zwei Hände umklammert, ein Gesicht lag angstvoll nahe an meiner Schulter. Aber sie sagte nichts. Nun beruhigte sich das Pferd, noch eine Weile galoppierend. Der Griff der Hände um meinen Arm lockerte sich – nur ein tiefer Seufzer. In meinen Schläfen hämmerte das Blut. Ich nahm die Zügel in die Rechte; wieder zog ich das Tuch um ihre Schultern, aber meine linke Hand blieb liegen um ihren Hals. ‚Elsbeth!‘ Zog ich sie, sank sie hin? Ihr Gesicht lag nun ganz an meiner Schulter. Irmgart, wo warst Du? Ich neigte mich und küßte sie. Die Pferde hielten still. Da schlangen sich zwei Arme um meinen Hals, zwei warme volle Lippen brannten auf meinem Mund. ‚O, Herr Kandidat!‘ klang es wie klagend in heißer Leidenschaft an mein Ohr.

‚Hast Du mich denn so sehr lieb?‘

‚Ja, unmenschlich. Von dem Augenblick an, wo Sie meinen Vater retteten … nein, schon früher – als Sie mich aus Versehen umfaßten, da fing es an.‘

Die Pferde mögen lange gestanden haben. Stumm fuhren wir weiter, draußen, wo’s lichter wurde, in scharfem Trab. Still kam uns der Inspektor auf dem Hofe entgegen; er war bleich im Morgengrauen. ‚Der Hengst ist tot. Das kann mir meine Stelle kosten.‘

‚Wir haben uns unterwegs verlobt,‘ antwortete ich ihm. ,Dann können wir drei ja zusammen gehen.‘ Er drückte mir schweigend die Hand, grüßte Elsbeth und ging.

Ich hob meine Braut vom Wagen. Stumm gingen wir die Treppe hinauf und den Gang entlang. Vor ihrer Thür blieb sie stehen und sah mich mit gebrochenem Blick an. ‚Sie werden mich doch nie recht lieb haben,‘ sagte sie leise.

‚Man sagt Du zu seinem Bräutigam, Elsbeth! Werde mir nur eine gute Frau!‘ entgegnete ich und küßte sie auf die tief gesenkte Stirn. Dann ging ich in mein Zimmer.

Ich hörte ihre Thür gehen und gleich darauf einen sonderbaren Ton als wenn jemand plötzlich laut und wie verzweifelnd aufweinte. Langsam trat ich an meinen Tisch, stützte die Hände auf und starrte auf das Lesezeichen, das da lag. Ich nahm’s und küßte es – und riß es in Stücke.“

Er machte eine Pause und sah vor sich hin in die Nacht.

„Trink’ aus!“ sagte er dann, scheinbar gleichgültigen Tones. „Meine Erzählung ist noch nicht fertig, und wir haben noch eine Flasche oder zwei zugut. Vergiß über meinen Historien nicht, daß wir Stiftungsfest feiern! Aber was hältst Du von meiner Geschichte?“ fragte er ablenkend und hielt mir das Glas hin.

„Ich hab’ sie Wort für Wort vorher gewußt, Werner, und nun will ich sie zu Ende erzählen; soll ich?“

„Jawohl,“ nickte er, „ich will zuhören.“

„Also und nun spricht Dein Beichtiger zu Dir und ein alter Freund: Du gabst Deinen Hauslehrerposten auf und arbeitetest danach, angestellt zu werden. Du zerfielst mit Deiner Familie, die Himmel und Erde aufbot, Deine Verlobung rückgängig zu machen, aber Du bliebst fest, weil Dir Dein Wort heilig war, weil Du dies Leben unauflöslich an Dich gekettet hattest und weil Du wußtest, daß sie sich das Leben genommen hätte, wärst Du von ihr gegangen.“

„Stimmt!“ sagte er ruhig.

„Du nahmst die erste beste schlechteste Stelle an, die sich Dir bot, und heiratetest vom Fleck weg. Deine junge Frau sagte unter tausend Aengsten und in heißer Liebe ihr Ja am Altar, und Dein Ja war ein Nein vor Gott; Du dachtest noch am Altar an Irmgart.“

„Stimmt!“ sagte er wieder eintönig.

„Dann versuchtest Du, Deine Frau zu bilden, aber es war vergebens. Sie verstand nichts von Goethe, Schiller und Shakespeare, mit denen Du sie quältest, und Deine hochfliegende Natur blieb ihr ein Rätsel. Du wurdest hart und bitter gegen sie, weil sie Dir nichts geben konnte und auch nichts nehmen konnte von Dir, um es sich anzueignen. Du standest allein, allein auch in Deiner Gemeinde, in der Du keine Anregung, keine Hilfe fandest, allein unter den Amtsgenossen, deren Frauen mit Deiner nicht verkehren zu können meinten, weil sie manchmal ,mir‘ statt ,mich‘ sagte. Und Du gabst Deiner Frau alle Schuld, Du wurdest immer rauher, unbarmherziger – und weil Du innerlich so großen Schaden littest durch eigene Schuld und nicht mit der Kraft überwindender Liebe Dein Schicksal trugst, darum verkamst Du allmählich. Nicht Deine Frau ist Dein Unglück gewesen, Werner, Deine Eitelkeit war’s. Der Geist der Liebe hat in Deinem Hause gefehlt, und es bleibt doch wahr: Liebe vermag alles!“

„Stimmt!“ sagte er noch einmal und stützte den Kopf in die Hände.

