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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[533]

Nr. 32.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Brüder.
Roman von Klaus Zehren.
(5. Fortsetzung.)


Man begab sich in den Speisesaal, wo an kleinen Tischen gedeckt war.

„Ich bitte, Platz zu nehmen,“ sagte Lore lachend, zu dem Prinzen und Edda gewendet, die mit ihr und Hermann zu einem der Tischchen getreten waren.

„Ich wette, wir bilden die seltsamste Gesellschaft des heutigen Tages: ein russischer Prinz, eine approbierte Doktorin in Balltoilette, ein Gardelieutenant ohne Monocle und zuletzt, nun – der Rest einer jungen Frau.“

„Aber ein beau reste,“ meinte Prinz Sissi schlagfertig.

Eine allgemeine Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen; der Russe begnügte sich mit einigen spöttischen Bemerkungen und Hermann führte über den Tisch hinüber mit Edda ein angeregtes Gespräch, das die andern nicht interessierte – über die Emanzipation der Frauen. Dabei ließ er keinen Blick von seinem Gegenüber. Lore wurde ungeduldig, je mehr ihr Schwager sich Edda zuwandte. Nervös spielten ihre Finger mit einer Messerbank, während sie die feine Unterlippe zwischen die Zähne klemmte und sich zerstreut im Zimmer umblickte, als wollte sie sich von dem Wohlbefinden ihrer Gäste überzeugen. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Sie fühlte sich unzufrieden, ein Gefühl des Verlassenseins kam über sie.

Dort saß ihr Mann neben einer jungen Witwe, einer etwas exotischen Schönheit mit einem Paar dunkler mandelförmiger Augen. Jetzt hob Bruno das Glas und berührte damit leicht das seiner Nachbarin, während er ihr einige Worte zuraunte, vor denen sie mit lachenden Lippen sich in den Schutz eines riesigen Fächers von Straußenfedern zurückzog.

Lore zuckte zusammen. Sie kannte diesen Ausdruck in seinem hübschen leichtsinnigen Gesicht, in seinen dunklen Augen. Wie oft hatte sie an seiner Brust gehangen und glücklich zu ihm aufgeschaut, weil sie glaubte, er könne niemand sonst in der Welt so ansehen! Es rieselte ihr kalt durch die Adern, langsam, schmerzhaft. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie nach Hermanns breiter kräftiger


Von der Kieler Regattawoche: Der Blumenkorso am Abend des 28. Juni 1894.
Nach dem Leben gezeichnet von F. Stoltenberg.

[534] Hand greifen, die neben ihr auf dem Tischtuch lag, und ihn anflehen: hilf mir, du, der so stark ist, so klar und fest! Ohne es zu wollen, legte sie ihre Hand dicht neben die seinige, welche er, der Berührung ausweichend, mechanisch langsam herabgleiten ließ, unwillkürlich einer gesellschaftlichen Form genügend und ohne den Blick ihr zuzuwenden.

Ein Diener fragte, ob jetzt Champagner gereicht werden solle.

„Ja, ja, schnell! Hier zuerst!“ befahl sie rasch, froh, etwas sagen zu können.

Da blickte sie in Prinz Sissis Augen, in diese seltsam geformten slavischen Augen, darin glomm etwas, verstohlen, brennend heiß. Es war ein fast unterthäniges Aufschauen, ein vollständiges Aufgehen in ihrem Anblick. Dieser wenigstens gehört mir mit Leib und Seele! zuckte es ihr durch den Sinn. Der Ring an ihrer Rechten klirrte zitternd gegen das Glas, das sie ihm entgegenhob. „Sie träumen, Prinz! Macht das die deutsche Luft?“

Er fuhr zusammen, hob aber dann rasch sein Glas, mit den Augen die ihrigen nicht loslassend. So hatte ihn Lore von Weßnitz noch nie angesehen!

Um sich zu sammeln, blickte er Edda Helm von der Seite an. Sie lehnte ruhig auf ihrem Sitz, das scharf gezeichnete Profil Herrn von Weßnitz zugewandt, und horchte aufmerksam auf dessen Worte. Wie ruhig, wie so ganz ohne leidenschaftliche Regung ihm dies Antlitz erschien! Er fühlte plötzlich etwas wie das Sehnen nach einem unbekannten herrlichen Lande, das noch keines Menschen Fuß betreten. Diese würde dich retten, nicht Lore und nicht all die andern! rief ihm eine innere Stimme zu.

„Woran denken Sie, Prinz?“ fragte Lore, sich hoch aufrichtend, mit einem nervösen Zittern um den kleinen Mund. „Sind Sie mit der Erfindung eines neuen Frackmodells beschäftigt?“

Ohne auf Lores Neckerei einzugehen, sagte er ernst: „Ich habe gedacht, gnädige Frau, daß wir Gesellschaftsmenschen doch eigentlich Sklaven des Lebens sind, daß wir niemals in uns selbst frei bleiben können. Und jedes kämpft trotzdem sein Leben durch mit dem Anspruch auf freien Willen, der sich gegen den Zwang aufbäumt. Ich habe den Kampf aufgegeben, aber ich beneide jene anderen, die sich ihre Freiheit bewahren wollen.“

In seinem Gesicht lag ein scharf ausgeprägter Zug von schmerzlicher Ergebung, aber nur eine Sekunde lang. Ohne ihre Entgegnung abzuwarten, plauderte er plötzlich lustig drauf los, erzählte einige boshafte Geschichten aus Paris, wie sie Lore sonst nie hatte leiden mögen, und war erstaunt, daß sie aus vollem Herzen darüber lachte.

„Und ich behaupte dennoch,“ erhob Hermann im Eifer seines Gesprächs mit Edda die Stimme lauter, „daß eine Frau, die sich einem männlichen Beruf, besonders dem Studium der Medizin widmet, Gefahr läuft, etwas zu verlieren, was eine Göttin den meisten Frauen in die Wiege legt.“

„Und das wäre?“ fragte Edda ruhig.

Er sah ihr scharf in die Augen und besann sich eine Sekunde. „Die unbewußte Anmut. Ich darf diese Ansicht offen aussprechen einer Dame gegenüber, die eine Ausnahme von der Regel bildet.“

„Kinder, seid nicht so gelehrt!“ rief Lore, während Edda ihr für die Unterbrechung einen dankbaren Blick zuwarf. „Es ist wirklich unerhört – da stehen die beiden Champagnergläser noch unberührt, dagegen muß ich als Wirtin protestieren! Auf gute Freundschaft!“

Edda trank haftig, noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Irgend jemand hielt jetzt einen heiteren Trinkspruch; es antwortete ein anderer – man trank auf Lores Gesundheit, auch Doktor Helm winkte mit einem gefüllten Glas in der Hand herüber und jedesmal schlürfte seine Tochter den perlenden ihr ungewohnten Wein achtlos hinunter, sich an der Kühle labend, so daß Hermann ab und zu einen erstaunten Blick auf sie richtete.

Die Anwesenden bekamen allmählich etwas erhitzte Gesichter; hier und da hörte man ein helles lustiges Lachen. Es drängten sich Herren an den Tisch, um mit der Dame des Hauses anzustoßen; einer und der andere redete auch Edda an, angezogen von dem eigentümlichen Aeußeren des Mädchens, dem der Wein das Blut in schweren Wellen in die sonst bleichen Wangen trieb, ohne daß sie ahnte, wie leuchtend schön ihre Gesichtsfarbe in dieser stärkeren Färbung erschien. Man sagte ihr liebenswürdige Worte, sie raffte sich zu einigen witzigen Gegenbemerkungen auf, die etwas spöttisch ausfielen, aber doch die Aufmerksamkeit der Herren erregten. Ihr war, als sei sie nicht mehr dasselbe Menschenkind wie vordem, als sei in ihr ein Wesen erwacht, das sie bisher niemals gekannt hatte. Dazu dann die lustige Bewegung einer Gesellschaft nach aufgehobener Tafel, aus dem großen Nebenzimmer der lockende Klang eines Walzers. Sie fühlte, wie ihr Pulsschlag rasch und rascher flog. Der elegante Offizier, der eben mit ihr scherzte, war ihr nicht mehr ein gleichgültiger Mensch, sondern ein Mann mit einem kecken hübschen Gesicht, an dem sie Wohlgefallen fand.

Schließlich bot ihr Weßnitz den Arm; ganz ohne Verabredung hatten er und der Prinz die Damen getauscht. Auch Hermann sah jetzt anders aus und die Hand, die er Edda reichte, als er ihr „Gesegnete Mahlzeit“ wünschte, war heiß. Und dann ruhte ihr Arm auf dem seinigen und sie schritt neben ihm durch den Saal, mit einem Gefühl völliger Sicherheit. Frei blickte sie mit glänzenden Augen von der Seite zu ihm auf.

„Mir ist, als träumte ich,“ sagte sie leise, nachdem sie dem Gedränge der sich zum Tanz anschickenden Paare entronnen und in ein anstoßendes menschenleeres Zimmer gelangt waren. „Freilich, ich weiß genau, daß es der Einfluß des Weines ist, den ich nicht gewohnt bin, und morgen werde ich mit Kopfschmerz büßen müssen.“

Langsam ließ sich Edda auf einen Sessel nieder. Von draußen tönte, durch die Portieren gedämpft, die Musik zu ihnen herein. Hermann lehnte dicht neben Edda an einem Tisch. Sie hob den Blick voll zu ihm auf. Er fühlte, während sie einigemal tief atmete, dies kurze Anschauen wie eine Macht, gegen die er sich nicht wehren mochte.

„Wissen Sie, daß diese Balltoilette Sie außerordentlich gut kleidet, daß Sie ganz wundervoll aussehen?“ flüsterte er ihr zu, einer plötzlichen Regung gehorchend.

Sie schloß langsam die Augen, die langen Wimpern senkten sich dunkel, tief auf die Wangen, ein träumerisches Lächeln spielte um ihren Mund. Für Hermann war dies Gesicht unvergleichlich achön, wie es jetzt langsam, wie schlaftrunken auf die Lehne des Sessels zurücksank.

Eine ganze Weile blieb sie so. Hermann wurde unruhig. Was hatte sie? War sie ohnmächtig? Wußte sie von sich? Er faßte leise ihre Rechte; sie war kalt.

Mein Gott, wenn jemand sie so fand, hier mit ihm allein! Unwillkürlich beugte er sich dicht über ihr Gesicht und rief gedämpft ihren Namen, in der Verwirrung sogar den Vornamen.

„Edda!“

Diese halb geöffneten weichen Lippen, zwischen denen kaum sichtbar die weißen Zähne schimmerten! Wer diesen Mund küssen dürfte! schoß es ihm durch den Sinn. Ein scheuer Blick nach der Thür und er senkte seine Lippen auf die ihren. Kein Atemzug Eddas, keine Bewegung, daß sie empfand, was geschah.

Eine Sekunde seligen Vergessens, dann taumelte Hermann in die Höhe. Wie unritterlich, das zu thun, wie unüberlegt! Er stürzte hinaus, fand nach einigem Suchen Lore und flüsterte ihr einige Worte zu.

Diese blickte ihm eigentümlich prüfend in das erhitzte Gesicht. „O, das kommt schon vor, es wird nichts Schlimmes sein! Wo ist sie?“

Er deutete nach einer Thür. Als Lore eintrat, saß Edda aufrecht auf ihrem Stuhle, die Augen wie geistesabwesend starr vor sich hin gerichtet.

„Mir sagte soeben mein Schwager, Sie seien nicht wohl. Soll ich Ihren Vater holen, liebe Edda?“

„Nein, nein, bitte nicht! Das würde ihn beunruhigen! Nur Wasser!“ stammelte diese, sich mit beiden Händen an die Stirn fassend.

Eilig besorgte Lore das Gewünschte. Als schüttle ihre Glieder ein innerer Frost, so schauderte Edda zusammen.

„Kommen Sie, liebes Kind, hier nebenan ist mein Ankleidezimmer! Legen Sie sich dort auf das Ruhebett, ich werde in einer Viertelstunde wiederkommen.“

Wortlos, wie ein gehorsames Kind folgte Edda den Anordnungen der Freundin, die ihr das Zimmer öffnete und dann hinausging. Sie atmete auf und warf sich auf die Chaiselongue. Dieses gräßliche Kleid, die ungewohnte Umgebung, die Lichter, die Hitze und der Wein – das alles war schuld! Sie suchte sich darauf zu besinnen, was vorgegangen war. Hatte ihr nicht jemand gesagt, daß sie schön sei? O ja, sie erinnerte sich – sie hatte erwidern wollen, es sei ihr höchst gleichgültig. Ob sie aber wirklich diese Worte gesprochen hatte, wußte sie nicht mehr. Hernach war [535] es ihr gewesen, als senke sich eine rosig leuchtende Wolke auf sie herab – ein unendlich wohliges Gefühl, eine süße Mattigkeit; irgend etwas raubte ihr die Besinnung, den Atem, als sollte sie ersticken, und dann? Dann war sie aufgefahren, hatte sich allein im Zimmer gefunden, bis plötzlich Frau von Weßnitz vor ihr stand.

Es war ja am Ende nichts Außerordentliches dabei, ein kaltes Bad morgen früh würde ihre Nerven wieder in Ordnung bringen. Und dennoch überkam sie plötzlich ein Ekel vor sich selbst; es war ihr, als sei eine Veränderung mit ihr vorgegangen, als sei ihr ganzes Wesen von einer Leidenschaft erschüttert, die ihr fremd war und sie erschreckte. Und mit einmal blitzte der Gedanke in ihr auf: Hermann von Weßnitz war zuletzt bei dir! Er wird seine Schwägerin gerufen haben. Habe ich mich verraten? Hat er irgend etwas von dem bemerkt, was in mir vorging?

Sie sprang auf. O, sie wollte ihm zeigen, daß sie genau so war wie früher!

Rasch ordnete sie ihren Anzug mit Hilfe der herbeigerufenen Zofe. Ein Blick in den Spiegel. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, der Teint war grau. Sie kühlte die schmerzende Stirn mit einem angefeuchteten Tuch und verließ das Zimmer, einen herben leidenden Ausdruck in ihren Zügen.

An der Thür zum Tanzsaal blieb sie stehen. Dort wirbelten die Paare durcheinander in rauschendem Reigen. Man lachte, man plauderte, dazwischen Sporenklirren und Gläserklingen. Dort tanzte Lore mit Prinz Sissi; ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten, Leben und Lebensdrang sprach aus jeder ihrer Bewegungen, während ihr schöner Körper nach dem Klange der Musik sich wiegte. Hermann war nicht zu sehen.

