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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]

Nr. 31.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fritz Plank.      J. Kaschmann.      Ernest van Dyck.      Theodor Reichmann.      D. Popovici.
Wilhelm Grüning.   Hermann Levi.   Siegfried Wagner.   Hans Richter.   Karl Grengg.
Therese Malten.  Pauline de Ahna.   Felix Mottl.   Pauline Mailhac.   Rosa Sucher.
Emil Gerhäuser.   Richard Strauß.   Willy Birrenkoven.
Lilian Nordica.   Maria Brema.

Dirigenten und hervorragende Mitspieler bei den Bayreuther Bühnenfestspielen.

[518]

Die Brüder.

Roman von Klaus Zehren.

(4. Fortsetzung.)


Hermann und Edda setzten sich rasch in Bewegung, um Lore mit Prinz Sissi einzuholen. Eine kurze Begrüßung folgte.

„Liebe Edda, wir wollen in acht Tagen einen Ball geben; Sie werden doch kommen, nicht wahr?“

„Ich auf einen Ball? Das müßte zum Totlachen sein, da ich noch nie im Leben getanzt und nie an diesen sogenannten Vergnügungen teilgenommen habe! Ich würde mir vorkommen wie eine Trauer-Esche in einem Lustgarten.“

„Ach was, Sie müssen kommen, und Hermann auch! Es werden wirklich ganz nette Leute bei uns sein; nicht nur Prinz Sissi, Beamte und Offiziere, nein, sogar Kollegen von Ihnen und Ihrem Vater. Uebrigens hat mir dieser bereits zugesagt.“

„Wer? Mein Vater?“

Es lag ein so unverhohlenes Erstaunen in diesen Worten, daß die andern zu lachen begannen.

„Ich habe ihn so lange gebeten, bis er nachgab und zu kommen versprach,“ plauderte Lore weiter.

„So? Na, eher hätte ich den Einsturz des Himmels erwartet! Ich werde es mir überlegen, liebe Lore. – Wollen Sie mich für einige Minuten begleiten, Prinz?“ fragte Edda unvermittelt den Russen.

Sie hatte wirklich eine merkwürdige Art und Weise, mit Herren umzugehen. Selbst Prinz Sissi war erstaunt, folgte ihr aber trotzdem, Lore mit Hermann zurücklassend.

„Haha, hast Du des Prinzen Gesicht gesehen? Zum Totlachen, wie sie mit dieser von den Pariser Damen verzogenen Durchlaucht umgeht! Ein zu originelles Mädchen! Weißt Du, daß sie eigentlich eine Schönheit ist?“

„Was, die Helm?“ fragte er zerstreut.

„Mein Gott, seid Ihr Männer blind! Wenn Euch die Schönheit nicht in den Formen der herrschenden Mode gereicht wird, bemerkt Ihr sie überhaupt nicht. Ich werde selbst eine Toilette für sie zu unserem Ball herrichten lassen und Ihr werdet sie überhaupt nicht wiedererkennen! Du brauchst nicht ungläubig zu lächeln, Hermann! Denke Dir diese Figur, diesen eigentümlichen Teint gehoben durch ein bordeauxrotes Kleid – ganz einfach ohne allen Zierat – das Haar in eine antike Frisur gebracht, mit einer dunklen Kamelie darin, ohne jeden andern Schmuck! Ich freue mich wie ein Kind darauf. Sie wird durch ihr Aeußeres wie durch ihr Wesen Aufsehen erregen in unserem Salon. In Paris würden sich die Männer um ein solches Mädchen reißen.“

„Ich bin gespannt, ob sie auf Deinen Plan eingehen wird.“

„Keine Sorge, wenn ihr Vater erscheint! Ich bin meiner Sache gewiß.“

„Man kommt im Verkehr mit ihr nicht aus den Ueberraschungen heraus und hat gar nicht das Gefühl, als spräche man mit einer Dame, als stände man überhaupt einem weiblichen Wesen gegenüber.“

Lore sah ihn scharf von der Seite an. „Das macht die verrückte Erziehung und der Beruf, den ihr der Vater gestattete. Interessiert sie Dich?“ Ihre Blicke hingen an seinen Lippen.

„Als Studie, ja! Es ist einmal etwas anderes als der Durchschnitt.“

„Und das zieht Dich an?“

„Nein, es stößt mich ab,“ sagte er schroff. „Es ist eine Empfindung, als müßte man auf unbekanntem Weg in stockfinsterer Nacht vorwärts.“

Lore grübelte einen Augenblick über diese Worte. „Und glaubst Du, daß kein Licht zu finden ist?“

Prinz Sissis Dazwischenkunft überhob Hermann einer Antwort.

„Wo haben Sie Fräulein Helm gelassen? Hat ein anderer sie Ihnen abspenstig gemacht?“ fragte Lore. Prinz Sissi zuckte die Schultern. Er konnte unglaublich hochmütig und verdrossen aussehen.

„Haben Sie sich gezankt?“

„Ich zanke mich nie mit einer Dame.“

„Diese Aeußerung ist nicht artig, Prinz.“

„Aber gerecht,“ antwortete er scharf.

Lore versuchte, mehr aus ihm herausbringen, was ihr zum eigenen Erstaunen nicht gelang.

„Sie begleiten wohl Ihre Frau Schwägerin nach Hause, Herr von Weßnitz?“ wandte er sich an diesen. „Ich habe Wichtiges zu thun. Wollen Sie mich entschuldigen, gnädige Frau?“

„Mein Gott, Prinz Sissi hat etwas Wichtiges zu thun!“ spottete Lore.

Durchlaucht machte einen sehr steifen Hals, versuchte ärgerlich zu bleiben, konnte es aber Lores Lachen gegenüber nicht durchführen.

„Ja, es sind Pariser Neuheiten – Halskragen – in einem hiesigen Geschäft angekündigt, ich habe also wirklich zu thun,“ meinte er ironisch und ging.

Hermann war stiller und einsilbiger als gewöhnlich und Lore langweilte sich um so mehr, als ein ihr bekannter Kavallerieoffizier sie vollständig mit dem Bericht über seine sommerlichen Rennerfolge einspann. Bald trat sie daher neben Hermann den Heimweg an. Ihr Begleiter blieb zerstreut und sie grübelte mit niedergeschlagenen Augen vor sich hin, die Blicke gedankenlos über den schon stark ins schmutzig Graue hinüberspielenden Schnee schweifen lassend. –

Nach ihrer kurzen Unterredung mit dem Prinzen hatte Edda die Eisbahn ebenfalls verlassen, da es zu dämmern begann. Der Prinz hatte sie gänzlich im Zweifel gelassen, ob er ihre zarten Andeutungen bezüglich seines Verkehrs im Hause Lores verstanden habe oder nicht, nur sein Abschiedsgruß war sehr förmlich gewesen.