„Und dann, Werner, kamen die Kinder und mit ihnen die Sorgen. Viele Kinder und immer mehr Sorgen und – Schulden. Und alles zusammen hat Dich grau und alt gemacht, hat Deine schöne große Kraft gebrochen. Hab’ ich recht?“

„Ja!“ antwortete er mit einem tiefen Seufzer.

„So, das wäre das zweite Kapitel, bis zur Gegenwart fortgeführt. Aber nun brich erst mal die neue Flasche an, Werner; nachher, und wenn wir uns eine andere Cigarre angesteckt haben, wollen wir auf das dritte Kapitel übergehen.“

„Weißt Du noch ein drittes?“ fragte er, den Korkzieher einbohrend.

„Ja, die Zukunft.“

Er sah mich an. „Lieber Junge, lassen wir die!“

„Keineswegs! Lieber Werner, der alte Herrgott lebt noch, und so lange der regiert, hat’s keine Not um ein Menschenkind. Das brauch’ ich Dir, dem Pfarrer, nicht zu predigen.“

„Ach nein!“ seufzte er. „Gottlob, daß Du recht hast. Aber das Herz wird einem doch manchmal schwer.“

Er schenkte die Gläser voll. Wir stießen an. Ich legte ihm leise die Hand auf die Schulter. „Also Du hast Schulden, Werner?“

„Ja,“ sagte er, und in dem Licht des Streichholzes, an dem er seine Cigarre anzündete, sah ich eine tiefe Röte auf seinem Gesicht. „Du hast mir vieles erzählt; nun vertrau’ mir auch das noch – wie hoch ist die Summe ungefähr?“

„Es sind an viertausend Mark!“ erwiderte er und blies den Rauch weit von sich. Mit einem Mal fuhr er mit der Hand durch das Haar und sprang auf. „Die ewige Angst, die bringt mich noch um! Ich hab’ alles versucht und ich geh’ doch zu Grunde!“ Es klang wie der Aufschrei eines Gemarterten.

Ich war neben ihn getreten. „Na, alter Junge, nimm die Sache nicht zu tragisch. Die viertausend Mark werde ich Dir geben. Ich bin Junggesell und hab’ für niemand zu sorgen, und etwas erspart hab’ ich mir auch zu meinem bißchen Vermögen. Kurz, willst Du sie haben, dann schlag’ ein! Dann stell’ ich Dir morgen die Anweisung aus.“

Er sah mich ungewiß an, ein Zittern überlief seine Gestalt. Dann warf er plötzlich die Arme um mich, legte das Gesicht auf meine Schulter und weinte laut. „Ja, Du hast recht, der alte Gott lebt noch!“

„So, Werner, nun laß es gut sein; setz’ Dich hin – hier liegt Deine Cigarre, die rauche gefälligst zu Ende! Und mach’ kein Aufheben von der Geschichte und vor allen Dingen erzähl’ Deiner Frau und Tochter nichts davon, wenigstens nicht, so lange ich hier bin! Später können sie mir ja, wenn sie sich durchaus revanchieren wollen, eine Nachtmütze und ein Paar Pantoffeln machen. – So, das war Abschnitt eins aus dem dritten Kapitel! Der zweite aber beginnt: sei gegen Deine Frau ein barmherziger und gnädiger Herr, wie Du auch einmal einen gnädigen und barmherzigen Gott haben willst, versprichst Du mir das? Wenn ich übers Jahr wiederkomme, zum Stiftungsfest, dann soll sie mit uns hier sitzen. Hand her, Werner!“

„Nun ja – so wahr mir Gott helfe; noch ist’s ja Zeit,“ sprach er, und die ganze Reue von zwanzig Jahren lag in seinem Blick.

„Und nun, Werner, wollen wir zu Bett gehen; es fängt an, kühl und neblig zu werden, und gegen Rheumatismus habe ich eine Art Abneigung. Aber wenn Du in Deiner Speisekammer noch ein Butterbrot flüssig machen kannst, dann soll’s mir lieb sein, und wenn Du einen sogenannten Schnaps dazu hast, dann darfst Du ihn mir ruhig anbieten. So, gieb mir Deinen Arm, und nun mit Marschmusik nach Haus!“ Und ich hub an in dem stillen Pfarrgarten, daß die Bäume verwundert aufrauschten, und er stimmte ein es war der alte Klang aus Studententagen, und er sang es im alten seligen Ton:

„Das Käuzlein laß ich trauern
Auf Zweigen Tag und Nacht,
Ich renn’ aus Schanz und Mauern
Ins offne Feld zur Schlacht.“

[625]

Heimfahrt vom Manöver.
Nach einer Originalzeichnung von K. Müller.