Ein Narrenhaus! dachte Edda, und dennoch regte sich in ihr der Wunsch, auch so als „Närrin“ mitthun zu können, ohne Besinnen unterzutauchen in diesen Strom. Ein Herr forderte sie zum Tanz auf und sie mußte über sein erstauntes Gesicht lachen, als sie erklärte, nicht tanzen zu können.

„Gut, dann gestatten Sie mir, Ihnen einige Minuten Gesellschaft zu leisten. Wünschen Sie irgend eine Erfrischung? Sie sehen ermüdet aus.“

„Nein, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Dame des Hauses, die dort am anderen Ende des Saales eben zu tanzen aufhört, sagen wollten, sie möchte mir meinen Vater hierherschicken.“

„Mit größtem Vergnügen.“ Der Herr eilte weg.

Hermann war inzwischen in das Rauchzimmer gegangen, wo er Eddas Vater im Kreis älterer Herren wiederfand. Das scharfgeschnittene Gesicht des Doktors leuchtete aus dem Tabaksdunst hervor. Man schien eifrig zu debattieren und Helm hatte offenbar mit seinem schlagenden Witz die Leitung der Unterhaltung an sich gerissen.

In der Thüre erschien jetzt auch Lore und winkte dem Schwager mit einer Handbewegung.

„Edda ist wieder ganz wohl,“ flüsterte sie ihm zu, als er zu ihr trat. „Sie sitzt dort drüben im Nebenzimmer ohne Gesellschaft und wartet auf ihren Papa, der aber wohl schwer aus seiner lebhaften Unterhaltung hier loszureißen ist. Du könntest ihr wohl indessen Gesellschaft leisten.“ Sie nickte ihm freundlich zu und er eilte davon, dem ihm von Lore bezeichneten Zimmer zu, demselben, in dem er vorhin mit Edda zusammengewesen war. Diese hatte ihn schon von weitem kommen sehen. Sie saß auf dem gleichen Sessel wie vorhin und dennoch schien sie eine andere zu sein, so verändert war ihr Aeußeres, der Ausdruck ihres Gesichts.

„Sind Sie wieder ganz wohl, Fräulein Helm? Ich habe mich selten in einer so hilflosen Lage befunden.“

Edda lächelte unwillkürlich. Dieser Gegensatz zwischen der hohen kraftvollen Erscheinung und der selbsteingestandenen Hilflosigkeit! Sie mußte daran denken, welch ein verblüfftes Gesicht er bei ihrer Ohnmacht gezeigt haben mochte.

„O, es war nur eine Kleinigkeit! Aber ich bedauere, Ihnen einen Schreck eingejagt zu haben.“

„Daß es nichts Ernstes war, bemerkte ich schon,“ sagte Hermann verlegen. „Uebrigens sitzt Ihr Herr Vater sehr vergnügt im Rauchzimmer und unterhält alle Anwesenden!“

„Ich habe schon Lore bitten lassen, ihn hierherzusenden. Würden Sie nicht die Güte haben, ihm mitzuteilen, daß ich jetzt gern nach Hause möchte? Ich denke, für ihn wie für mich ist es genug, Mitternacht ist lange vorüber.“

Wortlos ging er hinaus. Man tanzte den Kotillon. Er nahm einen Strauß frischer Maiglöckchen und rief dann den alten Doktor. Edda kam den beiden Herren, als sie miteinander zurückkehrten, schon aus der Garderobe entgegen, eingehüllt in einen weiten grauen Mantel und um den Kopf einen dichten schwarzen Schleier, unter dessen Falten ihr Gesicht fast geisterbleich hervorleuchtete.

Hermann war erstaunt über den seltsamen Ausdruck dieser Züge. Man muß sich bei ihr immer aufs neue zurechtfinden! dachte er, während er sie zum Wagen führte.

Als sie schon Platz genommen hatte, reichte er ihr das Sträußchen. „Eine kleine Erinnerung an den heutigen Abend!“

Sie griff mit einer verwirrten linkischen Bewegung nach den Blumen. „Ich danke. Gute Nacht, Herr von Weßnitz!“

Ein kurzer Händedruck, dann rollte der Wagen davon.

„Ein netter gescheiter Kerl, dieser Weßnitz! Mir lieber als der Bruder! Ein Mann von gutem Schrot und Korn, der fest in seinen Schuhen steht,“ sagte Doktor Helm, sich in seinen Pelz wickelnd.

Edda schmiegte sich schweigend in die Wagenecke. Sie drückte die Hand fest um das kleine Sträußchen, führte es empor und senkte, tief atmend, das Gesicht darauf hinab. Wie ein schmeichelnder Traum umfing der Duft der frischen Blumen ihre Sinne.

„Thorheit!“ flüsterte sie dann plötzlich, mit einem hastigen Ruck ließ sie das Fenster herab und warf die Blumen hinaus.

„So schließe doch das Fenster!“ murmelte ihr Vater halb schlaftrunken.

Edda erwiderte nichts, die Lippen fest aufeinander gepreßt, zwischen den Augen eine tiefe Falte, starrte sie durch die trüben Fensterscheiben, gegen die der Wind prasselnd Schnee und Regen schleuderte. – –

Als Hermann in die Gesellschaftsräume zurückkehrte, rüsteten sich die Gäste schon zum Aufbruch. Er selbst fühlte sich übellaunig und abgespannt. Lore stand mit müdem Gesichtsausdruck in einem Kreise von Herren und Damen und nahm von jedem einzelnen mit mühsam stets neubelebtem Lächeln die Versicherung entgegen, daß der heutige Abend reizend gewesen sei.

„Gute Nacht, Lore!“ sagte ihr Schwager, von rückwärts an sie herantretend.

„Bitte, bleib’ noch einen Augenblick!“ flüsterte sie ihm hastig zu, und gutmütig trat er wieder zurück. Als sich die Flügelthüren hinter dem letzten Gaste geschlossen hatten, schlug Lore plötzlich beide Hände vor das Gesicht, das gleichmäßige Lächeln der letzten Stunden verlor sich mit einmal, und sich rasch zu Hermann wendend, rief sie nerväs aus:

„Mein Gott, ist das ermüdend und geisttötend! Hast Du einige Minuten Zeit für mich? Bruno kann wie gewöhnlich kein Ende finden und hat noch einige Freunde zu einem Spiel in sein Rauchzimmer geführt.“

Sie gab einem Diener den Auftrag, zwei Tassen Kaffee zu bringen, und ging dann, ohne Hermanns Zustimmung abzuwarten, voran in ihr Boudoir, dort warf sie sich wie gebrochen auf einen Sessel.

„Du glaubst nicht, wie ich mich von hier fortsehne!“ begann sie, Hermann eine Tasse Kaffee reichend. „O, nur hinaus aus diesem ekelhaft übertünchten Gesellschaftsflitter, aus diesem Wirrwarr von gleichgültigen Menschen mit geschwätziger Liebenswürdigkeit, nur vier Wochen hinaus aus der Stadt, um zur Ruhe zu kommen, meinem Kinde zu leben!“

Hermann blickte sie mitleidig an, sie that ihm aufrichtig leid. Wenn er daran dachte, wie sie als Mädchen war – still, genügsam, stets heiter und sorglos . . . und jetzt? „So mach’ doch kurzen Prozeß und geh’ mit Deinem Jungen auf zwei Monate nach Weßnitz!“ sagte er herzlich.

„Nach Weßnitz?“ wiederholte sie langsam seine letzten Worte wie jemand, der von einer lange vergessenen Heimat spricht. Vor ihrem Geist tauchte deutlich das Bild des alten viereckigen Gutshauses auf mit dem grünen Epheu an der Ostseite, mit seinen gemütlichen Zimmern und den glänzenden Mahagonimöbeln, und in dem Lehnstuhl am Ofen Brunos Vater im langen weißen Bart, mit der brennenden Meerschaumpfeife; auch der Winkel hinter der Hausthür, wo sie als Kinder im Zwielicht so oft zusammen kauerten und sich Räubergeschichten erzählten.

„Und Bruno soll ich hier allein lassen?“ fragte sie erregt nach einer kurzen Pause.

„Nun ja, warum denn nicht?“

[536] „Nein, nein; das will ich nicht! Ohne mich würde er wie ein Junggeselle leben, noch mehr, als er es jetzt schon thut!“

Hermann senkte nachdenklich den Kopf und rührte langsam mit dem Löffel in der Tasse herum. Konnte er ihr widersprechen? Arme Lore! Sie kam ihm vor wie ein gehetztes Wild, unstet, nirgends sichere Ruhe erspähend.

Ihre Augen hingen an seinem Gesicht. Wenn er bei ihr war, fühlte sie sich ruhiger, die schlichte Festigkeit seines Wesens schien ihr ein Bollwerk gegen alle Stürme. Hier, hier war ein Mensch, zu dem sie vor sich selbst flüchten konnte! Eine unbeschreibliche Sehnsucht nach dem Glück, das einst, von ihr ungeahnt, ihr Leben gestreift hatte, stieg in ihr auf. Aber war Hermann denn noch derselbe wie ehedem, wie bis vor wenigen Wochen? Was würde sie ihm noch sein, wenn er eine große Neigung faßte zu jenem Mädchen, das ihn verstand, ihn würdigen konnte?

„Was sagst Du zu Edda Helm?“ fragte sie unvermittelt, das Schweigen brechend.

Er war nicht erstaunt über diese Frage, weil seine Gedanken sich gerade mit Edda beschäftigt hatten; ihm hatte das Bild der Ohnmächtigen vorgeschwebt, der seelenvolle weiche Ausdruck in den sonst so herben Zügen.

„Ich denke nach über sie.“

„Findest Du sie nicht schön?“

„Nein, schön finde ich sie nicht. Aber sie hat ein Gesicht, das man nie vergißt, weil es die Gedanken beschäftigt.“

Lore schaute ihn prüfend an. „Könnte Dir eines solchen Mädchens Dasein interessant werden?“

„Ja, denn es giebt mir zu raten.“

„Geh’ mir nicht aus dem Wege! Könntest Du sie lieb gewinnen?“

Er fuhr auf.

Nun wußte sie genug; sie lächelte wehmütig. „Aber weshalb denn so erregt? O, wenn dies Mädchen einen Mann liebt, wird sie alles von sich werfen, rücksichtslos, selbst ihren weiblichen Stolz, und wird ihm gehören mit Leib und Seele.“

„Ein solches Mädchen sollte lieben können wie andere? Glaubst Du das, Lore?“

„Sicherlich! Nur größer, stärker!“

Edda Helm die Seine! Ein heißer Blutstrom schoß ihm durch die Adern.

„Ach, Unsinn, Lore! Daß Ihr Frauen doch das Ehestiften nicht lassen könnt! Geh’ zur Ruhe, Du siehst übermüdet aus.“

Sie lächelte wieder mit demselben eigentümlichen Lächeln wie vorhin. „Gute Nacht, Hermann!“ Und dann ihm beide Hände auf die Schultern legend: „Wenn ich einem Menschen in der Welt etwas Gutes gönne, so bist Du es. Und nun versuche, ob Du die späten Gäste auf anständige Weise aus dem Rauchzimmer vertreiben kannst, es ist vier Uhr vorüber.“

Mit müden Schritten ging sie langsam zur Thür.

In ihrem Schlafzimmer angelangt, sank sie aufs Sofa. „Den habe ich nun auch verloren,“ murmelte sie erregt. „Nur die Bande der Verwandtschaft und unserer gemeinsam verlebten Kindertage verknüpfen mich noch mit ihm. Und Bruno? Mein Gott, wie gleichgültig ich neben ihm hergehen kann! Warum vernachlässigt er mich, läßt mich stets allein mit diesem Russen, der mir schmeichelt mit seiner blinden Ergebenheit? Er achtet gar nicht auf den Prinzen, auf mich, gerade als wäre ich ein Wesen ohne Schwäche, ohne Blut in den Adern. Oder hält er mich nicht mehr für schön genug, eines anderen Mannes Liebe zu erwerben?“

Ein schrilles Lachen tönte durch das Schlafgemach. Nicht mehr schön genug! Sie strich die goldenen Locken aus der Stirn und eilte zum Spiegel. Ein trotziger Zug legte sich um ihren Mund, als sie ihre biegsame Gestalt in dem eng anliegenden mattgelben Seidenkleid betrachtete. O, Bruno sollte schon sehen! Wenn er sie reizte – – Sie beugte lauschend den Kopf zur Seite. Im Nebenzimmer lallte eine Kinderstimme abgerissene Worte im Schlaf.

„Edgar!“ rief sie und wankte an das Bett ihres Kindes.

Der Knabe schlief fest, erwachte auch nicht bei dem Lichtschimmer des über sein Lager gehaltenen Lichtes. Lore blickte lange nieder auf das rosige Gesicht. „Nein, nein, Du sollst Dich Deiner Mutter nicht zu schämen brauchen,“ flüsterte sie und senkte langsam den Kopf. – 0000000000


Im Rauchzimmer herrschte eine abscheuliche Luft. Der Qualm der Cigaretten und Cigarren vermischte sich mit dem Dunst von Wein, Bier und Punsch. Um einen runden Tisch saßen noch einige Herren, Prinz Sissi auf dem Sofa mit einem vergnügten Kindergesicht wie ein Knabe beim „Schwarzen Peter“. Er litt nie unter den Wechselfällen des Spiels. Was galt es ihm, ob er Tausende verlor oder gewann! Und weil er so gleichgülag gegen die Höhe der Summe war, machte er nie aus eigenem Antrieb höhere Sätze, sondern spielte nur gerade hoch genug, um sein Vergnügen bei der Sache zu haben.

Eben hatte der Prinz die Bank übernommen. Ihm gegenüber saß Bruno nachlässig auf dem Stuhle, mit eleganter Bewegung die Einsätze vor sich hinschiebend. Er hob die Karten nie hastig auf, sondern mit der Ruhe eines gewiegten Spielers, langsam, mit halb geschlossenen Augen, ohne neugierige Blicke auf den Tisch, und erst dann, wenn alle anderen bereits ihre Blätter gesehen hatten. Aber der feine Beobachter bemerkte doch, wie sehr das Spiel ihn beschäftigte, wie jede Fiber in ihm gespannt war, die Vorteile auszunutzen, wie oft eine kaum merkliche Röte über seine etwas blassen Züge huschte. Der andere Kartenhalter war ein junger Assessor, der vor sechs Wochen die Tochter eines Kommerzienrats geheiratet hatte. Die übrigen Anwesenden beteiligten sich nur hier und da mit kleinen Einsätzen auf irgend eine Karte.

Hermann trat hinter Brunos Stuhl, um einen günstigen Augenblick für die Erfüllung von Lores Bitte abzuwarten.