Edda ging jetzt mit den ihr eigentümlichen langen Schritten durch den Tiergarten bis zur Pferdebahn. Sie fühlte sich durch mancherlei, besonders durch Lores Einladung, etwas in ihrem inneren Gleichgewicht erschüttert, was sie jedoch nicht verhinderte, gewandt auf den in voller Fahrt begriffenen Wagen zu springen und zugleich mit den Blicken einem an Krücken vorbeihumpelnden Jungen zu folgen. Ob dem nicht zu helfen wäre?

Ihren Vater fand sie zu Hause. Er saß in der einfachen Wohnstube vor einem Riesentopf mit Kleister, von dessen unangenehmem Duft das ganze Zimmer erfüllt war, und klebte allerhand Kinderspielzeug zusammen. Der eintretenden Tochter nickte er freundlich zu und war höchst erstaunt, daß sie die aus Kleisterduft und Tabaksrauch zusammengesetzte Luft nicht gut fand.

„Sieh nur diese Festung, Edda! Haha!“

Er rieb zufrieden die Handflächen aneinander und ließ seine tiefliegenden grauen Augen wohlgefällig auf seiner Arbeit ruhen.

„Wie das den Nerven gut thut, eine so harmlose mechanische Arbeit, bei der man seinen Erfolg doch greifbar vor Augen sieht! Dort liegt ein neues Werk, sehr gut geschrieben von einem Irrenarzt; ich habe bis vor einer Stunde darin gelesen. Sehr feiner Beobachter! Wenn alle Leute, die wegen geistiger Ueberarbeitung verrückt wurden, irgend ein kleines mechanisches Handwerk getrieben hätten, würden sie wahrscheinlich ihre Nervenbündel normal erhalten haben.“

„Du bist nicht spazieren gegangen, Vater!“ mahnte Edda vorwurfsvoll, sich an seine Schulter lehnend, während sie nachdenklich an einem Bindfaden die Zugbrücke des Festungsthores auf und nieder klappen ließ.

„Weiß Gott, es ist schon zu spät! Das habe ich ganz und gar vergessen. Das Buch hat mich gefesselt und dann bekam ich eine unbezwingliche Lust, zu kleben und zu bauen, um mich zu erholen. Du bist auf der Eisbahn gewesen? Wollte Dich eigentlich abholen – zu dumm! Ich alter zerstreuter Kerl! War Frau von Weßnitz da?“

Sie nickte lächelnd.

„Donnerwetter, wäre ich doch hingegangen! Diese Frau! Sie sah natürlich reizend aus? Es muß eine Augenfreude gewesen sein!“

Er war fast komisch, der alte Herr, in seiner Begeisterung für die schöne Frau, die sein Herz völlig eingenommen hatte; es schien, als wehte ein jugendlicher Schimmer um seine hohe scharf hervortretende mächtige Stirn, wenn er von ihr sprach.

„Und was hast Du, Vater, hinter meinem Rücken mit ihr verabredet? Du willst zu einem Ball gehen unter all diese Menschen, die nur von Dingen schwatzen, die Dir völlig gleichgültig sind? Du zu einem Ball, Vater, ich muß wirklich lachen!“

„Oho! Weshalb denn nicht? Bin als junger Student höllisch gern zum Tanz gegangen! Und weißt Du, die Frau Lore bat so herzig und sah mich so an –“ er legte den von vollen grauen [519] Locken umrahmten Kopf auf die Seite und blinzelte zu seiner Tochter hinüber – „und wenn sie mich so ansieht, kann ich nicht Nein sagen.“

Sind denn die Männer alle verliebt in sie? dachte Edda. „Sie hat mich natürlich auch eingeladen,“ sagte sie laut und trat an einen Nebentisch, um das Abendbrot zu bereiten.

„Was? Dich?“ fuhr der Alte auf, sich mit einem Ruck nach ihr umwendend.

„Gewiß! Wenn mein Vater zu einem Ball geht, warum denn nicht ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren? Uebrigens habe ich noch nicht zugesagt, obgleich es mich reizt, mit Dir zur Abwechslung auch einmal auf einem Ball zu erscheinen. Schließlich, wenn wir beide hingehen, befinden wir uns sicher in guter Gesellschaft.“

Der Alte drohte ihr mit dem Finger. „Edda, es giebt etwas, das fast so schlimm ist wie die Dummheit – geistiger Hochmut!“

„Du hast recht, Vater. Es hat schließlich ein jeder das Recht, sich seinen Anlagen und Neigungen gemäß auszuleben, so lange diese nicht gemeinschädlich sind, und das ist das Tanzen ja doch eigentlich nicht. Uebrigens, wie geht es mit der schwarzen Lise? Ist der Mann hier gewesen?“

„Das hätte ich fast vergessen! Natürlich, er war hier. Fieber! Das schleppt sich ja in solchen Häusern leicht weiter! Ich habe gesagt, Du würdest heute abend noch einmal vorsprechen.“

„Wenn nur das Kind durchkommt!“

„Es wäre besser, der Knabe folgte der Mutter ins Grab.“

„Denkst Du das wirklich, Vater? Es ist ein gesundes Kind, wer weiß, welche Zukunft in einem solchen Wesen steckt!“

„Ja, welche Zukunft!“ wiederholte er. „In dieser Umgebung, ohne Mutter – der Vater immer auswärts bei der Arbeit ... ein zukünftiger ‚Proletarier‘, weiter nichts! Einer von denen, die das ganze Haus umreißen wollen, weil ihnen gerade das Zimmer, in dem sie leben müssen, nicht groß genug ist.“

Edda antwortete nicht, sondern deutete schweigend auf den Theetisch. Stumm verzehrten beide das einfache Abendbrot, jedes mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Vater und Tochter lebten ganz ohne Dienstboten, eine Aufwartefrau besorgte die gröberen häuslichen Arbeiten in der bescheidenen Wohnung. Es war ein schweigendes Uebereinkommen zwischen ihnen, keinen fremden Menschen dauernd um sich zu dulden.

Nach kurzer Zeit erhob sich Edda, nahm Hut und Mantel und verließ ohne ein Wort das Zimmer. Ein warmer Blick ihres Vaters folgte ihr; er wußte, wohin ihr Weg sie führte.

Edda schritt draußen hastig vorwärts durch die engen Straßen, vorbei an den hochragenden schwärzlichen Häusern dieses Teils von Berlin; aus den Kellerwohnungen stieg der Brodem überheizter, mit Menschen überfüllter Kneipen durch die geöffneten Fenster zum Trottoir herauf. Gemeine Flüche, Johlen, hier und da das Kreischen von Weiberstimmen. Edda hüllte sich fester in ihren Mantel und einem Betrunkenen ausweichend, eilte sie schneller dahin. In einem hochgiebeligen alten Hause stieg sie drei steile enge Treppen hinauf; ein kurzes Pochen, und sie betrat ein kleines armseliges Dachstübchen. Mit höflichem Gruß kam ihr ein junger Mann entgegen, sie reichte ihm die schmale Rechte, die er vorsichtig, zaghaft in seine schwielige Faust nahm. Es war ein hübscher Bursche von einigen zwanzig Jahren. Auf seinem offenen Gesicht lagen Trauer und Angst.