[626] Wir standen vor der Hausthür. Da zog er seinen Arm aus dem meinen und legte mir die Hände auf die Schultern. Von seinem Gesicht sah ich nicht viel bei der Dunkelheit, aber ich hörte es an dem Klang seiner Worte, wie’s darauf aussah. „Siegfried, Frieden hast Du gebracht und Sieg hast Du erfochten und ich hab’ keine Schulden mehr! Nur eine grosse noch, und die mag unser Herrgott Dir bezahlen – reichlich!“

So zogen die beiden Pfarrherren heim von ihrem Stiftungstag. Der eine, der Hausherr, hat vielleicht wenig in dieser Nacht geschlafen und seine Frau geweckt und die Verwunderte geküßt, zwei-, dreimal, wie einst im Wagen unter den Tannen, und ihr trotz allen Verbots eine Geschichte erzählt von überwundenem Leid, die auch ihr den Schlaf vertrieb. Der andere aber schlief wie ein Murmeltier.

Als ich am Morgen, nicht ganz früh, die Treppe herunterkam, stand da auf dem Flur ein junges Mädchen, ganz Glück und Sonnenschein, reichte mir beide Hände und sagte schnell: „Was Sie meinen Eltern Gutes gethan, das weiß ich nicht, ich weiß nur, daß alles anders ist.“

„Freut mich, Else,“ antwortete ich, „konnte wohl auch nichts schaden. Führen Sie mich nachher in den Wald zu Ihren Quellen und Thälern?“

„O, wie gern! Vater ist zu einem Schwerkranken aufs Filial geholt worden –“ Da kam die Mutter. Was doch aus Menschenaugen werden kann von gestern auf heute! Sie sagte gar nichts, nicht einmal Guten Morgen, und drückte meine Hand nicht besonders fest; und doch hat kein Dank im Leben mich so gefreut.

Ich ging neben Else her. Ein klarer Morgen, heller Sonnenschein, Licht über der ganzen Welt. Da unten im Waldthal, tief verborgen, rauschte eine Quelle. Dort setzten wir uns auf zwei Steine, die dicht nebeneinander lagen. Fröhlich ließ sie die braunen Augen umgehen. „Ist’s hier nicht schön?“

Ich nickte und zündete mir in stillem Behagen eine Cigarre an. „Also gehört hatten Sie schon von mir, Else?“

„Freilich,“ sagte sie lachend, „und Ihr Bild im Album kannte ich schon als ganz kleines Kind. Aber jetzt hätt’ ich Sie mir anders vorgestellt, mit weißer Binde und ohne Vollbart und ein bißchen grau wie der Vater. Sind Sie denn soviel jünger, da Sie doch zusammen studiert haben?“

„Ich bin drei Jahre jünger.“

„Ich hätte mindestens zehn gesagt,“ entgegnete sie munter. „Aber Sie haben’s auch besser gehabt als er,“ setzte sie leise hinzu – mit einem Mal griff sie schnell nach meiner herabhängenden Hand. „Bitte, bitte, sagen Sie mir, wie haben Sie’s angefangen, soviel Sonnenschein in unser Haus zu bringen? Ich hörte den Vater singen, als er aufstand, und als die Mutter hereinkam, riß er sie in die Arme und küßte sie, und sie sahen wie zwei Brautleute nebeneinander aus. Sehen Sie“ – fuhr sie fort und schaute mir dabei mit so köstlichem Ausdruck in die Augen – „ich kenne Sie ja gar nicht und hab’ doch gleich gestern am Brunnen solch inniges Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und darum will ich Ihnen auch sagen, was mir jedem andern gegenüber eine Unmöglichkeit wäre: wir haben viel Unfrieden im Hause gehabt und ich hab’ oft geweint, wenn ich die Mutter still die Hände ringen sah. Und nun wird alles gut und ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Ein süßes Freudenlicht leuchtete in ihren Augen.

Ich nahm ihre Hände. „Ich verspreche Ihnen, Else, daß ich mir meinen Lohn als Wolkenschieber gelegentlich schon berechnen will. Wer weiß, ob ich Ihnen nicht zu teuer werde!“

Sie schüttelte den schönen Kopf und sah mich still an. Es war eine köstliche Stunde hier in der Waldstille beim Murmeln und Rauschen der Quelle. Kühl und duftig um uns her die Luft, die Welt weit, weit weg. Es war wie im Märchen.

„Else, ich kannte Sie schon, ehe ich Sie gestern erblickte, durch meinen Neffen, Hermann Winkler –“

„Ach so, der!“ lachte sie unbefangen, „ein netter junger Mensch, aber etwas sehr galant!“

„Else, wissen Sie, wie Sie mir jetzt vorkommen?“

„Nun?“ fragte sie lächelnd.

„Wie die Nixe dieses Wassers, und ich wie der fahrende Mann, der sie überrascht und gefangen hat. Sehen Sie, Sie können nicht los –“

„Ich will ja auch gar nicht,“ sagte sie freundlich. – –

Ich blieb noch drei Tage bei meinem Freund, Tage voll stillen großen Glücks. Am letzten Morgen kam ich Else entgegen, als sie gerade auf ihr Zimmer wollte. Es lag dem Fremdenzimmer gegenüber. Wir verkehrten als herzliche Freunde miteinander. „Darf ich einen Blick in Ihr Mädchenstübchen werfen?“ fragte ich, ihre Hand fassend.