Prinz Sissi nickte ihm lächelnd zu. „Sie sah reizend aus, die Helm,“ meinte er, ohne die Cigarette aus dem Munde zu nehmen, während er die Karte abheben ließ. Dann fiel sein Blick auf das unbefriedigte Gesicht eines jungen Lieutenants, der beiseite stand, weil fortgesetzter Verlust und ein Rest von Besinnung ihn hatten aufhören lassen. „Aber, lieber Baron, Sie setzen ja nicht mehr mit!“

Dieser zuckte die Achseln und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung.

„Nur nicht weglaufen!“ rief der Russe. „Kommen Sie, ich gebe Ihnen tausend Mark! Man muß das Glück zwingen!“

„Ich möchte lieber nicht,“ antwortete der Lieutenant, war aber offenbar doch geschmeichelt durch die Aufmerksamkeit des Fürsten.

„Machen Sie keine Umstände! Rückzahlung nach Belieben, meinetwegen, wenn Sie Hauptmann geworden sind! Hier, ich gebe die Bank ab. Setzen Sie – ich wette, in einer halben Stunde haben Sie Ihre Verluste ausgeglichen.“

Hermann ärgerte sich über den Russen, aber er war klug genug, zu schweigen.

Der Prinz stand auf, trank ein Glas Selterswasser und sah dann lächelnd zu, wie der Offizier aufs neue an dem Spiel teilnahm und nach Art des Anfängers regelmäßig ein Zwanzigmarkstück setzte. „Das ist geradezu Selbstmord, lieber Freund! Sie können so nicht ordentlich gewinnen. Hundert Mark! So ist’s recht! Sehen Sie, großer Schlag! Und nun den Gewinn stehen lassen! Gut gekauft – so fängt man das Glück!“ rief er lachend, während er für sich selbst einen Geldschein auf eine Karte schob.

„Lassen Sie die Summe stehen, Prinz?“ sagte Bruno langsam, mit einem Ton in der Stimme, als wünsche er das. Die Bank, die er jetzt übernommen hatte, war stark zusammengeschmolzen.

„Wie hoch hält die Bank?“

„Alles!“ erwiderle Bruno, während er ein Stück Papier mit einer Zahl und seiner Unterschrift versah und vor sich zu dem Gelde legte.

Weßnitz verlor noch zweimal.

„Nun, Prinz?“

„Ich lasse es wieder liegen.“

„Das isl kein Spiel mehr,“ knurrte der Assessor, ohne gehört zu werden.

Die Karte schlug für Bruno. Der Russe lächelte fein.

„So kann ich mich nicht behandeln lassen! Ich halte die Bank!“

Es trat Stille ein. Dem Lieutenant, der zwei Karten zu nehmen hatte, zitterte die Hand, obgleich er selbst nur mit einer kleinen Summe beteiligt war.

„Nehmen Sie einen Schlag auf zwei Karten an, Prinz?“ fragle Bruno, die Blätter verteilend.

Dieser nickte und trat gleichgültig an einen Nebentisch, um sich einen Chartreuse einzuschenken. Beim Umwenden streiften seine

[537]

 „Lais.“  „Carina.“  „Varuna.“   „Mücke.“  „Wiking.“  „Meteor.“  „Irene.“
Von der Kieler Regattawoche: Nach dem Start am 23. Juni 1894.
Nach der Natur gezeichnet von F. Stoltenberg.

[538] Frackschöße den Tisch, die hart am Rande liegenden Karten herunterwerfend. Sie blätterten über Brunos Schoß zur Erde. Unwillkürlich griff dieser danach und fing mit der Rechten einige auf.

Hermann hatte den Atem angehalten; er sah ein As und eine Zehn in des Bruders linker Hand.

„Kleiner Schlag!“ rief der Lieutenant mit vor Aufregung heiserer Stimme.

„Großer Schlag!“ sagte Bruno langsam, Herz-As und eine Acht auf den Tisch legend.

„Entschuldige, Bruder, wenn ich Dich auf einen Irrtum aufmerksam mache, aber mir schien, als hättest Du diese Karte soeben aus Mißverständnis mit jener verwechselt, während das Spiel herunterfiel.“

Es herrschte für eine Sekunde atemlose Stille. Bruno starrte noch bleicher als vorhin auf das Herz-As, dann raffte er sich auf.

„Ich bitte um Entschuldigung,“ stieß er hastig heraus. „Ich hatte meine Karten selbst noch nicht angesehen!“

Prinz Sissi stand wieder am Tisch, sein Blick haftete adlerscharf auf Hermanns verstörten Zügen. „Sie müssen sich irren, lieber Herr Lieutenant von Weßnitz,“ sagte er, jedes Wort betonend. „Es ist zwar mein eigener Schaden, aber ich weiß bestimmt, als ich zum Nebentisch trat und die Karten herunterfielen, daß ich den großen Schlag in der Hand Ihres Bruders gesehen habe. Ich wollte mir mit einem Chartreuse über mein Pech hinweghelfen,“ fügte er lachend hinzu.

Hermann war bleich wie der Tod.

„Dann war es ein Irrtum meinerseits, ich bitte um Entschnldigung, Durchlaucht!“

Er fühlte einen stechenden Schmerz in der Schläfe. Nur jetzt etwas thun können, um diese entsetzliche Pause zu kürzen! Weil ihm nichts anderes einfiel, sagte er. „Bruno, willst Du mir die Bank überlassen? Wir machen Halbpart, wenn die Herren einverstanden sind!“

Er hatte nie eigentlich gespielt; nur hier und da an langweiligen Abenden sich beteiligt, um die Zeit totzuschlagen. Wie alle Gleichgültigen hatte er Glück, auch heute. Man machte Witze darüber; das Spiel hatte seinen Höhepunkt überschritten und ging langsam, mit mäßigen Einsätzen weiter. Die Erregung war vorüber.

„Meine Herren, ich denke, wir machen Schluß, fahren zusammen ins Café und feiern den Sonnenaufgang!“ sagte der Assessor, sich erhebend.

Der Lieutenant, der einige hundert Mark gewonnen hatte, stimmte rasch zu.

Nach wenigen Minuten waren die beiden Brüder allein, allein in dem grauen Zwielicht des Morgens, das durch die Fenstervorhänge hereinschlich.

(Fortsetzung folgt.)


Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Der „Tschört“.
Nach einer wahren Begebenheit erzählt von Olga Wohlbrück.


Fern im Osten, an der Grenze von Galizien, liegt ein kleiner Ort mit Namen Pugowka, auf deutsch „Knopf“. Er hebt sich auch mit seinen niederen Lehmhütten nicht anders als ein Knopf von der endlosen Ebene ab, die sich zu beiden Seiten des Dörfchens ausbreitet. Der Wald liegt weit ab . . . dort, wo Himmel und Erde in eine Linie zusammenfließen, nächst dem Fluß, der gleich einem silbernen Bande die Wiesen und Felder einsäumt.

Allein gingen die Kinder nicht gerne ins Gehölz, denn sie fürchteten die Waldgeister, nur wenn die Väter Bäume fällten, schlenderten sie mit und sammelten Reisig und Pilze.

Die Männer fällten die großen Baumstämme, banden sie zusammen zu Flößen und fuhren bis zum nächsten Städtchen zu dem großen Unternehmer, dem der ganze Wald von Pugowka gehörte. Der Unternehmer war ein stolzer, vornehmer Herr. Die Bauern meinten, er sei ein Deutscher, und wenn sie seine hohe Gestalt an der kleinen, roh gesägten Landungsbrücke erblickten, dann nahmen sie schon von weitem die Mützen ab, und die Kinder, die mit auf dem Floß waren, bekreuzten sich vor lauter Respekt.

Kaum hundert Schritte vom Landungsplatz lag die Fabrik, wo die Holzstämme zersägt wurden. Aus den im Sommer geöffneten Fenstern drang ein höllenmäßiger Lärm. Die Bauern wagten sich niemals in die Nähe. Der Unternehmer forderte einmal den Aeltesten auf, die Fabrik zu besichtigen, aber der bekreuzte sich und wehrte ab. „Was soll ich, Herr, in dem Teufelsraum! Im Handumdrehen hat einen der ‚Tschört‘ (der Teufel) beim Genick!“

Die Kinder waren beherzter, sie liefen, während den Vätern der Lohn ausgezahlt wurde und der Unternehmer den Schnaps kredenzte, näher zur Fabrik heran, drangen in den Hof und vergruben sich lachend in den großen Haufen von Sägespänen und Sägestaub wie Spatzen im Sand, blickten neugierig zu dem hübschen Wohnhause des Unternehmers empor und lugten durch den lose gezimmerten Zaun in den wohlgepflegten Garten. Einmal gewahrten sie dort eine feine Dame und ein kleines weißgekleidetes Mädchen mit blonden Locken, das ein ganz winziges blondes Kindchen auf dem Arm trug. Und sie stießen sich gegenseitig an und kicherten: „Daß es so kleine Kinder giebt!“

„Ich habe erst gestern einen kleinen Brnder bekommen,“ sagte die sechsjährige Njutka zu einem Kameraden, „aber der ist doch viel größer. Und dann schreit er auch.“

Njutka verband nun mit der Vorstellung von der Stadt die Begriffe, daß die Maschinen wie lebende Menschen seien, die kleinen, ganz kleinen Kinder aber – wie Tote. Sie erzählte das zu Hause ihrer Mutter, die die Hände über dem Kopf zusammenschlug und meinte: „Du gehst mir nicht mehr in die Stadt, Njutka, dort wirst Du noch vom Bösen verführt.“

Aber Njutka bat und bettelte so lange, daß sie das nächste Mal doch wieder den Vater begleiten durfte. Sie nahm sich vor, diesmal von all ihren Entdeckungen zu schweigen. Heimlich stahl sie sich von ihren Kameraden fort und eilte geradeswegs auf den Zaun zu. Sie legte das Auge an ein großes rundes Loch und spähte hindurch. Richtig, da ging es wieder, das kleine Fräulein, und hielt auch diesmal ein Kind auf dem Arm. Nein ... das war kein Kind . . . das war ja der leibhaftige Teufel, mit braunem Gesicht, schwarzem Kraushaar, blutroten Lippen und einem roten Sammetkittel. Aber der Teufel rührte sich nicht, das kleine Fräulein nahm ihn auf den rechten Arm, dann auf den linken – er ließ sich alles gefallen. Dann beugte sie sich zu ihm nieder, sprach leise mit ihm und gab ihm einen Klaps. Nach einer Weile streichelte sie ihn, drückte ihn in ihren Armen und küßte ihn auf die halbgeöffneten blutroten Lippen.

Njutka hatte furchtbares Herzklopfen; aber die Neugierde besiegte die Angst. Sie steckte einen Finger durch das Loch, klopfte mit der Faust der anderen Hand auf den Zaun und rief: „Du, Fräulein, Du . . .“

Die Kleine hob den blonden Kopf. „Wer ruft mich?“

„Ich.“

„Wer bist Du?“

„Ich heiße Njutka und habe mit Väterchen Holz aus Pugowka gebracht. Siehst Du meinen Finger?“

„Jawohl. Nun klettere doch über den Zaun!“

„Ich kann nicht, ich bin zu klein.“

„Na, warte, dann will ich Dir das Pförtchen aufschließen.“

„Wird mir Dein Tschörtik (Teufelchen) aber auch nichts thun?“

„Welchen ‚Tschörtik‘ meinst Du?“

„Den Du auf dem Arm trägst.“

„Du bist dumm, das ist ja meine Puppe.“

„Was ist das, eine Puppe?“

„Na, komm her und sieh Dir’s an!“

Einen Augenblick später knarrte das Pförtchen in den Angeln, und das kleine Fräulein, des Unternehmers einziges Töchterchen, Lisa, trat heraus. Sie blickte das Bauernmädchen nach Art verwöhnter Kinder sehr ungeniert an, dann sagte sie: „Du bist sehr schmutzig, Njutka.“

Njutka lachte, denn sie empfand diese Worte nicht als Vorwurf. Der Schmutz war für sie etwas ganz Natürliches. Sie [539] blickte nur mit gespannter Aufmerksamkeit auf die schwarze Negerpuppe.

„Das ist doch ein Tschörtik,“ sagte sie nach einer Weile bestimmt. Lisa zuckte die Achseln.

„Es giebt gar keinen Teufel. Diese Puppe hat mir meine Tante aus Paris geschickt.“

„Was ist denn Paris?“ fragte Njutka.

„Eine große Stadt, in der es die schönsten Puppen und Kleider giebt. Aus Paris kommen auch die Gouvernanten. Siehst Du, dort geht meine Gouvernante, mit der muß ich immer französisch sprechen. Paß auf, meine Puppe spricht auch französisch!“ Und plötzlich sagte der kleine Neger ganz deutlich „Papa . . . Maman . . .“

Njutka war ganz blaß geworden und zitterte heftig.

„Willst Du ihn in die Hand nehmen?“ fragte Lisa.

Njutka schüttelte den Kopf und rannte spornstreichs davon. Sie hörte noch, wie das kleine Fräulein laut und spöttisch auflachte.

Den Heimweg traten die Floßführer zu Fuß an, es war nur ein zweistündiger Weg; Rjutka war sonst immer sehr ausdauernd im Gehen, heute schleppte sie sich kaum vorwärts. Daheim wurde sie von der Mutter, einer braven gutmütigen Frau, gefragt, ob sie krank sei.

„Nein.“

„Willst Du essen, mein Täubchen?“

„Nein.“

„Willa Du Thee trinken, mein Seelchen?“

„Nein“

„Was willst Du denn haben?“

„Eine Puppe, Mütterchen!“

Die Mutter lachte leise auf und streichelte dem Kinde die Wange.

„Warum sagtest Du das nicht gleich, Dummchen?“

„Also giebt es Puppen?“ fragte Njutka, und ihre Augen glänzten freudig.

„Freilich, freilich . . . hab’ selbst mit Puppen gespielt. Warte, mein Goldkind, gleich sollst Du eine haben!“

Die Frau kramte in einer Truhe, nahm ein paar bunte verwaschene Fetzen heraus, und eine halbe Stunde später gab sie ihrem Töchterchen die aus Flicken genähte Puppe, auf deren weißem Leinwandgesicht mit schwarzer Kohle die Augen, der Mund und die Nase aufgezeichnet waren.

„Das ist keine Puppe,“ sagte Njutka traurig.

„Wieso keine Puppe?“ fragte die Mutter verblüfft.

„Nein ... ich will eine Puppe, die französisch spricht.“

„Die spricht? Ach Du lieber Gott, verzeih’ mir armer Sünderin . . . wer hat mein Kind behext? Eine Puppe, die spricht, die giebt’s ja nicht! Der Tschört hat Dich genarrt. Ach Du himmlischer Vater, verzeih’ ihr die Sünde!“

Und die gute Frau schlug große Kreuze vor dem im Winkel angebrachten Heiligenbild. Dann wendete sie sich streng an die Kleine.