„Sie hält’s nicht lange mehr aus,“ sagte er leise und führte den Besuch zu einem Nebenraum.

Ein einziges Bett; trotz des kleinen Ofens eine eisige Kälte, die sich unablässig durch die Fugen der dünnen Bretter unter den Dachziegeln hindurchdrängte.

Edda beugte sich beobachtend über das junge Weib, das die Augen aufschlug beim Schein der von ihrem Mann über sie gehaltenen Lampe – zwei große fieberbrennende Augen, die irr, verständnislos in den Lichtschein starrten. Plötzlich flackerte ein Strahl des Bewußtseins über das blasse hübsche Gesicht, über die todesmatten Züge, ein unsagbar rührender Zug von Dankbarkeit. Sie tastete mit heißen zitternden Fingern nach Eddas Hand und bewegte die Lippen, ohne einen Ton herauszubringen.

„Das Kind!“ sagte Edda zu dem mit gesenkten Kopf neben ihr stehenden Mann.

Behutsam beugte sich dieser zu einem Häufliein Kissen in der Nähe des Ofens hinab und legte dann das [1]winzige Wesen in Eddas Arme. Ein himmlischer Glanz der Mutterfreude huschte über der Sterbenden Antlitz, als Edda das schlafende Geschöpf ihr entgegenhielt.

„Mein Kind!“ stammelte sie fast unhörbar; dann streckte sie sich langsam aus, mit röchelndem Atem. Aber die Augen mit dem überirdischen Blick ließen nicht von dem Kinde.

„Ist es zu Ende?“ fragte der Mann.

„Bald, Lahrsen.“

Er beugte sich über die Sterbende, schwere Thränen rollten über seine Wangen hinab, während die Augen seiner Frau eine verzweiflungsvolle stumme Sprache redeten. Ein letztes Atemholen, ein krampfhaftes Zittern der Kranken. Langsam legte Edda die Hand auf die Augen der Toten und bettete dann das leise wimmernde Kind wieder auf sein armseliges Lager.

Den Kopf auf das Fußende des Bettes gelehnt, stöhnte der Mann wild auf. Eine Weile ließ sie ihn gewähren, auch in ihren Augen hingen Thränen, der sonst so strenge Ernst ihrer Züge war von einem tiefen Mitleid gemildert. Dann klopfte sie dem Fassungslosen leise auf die Schulter.

„Stehen Sie auf, Lahrsen – fassen Sie Mut! Ich werde morgen früh wiederkommen und nach dem Kind sehen, ich kenne eine ordentliche Frau, die es gegen Kostgeld annimmt. Hat der Kleine getrunken?“

„Ja, vor einer Stunde habe ich ihm Milch gegeben,“ antwortete er, drückte die Mütze auf den Kopf und ging mit Edda zur Thür hinaus. „Der Junge wird sich doch nicht fürchten?“ sagte er.

Edda lächelte schwermütig. „Das lernt er erst später! Aber ich kann allein nach Hause gehen.“

„Nein, das geht nicht bei den vielen wüsten Gesellen auf der Straße, ich ließ die Lise um diese Zeit auch nie allein ausgehen. Die Lise! O Gott! Ist’s moglich? Sie ist tot?“ Und aufs neue fing er an zu stöhnen und zu schluchzen.

Edda ließ ihn gewähren, beschleunigte aber ihren Schritt, um ihren Begleiter rasch wieder nach Hause schicken zu können. Nach etwa zehn Minuten hatte sie ihre Wohnung erreicht. „Da sind wir ja schon, Lahrsen! Schönen Dank, und kommen Sie morgen mittag nach der Arbeit zu meinem Vater; dann wollen wir sehen, was sich weiter thun läßt. Kopf hoch, Mann! Einer, der das Jahr siebzig mitgemacht hat, läßt sich nicht gleich unterkriegen. Bleiben Sie brav, das ist die Hauptsache – und nicht übers Jahr wieder eine neue Liebschaft!“

„Ich werd’ mich hüten! Wenn Sie sich man nicht erkältet haben bei dem Ostwind, Fräulein! Und dann danke ich recht schön! Es war gut, daß Sie noch einmal gekommen sind, wenn Sie auch nicht mehr helfen konnten. Ihnen muß es noch einmal gut gehen im Leben, und wegen des Geldes – ich habe jetzt viel in der Apotheke zu bezahlen gehabt. Ich weiß ja, Ihr Vater will nichts davon hören, aber Sie müssen doch auch leben.“

„Bezahlen Sie, wenn es paßt; jedesmal, wenn der Lohn kommt, eine Kleinigkeit.“

„Schön, wenn Sie erlauben.“

Er zog ehrerbietig die Mütze und blieb an der Thüre stehen, bis sie aufgeschlossen hatte und verschwunden war.

Eddas Vater war noch nicht zur Ruhe gegangen und schaute sie erwartungsvoll an, als sie eintrat.

„Es ist vorbei?“ fragte er mit einem traurigen Blick.

Edda nickte leise mit dem Kopfe, sie sah müde und abgespannt aus, als sie jetzt dem Vater die Hand reichte. Er kannte diese Art, wenn sie nicht sprechen wollte oder konnte, und ohne weiter mit Erkundigungen in sie zu dringen, sagte er ihr Gute Nacht.

Langsam streifte Edda in ihrem Schlafgemach die Überkleider ab, ließ sich müde auf einen Stuhl nieder und löste mit kurzem Griff die schweren Flechten. Bis zu den Knien hinab rollte die Pracht des schwarzen Haares, ein Erbteil ihrer Mutter, einer Russin. Unthätig saß sie da, düsteren Blicks in das leise auf und nieder flackernde Licht auf dem Tische starrend. Sie konnte jene brechenden Totenaugen nicht vergessen, nicht jenen Ausdruck, mit dem die Sterbende das Kind noch angesehen, dessen Dasein sie mit dem eigenen Leben erkaufte. Edda mußte der eigenen Mutter gedenken, die auch so früh gestorben war und sie als ebenso kleinen hilflosen Säugling zurückgelassen hatte. Der Vater hatte dann ausschließlich die Erziehung der Tochter geleitet und sie in allem gehalten, als ob sie ein Sohn wäre. Er lebte einsam, der Welt [520] fern, nur seinen Studien und seinem Beruf, und so wuchs ihm in der Tochter ein Freund, ein Kamerad, ein Assistent heran; sie ward groß unter all dem Elend, in dessen Nähe des Vaters Beruf sie brachte, unter all den idealen Anschauungen dieses Armendoktors, der zu sagen pflegte: „Ich kann keiner eingebildeten Kranken den Puls fühlen und ein Rezept schreiben, meine Kunst steht mir zu hoch, als daß ich mich eines Hustens wegen rufen und gut bezahlen ließe!“ Gleich seinen Kranken sah die Tochter zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, denn überall brach durch die oft rauhe Außenseite das innere warme Feuer der Menschenliebe hindurch, alle anderen Rücksichten verzehrend. So hatte Edda gelernt, in das Leben zu blicken, war bekannt geworden mit den Untiefen der Menschenseele, mit Elend und Jammer und hatte sich doch den vollen Ausblick bewahrt auf das höchste Ziel alles menschlichen Strebens.