„Gewiß, aber erwarten Sie kein Boudoir!“ sagte sie einfach. „Hier!“ Sie öffnete die Thür. Glänzend weiß alles, Wände und Vorhänge und Bett, nur die Weinranken, die vors Fenster gezogen waren, und die blühenden Geranien und Fuchsien brachten Farbe hinein. An der Wand hing ein Brett mit Büchern. Darunter das kleine, mit buntem Kattun bezogene Sofa. Ich setzte mich drauf, es war sehr hart. Sie lachte in ihrer reizenden Art. „Im Grunde nur eine große Kiste, die Polsterung von Moos aus dem Walde.“

Ich sah sie an und sagte mir mit stillem Bangen: „Siegfried, Du hast das Mädchen sehr lieb, lieber, als Du je eine gehabt hast.“

„Sie schauen mich so ernst an, woran denken Sie?“ fragte sie und neigte sich über ihre Blumen.

„Daran, daß ich fort muß und wir nicht mehr durch den Wald streifen werden.“

„Ach, es war so wunderschön,“ gab sie leise zur Antwort; „Sie sind mir so viel gewesen!“

„Else, geben Sie mir noch einmal die Hände –“

Sie stand vor mir, jung und schlank, und legte ihre Finger in meine ausgestreckten Hände. Ich sah lange zu ihr auf, sie zu mir nieder.

„Else!“ rief unten die Mutter.

„Ich muß gehen!“ flüsterte sie.

„Leben Sie wohl und grüßen Sie die Quelle!“

„Das will ich thun und an alles denken, was Sie da zu einem jungen thörichten Ding gesprochen –“

„Else!“ klang es wieder von unten.

Sie machte ihre Hände los.

„Else, wenn Sie einmal einen Menschen gebrauchen, dann denken Sie an den alten Freund Ihres Vaters!“

„Tausend, tausend Dank!“ sagte eine süße Stimme. Und ehe ich es ahnte, hatte sie sich über meine Hand gebückt und hatte sie geküßt mit weichen warmen Lippen. Und dann war ich allein. Ich lehnte gegen die Wand und sah durch die Geranien hinaus in den blauen Himmel, von dem die Sonne so hell und heiß herabschien. So schien sie jetzt herab auch auf ein einsames großes Haus nah’ der Kirche in meinem Dorf – –

Es war ein fröhlicher Abschied, als ich von dannen fuhr. Auch mit den Kindern allen war ich gut Freund geworden. „Behüt’ Gott – und auf Wiedersehen!“ klang es herzlich. Frau Elsbeth hatte Thränen in den Augen. Und als ich zurückblickte, sah ich aus Elses Giebelfenster ein weißes Tuch wehen. Ein Geraniensträußchen hatte ich im Knopfloch.

Werner kutschierte selbst. Er war ein anderer als am Tage, da ich kam. Auf dem Bahnhof tranken wir den letzten Schoppen. „Sagen thu’ ich Dir nichts, Siegfried,“ war sein letztes Wort, „aber Du weißt, wie es im Herzen eines Menschen aussieht, wie ich einer bin durch Dich, auch wenn er schweigt. Aber, nun gesteh’ mir auch,“ unterhrach er sich und legte die Hand auf meinen Arm, „wie kamst Du dazu – man findet solche Wunderkraft der Liebe nicht oft in der Welt – wie kamst Du dazu, den Gedanken zu fassen, daß Du mir so helfen wolltest aus der Not?“

„Wie ich dazu kam, Werner? Als Du mir erzähltest, daß Du dem weinenden Mädchen die fünfzig Thaler gegeben, ihren Vater zu retten. Nun weißt Du’s! Behüt’ Dich Gott!“ Wir drückten einander die Hände. So fuhr ich dahin.


Im Frühherbst. 
Da sitze ich denn wieder daheim in meiner stillen, ach so stillen Klause. Vor mir liegt ein Brief Werners. „Welche Wandlungen sind in meinem Hause vorgegangen,“ schreibt er mir, „seit Deinem gesegneten Hiersein. Du hast recht: Liebe vermag alles. Es ist Friede bei uns. Meine Frau ist wie erwacht zu einem neuen Leben, seitdem ich ein Anderer, Besserer geworden bin, und meine Else, auf deren junger Stirn sonst der Ernst oft so schwer lag, singt jetzt den ganzen Tag durchs Haus –“