„Daß Du mir im Dorf keinen solchen Unsinn redest und mich in Schande bringst! Eine Puppe, die spricht ... ach Du lieber Himmel!“

Njutka schlich sich trübselig aus der Stube und weinte. Also war es doch ein Tschörtik gewesen!

Als sie das nächste Mal am Gartenzaun stand und das kleine Fräulein rief, machte ihr Lisa sofort das Pförtchen auf.

„Mütterchen sagt auch, es gebe keine sprechenden Puppen. Also ist es doch ein Tschörtik,“ versicherte Njutka ihre junge Gönnerin.

„Meinetwegen – wenn sich’s nur gut mit ihm spielen läßt!“ sagte Lisa lachend.

„Beißt er nicht?“ fragte Njutka, mißtrauisch die Negerpuppe betrachtend, die Lisa ihr entgegenhielt.

„Nein!“

Zaghaft ergriff Njutka die Puppe bei dem feuerroten Sammetkittel.

„Laß Deinen Tschörtik nicht fallen,“ rief Lisa, „der kostet viel Geld!“

Sie nannte ihre Negerpuppe nun selbst Tschörtik, und es machte ihr Spaß, die Angst und Verwunderung des Bauernkindes zu sehen. Dann ließ sie die Puppe wieder „Papa“ und „Maman“ rufen und sagte, das bedeute „Väterchen“ und „Mütterchen“.

„Fürchtest Du Dich noch?“ fragte sie. Njutka schüttelte den Kopf.

„Nun siehst Du, Du kannst immer mit dem Tschörtik spielen, wenn Du mit Deinem Vater herkommst.“

Wochen vergingen. Njutka lief, so oft sie konnte, den zwei Stunden langen Weg, um nur einige Minuten mit der Negerpuppe spielen zu können. Im Hause wurde sie nicht vermißt, denn die Kinder tummelten sich ja meist im Freien umher und suchten das Haus nur auf, wenn sie Hunger hatten und die braune Buchweizengrütze aus dem Backofen herausholten. Wenn es regnete, war Njutka untröstlich, denn die Mutter ließ sie dann nicht auf die Straße, sie mußte den kleinen Bruder warten und am Strick ziehen, der die Wiege in Bewegung setzte. Einmal hielt sie es aber nicht mehr aus in der dumpfen Hütte, sie sprang zum niederen Fenster hinaus und lief barfuß, wie sie war, die holperige Landstraße hinab zum Städtchen. Der Regen goß in Strömen, Njutka ward bis auf die Haut durchnäßt, aber sie achtete dessen nicht. Sie kam bis zu dem Gartenzaun und spähte durch das Loch. Der Garten war natürlich wie ausgestorben – kein kleines Fräulein, kein Tschörtik. Bitterlich weinend lief Njutka den Weg zurück. Zu Hause versetzte ihr die Mutter ein paar Ohrfeigen dafür, daß sie weggelaufen, und der Vater drohte mit Schlägen. Njutka kroch auf die Ofenbank, hungrig und müde, und versuchte zu schlafen, aber der Kopf glühte ihr und sie sah so absonderliche Dinge vor sich, daß sie nicht wußte, ob sie schlief oder wachte. Dann fing sie an, laut zu rufen. Die Mutter horchte auf und sagte zu ihrem Mann: „Sie hat das Fieber!“

Plötzlich bekreuzte sie sich, denn die Kleine rief deutlich „Tschörtik! Tschörtik! Ich will den Tschörtik haben!“

„Himmlischer Vater, sei uns gnädig, der Böse spricht aus ihr,“ rief die Mutter. Eine Nachbarin, die eben kam, um ein Viertelstündchen zu verplaudern, wurde schleunigst hinauskomplimentiert. Njutka rief immer wieder. „Gebt mir den Tschörtik!“

Der Vater verließ zornig die Hütte. Die Mutter aber faßte sich ein Herz und näherte sich dem phantasierenden Kinde. „Was willst Du, mein Seelchen?“

„Den Tschörtik, Mütterchen.“

„Fürchte Gott, mein Täübchen, rufe den Tschört nicht! Wenn er kommt, nimmt er Dich weg und trägt Dich in die Hölle.“

„Nein, Mütterchen, geh’ nur zu dem Fräulein, die hat den Tschörtik, sie wird ihn mir schon geben. Geh’ hin, Mütterchen, geh’!“

„Zu welchem Fräulein, Kindchen?“

„Zum Fräulein des Unternehmers, da, wo der große Garten ist. Ach Mütterchen, geh’ nur, bring’ mir den Tschörtik!“

Njutka fing an zu weinen, dann sprach sie wirres, unzusammenhängendes Zeug, daß der Mutter ganz bange wurde. Die Frau fiel auf die Knie nieder und betete, Gott möge ihr Kind gesund machen. Njutka aber schrie immer wieder dazwischen: „Den Tschörtik . . . den Tschörtik!“

Endlich konnte es die gequälte Mutter nicht länger mehr anhören.

„Ich geh’ schon, mein Täubchen, hab’ Geduld, ich gehe gleich. Ich hol’ ihn Dir, den Verfluchten! ... Wenn das Fräulein nur nicht beleidigt ist! Wie soll nur der Böse zum Fräulein gekommen sein? Gott verzeih’ mir armer Sünderin!“

Sie hüllte sich in ein Tuch und ging trotz der vorgerückten Stunde ins Städtchen zum Unternehmer. Dort ließ sie sich beim Fräulein melden. Man fragte nach ihrem Begehr.

„Die Njutka ist mein Kind,“ sagte sie, „sie hat mich hergeschickt, das Fräulein um den Satan zu bitten.“

„Satan“ erschien ihr höflicher als „Tschörtik“.

Der Diener sah die Frau mißtrauisch an. „Bist wohl verrückt oder betrunken?“ fragte er.

Die Frau wiederholte ihre Bitte noch eindringlicher als das erste Mal. Sie sah so anständig aus. Der Diener ging zu den Herrschaften und meldete mit unterdrücktem Lachen, eine Frau sei draußen, die bitte um den Satan vom gnädigen Fräulein. Lisa lachte und hüpfte wie toll im Zimmer umher.

„Ach, den Tschörtik meint sie wohl, den Tschörtik!“ Und sie lief hinaus und brachte der Frau die Negerpuppe. „Da nimm . . . Njutka darf ihn behalten, er ist so wie so alt!“

Die Frau versteckte die Hände unter der Schürze.

„Verzeih’, Fräulein, aber mit bloßen Händen rühre ich ihn nicht an!“

„Na warte, ich will ihn Dir in Papier wickeln.“

Behutsam nahm die Frau das Paket und verbarg es unter ihrem Tuch. Dann bekreuzte sie sich und eilte von dannen. [540] Unheimlich lang dünkte ihr heute der Weg mit dem Tschörtik unter dem Arm. Hatte er doch ihre Njutka behext, wie würde es nun ihr selbst gehen! Und wenn die Nachbarn erfuhren, daß sie den Teufel in ihrer Hütte habe, welcher Christenmensch würde dann noch mit ihr verkehren? Aengstlich preßte sie das Paket an sich. Plötzlich hörte sie einen langgedehnten, eigentümlich quietschenden Ton. Vor Entsetzen gelähmt, blieb sie stehen und drückte die Arme aneinander ... da, wieder derselbe Ton unter ihrem Arm heraus. Die Frau schrie auf und ließ die Last fallen.

„Himmlischer Vater, beschütze mich!“ murmelte sie und starrte auf das weiße Paket.

Sie war kaum noch zehn Minuten vom Dorf entfernt, aber sie traute sich nicht mehr, den Tschörtik anzufassen, jetzt, nachdem der böse Geist aus ihm gesprochen. Er war freilich sehr klein, der Teufel, wie, wenn sie ihn mit dem Fuß tot trat? Sie drückte mit ihrem hohen Männerstiefel vorsichtig auf die Negerpuppe . . . wieder ein langer klagender Ton! Das war zuviel! Die Frau schlug ihren Rock über den Kopf und lief spornstreichs nach Hause.

Njutka lag noch auf der Ofenbank, mit fiebergeröteten Wangen und glänzenden Augen. Neben ihr stand ein altes Weib und schüttelte den Kopf.

„Deine Tochter, Anisja, ist vom Bösen besessen,“ sagte sie zur eintretenden Mutter.

Anisja brach in Schluchzen aus und warf sich auf die Fensterbank.

„Verzweifle nicht, Anisjuschka, ich habe schon Gebete gesprochen, vielleicht hilft der Herr.“

„War mein Mann da?“

„Jawohl – aber er schämte sich so, und da ist er wieder weggegangen.“

„Die Schande, die Schande!“ stöhnte Anisja.

Njutka hörte jetzt die Stimme der Mutter, richtete sich auf und rief:

„Mütterchen, den Tschörtik – gieb mir den Tschörtik!“

„Daß ihn die Erde verschlinge! Ich hab’ ihn nicht!“

Njutka warf sich unruhig hin und her und verlangte zu trinken. Aber die Alte und Anisja waren so sehr in ihre Gebete vertieft, daß sie den Wunsch des Kindes überhörten. Gegen Abend füllte sich die Hütte mit Nachbarn. Alle hatten schon gehört, daß Njutka vom Teufel besessen sei. Scheu drückten sie sich an die Wand und blickten auf das fiebernde Kind, das sich seine Krankheit doch durch nichts anderes als durch das hastige Laufen im regnerischen kalten Wetter zugezogen hatte. Ratschläge wurden laut. Die einen meinten, man solle einen Eimer mit kaltem Wasser über das Kind gießen, um den Deufel auszutreiben, die anderen wieder verlangten, man solle den Ofen recht einheizen und das Kind dem Feuer so nahe als möglich bringen, damit der Teufel ersticke. Ein Glück, daß die Mutter all diese Ratschläge von sich wies und nur zum Gebet ihre Zuflucht nahm.

Daß sie selbst den Versnch gemacht hatte, den Tschörtik ihrer Tochter zu bringen, verschwieg sie wohlweislich, um nicht in Verruf zu kommen.

Allmählich entfernten sich die Dorfbewohner kopfschüttelnd aus der Hütte. Nur die Alte blieb da, um die bösen Geister weiter zu beschwören. Gegen Morgen kam auch der Bauer in angetrunkenem Zustande nach Hause. Er machte schlechte Witze über den Teufel, schrie laut, er wolle es schon mit ihm aufnehmen, und legte sich endlich auf den Ofen, um sofort in lautes Schnarchen zu verfallen.

Draußen hörten Regen und Sturm nicht auf. Anisja betete, bis ihr die Augen zufielen. Die Alte war längst eingenickt, und nur Njutka unterbrach die eintönige Stille mit klagenden Rufen: „Ich will den Tschörtik ... gieb mir den Tschörtik!“

Um die Mittagszeit des andern Tages klärte sich der Himmel auf. Die Kinder tummelten sich draußen vor dem Dorfe und sprangen lustig über die großen Wasserlachen. Da entdeckten sie plötzlich ein aufgeweichtes Paket, aus dessen zerschlissenem Papier hie und da etwas Schwarzes hervorlugte. Sie rissen das Papier herunter und erblickten die Negerpuppe.

Was war das für ein Ding? Es hatte Gliedmaßen wie sie selbst, war aber leblos und schrecklich schwarz. Die Beherzten tippten es an. die Aengstlichen verschränkten die Arme auf dem Rücken und blinzelten nur neugierig über die Köpfe der anderen hinab auf den seltsamen Fund.

„Ich nehme mir diesen Tschörtik,“ sagte endlich der Mutigste und Größte, bemächtigte sich mit dem Rechte des Stärkeren der Puppe und trug sie nach Hause. Als er in die elterliche Hütte trat, sah er Anisja neben seiner Mutter stehen und sich mit der Schürze die Thränen aus den Augen wischen.

„Seht, was ich gefunden habe!“ rief er triumphierend und hob die Negerpuppe in die Höhe.

Anisja stieß einen durchdringenden Schrei aus. „Das ist ja der Tschört, der leibhaftige Satan . . . wirf ihn fort, den Verfluchten . . . rühr’ ihn nicht an!“

Die beiden Frauen waren ganz blaß geworden. „Wirf ihn fort!“ kreischte nun auch die Mutter.

Und eh’ sich der Knabe dessen versah, hatte die Mutter die Negerpuppe ergriffen und in weitem Bogen aus dem Fenster geworfen. Auf der Straße sammelten sich die Kinder an. Anisja lief zu ihnen hinaus.

„Nicht anrühren! Das ist der Böse, er hat mir mein Kind verhext, meine Njutka!“

Aus den Hütten kamen allmählich alle Frauen herbei, um sich den Tschört anzusehen.

„Die Fratze, die er hat!“ sagten die einen.

„Warum er so klein ist?“ fragten die anderen.

„Damit er überall eindringen kann,“ erklärte Anisja. „Er sieht aus wie eine Puppe und täuscht die Menschen, aber das ist alles Trug und List, um uns zu verderben.“

„Was machen wir aber mit ihm, wir können ihn nicht hier lassen, mitten im Dorf – weiß Gott, was uns dann noch alles passiert.“

Männer traten nun auch herzu, und bald war das ganze Dorf versammelt. Der Bauernälteste betrachtete die Puppe lange Zeit, dann sagte er laut:

„Hier hat der Tschört keinen Platz, er verunreinigt die Straße. Und es ist meine Pflicht, auf die Sauberkeit der Straße zu achten. Als Aeltester kann ich auch nicht zugeben, daß Ihr den Tschört in Eurer Behausung habt. Ich schlage vor, wir vergraben ihn.“

Aber die Männer schüttelten die Köpfe.

„Dann gedeiht uns keine Saat. Der Boden, auf dem unser Korn wächst, den unser Vieh betritt, ist geheiligt!“

„Steinigen!“0 „Verbrennen!“ hieß es nun in wirrem Durcheinander. Der Aelteste aber hob beschwichtigend die Arme.

„Was geschieht denn mit dem Körper, was mit der Asche? Nein, so rasch können wir uns nicht entscheiden. Noch heute berufe ich Versammlung ein. Ihr müßt zur Beratung kommen, auf daß wir keinen übereilten Entschluß fassen. Zwei Männer bleiben hier und bewachen den Satan, daß er nicht Unheil stiftet in der Nacht. Ihr Weiber aber betet, daß er sich nicht in Eure Seelen schleicht, wie er sich in die Hände unserer Kinder geschlichen.“

„Sollen wir nicht den Batjuschka aus der Stadt herbitten, daß er ein Gebet spricht?“ fragte eine Frau.