In Eddas Zimmer befand sich kein Schmuckgegenstand, nichts von den anmutigen Kleinigkeiten, mit denen andere Mädchen ihre Umgebung auszuschmücken pflegen. Nur ihr gegenüber an der Wand standen auf Konsolen zwei herrliche Marmorbüsten des Zeus und der Juno, ein Geschenk ihres Vaters, das er ihr, die für die alte griechische Welt schwärmte, von dem Honorar für eines seiner medizinischen Werke gekauft hatte. Wie an jedem Abend ruhten jetzt ihre Augen sinnend auf den beiden Marmorbildern. Der weltentlegene Ernst des Zeuskopfes fesselte sie, sie starrte und starrte hinüber, bis die Umrisse der Züge sich ihr verwirrten, es war ihr, als zöge in den starren Marmor warmes Leben, als modle eine innere Kraft an diesen steinernen Formen, und lebendig erschien plötzlich vor ihrer Phantasie das Antlitz Hermanns von Weßnitz. Langsam strich sie mit der Rechten über die Stirn, um das Bild zu verwischen, aber sie konnte die Vorstellung nicht loswerden.

„Zu dumm!“ sagte sie mit einem halben Lachen, „daß ich gerade an ihn denken muß, aber er hat wirklich eine Aehnlichkeit in den Linien von Nase und Stirn.“

Dann fiel ihr Lore ein und deren Bitte, in jener Gesellschaft, in der getanzt werden sollte, und also in einer von diesen lächerlichen ungesunden Toiletten zu erscheinen. Sie lachte jetzt wirklich laut auf, und doch flog ihr der Gedanke durch den Kopf: wie würde ich aussehen? Der Wunsch stieg in ihr auf, sich einmal mit anderen in Vergleich zu stellen und den Eindruck, den sie machte, zu beobachten. Die Männer, mit denen sie bisher verkehrte, hatten nie gezeigt, daß sie in ihr die Frau sahen; sie war ihnen immer nur die Aerztin gewesen, und sie hatte selbst auch nie etwas anderes sein wollen. Nun überkam sie auf einmal ein ganz fremdes Gefühl, die Frage stieg in ihr empor: wie sehe ich aus?

Sie richtete sich auf, widerstrebend wie ein Mensch, der unter dem Bann einer ihm selbst unbekannten rätselhaften Macht steht. Sich vorbeugend, starrte sie in den Spiegel auf ihr eigenes Gesicht, mit den Augen jede Linie, jede Form musternd, bis es ihr vor den Augen zu flimmern begann. Sie schauderte zusammen. Eine unbestimmte Furcht vor etwas Fremdem, Neuem, Unheimlichem, das ihrer Seele die Ruhe rauben würde, durchzuckte sie. Nein, nein, nicht weiter so denken! Rasch löschte sie das Licht. Nur nicht mehr sehen!

Sie ging zu Bett, aber schlaflos wälzte sie sich in den Kissen. Im Schubfach des Betttisches stand eine Schachtel mit Schlafpulvern, die sie zuweilen benutzte, wenn die überreizten Nerven nicht zur Ruhe kommen wollten. Sie nahm die doppelte Dosis, nur um sicher Schlaf zu finden, und bald legte es sich wie Blei auf ihre Augenlider. In wirren Träumen verbrachte sie die Nacht.

*  *  *

Bruno von Weßnitz verlebte die unangenehme Viertelstunde, die für den Hausherrn dem Beginn einer großen Gesellschaft im eigenen Hause vorauszugehen pflegt. Er wußte nicht, was er thun sollte. Es war alles fertig; sogar die Stühle im Salon, welche die Dienerschaft in altfränkischem Ordnungstrieb gleichmäßig um einen Tisch gestellt hatte, waren von ihm in geschmackvolle Unordnung gebracht worden. Er wünschte endlich die Gäste herbei. Den ganzen Tag hatte man Möbel und Teppiche hin und hergetragen; Lore war beim Mittagessen nicht einmal in Toilette, sondern noch im Morgenanzug erschienen. Er selbst hatte wacker mitgeholfen und that sich etwas zu gute auf die Errichtung eines kleinen Wintergartens im Boudoir seiner Frau. Jetzt saß er in seinem Zimmer zwischen den programmmäßig aufgestellten Spieltischen für ältere Herren und rauchte eine Cigarette. Die Fenster waren geöffnet, weil der Diener das Zimmer überheizt hatte.

Selbst in diesem Augenblick schlechter Stimmung und des Alleinseins lehnte der Hausherr in eleganter Stellung im Stuhl. „Man könnte ihn jede Sekunde photographieren,“ hatte Edda Helm einmal von ihm gesagt, in ihrer kurzen Art, ihr Urteil auszusprechen. Brunos Augen ruhten auf einem Spiel französischer Karten, aus dessen Umhüllung das Herz–As hervorleuchtete. Je länger er hinsah, desto unangenehmer wurde ihm der Anblick. Er drehte rasch das Spiel um und deckte ein anderes darauf. Wieder das Herz–As oben! Lächerlich! Er hatte heute nachmittag einen Ueberschlag über Einnahmen und Ausgaben zu machen versucht und war zu einem sehr unbehaglichen Ergebnis gekommen. Zu dumm – hier im „philisterhaften“ Berlin wollten ihm die Karten nicht mehr wohl. Es wurde vorsichtiger gespielt als in den Pariser Klubs und es gab immer Leute, die vernünftig waren und ein Ende finden konnten, selbst wenn sie verloren hatten.