So, Werner, also bei Dir hat sich’s gewandelt? Bei mir auch! Wo ist mein stilles Behagen und Genügen geblieben? Meine Freude an dem Winkel Erde hier, mein Gefallen an den einsamen Wegen, auf denen ich ging? Es ist alles anders [627] geworden. Mich hat’s gefaßt mit täglich wachsender Gewalt. Es ist ein Gast bei mir eingekehrt, ein holder Gast, auf den ich nimmer gerechnet – Frau Minne ist über Land gefahren und hat an meine Thür geklopft, und ich einsamer Gesell hab’ ihr aufmachen müssen. Viel Licht und Glanz kam mit ihr ins Haus, aber auch viel Unruh’ und Qual in ihrem Gefolge. Else, wie ist’s denn möglich? Das junge Kind und ich alter Mann! Nein, alt nicht. Ich recke die Arme, stark und frisch, wie der jüngste! Mein Herz geht in mächtigen Schlägen! Es hat lange Ruh’ gehabt, nun ist’s erwacht. An dies Herz möcht’ ich Dich ziehen, auf diese Arme möchte ich Dich heben und Dich über meine Schwelle tragen, ein stolzer Mann, stolz auf seine Bürde. Ich kann jung denken wie Du, ich kann mich freuen wie Du im hellen Lachen Deiner Fröhlichkeit. Dreiundzwanzig Jahr’ älter! Und dreiundzwanzigmal ist meine Liebe inniger, fester als die der andern, die um Dich werben mögen! – Else, es ist lange lange her, daß ich gedichtet hab’. Als ich von Dir ging, da hat der Quell wieder geströmt, und daran hab’ ich’s gemerkt, wie lieb ich Dich hab’.

Und soll’s denn auseinandergeh’n
Und soll’s geschieden sein,
Ich denke immer doch zurück
An Deiner Augen Schein,

So wie ich einsam Dich geseh’n
In Deiner Schönheit Glanz,
Wie Du des Freundes Seele hieltst
Im Zauberbanne ganz,

Wie ich mit Dir, Du holde Frau,
Beglückt hinging durch Berg und Au,
So ruf’ ich Dir’s beim Scheiden zu:
Mein Denken und mein Glück bist Du!

So greif’ denn zu, Siegfried, und hol’ Dir Dein junges Glück! Doch nein – ich bin kein Knabe mehr.

Ich will hinaus in die Luft, in den Wald. Frische, freie Luft!


Am Jahresschluß. 
Es ist Weihnachten gewesen. War früher ja auch einsame Zeit, jetzt nicht zum Ertragen. War ein köstlicher Winterabend, der Heilige Abend. Vollmond, alles auf Meilen hin bereift. Der Waldsee lag wie ein glänzender starrer Krystallspiegel da, und das Mondlicht, das bleiche, schien aus ihm zurück. Ich saß auf dem Stein unter der Eiche. Waldfrieden, Grabesruhe und ich ganz allein in der Welt unter den glitzernden Sternen. Es war nicht zum Aushalten. Und statt dessen – wie hätte es statt dessen sein können! Dein junges Leben neben mir in meinem Hause, Else, Deine Hände um meinen Hals, Dein Haupt an meiner Schulter, das Licht des Tannenbaums in Deinen leuchtenden Augen sich spiegelnd – – –


Im November. 
„Vater verunglückt! Kommen Sie schnell!“ Das Telegramm lag auf meinem Tisch, als ich heimkam. Acht Tage vorher war Werner bei mir gewesen. Wie hatte ich ihn willkommen geheißen! Aber von dem, was in meinem Herzen lebte, hatte ich ihm nichts vertraut, das war mein heiliges Geheimnis, an das durfte auch des Freundes Hand nicht rühren. „Wir fangen jetzt mit der Heuernte an,“ hatte er beim Wegfahren gesagt, „und leider werde ich selbst viel mitarbeiten müssen. Mein Knecht – Du kennst ihn ja – ist vor kurzem endgültig aus dem Dienst gegangen, und ich habe noch keinen neuen. Wenn aber die Heuernte vorüber ist, und ich wieder Zeit habe, dann komm’! Und Dein Eingang sei gesegnet!“ Er drückte mir die Hand zum letztenmal in dieser Welt.

„Vater verunglückt! Kommen Sie schnell!“ Das war recht, Else, daß Du mein Wort behieltest und in der schrecklichen Not an meine Hilfe dachtest. Meine Pferde kamen gerade vom Felde – mit dem Ackergeschirr ließ ich sie vor den Wagen legen; wenn ich sehr eilte, konnte ich noch zum Mittagszug auf der Station sein. Wir fuhren Galopp, der Knecht murrte laut über Schinderei; vorm Bahnhof hielten die Pferde zitternd an, der Zug stand schon da. Ohne Gruß wandte der Kutscher. Ich sprang hinein in den Waggon. Vorwärts! Vorwärts! Mir war, als ob nun auch mein Geschick in Erfüllung gehen müßte.

Als ich vor Werners Haus aus dem Wagen sprang, kam mir Else entgegen; verzweifelnd, kaum sich haltend. Sie lehnte das Haupt an meine Schulter und weinte, wie man um einen gestorbenen Vater weint. Dann richtete sie sich auf. „Gut, daß Sie gekommen sind! Helfen Sie mir! Mutter liegt halb bewußtlos.“ Mit gläubigem Vertrauen sah sie zu mir auf.