Der Aelteste zuckte die Achseln. „Wenn wir den Popen extra bitten, dann kostet’s uns Geld, kommt er aber zum Kornsegen, dann kann er die Stelle hier gleich mitbespritzen. Das stellt sich billiger. Fürchtet Euch nicht! Ich bin Euer Aeltester, ich werde für Euch sorgen.“

In den meisten Hütten brannte die ganze Nacht über Licht, denn der Tschört war im Dorf! Die Frauen beteten, die Männer saßen beim Branntwein in der Hütte des Aeltesten und berieten, was sie mit dem Dschört thun sollten. Die Sitzung war sehr erregt. Erst beim Morgengrauen trennten sie sich. Anisjas Gatte trat laut polternd in die Hütte; seine Frau kam ihm entgegen und sagte. „Njutka ist fast ganz gesund, sie hat schon Grütze gegessen und Apfelwein getrunken.“

Der Bauer reckte sich in die Höhe.

„Das mußte auch so sein, denn ich habe vorgeschlagen, was mit dem Tschört geschehen soll, und mein Vorschlag ist angenommen worden. Wir binden ihm einen schweren Stein um den Hals, fahren mit einem Boot bis in die Mitte des Flusses und versenken ihn da, wo es am tiefsten ist.“

Anisja faltete die Hände und blickte ihren Mann bewundernd an.

„Den Gedanken hat Dir Gott eingegeben, mit eigenem Verstand kann man so ’was Kluges gar nicht erdenken!“ sagte sie, indem sie tief und erleichtert aufatmete und sich andächtig bekreuzte.

Am andern Morgen banden graubärtige Männer einer Pariser Negerpuppe einen Strick um den Hals und versenkten sie in die dunklen Fluten des Flusses. Die übrigen Dorfbewohner standen am Ufer und dankten Gott, daß er sie vom „Tschört“ befreit hatte.

Also geschehen zu Pugowka am 24. Juni 1893.


[541]
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Alle Rechte vorbehalten.

Die „Kieler Woche.“

Mit Zeichnungen von Fritz Stoltenberg.

Salut bei der Ankunft des Kaiserpaares.

Eine ganz besondere Vorliebe, die Kaiser Wilhelm II. allen seemännischen Angelegenheiten widmet, hat auch dem Segelsport in deutschen Gewässern einen bemerkenswerten Aufschwung gebracht. Wohl giebt es seit vielen Jahren auch in Deutschland Jachtenbesitzer und Segelregatten, aber erst in neuester Zeit haben sich die großen dem Segelvergnügen huldigenden Vereine, der Norddeutsche Regattaverein in Hamburg und der Kaiserliche Jachtklub in Kiel, so zu fühlen begonnen, daß sie mit den Engländern in Wettbewerb traten und in der „Kieler Woche“ ein Regattenschauspiel schufen, das den Vergleich mit der berühmten „Cowes-Woche“ in England nicht zu scheuen brauchte. Zum erstenmal erschienen auch fremde Gäste, namentlich Engländer, in größerer Anzahl am Start, ein Beweis, wie sehr die Rennpreise von der Kieler Föhrde in der internationalen Wertschätzung gestiegen sind.

Prachtvoller Sonnenschein strahlte über der Bucht die ganze Woche hindurch. Aber der Sonnenschein, so sehr er das Bild belebt und verschönt, ist doch für den Segler nur ein sehr unwesentlicher Bestandteil des Wetters. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“ – das ist der Herrscher, von dessen Gnade alles abhängt auf dem flüssigen Rennfelde. Und seine Gnade war sehr wechselnd in den Regattatagen vom 23. bis zum 30. Juni. Einmal, am 28. Juni, blies er so schwach, daß die Boote zum Teil von Dampfern und Torpedobooten in den Hafen geschleppt werden mußten, nachdem sie 10 Stunden lang vergeblich alle Leinwand ausgebreitet. Und ein andermal, am 26. Juni, war er so kräftig, daß gar manchem der Zuschauer an Bord der begleitenden Personendampfer das Herz sehr, sehr tief sank. Doch wir wollen nicht vorgreifen.

Die Festlichkeiten der „Kieler Woche“ nahmen ihren Anfang mit dem Einzug des Kaiserpaares und des Prinzen Adalbert am Freitag den 22. Juni. In der Mitte des Kriegshafens lagen in langer Front die mächtigen Panzerkolosse, die weißleuchtenden Schulschiffe und die flinken Avisos, wohl 25 größere Kriegsfahrzeuge, während in einer zweiten Linie näher dem Ufer die Jachten, die an den Wettfahrten sich beteiligen wollten, bis zu den Toppen beflaggt, sich aufreihten. Etwa um 4 Uhr nachmittags mochte es sein, als unter dem Donner der Geschütze sämtlicher im Hafen ankernden Kriegsschiffe, unter den Klängen des Präsentiermarsches von allen Verdecken, unter dem Hurra der Mannschaften und dem Jubel der Menschenmassen am Ufer das blaue Kaiserboot auf die „Hohenzollern“ zusteuerte, den Kaiser, seine Gemahlin und seinen dritten Sohn an Bord zu führen.

Gleich am folgenden Tage begannen die Wettfahrten mit der Segelregatta des Norddeutschen Regattavereins, an der sich nicht weniger als 30 Jachten beteiligten. Unser Bild S. 537 zeigt uns die stolze Flottille in ihrer ganzen Pracht. Da nur ein mäßiger Wind wehte, so setzten die Boote gleich nach dem Start alle Leinwand bei, die sie nur tragen konnten, und so ergab sich der großartige Anblick, den unser Künstler festgehalten hat. Der „Meteor“ mit dem Kaiser und der Kaiserin an Bord übernahm sehr bald die Führung. Er gehört zu den Jachteu der Ia Klasse, d. h. zu denen, die am meisten „Segeleinheiten“ aufweisen, oder mit anderen Worten, die dem Wind im Verhältnis zu ihrem größten Querschnitt unter der Wasserlinie am meisten Segelfläche zu bieten imstande sind; der „Meteor“ hatte darin bei den Kieler Rennen nur einen Genossen, den „Wiking“ des Earl of Caledon, der indessen bei dem flauen Wind am 23. etwas zurückblieb und überdies an der ersten Segelmarke, der Heulboje, auf der falschen Seite vorbeifuhr, worauf er das Rennen aufgab. Auch die „Mücke“ des Herrn Ziese in Elbing hatte dasselbe Mißgeschick. Sie ließ sich aber nicht irremachen, kehrte um und nahm die Boje von der richtigen Seite.

„Carina.“   „Wiking.“   „Meteor.“

Die Regatta am 26. Juni.
Bei der Heulboje.

Der „Irene“ des Prinzen Heinrich begegnete das Unglück, daß ihr die Verlängerung des Mastes, die sogenannte „Stänge“, brach, so daß man plötzlich das Toppsegel herunterwehen sah. Allein Prinz Heinrich, der seine Jacht stets selbst steuert, gab das Rennen deshalb nicht auf, obwohl er keine Aussichten mehr hatte. Die „Mücke“, die „Irene“ sowie die auf unserem Bilde S. 537 noch weiter sichtbaren Jachten „Varuna“, „Carina“ und „Lais“ gehören sämtlich der [542] Ib Klasse an, d. h. sie weisen eine wesentlich niedrigere Zahl von Segeleinheiten auf als „Meteor“ und „Wiking“. Nach etwa dreieinhalbstündiger Fahrt hatte der „Meteor“ die 27 Seemeilen (50 Kilometer) lange Bahn durchsegelt und fuhr als erstes Boot durch die Zielinie, von allen Seiten mit einem brausenden „Hipp, Hipp, Hurra“ begrüßt, während in der Ib Klasse die „Carina“ des englischen Admirals Montagu Siegerin blieb.

Nachdem am Sonntag die feierliche Einreihung des Prinzen Adalbert in die deutsche Marine vollzogen worden war, nahmen die Regatten am Montag ihren Fortgang mit einer Binnenregatta des Kaiserlichen Jachtklubs. Die größeren Jachten, die sich an diesem Rennen nicht beteiligten, fuhren meist mit hinaus, an Bord des „Meteor“ das Kaiserpaar, auf der mittlerweile reparierten „Irene“ die Gemahlin des Prinzen Heinrich mit ihrem kleinen Sohne Waldemar. Besondere Aufmerksamkeit ob ihrer Schnelligkeit und Manövrierfähigkeit erregte an diesem Tage die „Gudruda“ des Prinzen Heinrich. Dieses ganz kleine Rennboot ist ein Vertreter des neuesten Typus im Segelsport, des „Wulstkielers“. In der Mitte des Kiels wird nämlich eine Stahlplatte angebracht, an deren unterem Ende ein Metallwulst etwa in der Form einer Cigarre sich befindet. Unsere Abbildung zeigt die „Gudruda“ bei ihrer Rückkehr vom Rennen in der Nähe des Schlosses, die Rennflagge weht als Zeichen des Sieges unterhalb des Klubstanders.

Die „Gudruda“ des Prinzen Heinrich von Preußen.

Den Glanzpunkt der „Kieler Woche“ bildete unbedingt die Seeregatta des Kaiserlichen Jachtklubs am 26. Juni, wenn auch, wie schon oben erwähnt, an diesem Tage vielen das Vergnügen des Zuschauens etwas versalzen wurde. Eine steife Kühlte aus Nordnordwest hatte sich immer stürmischer gestaltet, und manchem Zuschauer mag es schon im inneren Hafen angst und bange geworden sein um das Schicksal der zum Start sich anschickenden Rennjachten, wenn oft die ganzen Schiffskörper vollständig im weißen Gischt der Wogen verschwanden. Allein das Rennen verlief ohne Unfall. Nach dem Start der ersten Klassen übernahmen „Meteor“ und „Wiking“ die Führung und blieben auch bis zur Heulboje und weiter bis zum Stollergrund-Feuerschiff dicht beieinander. Der „Wiking“ war an diesem Tage offenbar besser in seinem Element, und der Ausgang wäre zweifelhaft gewesen, wenn nicht in der Nähe des Feuerschiffs der „Wiking“ eine Beschädigung an der Gaffel erlitten hätte, die ihn zum Beidrehen und zur Aufgabe des Rennens zwang. Auf unserer Abbildung S. 541 sehen wir „Wiking“ und „Meteor“ in der Nähe der Heulboje mit den Wogen kämpfen, gefolgt von der „Carina“, welche anfangs die Führung der Ib Klasse übernommen hatte, diese später aber, da sie „sich versegelte“, an „Mücke“ abgeben mußte, die als erstes Schiff, sogar noch vor dem „Meteor“, ans Ziel gelangte.

Ueber alle die weiteren Rennen, die sich noch bis zum 30. Juni ausdehnten, hier einzeln zu berichten, würde zu weit führen; sie waren leider sämtlich durch flauen Wind stark beeinträchtigt. So krochen die sonst so flinken Segler recht mühsam vorwärts, und am 28. Juni geschah es sogar, daß sich, wie erwähnt, die größeren Jachten lieber in den Hafen schleppen ließen, als länger mit schlaffen Leinwänden herumzuliegen.

Um so größer war die Lust am Abend dieses windstillen Tages bei dem Blumenkorso, den die Kieler Marineoffiziere veranstaltet hatten (s. S. 533). In aller Heimlichkeit waren die Boote der Kriegsschiffe, die Pinassen, Kutter, Jollen und die zierlichen Gigs, wohl hundert an der Zahl, durch Laub- und Blumengewinde, durch Drapieren mit Flaggentuch etc. in stolze Wikingerschiffe, venetianische Gondeln, neapolitanische Fischerboote, afrikanische Küstenfahrer und winzige Raddampfer verwandelt. Auf dem Radkasten eines dieser kleinen Fahrzeuge war mit sichtlicher Liebe der poetische Name „Middy“ aufgemalt, eine seemännische Verkürzung des englischen Worts „midshipman“, was auf deutsch einen Seekadetten bedeutet. Nachdem die bunte Flottille sich in der Nähe der Marineakademie gesammelt hatte, zog sie bald nach 8 Uhr zur Huldigung nach der „Hohenzollern“, diese wieder und wieder umkreisend. Die Dämmerung brach herein, Lampions wurden auf den Booten entzündet, bengalische Feuer flammten auf – die elektrischen Scheinwerfer der „Hohenzollern“ sandten breite Strahlen taghellen Lichtes über das feenhafte Treiben, der Kaiser selbst warf unermüdlich vom Verdeck seines Schiffes den Damen in den vorbeifahrenden Booten Blumen zu – es war ein Fest, wie es Kiel wohl selten erlebt hat.


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„Up ewig ungedeelt!“

Novelle von Jassy Torrund.

 (1. Fortsetzung.)

Im Genthinschen Hause galt es, mit fliegender Eile die Zimmer zum Empfang der preußischen Einquartierung zu rüsten.

Mitten in dem Wirrwarr von umhergestellten Betten und Möbeln wurde Frau Hedwig der Besuch ihres Hausarztes gemeldet.

In einiger Aufregung betrat sie das Wohnzimmer, wußte sie doch, daß man jetzt im Städtchen über sie, die „Preußin“, wegen ihres Vorgehens zu Gericht saß, daß man das Urteil vielleicht schon gesprochen hatte.

Der gute alte Herr, der ihr schon über so manche schwere Stunde klug und liebevoll hinweggeholfen, stand mitten im Zimmer. Die dargereichte Hand übersah er, den angebotenen Stuhl lehnte er mit kurzem Kopfschütteln ab.

„Das hätte ich denn doch nicht von Ihnen geglaubt, Madame!“ begann er heftig und blickte die junge Frau unter seinen buschigen weißen Augenbrauen hervor finster an. „Wenn ich’s mit der ersten besten zu thun hätte, so würde ich sagen: laß sie, sie hat’s in ihrer Dummheit gethan! Aber Sie, eine kluge taktvolle Frau, Sie geraten auf solche Abwege, lassen sich auf solche Hansbunkenstreiche ein! Was? Ihr Mann steht als Vertreter unserer Bürgerschaft in Frankfurt, um den Bund anzueifern, daß er für unsere gute und gerechte Sache eintreten, unsern rechtmäßigen Herrscher zur Anerkennung bringen soll – nicht aber, um die Preußen über unser Recht entscheiden zu lassen! Die brauchen wir hier nicht und wollen wir nicht! Denn, Madame, es bleibt unvergessen, was sie uns angethan haben. Und Sie, die Frau dieses Mannes, unseres Abgesandten, Sie hängen hier in unserer herzogstreuen Stadt eine preußische Fahne heraus, Sie machen Kränze und Sträuße und Gott weiß was für Teufeleien und bereiten den verd .... Preußen einen feierlichen Empfang in dem Lande, wo man sie nicht verlangt hat, wo sie von Gott und Rechtswegen nichts mehr zu suchen haben. Da soll doch ...!“

Hedwig war bis in die Lippen erblaßt; aber sie schaute dem [543] zürnenden alten Mann tapfer in die feindseligen Augen; ihre schlanke Gestalt richtete sich höher auf.