Er war kein Spieler aus Leidenschaft. Zuerst hatte er sich in Paris gelegentlich zu einer Partie Makao bereden lassen, weil er aus gesellschaftlichen Rücksichten nicht gut ausweichen konnte. Die Karten waren ihm mit erstaunlicher Beharrlichkeit hold gewesen, und so wiederholte er das Spiel öfter und öfter. Bald verlor er wie alle Spieler die Achtung vor dem Wert des Geldes, seine Ansprüche und Ausgaben wuchsen. Er spielte und spielte, verlor, gewann aber immer wieder mehr und hielt sich auf der Höhe. Nicht als nervenerregende Unterhaltung betrachtete er das „Hazard“, es war ihm geradezu zum Geschäft geworden, mit dem er seine Einnahmen regelte. Hatte er einen glücklichen Tag gehabt, so vergaß er oft wochenlang dies Laster, um dann durch einige hohe Rechnungen wieder daran erinnert zu werden. Aber solche Ruhepausen waren in letzter Zeit immer seltener geworden. Lore war als Hausfrau unpraktisch, weil er mit seiner leichtsinnigen Freigebigkeit und Sorglosigkeit sie nie gezwungen hatte, sich an eine fest bemessene Einnahme zu halten, und der Haushalt kostete viel, da Bruno nicht den Stolz besaß, auch verwöhnte Gäste einfach bei sich zu empfangen. Mühsam bestritt er eine Ausgabe nach der anderen, und nur sein beispielloser Leichtsinn ließ ihn die volle Heiterkeit seines Wesens bewahren, wenn auch hier und da, wie eben jetzt, allerlei beklemmende Gedanken in ihm aufstiegen. Dieses dumme Herz–As! Gerade diese Karte hatte ihn gestern eine bedeutende Summe gekostet. Er hatte das Gefühl, als lächle dies große rote Auge schadenfroh zu ihm herüber.

Da kam etwas ins Zimmer gerauscht – ein Lachen, ausgelassen, kindisch, toll, ertönte hinter ihm, und Lore in voller Toilette warf sich wie ein übermütiges Kind in einen Sessel und lachte, lachte immerfort. Etwas übellaunig wollte er fragen, was ihr einfiele, aber ihr Lachen war so herzerfrischend, ansteckend, daß er selbst nicht widerstehen konnte und in heller Freude den hübschen Anblick seiner Frau genoß.

„Wie reizend Du aussiehst, Lore!“ sagte er, einen Kuß auf ihre Lippen drückend. „Was ist denn vorgefallen, daß Du so aus dem Häuschen bist?“

Endlich faßte sie sich so weit, daß es ihr gelang, zu antworten: „Ich sterbe, sterbe wirklich vor Lachen. Seit einer Stunde bemühe ich mich mit Hilfe meiner Zofe, Edda ballmäßig vorzubereiten. Wir mußten sie wie ein Kind anziehen. Schließlich war alles fertig, aber wie ich sie siegesfreudig vor meinen Spiegel stelle, wird sie so rot wie eine Pfingstrose und weigert sich, dekolletiert in Gesellschaft zu erscheinen. Denke Dir diesen Ausbund von Prüderie! Uebrigens sieht sie reizend aus. Sie sitzt wütend in meinem Zimmer auf einem Stuhl und verlangt, daß ich ihr aus ihrer Toilette, die im Rücken zugeschnürt ist, wieder heraushelfe. Dazu hat sie Thränen in den Augen. Ich bin ratlos, sie wird geschwollene Augenlider und eine rote Nase bekommen und meine ganze, lange vorbereitete Wirkung geht verloren. Du mußt mir helfen, Bruno!“

Und Lore warf sich wieder zurück und lachte weiter. „Ist es nicht wirklich komisch? Ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, Doktorin und dabei so zimperlich! Das ist wert, zu einem Lustspiel verarbeitet zu werden.“

„Ich will Dir helfen, Lore! Wir gehen zusammen zu ihr – sie wird schon Vernunft annehmen.“

„Gut, gut, komm!“

Sie eilte ihm voraus, riß die Thür ihres Garderobezimmers

[521]

Richard und Cosima Wagner mit Liszt und Hans v. Wolzogen in ihrem Heim „Wahnfried“ 1880.
Nach dem Gemälde von W. Beckmann.

[522] auf und meldete mit lauter Stimme: „Mein Eheherr Bruno von Weßnitz!“

Mitten im Zimmer stand Edda, hochaufgerichtet, mit herabhängenden Armen und zitternder Unterlippe, zwischen den Augenbrauen eine tiefe Falte.

„Sieht sie nicht herrlich aus?“ rief Lore.

Bruno war erstaunt über Eddas eigenartige Erscheinung; er reichte ihr rasch den Arm. „Wollen Sie mir das Vergnügen machen, sich von mir hinunterführen zu lassen?“

Sie verharrte regungslos. Energisch hob er ihre linke Hand auf seinen Arm und führte sie hinaus. Wie mattes Elfenbein ruhte ihr fast zu zarter Arm auf dem schwarzen Tuch seines Frackes.

Gleichzeitig mit ihnen langten die ersten Gäste in den Gesellschaftszimmern an. Prinz Sissi, heiter, strahlend, eilte allen voran. Er hatte einen herrlichen Strauß weißen Flieders in der Hand, den er der Dame des Hauses überreichte. „Ich bin ungeheuer vergnügt,“ meinte er nach der ersten Begrüßung, „denken Sie sich, ich habe etwas gearbeitet, bin unter die Journalisten gegangen – Teufel, wer ist das dort?“ rief er und deutete mit den Blicken zu Edda hinüber, die etwas weiter zurück neben ihrem inzwischen ebenfalls eingetroffenen Vater stand. „Wahrhaftig, die kalte Doktorin! Superb!“

„Sie haben Geschmack,“ sagte Lore, mit dem linken Fuß ihre Schleppe langsam zurückschiebend.

Prinz Sissi klemmte das Monocle fest ins rechte Auge, musternd flog sein Blick über die Gestalt des Mädchens. Die ganze Figur fast eckig wie die eines sechzehnjährigen Kindes, aber dennoch graziös, fein, ebenmäßig! Darüber das ernste Haupt mit dem matten Teint, zu dem der leuchtende dunkelrote Atlas vortrefflich stand, die geschwungenen leicht geöffneten Lippen, die großen in tiefen Augenhöhlen ruhenden Augen, die ein wenig zaghaft aus dem klugen Gesicht hervorschauten, weil sie die Aufmerksamkeit des Prinzen auf sich gerichtet fühlten – sie war in der That eine Erscheinung von eigenartigem Reiz.

Eine Zeitlang fühlte sich Edda wirklich verlegen, dann aber ein Ruck, als zöge die wuchtige Fülle ihrer Haare den Kopf plötzlich in den Nacken, die Falte zwischen den geradlinigen Augenbrauen vertiefte sich, und sie schaute unnahbar, eisig dem Prinzen ins Auge.

„Nun, Prinz, so ganz aus der Fassnüg?“ lachte Lore etwas gezwungen auf. „Was sagen Sie zu meiner Toilettenkunst?“

„Ausgezeichnet wie immer!“ meinte er, zerstreut seine Augen auf Lores Gestalt richtend.