„Else, führen Sie mich zu ihm!“

Sie zitterte wie Espenlaub in meinem Arm, als sie mit mir vor der Leiche stand und meine Thränen auf sein zerschmettertes Angesicht fielen. Das war dein Ende, du schöner stolzer Bursche: nach einem verfehlten Leben vom Wagen geschleudert und am Brunnenrand die Stirn zerschmettert, hinter der so tiefe Gedanken gearbeitet, die du so hoch getragen und so frei in den Tagen der Jugend!

Stille heilige Tage des Schmerzes kamen und gingen. Wir hatten ihn zur Ruh’ gebettet und die letzten Kränze auf sein Grab gelegt. Die Mutter lag im Fieber: die einzige Stütze ihres Lebens, der Mann, den sie in ihrer Art so grenzenlos geliebt, der war dahin. Sie hatte nicht die Kraft zu sehen, was ihr geblieben war.

Ich ging neben Else dem Hause zu. „Ich muß morgen früh reisen, darf ich nachher auf Ihr Zimmer kommen, daß wir noch alles bereden und ordnen und –“

„Kommen Sie!“ bat sie mit leiser Stimme.

Ich klopfte an ihre Thür. Sie selbst that mir auf, das süße Geschöpf im dunklen Trauergewand. Sie reichte mir beide Hände. „Hier, nehmen Sie, was wir an Dank haben für Sie!“

Ich hielt die Hände fest und zog sie an mich und sah ihr in die Augen. „Else, ich möchte diese Hände halten, immer halten, mein Leben lang –“

Sie zitterte. Hochatmend sah sie vor sich nieder, dann hob sie den Blick, einen Blick, den ich nicht vergessen, der in den tiefsten Tiefen meiner Seele zu forschen schien. Ihre Finger umspannten die meinen fest. „Ich habe gewußt,“ begann sie mit verschleierter Stimme, „zu meinem Leid und meinem unendlichen Glück hab’ ich gewußt, ich wollte es nur nicht sagen, daß und wie Sie meinen Vater gerettet. Ich hab’ es auch gewußt, daß ich Ihnen lieb war, zu meiner Wonne, denn geliebt sein von Ihnen war für mich ein unfaßbares mächtiges Glück, zu meinem Leid, denn ich sagte mir in Thränen. was kannst du Kind dem Manne sein? Wird er nicht mit dir spielen und dann das Spielzeug in den Winkel stellen? Ich habe so Trauriges gesehen und wie schwer es einer Frau wird, im Winkel zu stehen. Da hab’ ich mir gelobt, in solchen Stunden, Nein zu sagen, wenn der Mann, an den ich bei Tag und bei Nacht denken mußte, zu mir käme. Und ich kann auch jetzt nicht Ja sagen, ehe ich eine Antwort von ihm habe, und die verlange ich jetzt. Haben Sie an mich gedacht, als Sie meinem Vater das Geld schenkten?“ Sie stand hoch aufgerichtet, das Haupt zurückgeworfen vor mir.

„Bei Gott, nein,“ sagte ich, „ich hab’ an anderes gedacht. Dein Vater weiß, woran!“ Da faßte sie, ehe ich’s hindern konnte, demütig meine Hände und legte ihr heißes Gesicht darauf. „So nimm mich hin!“ Und sie hob das Gesicht und streckte die Hände nach mir aus. „Siegfried!“

Zum erstenmal hörte ich meinen Namen aus ihrem Munde. Ich zog sie an mich und bettete ihr Haupt an meinem Herzen. Sie blickte auf aus glänzenden verweinten Augen.

„Ich weiß wohl,“ sagte sie, „ich hätt’s doch nicht thun sollen, aber ich konnte nicht anders. So nimm das arme junge Ding hin – Du hast’s ja nicht anders gewollt!“

Am ersten November war ihr einundzwanzigster Geburtstag. Da sind wir getraut worden in der Kirche ihres Heimatdorfes. Und dann fuhren wir fort in ihr neues Heim, das ihr Fuß noch nicht betreten, ihr Auge noch nicht gesehen. Sie hatte es nicht gewollt. Fest lehnte sie auf meinem Arm, als die Thür sich uns aufthat; strahlenden Auges sah sie um sich und hinein in die Reihe der hellerleuchteten Zimmer. Da fiel mein Blick in den großen Spiegel uns gegenüber: ihre ganze Gestalt stand da vor mir – an der Seite des Einsamen ein junges glückliches Weib.

Draußen pfiff und brauste der Novembersturm ums Haus, und die ersten Schneeflocken fielen. Wir saßen einander gegenüber, erhoben die Gläser und ließen sie hell zusammenklingen. Und wie sie trank, schaute sie übers Glas weg mit liebenden Augen auf mich, und es niedersetzend, reichte sie mir die Hand, mit Lächeln fragend: „Hast Du mich lieb?“

„Ja, ohne Wandel!“

„Und ich Dich!“

Und des Sturmes wilde Jagd ging heulend weg über das Haus. Das Feuer auf dem Herd sprühte auf und sank zusammen, und der Hofhund verbarg sich in seiner Hütte, mit der Kette rasselnd. Um Elses Schultern wallte ihr langes dunkles Haar. „Siegfried, küsse mich!“

Und der Sturm heulte weiter, hinausrasend über den Wald, die Sterne verhüllend. Brause nur zu – meine Sterne, die verlöschest du nicht!