„Sie beleidigen mich mit jedem Wort, Herr Doktor,“ sagte sie mit bebenden Lippen, „doch darauf kommt es jetzt nicht an. Ich bin nur eine Frau und verstehe nicht viel von Politik; aber das möchte ich Sie doch fragen: wie hat man denn hier zu Lande die Sachsen und Hannoveraner empfangen? Warum denn nur für Preußen den Haß, wenn man den anderen doch dankbar entgegenjubelt? Kommen die Preußen nicht gerade so gut als Schleswig-Holsteins Befreier wie die anderen? Und ist ihr Leben vielleicht weniger wert als das der anderen?“

„Das verstehen Sie nicht, Madame!“ unterbrach er sie barsch. „Sie sind eben keine Schleswig-Holsteinerin – leider Gottes! Sie haben die Zeit von 1848 bis 1852 nicht miterlebt, Sie wissen nicht, wie man uns in jenen Jahren behandelt hat! All unser Können, unser Gut, Blut und Leben hatten wir eingesetzt für unsere heilige Sache. Ganz Deutschland jubelte uns zu und stand auf unserer Seite. Die Preußen kamen und brachten uns die erste Hilfe, und all unser Vertrauen, all unser Hoffen hatten wir auf sie gebaut! Auf den Sand gebaut! Was that Preußen, Madame? Was that es, frage ich Sie? Kaum zwei Jahre später schloß es einen elenden Frieden mit Dänemark – ohne unser Wissen und gegen unsern Willen! Schmachvoll überlieferte es uns dem alten Todfeinde zu neuer Knechtschaft, und diese Knechtschaft war furchtbarer als alles, was wir bisher erlebt! Unser Herzog und die Besten des Landes wurden verjagt, und nach und nach ward jegliches Recht uns genommen. Wie viele von uns, die für Preußens Hilfe mit Rat und That eingetreten waren, kamen damals in die schwerste Bedrängnis! Glauben Sie, daß sich das vergißt?“ fragte der alte Mann mit finsterem Ingrimm.

Die Frau hatte schweigend zugehört. Auch ihr war die Geschichte dieses unglücklichen Landes, dem sie seit elf Jahren angehörte, nicht fremd geblieben. Aber sie konnte die alte Heimat, konnte den Standpunkt ihrer Landsleute nicht verleugnen.

„Preußen wurde durch Rußland und England beeinflußt, wie Sie wohl wissen, Herr Doktor. Es konnte nicht anders handeln,“ sagte sie mit wachsender Wärme. „Und das war die Politik der Staatsmänner. Was aber wußte das Volk davon? Was können die braven Soldaten dafür, die heute wie damals für Schleswig-Holstein in den blutigen Kampf ziehen? Diese zu beschuldigen, diesen zu grollen, ist ungerecht!“

„Ungerecht?“ fragte er höhnisch zurück. „Sollen wir vielleicht nochmals unsere Zukunft von Preußen erwarten?. Sollen wir da glauben und vertrauen, wo wir so schmählich getäuscht wurden? Aber Sie sind eine Frau, und mit Frauen rechte ich nicht. Und um das, wovon Sie hier reden, handelt es sich auch gar nicht! Nicht um Preußen, sondern um Sie. Mir scheint, eine Frau soll auf das Glaubensbekenntnis ihres Mannes schwören – in der Religion wie in der Politik. Oder gilt etwa bei Ihnen zu Lande nicht das Wort: ‚Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott‘? Sollten Mann und Frau nicht eins sein, eine Seele, ein Hassen und ein Lieben? Und nennt Ihr in Preußen das ,eins sein‘, wenn der Mann treu zu seinem angestammten Herrscherhaus steht, wenn er die Interessen des Landes nach Recht und Glauben in der Ferne vertritt – und wenn die Frau unterdessen in der Heimat hinter seinem Rücken den verhaßten Feinden Kränze an den Hals wirft? Ich frage, nennt man das Treue bei Euch in Preußen?“

Totenstille trat ein. Dann entgegnete Hedwig, nach Ruhe ringend, mit seltsam tief klingender Stimme: „Wenn Sie so fortfahren, Doktor Jürgensen, werde ich Sie allein lassen müssen! Sie häufen eine Beleidigung auf die andere, und nur die Achtung und Dankbarkeit für den alten Hausfreund und Hausarzt verbieten mir, Ihnen die gebührende Antwort zu geben.“

Vor innerer Aufregung zitternd, totenblaß, aber furchtlos und stolz stand sie vor dem alten heftigen Mann, und diese einfache und doch so hoheitsvolle Frauenwürde entwaffnete den Leidenschaftlichen.

„Ich sehe ein, daß ich zu weit gegangen bin, Frau Genthin,“ sagte er einlenkend und ließ sich erschöpft in einen Lehnstuhl sinken. „Man soll keinen Menschen ungehört verdammen. Also reden Sie! Sagen Sie in Gottes Namen alles, was Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen haben!“

Hedwig blieb vor ihm stehen, die Hand auf die Tischplatte gestützt. „Sie irren, wenn Sie glauben, ach hätte es hinter meines Mannes Rücken gethan.“ Ihre Stimme klang kalt und beherrscht; allmählich aber, wie sie weiter sprach, machte sich der Sturm in ihrem Innern bemerkbar. „Ich habe ihm alles geschrieben, denn ich bin nicht die treulose, pflichtvergessene Frau, für die Sie mich halten – und Sie vor allen sollten mich doch besser kennen! Meine Handlungsweise mag thöricht und unverständig erscheinen, das geb’ ich zu, aber ich that nur, was mein Herz mir riet, was tausend andere Frauen, was Ihre eigene Frau auch gethan hätte, wäre sie an meiner Stelle gewesen! Sagen Sie doch selbst, Herr Doktor, wenn eine Frau jahrelang in einem Lande lebt, das seinen Sitten und Gebräuchen, fast auch seiner Sprache nach ein fremdes Land für sie ist, wenn sie in all dieser Zeit nie einen Landsmann sah, nie einen heimatlichen Klang hörte, und nun nach Jahren kommt für sie der Tag solchen Wiedersehens; ihre Landsleute ziehen ein, nicht als Feinde, sondern als Befreier, sie schaut die Fahne wieder, in der sie schon als Kind etwas Hohes, Heiliges sah, sie hört die teure Melodie der alten Königshymne, bei deren Klängen ihre Brüder, ihr Vater schon hinausgezogen sind . . .“

Sie brach ab; Thränen erstickten ihre Stimme.

Der alte Hausarzt hatte die Blicke zu Boden gesenkt und starrte nachdenklich auf das Teppichmuster, dann strich er mit der Hand über die Augen. „Frauenlogik!“ murmelte er kopfschüttelnd. „Da läuft das Herz allemal mit dem Verstande davon. Aber man muß Euch nehmen, wie Ihr seid!“ Er richtete sich stramm auf – die klugen Augen unter den buschigen Brauen schauten fast freundlich auf die Preußin. „Ich verstehe Sie, Frau Hedwig, fange an zu begreifen, was alles in einer richtigen preußischen Frauennatur stecken kann. Als Gattin Ihres Mannes haben Sie grundverkehrt gehandelt, aber vom menschlichen Standpunkt aus muß ich Ihnen beinahe recht geben. Wollte, Sie wären eine der Unserigen! Sie haben einen alten bärbeißigen Schleswig-Holsteiner dazu bekehrt, die preußischen Frauen zu respektieren – wenn er mit den Männern auch keine Freundschaft halten möchte. Der Glaube fehlt und das Vertrauen fehlt! Werden sie’s diesmal anders machen als anno dazumal?“

Er zuckte die Achseln und schwieg in finsterem Sinnen. Kein Laut, kein Leben im ganzen Zimmer, nur das einförmige Ticken der Uhr und das Tanzen der Sonnenstäubchen. Der Alte spann seinen schweren Gedankengang fort, endlich aber sagte er laut und ernst: „Von mir also soll Ihnen vergeben sein. Aber die andern! Kind, Kind, da kann ich Ihnen nicht helfen. Man führte den Stephanus hinaus und steinigte ihn. Selbst meine eigene gute Frau – das vergiebt sie Ihnen nicht!“

Er reichte ihr die Hand und drückte die ihrige fest und treu. „Gott befohlen, junge Frau! Halten Sie’s aus, halten Sie den Sturm aus! Die bösen Tage gehen vorüber wie die guten. Wer weiß, es kommt vielleicht eine andere Zeit – wir verstehen sie nur noch nicht!“

Damit schied er.

Und die Frau, die so stolz vor ihm gestanden, wartete nicht ab, bis die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte. Sie legte die Arme auf den Tisch und weinte, weinte – ihr war das Herz zum Sterben schwer.

Aber es war ihr keine Zeit vergönnt, sich ihrem Schmerze zu überlassen.

„Kann ich die gnädige Frau selber sprechen?“ fragte draußen eine laute jugendliche Männerstimme, die der Weinenden seltsam bekannt vorkam.

„Madam’, dar sünd se all!“ mit diesem Schreckensruf kam Stine zur Thür hereingestürzt. „Un wat de Oebberst vun ehr is, de will abs’lut uns’ Madam’ sülwsten spreken!“

Hedwig trocknete ihre Augen – da stand auch schon ihr Besuch auf der Schwelle.

„Hedel! Gott im Himmel, hab’ ich mich gefreut, als ich hörte, daß mein Quartierzettel auf Euern Namen lautete! Ein junger Mensch muß Glück haben, sonderlich im Krieg und in der Liebe, nicht wahr, Kousinchen?“

Er stand vor ihr und streckte ihr beide Hände entgegen – ein großer breitschulteriger Offizier, das offene, von der Kälte gerötete Gesicht von blondem Haar und Bart umgeben.

Frau Hedwig starrte ihn an, als sähe sie einen Geist; willenlos ließ sie’s geschehen, daß er ihre Hände nahm und sie küßte. Dann erst konnte sie reden, ward sie wieder Herr ihres aufgeregten Selbst. Ein Freudenschimmer flog über ihr junges Gesicht und färbte die bleichen Wangen mit schöner heller Röte. „Du, Gerhard!“ rief sie und schaute zu ihm empor mit schwesterlichem Vertrauen. „Wie kommst Du hierher, in den Krieg? Und nun gerade zu uns?“

[544]

Der deutsche Kaiser Heinrich III. fordert König Heinrich I. von Frankreich zum Zweikampf.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Roeber.

[545] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [546] Und dann siegte die hausfrauliche Fürsorge über jedes andere Gefühl. „Nun setze Dich nur erst und ruhe aus, Du wirst hungrig und müde sein.“

Sie eilte an die Thür und gab der alten Köchin draußen einen Befehl. Als sie zurückkam, trat sie dicht an ihren Gast heran, reichte ihm die schmale Hand, an der der goldene Trauring glänzte, und sagte herzlich. „Willkommen, Gerhard! Dich hat mir der liebe Gott geschickt. Mein Mann ist verreist, und mir bangte vor der fremden Einquartierung.“

„Fremde Einquartierung?“ wiederholte er enttäuscht. „Singst auch Du dasselbe Lied, Hedwig?“

„Nein, Gerhard! Gott weiß, wie ich mich über die Ankunft meiner Landsleute gefreut habe! Aber ich bin noch nicht ehrwürdig genug, Euch jungen Leuten Respekt einzuflößen, und nicht strenge genug, Euch in Rand und Band zu halten,“ erwiderte sie heiter. „Da schneit mir nun urplötzlich ein lieber halb vergessener Vetter . . .“

„Aber Hedel! Halb vergessen!“

Sie lächelte und drehte ihren Ring um den Finger. „Ja, ja, Vetter Gerhard! Solch ein schmaler goldener Reif läßt eine Frau allerlei vergessen, was außer dem Bereich von Mann, Haus und Kindern liegt – und so ist’s auch gut!“ sagte sie, immer mit derselben heiteren Ruhe und Sicherheit.

Er seufzte und betrachtete sie aufmerksam. Diese Frau, die er vor Jahren angebetet hatte, als er ein blutjunger Student war und sie ihre ersten Balltriumphe feierte, kam ihm jetzt nach so langer Zeit fast noch schöner vor denn damals, aber doch zugleich fremder, als weit über ihm stehend. Seine Blicke und seine Gedanken blieben unwillkürlich an dem schmalen Goldreif an ihrer Hand haften.

In diesem Augenblick ging die Thür auf, und drohend wie ein ausbrechendes Ungewitter trat die alte Köchin herein und brachte die befohlene Stärkung – Thee, Wein und kalte Küche. Jedes Stück ward mit einem finsteren Blick auf den Gast und mit jenem unheimlichen Nachdruck, der der Hausfrau die höchste Unzufriedenheit des dienstbaren Geistes ankündigt, auf die weiße Serviette niedergesetzt, die Frau Hedwig ausgebreitet hatte. Mit unverhohlenem Vergnügen betrachtete indes der Preuße die feindselige Miene dieses guten alten Küchendragoners; aber mit Stine war nicht zu spaßen – sie drehte ihm seelenruhig ihren breiten Rücken zu und ließ ihn ihren schönen rot- und grüngestreiften Rock und die verschlissenen Nähte ihrer schwarzen Sammetjacke bewundern, während sie kurz angebunden die Hausfrau fragte: „Schüllt de annern“ – mit einer bezeichnenden Kopf- und Handbewegung nach der Thür – „ok wat hebbn, Madam’?“

Was blieb Frau Genthin anderes übrig, als ihren Vetter sich selbst und seinem Hunger zu überlassen, geduldig dem alten Haustyrannen zu folgen, um auch draußen und für „de annern“ ihre hausfraulichen Pflichten zu erfüllen?

Als dies geschehen war, suchte sie noch rasch ihre Nichte auf. „Denk’ Dir, Marie,“ rief sie in der Freude ihres Herzens dem Katteeker schon von weitem zu, „der Lieutenant, vor dem mir so bangte, ist gar kein Fremder, sondern ein lieber alter Jugendfreund, mein Vetter Gerhard Wien aus Schlesien. Nun bin ich ruhig! Er wird wohl mehrere Tage hierbleiben; vielleicht kommt inzwischen mein Mann auch wieder, und dann sind wir aus aller Not!“

Doch Marie that, als ginge dieser tröstliche Bericht sie nicht im mindesten an. Sie war just damit beschäftigt, ihren zwei- und vierbeinigen Lieblingen einen anderen Aufenthaltsort anzuweisen, und rieb mit großem Eifer an dem Glashafen herum, in dem ihre drei Laubfrösche saßen.