„O nicht doch, Prinz! Ich spreche nicht von mir, Sie wissen das ganz genau, ich meine mein Verdienst an Edda Helms Erscheinung.“

Er betrachtete eine Weile sinnend den linken Handschuh und das seidene Futter seines Klapphutes, dann, langsam aufblickend und mit einem schwer zu beschreibenden Ausdruck in den Zügen, sagte er: „Man könnte sich fürchten. Da ist vulkanisches Feuer unter der Asche.“

„Gehen Sie, Prinz – Sie wollen geistreich sein!“

Er schüttelte den Kopf. „Darf ich Sie zu Tisch führen, gnädige Frau?“

„Nein, heute nicht – mein Schwager wird mich zu Tisch führen. Aber holen Sie sich Fräulein Helm, ich möchte die vulkanische Glut einmal leuchten sehen. Wir setzen uns zusammen.“

Sie hatte Hermanns Erscheinen bemerkt und wandte sich ihm entgegen.

„Wie Sie befehlen,“ erwiderte Prinz Sissi zurücktretend. „Aber Sie haben die Verantwortung zu tragen.“

Noch zwei andere Augen hatten Hermanns hohe mächtige Gestalt im Thürrahmen erspäht. Edda hatte das Gefühl, als müßte sie in den Boden sinken. Er wird mich abscheulich, widerwärtig finden, flog es ihr durch den Sinn. Zerstreut und ungeschickt erwiderte sie die Grüße der ihr vorgestellten Herren.

„Kann ich die Ehre haben, Sie zu Tisch zu führen?“ ertönte plötzlich Prinz Sissis Stimme neben ihr, während er sich in seiner nachlässigen und trotzdem verbindlichen Weise verbeugte. Edda blickte ihn stumm an, als fehlte ihr das Verständnis für seine Worte. Dann plötzlich kam sie zum Bewußtsein. „Ja, ja,“ erwiderte sie hastig.

Da dem Prinzen durchaus nichts Besseres einfallen wollte, fragte er sie, während seine Augen sie ungeniert musterten. „Ist dies wirklich die erste Gesellschaft, welche Sie besuchen?“

Edda hätte ihn ohrfeigen können. „Ja, meine erste und letzte!“

Langsam breitete sie den großen Fächer aus, so daß er darüber hinweg nur ihre dunklen blitzenden Augen sehen konnte.

„Ich werde in vier Stunden noch einmal dieselbe Antwort von Ihnen erbitten.“

Was wollte er damit sagen? – „Mit Vergnügen, Durchlaucht, wenn Ihr Gedächtnis dies erfordert.“

Der Russe lächelte, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben etwas fassungslos, weil ihn eine Dame schlecht behandelte. Und doch reizte ihn das Zurückstoßende in ihrem Wesen, schon weil es ihm fremd war. Er war um eine Antwort verlegen und dem Lieutenant von Weßnitz sehr dankbar, als dieser jetzt nähertrat.

Hermann reichte Edda einfach die Hand. Sie atmete erleichtert auf. Da war wenigstens ein ruhiges festes Gesicht, kein konventionelles Lächeln und keine musternden Blicke. Unbewußt nahmen Eddas Züge einen freundlicheren Ausdruck an.

„Sie sahen aus, als bereuten Sie Ihre Zusage für den heutigen Abend, Fräulein Helm,“ sagte Hermann, dicht neben sie tretend.

„Nicht so ganz – es hat wenigstens den Reiz der Neuheit für mich. Doch kann ich nicht leugnen, wäre ich im Besitz einer Wünschelrute, deren Kraft mich unverzüglich in unsere Wohnstube befördern könnte, in die Gesellschaft eines guten Buches, so würde ich nicht zögern, den Zauber anzuwenden. Aber das geht nun nicht, also vorwärts!“

„Sie können in einer Gesellschaft keine lehrreichen Gespräche verlangen. Ich habe übrigens in den Heften gelesen, die Sie mir neulich geliehen haben.“

„Nun?“

„Mir fehlt der Glaube.“

„Weshalb?“

„Das läßt sich nicht so einfach sagen, besonders nicht in der Unruhe einer Gesellschaft, die sich erst entwickelt. Wir können das später bei Tisch in Ruhe besprechen; ich habe meine Schwägerin als Tischnachbarin, und wie sie mir mitgeteilt hat, werden Sie neben uns sitzen. Wollen Sie etwas Interessantes sehen? Dort am Thürpfosten der Herr mit dem etwas wirren grauen Haar, fast häßlich, und doch ein anziehender Kopf. Welche Augen! Ein Blick, als mache er sich über das ganze Getreibe hier lustig. Man wünscht fast, von diesen Augen nicht bemerkt zu werden.“

Sie folgte aufmerksam der Richtung seiner Blicke. „Jener alte Herr dort?“

„Ja; jetzt spricht Lore mit ihm. Wer mag das sein?“

„Es ist mein Vater.“

Hermann drehte sich rasch zu ihr um. „Verzeihung! Das ahnte ich nicht. Entschuldigen Sie meine Offenheit.“

Edda lachte vergnügt auf. „Weshalb entschuldigen? Sie haben meinen Vater gut gezeichnet. Es würde mich verletzt haben, wenn Sie seinen Kopf nur eben schön gefunden hätten.“

„Ich werde mich sofort mit ihm bekannt machen lassen.“

Eilig drängte er sich durch die Gäste nach dem Standort des Doktors. Eddas Augen folgten ihm. Er hat Geist, weiß zu sehen, zu beobachten und findet das Interessante richtig heraus, dachte sie. Jetzt schüttelten sich die beiden die Hände. Edda setzte sich in eine stillere Ecke des Zimmers; sie fühlte sich nun ganz ruhig, im Besitz der vollen Unbefangenheit und fähig, prüfend um sich zu blicken. Wozu nur das Getriebe, wozu dieser Aufwand von eleganten Toiletten und Lackstiefeln? Nur um zu sehen und gesehen zu werden? Was wollten alle diese Menschen hier zusammen? Zu welchem Zwecke opferten sie ihre Nachtruhe? Nur um nichtssagende Gespräche zu führen oder ihre Reize zu zeigen? – –

„Gestatten Sie, Herr Doktor, mich selbst vorzustellen – Lieutenant von Weßnitz. Ich freue mich sehr über Ihr Erscheinen, um so mehr, da ich weiß, welches Opfer Sie damit den Wünschen meiner Schwägerin gebracht haben,“ redete Hermann den alten Herrn, der jetzt allein stand, zuvorkommend an.

„Hätte ich selbst nicht gewollt, würde ich doch kaum den Bitten dieser reizenden Frau widerstanden haben. Aber es ist für mich eine Freude, nun auch den ältesten Sohn meines lieben Jugendfreundes kennenzulernen. Ihr jüngerer Brnder ähnelt dem Vater mehr; der war auch ein so lieber lustiger Kerl! Wie geht es Ihrem Vater?“

„Er ist sehr gealtert in letzter Zeit.“

„So, so. Ja, die Jahre! Uebrigens – mich ergötzt wirklich diese Umgebung. Wie viele Stunden habe ich als Student [523] fröhlich in solcher Gesellschaft verlebt, allerdings in Kreisen mit etwas einfacheren Namen. Aber es war im Grunde ganz dasselbe; die Herren meist fade und süßlich gegen das schwache Geschlecht, hier und da auch ein ernstes Männergesicht, das zu dem Spiel gute Miene machte. Und die Frauen – nun, das wird durch keine Entwicklung der Weltgeschichte und auch durch keine ‚Emanzipation‘ anders gemacht – sie bringen ihre Schönheit noch immer gern zur Geltung, selbst die, die nicht allzuviel davon aufzuweisen haben.“

„Für viele ist es ja auch das Wertvollste, das sie besitzen,“ meinte Hermann, durch den sarkastischen Freimut des alten Herrn angenehm berührt.