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Blätter und Blüten.


Chinesische Infanterie aus der südlichen Mandschurei. Von der einheitlichen Durchbildung der japanischen Armee ist die chinesische weit entfernt. In China bilden die Streitkräfte jeder Provinz je einen selbständigen Heeres[k]örper, so daß deren im ganzen 23 bestehen, je unter dem Befehl des betreffenden Gouverneurs. Den Gouverneuren stehen jedoch die Kommandeure der Mandschu-Truppen, die sogenannten „Bannergenerale“ selbständig gegenüber. Die „Mandschu“ oder die Soldaten „der acht Fahnen“ bilden den alten vielfach begünstigten Kriegerstand des Reiches in der Stärke von etwa 288000 Mann; hiervon kommen jedoch für einen Feldkrieg nur 90000 nach europäischem Muster, unter Mitwirkung europäischer, besonders auch deutscher Offiziere ausgebildete Mannschaften in Betracht. Alles in allem mag die chinesische Heeresmacht etwa auf 1 Million Soldaten sich belaufen, wovon jedoch nur etwa 387000 für einen Feldkrieg verwendbar erscheinen. Unsere Abbildung zeigt eine Abteilung chinesischer Infanterie aus der südlichen Mandschurei, und zwar von solchen Truppen, die zu den „gutausgebildeten“ gehören sollen. Eine Uniform im eigentlichen Sinne besitzen sie nicht, höchstens tragen sie gleichgefärbte Oberkleider. Nur für die Offiziere ist in neuerer Zeit eine Uniform vorgeschrieben worden, die, wie die der japanischen Offiziere, Aehnlichkeit mit der französischen hat. Die Bewaffnung ist keineswegs einheitlich, die verschiedensten Gewehrsysteme finden sich in den Händen dieser Krieger beieinander. Daß es unter diesen Umständen auch mit dem Munitionsersatz im Gefecht seinen gewaltigen Haken hat, läßt sich leicht begreifen. Alles in allem betrachtet, wird die chinesische Armee, trotz ihrer zahlenmäßigen Uebermacht, im freien Felde der japanischen gegenüber stets einen äußerst schweren Stand haben.

Chinesische Infanterie aus der südlichen Mandschurei.
Nach einer Photographie gezeichnet von A. Wald.

Die neue Kunstakademie in Dresden. (Zu dem Bilde S. 613.) Längere Zeit war Dresden als Kunstschulstadt den wetteifernden Schwestern München, Berlin, Düsseldorf, Karlsruhe gegenüber dadurch etwas im Nachteil gewesen, daß die Räume der alten Kunstakademie ihrem Zwecke nicht mehr genügten und außerdem an einem würdigen Ausstellungsgebäude Mangel war. Nunmehr ist diesen Uebelständen abgeholfen. In der jetzt vollendeten neuen Kunstakademie samt dem mit ihr in organischer Verbindung stehenden Ausstellungspalast hat die Kunstpflege in Dresden ein reiches und prächtiges Heim gewonnen, die Stadt zugleich einen architektonischen Schmuck ersten Ranges.

Der neue Renaissance-Prachtbau auf der Brühlschen Terrasse ist eine Schöpfung des Baurats Konstantin Lipsius, des langjährigen Lehrers der Architektur an der Dresdener Akademie. Leider hat der Meister die Eröffnung des fertigen Werkes selbst nicht mehr erleben dürfen, am 11. April dieses Jahres ist er gestorben. Unsere Abbildung zeigt zunächst den der Elbe entlang gehenden Bau der Kunstakademie, mit einem etwas vorspringenden gekuppelten Mittelteil und zwei Seitenpavillons. Ein ebenfalls von einer Kuppel gekrönter niedrigerer Zwischenbau, in dem die Architektur ihr Heim aufgeschlagen hat, führt hinüber zum Kunstausstellungsgebäude, dessen Haupteingang, durch eine mächtige Säulenhalle gekennzeichnet, von unserem zweiten Bilde wiedergegeben wird. Neben verschiedenen kleineren Kabinetten enthält dieser Teil zwei große Ausstellungssäle, den einen im unmittelbaren Anschluß an die Halle des Haupteingangs, den zweiten unter der großen Kuppel, die mit ihrer tubablasenden, in Kupfer getriebenen Gestalt der „Fama“ die gesamte Anlage beherrschend überragt. Die noch größere Kuppel, welche auf dem Bilde rechts von dieser sichtbar ist, gehört nicht zu unserem Bauwerk, sondern zu der dahinter liegenden „Frauenkirche“. Was dem Beschauer sofort ins Auge fällt, ist der reiche plastische Schmuck, mit dem diese Kunstpaläste bedacht worden sind. Besonders freigebig ist jene oben genannte Säulenhalle vor dem Haupteingang zu den Ausstellungsräumen mit figürlichem Schmucke ausgezeichnet worden, und hier fiel Meister Johannes Schilling der Löwenanteil der Arbeit zu. Den Giebel überragt Pallas Athene mit Schild und Speer, ihr zu Füßen der Menschenbildner Prometheus und die sich entschleiernde Psyche; wie in diesen Figuren, so werden auch in denen des Giebelfeldes die mannigfachen Formen und Aeußerungen des künstlerischen Triebs im Menschen versinnbildlicht. Rechts und links von dem mit einem Apollokopf gekrönten Giebel stehen, zu Paaren geordnet, die von Hölbe geschaffenen Gestalten der Hauptkunststädte Deutschlands: München, Düsseldorf, Berlin und Dresden, während unten in der Halle ein Peter Cornelius von Kietz und ein Christian Rauch von Hultzsch Aufstellung gefunden haben.