„Sieh’ mal, Tante,“ sagte sie ganz sachlich und unbefangen und zeigte auf zwei von den Wetterpropheten, die faul und behäbig oben auf der Leiter hockten, indes der dritte sich unten im Wasser verlustierte, „siehst Du, es ist doch eigentlich sehr vorteilhaft, wenn man drei Frösche hat. Da kann man sich hübsch nach der Majorität richten, wie Onkel Johannes immer sagt.“

Frau Genthin nahm ihr ruhig das Glas aus der Hand. „Jetzt laß einmal Deine Laubfrösche und denk’ an etwas anderes! Was meinst Du? Die drei gemeinen Soldaten können im Erdgeschoß untergebracht werden. Stine und das Kindermädchen nehmen wir herauf – das ist mir ohnehin lieber. Der Sergeant kommt in Dein Stübchen. Gerhard ins Balkonzimmer.“

„Thu’, was Dir gut dünkt, Tante,“ erwiderte das Backfischchen kühl. „Du weißt, diese Preußen sind meine Feinde, und für Feinde kann ich mich nun einmal grundsätzlich nicht interessieren.“

„Bitte, verschone mich mit Deinen Grillen und Grundsätzen!“ rief die geplagte Hausfrau ungeduldig. „Dazu ist jetzt wirklich keine Zeit! Hilf mir lieber bedenken, womit wir die Leute heute abend satt machen sollen. Die armen Menschen müssen doch bald ’was Warmes haben! Christine ist so eigensinnig und Doris so ungeschickt – Du bist meine einzige Hilfe, Kind!“

Das wirkte.

„Na, das ist denn eine andere Sache!“ sprach das Katteeker würdevoll, überließ Kanarienvogel, Buchfink und Laubfrösche, den Geist des seligen Kardinals und die ausgestopften Vogelbälge ihrem Schicksal und folgte der Tante in die Küche, wo es an diesem ereignisreichen Tage alle Hände voll zu thun gab.

Willig nahm sie dort einen Teil der häuslichen Sorgen auf ihre Schultern, und nach hartem Kampf ergab sich auch Christine in ihr Schicksal, „för dat oll Preußenvulk, de uns doch man schier arm freten“, zu kochen. So konnte Frau Hedwig denn ruhigen Herzens zu ihrem Gast zurückkehren. Sie schickte noch das Kindermädchen zur Aushilfe in die Küche hinunter und nahm die drei Kinder mit sich ins Wohnzimmer.

Als sie eintrat, mit ihrem Jüngsten auf dem Arm, während die beiden kleinen Mädchen ängstlich an ihren Rockfalten hingen, sprang der Vetter auf, schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rief. „Herrgott, wie ist mir denn! Ich hatte die Gedanken so voll von dem Wiedersehen mit Dir, daß ich bis jetzt noch gar nicht daran dachte! Das ist ja das Haus, das epheuumrankte, wo wir heute morgen so freundlich begrüßt worden sind!“

Er hob das kleinere Mädchen auf den Arm, rieb ihre weiche Kinderhand an seinem bärtigen Gesicht und sagte fast gerührt: „Das sind also Deine Händchen, kleine Maus, die den armen müden Soldaten die hübschen Sträußchen hinuntergeworfen haben? Und Du hast sie gebunden, Hedel, und hast die schwarzeweiße Fahne hinausgehängt, Du altes treues Preußenherz, Du! Das hätt’ ich mir denken können! Freilich, ich hab’ ja kaum gewußt, wie das ungastliche Nest heißt – es waren ihrer schon gar zu viele, die uns ebenso empfingen, in den letzten Tagen! Und die Wahrheit zu sagen, Hedel, ich hatte auch fast vergessen, wohin Dich vor so und soviel Jahren der Herr Baumeister entführte. Aber wo ist denn . . .?“ Er blickte sich wie suchend im Zimmer um.

Doch die Hausfrau schien seine Frage überhört zu haben, und die Kinder nahmen ihn bald so völlig in Beschlag, daß er darüber alles andere vergaß. Für ein Weilchen wenigstens. Er war ein großer Kinderfreund, und diese jugendlichen Schleswig-Holsteinerinnen hatten noch durchaus keine Antipathien gegen den preußischen Lieutenant. Selbst der „Kronprinz“ duldete gnädig, daß der neue Onkel ihn auf den Arm nahm und ihn tanzen ließ – „noch viel höher wie Papa!“ riefen die Schwestern in aufrichtiger Bewunderung. Und Fränzchen benahm sich wunderbar liebenswürdig und widmete dem Gast keinen einzigen Ton seiner so gefürchteten Ouverture.

Während so für Frau Genthin und ihre junge Gesellschaft die Zeit aufs angenehmste verstrich, war Marie Kattein fleißig, sehr fleißig gewesen und hatte weit mehr gethan, als die Tante ihr aufgetragen.

Anfangs half sie der alten Köchin pflichtschuldigst beim Zubereiten der Beefsteaks, wobei Stine ihrem gerechten Grimm nun endlich Luft machen konnte. Mit aller Gewalt ihrer kräftigen roten Arme schlug sie auf dem unschuldigen Ochsenfleisch herum, und zwischendurch kam es ruckweise in dumpfem Groll heraus: „Dat oll Rackertüg[1]! – Möt ik nu um ehrentwillen ut mien Stuw herut, wo ik söben[2] Jahr in slapen hev! Mien Stuw, mien schöne Stuw! – Aewers töwt[3] man – ik hev Ju Arwten[4] in’t Bedd steeken, dar schüllt Ji wul söt[5] up slapen!“ lachte Stine ingrimmig auf. Nach einer Weile fuhr sie leiser und in geheimnisvollem Flüstertone fort: „Frölen, weeten’s, wat Duris seggt? Duris seggt, wenn Frölen uns vielleich een vun ehr Poggen[6] en beten gewen wull, denn künnt wie dat oll Diert Naetschelln ünner de Föt kliestern[7], un dat denn de ganze Nach dorin herümmer spellunken laten. Dar schüllt de Preußens sik wul aewer grugen[8].“

Katteeker horchte hoch auf. Ein prächtiger Gedanke! Aber nein! Es ging nicht, es ging wirklich nicht! Sie konnte sich doch unmöglich mit den beiden Dienstmädchen in eine Verschwörung einlassen, die Tante würde ja außer sich sein, wenn sie’s erführe. [547] Irgend etwas freilich mußte sie „diesen Preußen“ anthun, das stand fest. Aber was? Darüber grübelte sie ernstlich nach, während sie in ihrem Eifer immer mehr Pfeffer und Salz über die Beefsteaks streute.

„Na, lütt Katteeker?“ fragte Stine vertraulich.

Mariechen atmete hastig, die Versuchung war gar zu groß.

„O, Stine, ich möchte wohl,“ gestand sie ehrlich. „Aber nein, ich thu’ es nicht. Das paßt sich nicht für mich.“

„Na, denn nich!“ schrie Christine erbost und hieb von neuem auf das Fleisch los. „Mien Stuw – mien schöne Stuw!“

Das Jammern der alten guten Seele that dem Mädchen leid, und tröstend sagte sie: „Sei doch still, Stine, Du kriegst ja doch eine warme Stube wieder.“

„’n warme Stuw – wat frag ik dornah?“ war die verächtliche Antwort. „Mien Stuw will ik bihol’n, mien eegen, wo ik all söben Johr in slapen hev! Jn’n anner kann ’k aewerall nich in slapen!“

„Warum solltest Du darin nicht schlafen können, Stine! Du schläfst ja wie ein Bär,“ lachte Marie gutmütig. „Ich bin bloß bang, daß Du schnarchst, und dann könnten wir nicht schlafen.“

„Ik un snorken? Oha, Frölen, wo künnt Se mi wul so wat totrugen[9]? Ik hev all mien Lewsdag nich snorkt!“ rief Stine in gerechter Entrüstung.

„I, Stine, das kannst Du ja gar nicht wissen.“

„Nich weeten? Wul weet ik dat.“

„Woher denn?“ fragte Katteeker neugierig.

Christine legte den Fleischklopfer hin, beugte sich über den Tisch und flüsterte geheimnisvoll: „O – ik hev mi all mal sülwst beluert[10].“

Lachend lief das kleine Fräulein davon und überließ Küche, Christine und Beefsteaks ihrem Schicksal. Ihr war plötzlich etwas eingefallen, was wichtiger war.

Als Frau Genthin nach einiger Zeit auf den Flur herauskam, mußte sie gestehen, daß die kleine Patriotin wirklich das Menschenmögliche an Opposition geleistet hatte. Das Katteeker hatte nämlich ihre eigene Stubenthür und jene des Balkonzimmers mit blauer und roter Farbe verziert. Zum Unglück aber wollten die eigensinnigen Wasserfarben auf dem weißlackierten Holz durchaus nicht haften, und der Erfolg war daher in künstlerischer Beziehung recht kläglich ausgefallen. Mit der vaterländischen Dekorierung ihrer kleinen Menagerie hatte sie gleichfalls ihre liebe Not. „Schlau“, der kleine Pinscher, ließ sich freilich zum Besten des Vaterlandes geduldig mit einer breiten blau-rot-weißen Schärpe schmücken, bei dem Buchfinken und dem Kanarienvogel wurde die Sache aber schon schwieriger; doch schließlich hüpften auch diese beklagenswerten Geschöpfe mit patriotischen Halsbändern umher. Nur die Frösche 1, 2 und 3 widersetzten sich nachdrücklich der Anbringung irgendwelcher Hals- oder Leibbinden, so daß Marie den Versuch endlich als nutzlos aufgeben mußte.

Für sämtliches Getier hatte sich im ganzen Hause natürlich keine passendere Unterkunft finden lassen als die Balkonstube, wo der Lieutenant residieren sollte. Marie sann und sann, ob für die Laubfrösche denn gar keine Rolle in diesem Drama möglich zu machen wäre; aber nein, die dummen Kreaturen waren zu unpatriotisch und zu glitschig! Doch halt! Etwas gab es, was dem Preußen sein schreiendes Unrecht aufs deutlichste vor Augen führen konnte!

Das Katteeker lief in des Onkels Zimmer und kehrte nach wenigen Minuten mit einer schleswig-holsteinischen Geschichte zurück. Sie studierte lange darin und endlich fand sie, was sie brauchte. Die Geschichte endete mit dem Jahre 1852, und auf der letzten Seite war mit wenigen harten Worten die Lage der Dinge geschildert. Diese unglückliche letzte Seite wurde von den erbarmungslosen kleinen Fingern ohne weiteres herausgerissen und über das gläserne Gefängnis der Frösche gebunden.

„So, Gerhard Wien, da hast Du’s! Nun lies selbst, was die Preußen damals angerichtet haben!“ sagte Katteeker befriedigt und verhalf den bewußten Stellen mit ein Paar kräftigen Rotstiftstrichen zu noch größerer Deutlichkeit.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.

Zum 350jährigen Jubiläum der Leipziger Buchbinder-Innung. Als man die Bücher noch durch Abschreiben vervielfältigte, gab es keine Buchbinder, die einen besonderen Stand gebildet hätten. Erst nach der Erfindung der Buchdruckerkunst, als die Bücher zahlreicher wurden, konnte die Buchbinderei als ein selbständiges Gewerbe auftreten und sich besonders organisieren. Diese Arbeitsteilung ging nicht ohne Reibungen und Kämpfe mit den Buchdruckern und Buchhändlern vor sich und die Leipziger Buchbinder-Innung war eine der ersten, die diese Kämpfe ausfechten mußte. Sind es doch heuer 350 Jahre, daß diese Innung besteht! Ihre ältesten Urkunden datieren vom Abend vor Bartholomäustag (23. August) 1544, und indem man den 15. Verbandstag des Bundes deutscher Buchbinderinnungen auf Anfang August nach Leipzig einberief, gab man den Genossen von nah’ und fern Gelegenheit, die Leipziger Innung an ihrem Jubelfeste zu beglückwünschen.

Was nun die gesellschaftliche Stellung der Buchbinder vor 350 Jahren anbelangt, so zählten sie damals wegen ihrer Fertigkeit im Lesen und Schreiben und wegen ihrer Kenntnisse in verschiedenen Sprachen zu den gelehrten Berufen, waren akademische Bürger und durften den Degen tragen. Die ältesten Leipziger Buchbinder betrieben zum großen Teil auch Handel mit Papier, mit gebundenen und ungebundenen Büchern und hatten zur „Messenszeit“ ihre Stände auf dem Marktplatz oder unter dem Rathause.

Im Jahre 1544 bestand die Leipziger Buchbinder-Innung aus 13 Meistern, von denen jeder nur zwei Gesellen und einen Lehrjungen oder zwei Jungen und einen Gesellen halten durfte. Ihr „geistiger Vater“ war der berühmte und vermögende Meister Christof Birck. Die Geschichte der Buchbinder-Innung zu Leipzig ist vom Buchbindermeister und Archivar Heinrich Kofel in einer Festschrift „Chronik der Buchbinder-Innung zu Leipzig“ (Leipzig, Verlag der Buchbinder-Innung) zusammengestellt worden. Wir ersehen aus ihr, daß die Gemeinschaft lange Zeit hindurch blühte und gedieh und selbst die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges glücklich überwand. Schwer hatte sie dagegen unter dem Siebenjährigen Kriege und dem Kriegsjahre 1813 zu leiden.

In den Zeiten der Not ging der Sinn für die Kunst im Gewerbe mehr und mehr verloren und erst spät sollte auch in der Buchbinderei eine neue Blüte eintreten, wobei allerdings die Werkstatt in den Arbeitssaal verwandelt wurde. Zu dieser Umwandlung hat wohl das Meiste Karl Heinrich Sperling beigetragen, der seit 1846 Mitglied der Innung war und 1876 starb. Er war der erste, der Beschneide-, Abpreß- und Vergoldemaschinen und im Jahre 1866 auch den Dampfbetrieb in der Buchbinderei zu Leipzig einführte.

Im Jahre 1862 wurde in Sachsen die Gewerbefreiheit eingeführt, aber die Mehrzahl der Leipziger Buchbinder hielt treu zu der Innung; noch im Jubiläumsjahre (1894) beträgt die Zahl der Innungsmitglieder 118 und sie beschäftigen insgesamt 2219 Personen, während die der Innung nicht angehörenden Buchbindereien Leipzigs mit etwa 1200 Personen arbeiten.