„So, so; Sie sind also auch so einer?“

„Was für einer?“

„Nun, einer, der denkt, wenn er um sich blickt.“

„Ist das ein Vorzug einzelner, nicht vielmehr ein Vorrecht aller?“

„Das Sehen – ja! Aber das Denken? Ich möchte meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, selbst wenn ich dadurch von diesen verteufelten Handschuhen befreit würde. Bei den Leuten, die sich Tag für Tag in dieses Karnevalskostüm stecken, ist das Denken auch kaum möglich.“

„Sie mögen für viele recht haben, Herr Doktor,“ sagte Hermann, während seine Blicke nachdenklich über die Köpfe der Anwesenden hinwegschweiften und schließlich an Eddas Gestalt hängen blieben. Dasselbe ruhige Gesicht wie der Vater, dachte er unwillkürlich, nur hübscher, weit hübscher!

„Sieht Ihre Schwägerin nicht reizend aus, Herr von Weßnitz? Eine Perle Ihres Geschlechts, anmutig, liebenswürdig, und dabei klug genug, um selbst mich alten Kerl zu begeistern!“

„Sie lernten sich zufällig in Helgoland kennen?“

Der Alte nickte. „Ja. Und das Seltsamste ist, daß sie mit meiner Tochter Freundschaft geschlossen hat. Uebrigens, wissen Sie was, mein junger Freund? Kommen Sie doch einmal abends zu mir! Ich liebe die Leute, mit denen sich ein ernstes Gespräch führen läßt.“

„Gerne werde ich mich einstellen. Vielleicht schon in den nächsten Tagen,“ erwiderte Hermann, offenbar erfreut.

In der Gesellschaft entstand eine unruhige Bewegung. Die Herren wandten und reckten die wohlfrisierten Häupter, um die Damen zu finden, die sie zu Tisch führen sollten, und drängten sich wie ein Bienenschwarm durcheinander.

„Entschuldigen Sie, Herr Doktor, aber die Pflicht ruft mich zu meiner Schwägerin und zu Ihrem Fräulein Tochter.“

„So? Bitte sehr! Grüßen Sie beide von mir! Die Edda sieht aus wie ein Vogel ohne Schwingen.“

(Fortsetzung folgt.)


Ein Stimmungsbild aus Bayreuth.

Von Ida Boy-Ed.

Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht! Das ist ein Ausspruch Goethes, der leider zu den wunderschönen Dichterworten gehört, die sich in der Wirklichkeit selten erfüllen. Das aber erfüllt sich allemal, daß die Stätte, die ein berühmter Mensch betrat, geweiht bleibt insbesondere der Ausnutzung durch Fremdenführer, den Reisehandbüchern und der Bewunderung naiver Reisender. Es giebt so viele Menschen, die sich das Wohnhaus oder den Lieblingsaufenthalt eines berühmten Mannes mit ehrfürchtigem Staunen ansehen, und wissen doch meist von dem Manne nichts als seinen Namen. All denen, die hier in Bayreuth im Wirtshaus „Zum Rollwenzel“ einkehren und sich das Zimmer zeigen lassen, wo Jean Paul gedichtet hat, möchte ich immer die Gewissensfrage stellen, wie viel sie denn von diesem wenigst gelesenen Klassiker kennen. Mir selbst ist es trotz heißen Bemühens nie gelungen, ihn würdigen zu können, die Aufgabe, im Spreuhaufen seines Stils nach den goldenen Weizenkörnern seiner Lebensweisheit zu suchen, ist mir zu mühevoll. Und so gehe ich denn kühl an seinen Spuren vorüber.

Die Markgräfin Wilhelmine, des Großen Friedrichs kluge Schwester, fesselt mich weit mehr. Sie hat die Art ihres Geistes, in dem sich das Fridericianische geebnet zeigt zu spielender Grazie und schlagfertiger Bosheit, hier in manchem anmutigen Architekturgebilde eingeschrieben. Aber neben diesen blassen Schatten erhebt sich der gigantische Geist eines Riesen so gegenwärtig, daß man zu spüren meint, er wirke noch persönlich, er selbst sei noch die Seele der ungeheuren Arbeit, die hier gethan wird. Und doch ist Richard Wagner tot und er ließ ein Weib als Hüterin seines Werkes zurück! Aber diese Frau heißt Cosima Wagner!

Wahrlich, selten konnte man mit mehr Recht von einer Persönlichkeit sagen: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt ihr Charakterbild“ – noch nicht in der Geschichte, doch in der Vorstellung der Zeitgenossen. Ich sage es frei heraus, ich beneide den Biographen, der einst das Charakterbild dieser merkwürdigen Frau für die Kunstgeschichte festlegen darf. Aber ich wünsche ihm zu der Aufgabe die Fähigkeiten eines Jakob Burckhardt, der die Renaissancemenschen verstand und zu schildern wußte wie keiner vor ihm.