Im Hafen von Bergen. (Zu dem Bilde S. 616 und 617.) In wunderbarer und vielgefeierter Schönheit liegt Bergen, Norwegens zweite Handelsstadt und einst ein hochberühmter Sitz der Hansa, am Abhang des Fløifjeld und zieht sich hinüber über eine buchtenreiche Halbinsel, deren südöstliches Ende durch das schmale Band der Nygaardsbrücke mit dem jenseitigen Festland verbunden wird. Von der Höhe des Fløifjeld aus, die unser Zeichner zum Standpunkt gewählt hat, genießt man einen ungehinderten Blick insbesondere auf die Halbinsel und auf das gegenüberliegende Ufer mit seinen Dörfern, Schlössern und Villen. Rechts im Vordergrunde schiebt sich der geräumige Hafen zwischen die Häuser der Stadt, jenseit der dichtbebauten Halbinsel Nordnaes dehnen sich die Fluten des Puddefjord, der nach links hin allmählich in die Enge der Solheimsvik übergeht und durch den Store Strom unter der erwähnten Nygaardsbrücke hindurch mit dem seichten Store Lungegaardsvand in Verbindung steht. Dank einem außerordentlich milden, wenn auch sehr feuchten Klima – der Regenschirm gehört zu den stehenden Attributen des Bergeners – gedeihen hier hoch im Norden fast alle deutschen Laubbäume und ein reicher Blumenflor, obwohl die Spitzen der benachbarten Berge mit Schnee bedeckt sind.

Als unser Zeichner sein Bild aufnahm, hatte Bergen gerade den Besuch der I. Division des deutschen Manövergeschwaders, die sich vom 19. bis 24. Mai d. J. dort aufhielt. Auf den glatten Fluten des Puddefjords liegen die Panzerschiffe „Baden“, „Bayern“, „Sachsen“ und „Württemberg“ nebst dem Aviso „Pfeil“. Beide Divisionen hatten damals dreieinhalb Wochen lang Manöver in der Nordsee, von denen sie am letzten Tage des Mai nach Kiel zurückkehrten.

Heimfahrt vom Manöver. (Zu dem Bilde S. 625.) Die letzte „Schlacht“ ist geschlagen, die letzte Kritik vorüber, die Manöver sind zu Ende. In den meisten Fällen geht es sofort, spätestens am andern Morgen, an die „Einschiffung“ der Truppen auf der Eisenbahn, damit sie so rasch als möglich ihre Garnisonen erreichen. Nur die berittenen Waffen oder solche Infanterie-Truppenteile, deren Standorte in nicht allzugroßer Entfernung liegen, pflegen von dem modernen Verkehrsmittel keinen Gebrauch zu machen. Nun ist solch ein militärischer Eisenbahntransport, der die Soldaten oft auf viele Stunden in die Enge der Wagen einkeilt, an sich ein mäßiges Vergnügen. Auf der Heimfahrt vom Manöver aber vermögen auch die herbsten Unbequemlichkeiten die fröhliche Stimmung nicht zu dämpfen. Eine Zeit ungewöhnlicher Strapazen ist nun glücklich überstanden, die Entlassung der „Reservemänner“ steht unmittelbar vor der Thür, das ist zuviel Zündstoff für das natürliche Heiterkeitsbedürfnis unserer jungen Vaterlandsverteidiger, als daß Ermattung oder Langeweile die Herrschaft behaupten könnten.


Inhalt: Um fremde Schuld. Roman von W. Heimburg (1. Fortsetzung). S. 613. – Die neue Kunstakademie in Dresden und das Portal des neuen Kunstausstellungsgebäudes. Bild. S. 613. – Im Hafen von Bergen. Bild. S. 616 und 617. – Das Wallenstein-Festspiel in Altdorf. Von Hans Bösch. S. 618. Mit Abbildungen S. 618 und 619. – Von der Weltausstellung in Antwerpen. Von P. Neubaur. S. 620. Mit Abbildungen S. 620, 621 und 622. – Wandlungen. Novelle von Gerhard Walter (Schluß). S. 623. – Heimfahrt vom Manöver. Bild. S. 625. – Blätter und Blüten: Chinesische Infanterie aus der südlichen Mandschurei. Mit Abbildung. S. 628. – Die neue Kunstakademie in Dresden. S. 628. (Zu dem Bilde S. 613.) – Im Hafen von Bergen. S. 628. (Zu dem Bilde S. 616 und 617.) – Heimfahrt vom Manöver. S. 628. (Zu dem Bilde S. 625.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.