1544 und 1894! Wie hat sich das Buchbindergewerbe in Leipzig entwickelt! Einst wirkten 13 Meister mit 39 Gesellen und Jungen in einfachen Werkstätten – heute binden in Leipzig an 3500 Menschen und werden von sinnreichen Maschinen und dem gewaltigen Dampf unterstützt. Gegenwärtig werden in Deutschland in etwa 15000 Betrieben von 60000 Arbeitern Bücher gebunden und unter allen Städten nehmen die Buchbinder Leipzigs die hervorragendste Stellung ein. Inzwischen ist aber auch das Bedürfnis nach einer künstlerischen Ausstattung des Bucheinbandes wieder erwacht und häufiger begegnen wir nach langer Zeit des Verfalls echten Meisterwerken der Buchbinderkunst.

Mit dem Jubiläum der Leipziger Buchbinder-Innung verbindet sich eine Fachausstellung, die in den Tagen vom 5. bis 12. August im Kristallpalaste stattfindet. Da sind die neuesten Maschinen und Werkzeuge des Buchbinders, alle Materialien für Buchbinderei zu sehen, und damit jeder den Fortschritt, der im Laufe der Jahrhunderte gemacht wurde, selbst ermessen könne, wird auch eine alte Buchbinder-Werkstatt aus dem 16. Jahrhundert vorgeführt. Vor allem aber erregt die Gruppe Aufmerksamkeit, welche Arbeiten des Buchbindergewerbes aus älterer und neuerer Zeit umfaßt. Zahlreiche deutsche Bibliotheken und Museen haben dazu die gediegensten und wertvollsten Einbände, die in ihrem Besitze sind, gesandt. Welch kostbare Stücke sich darunter befinden, davon nur ein Beispiel. Das herzogliche Museum zu Gotha stellt unter anderen Büchern drei alte Lederfiligranbände aus, von denen jeder gegen Feuersgefahr, Beschädigung etc. mit 20000 Mark versichert werden mußte. So kann man eine Fülle der ausgezeichnetsten Kunsteinbände bewundern, wie sie wohl noch niemals an einem Orte vereint gewesen ist, und der Erfolg wird nicht bloß in einer erweiterten Kenntnis der technischen Errungenschaften, sondern ebenso in der Hebung des Kunstsinns sich bemerkbar machen. *  

Der deutsche Kaiser Heinrich III. fordert König Heinrich I. von Frankreich zum Zweikampf. (Zu dem Bilde S. 544 und 545.) Eine gewaltige Gestalt, dieser Heinrich III., in dem das deutsche Kaisertum vor seinem tiefen Fall unter Heinrich IV. noch einmal eine so glänzende Vertretung fand. Durch die Kraft seines Willens, die Reinheit seines Beispiels, die Machtfülle seines Armes wehrt er des Reiches inneren und äußeren Feinden und säubert er die Kirche von schweren Schäden. Kunst und Wissenschaft finden in ihm einen eifrigen Förderer und heute noch verkünden die Dome zu Worms, Mainz und Speier den Glanz seines Zeitalters. Aber freilich, den überirdisch schönen Gedanken eines allgemeinen Völkerfriedens, diesen Gedanken, der seinem idealistisch angelegten Geiste als letztes Ziel seiner Herrscherträume vorschwebte, vermochte [548] er nicht zur Verwirklichung zu bringen – bis zum Ende seiner Tage hatte er gegen auswärtige Feinde wie gegen widerspenstige Vasallen das Schwert zu führen.

Zu den Männern, die Heinrich III. wohl am meisten Schwierigkeiten bereiteten und am längsten Trotz boten, gehört Herzog Gottfried von Oberlothringen, der nach seines Vaters Tode auch Niederlothringen für sich in Anspruch nahm. Dieser ewig unruhige und fehdebereite Fürst hatte nun zur Unterstützung seiner Pläne hochverräterische Verbindungen angeknüpft mit König Heinrich I. von Frankreich, dem es ganz gelegen gekommen wäre, Lothringen für Frankreich zu gewinnen. Einmal wurde des Franzosenkönigs Absicht, Aachen zu überfallen, nur durch den Ausbruch innerer Unruhen im französischen Reiche vereitelt.

Wohl gelang es dem deutschen Kaiser später, im Jahre 1048, mit dem begehrlichen Nachbar ein Abkommen zu schließen, das diesen von Gottfried trennte. Allein der französische Heinrich war ein unzuverlässiger Herr, und der Kaiser sah sich 1056, im letzten Jahre seines Lebens, genötigt, bei einer neuen Zusammenkunft zu Ivois am Chiers, eiuem Nebenflusse der Maas, auf die Erfüllung der eingegangenen Versprechungen zu dringen. Der französische König weigerte sich anfangs, diese überhaupt anzuerkennen, durch Eideshelfer, welche die Wahrheit seiner Aussagen bekräftigen sollten, und durch Urkunden suchte er sich als den rechtmäßigen Herrn von Lothringen zu erweisen. Allein Kaiser Heinrich ließ ihn nicht so leichten Kaufs davonkommen. Als alles Verhandeln nichts mehr half, warf der Deutsche dem Franzosen den Fehdehandschuh vor die Füße und forderte ihn nach ritterlichem Brauche zum Zweikampf, um sein Recht mit den Waffen zu erhärten. Ob der König nun fürchtete, in diesem Zweikampf zu unterliegen, oder ob er andere Gründe hatte, genug, er gab seine Sache verloren und entfernte sich samt seinem Gefolge heimlich bei Nacht und Nebel.

Unser Bild von Fritz Roeber stellt den Augenblick dar, wo König Heinrich unter der Wucht von Kaiser Heinrichs kühner Herausforderung in sich zusammensinkt. Die beteuernd erhobenen Schwurfinger seiner Eideshelfer vermögen ihn über das Gefährliche seiner Lage nicht hinwegzutäuschen, beängstigend klingen die kriegerischen Drohungen der Deutschen an sein Ohr. Machtvoll gebietend aber steht Kaiser Heinrich da, die Linke am Schwert, mit der Rechten auf den hingeworfenen Handschuh weisend – ganz Größe, ganz Rechtsbewußtsein gegenüber dem peinlichen Bilde zusammengebrochenen Hochmuts.

Joseph Hyrtl †. Südlich von Wien, angelehnt an die Hänge des Wiener Waldes, liegt der anmutige Flecken Perchtoldsdorf. Dort lebte seit 20 Jahren in stiller Zurückgezogenheit der Mann, zu dem ganze Generationen von Medizinern als zu ihrem ersten Lehrer aufschauen – Joseph Hyrtl. Bei einem halbverfallenen burgartigen Bau inmitten des Orts hatte er sich ein trauliches Heim gegründet, das nur seine treue Gattin, eine feinsinnige Dichterin, mit ihm teilte; wenige vertraute Freunde bildeten seinen Umgang. So lange das schwindende Licht seiner Augen es ihm erlaubte, setzte er seine wissenschaftlichen Forschungen fort, für die er sich in dem alten, unmittelbar an den Friedhof anstoßenden Gemäuer eine seltsame Studierstube geschaffen hatte. Wie ein Patriarch erschien er mit dem großen weißen Vollbart, den leider keines seiner Bilder zeigt, da er sich seit vielen Jahren nicht mehr photographieren ließ. Gewöhnlich trug er ein langes talarähnliches Gewand, das er von der Gewohnheit des Lehrsaals her beibehalten hatte, das Haupt war tief beschattet mit einem grünen Schirm oder einem breitkrämpigen Hut, der leidenden Augen wegen. Warme Verehrung aber genoß er in den Herzen der Perchtoldsdorfer, für deren Kinder er, der Kinderlose, durch Stiftung einer Schule und eines Asyls in freigebiger Weise gesorgt hatte; wie ja auch ein Waisenhaus im benachbarten Mödling und namhafte Stipendien für Studierende der Wiener Hochschule von seinem hochherzigen Wohlthätigkeitssinne Zeugnis ablegen.

Joseph Hyrtl.
† 17. Juli 1894.

Joseph Hyrtl hat nun auch dem Gesetze alles Lebenden sich beugen müssen – am Morgen des 17. Juli ist er, plötzlich und unvermittelt, einem Herzschlag erlegen. Dank einer äußerst regelmäßigen Lebensweise hatte er seinen Körper bis in das hohe Alter von 831/2 Jahren frisch erhalten.

Hyrtls wissenschaftliche Verdienste liegen, wie man weiß, hauptsächlich auf dem Gebiete der Anatomie. Schon als junger Mann von 23 Jahren war er Prosektor an der Wiener Anatomie, 1837 wurde er Professor in Prag, kehrte 1845 nach Wien zurück, dessen Hochschule er von da ab bis 1874 treu blieb. Berühmt sind seine anatomischen Lehrbücher, von denen eines es bis auf 20 Auflagen gebracht hat, und seine anatomischen Präparate, die er meisterhaft herzustellen verstand und mit denen er die Universitäten der halben Welt versorgte. Als Lehrer war Hyrtl von ungemeinem Einfluß. Seine Vorträge, die er mit köstlichem Humor zu würzen pflegte, während er äußerlich unerschütterliche Würde und Ruhe bewahrte, waren von bewundernswerter Klarheit, ein unschätzbarer Vorzug, wenn man daran denkt, daß der Anatomie in der Regel gerade die Anfänger im medizinischen Studium sich zuwenden.

Als Hyrtl am 7. Dezember 1890 seinen 80. Geburtstag feierte – er war 1810 zu Eisenstadt in Ungarn geboren – da entließ er die Freunde, die ihn besucht hatten, mit dem heiteren Gruße: „Auf Wiedersehen in zehn Jahren!“ Das aber ist dem Einsiedler von Perchtoldsdorf nun doch nicht mehr beschieden gewesen. Der Tod, mit dessen Anblick ihn Beruf und Leben so vertraut gemacht, hat ihn früher abgerufen aus seinem ungewöhnlich reichen und gesegneten Dasein.

Der „deutsche und österreichische Alpenverein“ hält vom 8. bis 11. August seine 21. Generalversammlung zu München mit ganz besonderer Feierlichkeit ab. Sind es doch heuer 25 Jahre, seit in der Jsarstadt die Sektion München und der „deutsche Alpenverein“ ins Leben trat, der sich dann infolge seines Zusammenschlusses mit dem sieben Jahre früher gegründeten „österreichischen Alpenverein“ zu einem mächtigen, die beiden Reiche umschließenden Verband entwickelt und von allen alpinen Vereinigungen weitaus die größte Bedeutung gewonnen hat. Nicht weniger als 214 Sektionen zählt er heute, die von Königsberg bis Triest, von Metz bis Wien sich erstrecken, und die Mitgliederzahl übersteigt die 30000. Wenn die österreichischen und bayerischen Alpenländer heute dem fremden Wanderer in geradezu vorbildlicher Weise zugänglich gemacht sind, so gebührt ein wesentliches Verdienst hieran den Männern vom silbernen Edelweiß. In litterarischen Veröffentlichungen mannigfacher Art weckt und nährt der Verein den Sinn für die Schönheiten des von ihm in Pflege genommenen Gebiets, er bildet den Mittelpunkt für seine wissenschaftliche Erforschung, giebt vortreffliche Kartenwerke heraus und hat eine musterhafte Organisation des Führerwesens geschaffen.

Durch seine Wegbauten öffnet er auch dem weniger geübten Bergsteiger sonst verschlossene Pfade, ganze Straßen sind auf seine Anregung und mit seiner Unterstützung gebaut worden, auf denen ein frischer Verkehrsstrom in seither abgelegene Winkel sich ergießt, und seine Schutzhütten, gegen 150 an der Zahl, bieten in unwirtlicher Einöde willkommene Stätten der Ruhe und Stützpunkte für neue Wanderungen. Und nicht bloß das! Durch eine reich ausgestattete Führer-Unterstützungskasse sorgt er für die Männer, deren Beruf im Dienste des Touristen so oft den Einsatz von Gesundheit und Leben mit sich bringt, und man weiß, wie bei besonderen Unglücksfällen, Bergstürzen, Wasserschäden und dergleichen, durch freiwillige Beiträge aus den Reihen der Mitglieder namhafte Hilfsgelder aufgebracht worden sind. So ist der „deutsche und österreichische Alpenverein“ zu einem Kulturförderer geworden, und mit Genugthuung darf er von der erreichten Höhe aus auf die Summe gerade dieser Leistungen zurückblicken.


Inhalt: Die Brüder. Roman von Klaus Zehren (5. Fortsetzung). S. 533. – Tragödien und Komödien des Aberglaubens. Der „Tschört“. Nach einer wahren Begebenheit erzählt von Olga Wohlbrück. S. 538. – Die „Kieler Woche“. S. 541. Mit Abbildungen S. 533, 537, 541 und 542. – „Up ewig ungedeelt!“ Novelle von Jassy Torrund (1. Fortsetzung). S. 542. – Der deutsche Kaiser Heinrich III. fordert König Heinrich I. von Frankreich zum Zweikampf. Bild. S. 544 und 545. – Blätter und Blüten: Zum 350jährigen Jubiläum der Leipziger Buchbinder-Innung. S. 547. – Der deutsche Kaiser Heinrich III. fordert König Heinrich I. von Frankreich znm Zweikampf. S. 547. (Zu dem Bilde S. 544 und 545.) – Joseph Hyrtl †. Mit Bildnis. S. 548. – Der „deutsche und österreichische Alpenverein“. S. 548.


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Gartenlaube-Kalender 1895.
Zehnter Jahrgang. Mit zahlreichen Illustrationen.
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Der „Gartenlaube-Kalender“ für das Jahr 1895 bringt u. a. die neueste Erzählung von W. Heimburg: „Der silberne Hirschfänger“ mit Illustrationen von Fritz Bergen, ansprechende und humorvolle Erzählungen von J. Wilda und E. Lenbach, unterhaltende und belehrende Beiträge von E. Peschkau, A. Ohorn, L. Holle u. a., ferner zahlreiche Illustrationen von hervorragenden Künstlern, Humoristisches in Wort und Bild und viele praktische und wertvolle Kalender-Notizen und Tabellen zum Nachschlagen bei Fragen des täglichen Lebens.

Bestellungen auf den Gartenlaube-Kalender 1895 nimmt die Buchhandlung entgegen, welche die „Gartenlaube“ liefert. Post-Abonnenten können den Kalender durch jede Buchhandlung beziehen oder gegen Einsendung von 1 Mark und 20 Pfennig (für Porto) in Briefmarken direkt franko von der
Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Rackerzeug.
  2. sieben.
  3. wartet.
  4. Erbsen.
  5. süß.
  6. Frösche.
  7. dem alten Tier Nußschalen unter die Füße kleben.
  8. grauen, fürchten.
  9. zutrauen.
  10. belauert.