Frau Cosima und ihr Sohn Siegfried Wagner sind in einer ähnlichen Lage wie Thronerben, die den Herrschersessel eines Welteroberers einnehmen. Dessen Thaten werden gegen seine Erben ausgespielt. Sicher ist es, daß die Erbschaft eines Weltruhmes eine Last voll psychologischer Fährlichkeiten darstellt, unter deren Druck auch kluge und starke Geister dazu kommen können, ihre Verwalterpflichten mit Schöpferherrlichkeit zu verwechseln. Dies ist der Vorwurf, den Feinde von Bayreuth der Frau Cosima machen, und diese Feinde sollten eines thun: sie sollten kommen und gleich mir, fast wie aus dem Versteck heraus, die Arbeit dieser Frau beobachten. Schon auf dem Wege der Anempfindung hätte die Tochter Liszts, deren Gatte Richard Wagner hieß, sich in einem langen, beispiellos reichen Leben die Fähigkeiten erwerben müssen, das Werk des Meisters weiterzuführen. Aber die Natur hat ihr selbst ganz außergewöhnliche künstlerische Gaben verliehen. Sie ist ein Regisseur, wie wir in Deutschland keinen zweiten haben. Und daß sie auch Wagners musikalische Vertraute war, wissen Eingeweihte. Sie z. B. war es, die das Quintett in den „Meistersingern“, jenes keuscheste, zärtlichste Hohelied noch zagender Liebesseligkeit, rettete, da Wagner es unterdrücken wollte. Der kleinliche Preßkrieg, der immer beim Herannahen einer Festspielperiode gegen Cosima eröffnet wird und der den Eindruck macht, als sei ein stechender Mückenschwarm entfesselt, beirrt sie nicht im mindesten. Auch Siegfried Wagner hat diese so übelwollende Voreingenommenheit an sich schon erfahren müssen. Es ist, als wollte eine ganze Partei, die vor den gewaltigen Erfolgen des Meisters endlich verstummen mußte, sich nun durch Taktlosigkeiten gegen Mutter und Sohn schadlos halten. Er, der Sohn des großen Mannes, wird die Welt an sein starkes Dirigententalent, welches nach Aussage urteilsfähiger Personen an das des Meisters erinnern soll, schwerer glauben machen als irgend welche beliebige Anfänger Namens Lehmann oder Schulz an das ihre. Der Sohn wächst unter der Führung der Mutter mählich zu der hohen Aufgabe empor, einst die Festspiele zu leiten. Auf der Bühne ist er immer neben der Mutter, und zum zweitenmal nennt ihn in diesem Jahr das Verzeichnis der Mitwirkenden. Gerade in diesen Probetagen ereignete sich ein bedeutsamer kleiner Vorfall, der in Künstlerkreisen lebhaft besprochen ward: nachdem Siegfried Wagner einen Akt „Lohengrin“ dirigiert hatte, brachte das Orchester ihm aus eigenem Antrieb eine Huldigung dar, gewiß ein Beweis, daß es sich von ihm beherrscht fühlte.

Es ist ein eigenes Bild, solch eine Probe. Die weite Bühne ist von modern gekleideten Menschen erfüllt; sie bewegen sich zwischen den wunderbarsten Dekorationen, die zu „Lohengrin“ hergestellt worden sind. Elektrisches Licht verbreitet Tageshelle, der Zuschauerraum liegt in mystischem Dunkel. Schon läßt sich die überwältigende Massenwirkung der Chöre erkennen, schon entwickelt sich ein Volksleben von hinreißender Gewalt. Und rastlos dazwischen bewegt sich, scheinbar unempfindlich gegen alle Strapazen, die schlanke schwarz gekleidete Frau, das kluge Auge hinter grauer Brille geborgen, ganz gesammelte Aufmerksamkeit, mit den feinen, langen Händen bald hierhin, bald dorthin deutend. Alles folgt voll Ehrerbietung ihren Anweisungen und ganz selbständige Künstler haben mir gestanden, daß sie eine Art Suggestion ausübe und ihren Willen und ihre Erkenntnis auf andere übertrage.

[524] Von den beigefügten Bildern giebt insbesondere das untenstehende den vollen geistigen Ausdruck der Frau Wagner wieder. Lenbach soll es bei seinem Porträt von ihr benutzt haben, der Oeffentlichkeit ist es bislang nicht bekannt geworden. Ebenso ist das kleine Gruppenbild auf Seite 525 eine Seltenheit, mit welcher die „Gartenlaube“ ihren Lesern eine Freude zu bereiten hofft. Es stammt aus dem letzten Lebensjahr des Meisters und stellt diesen im traulichen Verein mit der Gattin und zwei nahen Freunden des Hauses dar. Der frühverstorbene Heinrich von Stein (neben Frau Cosima) war ein großer Wagnerenthusiast und auch litterarisch für des Meisters Sache thätig. Der russische Maler Paul von Jannkowsky, der die Dekorationsentwürfe zu Parsifal gemalt hat, lebt zu Petersburg in hoher Stellung. Jannkowsky ist künstlerisch mit Böcklin verwandt, und als der letztere abgelehnt hatte, für den Parsifal thätig zu sein, wandte sich Wagner an Jannkowsky. Diese Dekorationsentwürfe findet der Leser S. 521 auf dem größeren Gruppenbild, dem bekannten Gemälde von W. Beckmann, wo man Liszt die eben fertig vorliegende Parsifalpartitur besprechen sieht, während Wagner, Frau Cosima und Hans von Wolzogen den Worten des Greises lauschen.

Jetzt ist sie, die damals Zuhörerin und Beraterin war, zur Leiterin geworden.

Vom Morgen bis zum Abend gehen die Proben, unermüdlich ist Frau Wagner am Platz. Ich möchte hier einige Tage aus den Probezetteln abschreiben dürfen, um die Unsumme von vorbereitender Arbeit begreiflich machen zu können. Bei dieser ist es besonders die eiserne Kraft des Musikdirektors Kniese, des Chordirigenten der Festspiele und des Leiters der Bayreuther Bühnenschule, die sich in staunenswerter Weise entfaltet.

Um die Mittagszeit öffnen sich die Thüren des Festspielhauses. Eine bunte Gesellschaft strömt heraus, Hunderte von Damen und Herren, die ersteren meist jung, hübsch, elegant, die letzteren meist mit jenen charakteristischen glattrasierten Gesichtern der Bühnenangehörigen, viele im Havelock und Schlapphut, alle nach ihrem Beruf erkennbar, wenn auch die früher übliche Künstlerlocke gefallen ist.

Cosima Wagner.

Der weiche Juniwind weht kühlend um die erhitzten Stirnen. Von fern blauen die Tannenberge des Fichtelgebirgs herüber. Die fröhlichen Scharen ziehen durch die Eschenallee hinab zur Stadt, in die kleine Stadt, zwischen deren Häusergedränge sich die Zahl der alten Prachtbauten wunderlich ausnimmt, die aber einen großen Vorzug hat: eine herrliche, gesunde, kräftigende Luft.

Wohl alle Bühnen Deutschlands haben Mitglieder hierher gesandt und die Mehrzahl der Bayreuther „Choristen“ sind Solokräfte größerer Stadttheater: strebsame junge Künstler, die hier auf diese Weise viel lernen und im Winter nachzuahmen suchen, was sie am Quell der wahren Auffassung erspähten und die daneben noch eine für ihre Verhältnisse recht ansehnliche Gage bekommen.

Das Budget ist ungeheuer. Wo von Zahlen die Rede ist, setzt mein Verstand im allgemeinen seine Thätigkeit aus, und wenn ich etwas ausrechnen soll, so erfüllt eine immer neue Dankbarkeit gegen den lieben Gott mein Herz, der mir zehn Finger gab. Deshalb will ich auch meinen Lesern selber überlassen, sich eine Vorstellung von Einnahme und Ausgabe in Bayreuth zu bilden, und nur erzählen, daß mehr als vierhundert Mitwirkende Gagen bekommen, die bei vierhundert Mark beginnen und, wie es heißt, bei zehntausend enden, je nach der künstlerischen Stellung der Empfänger. Kein Theater in der Welt kann ausgeben, was in Bayreuth für Dekorationen und Kostüme aufgewendet wird. Und so mag es schon sein, daß selbst bei zwanzig ausverkauften Festspielhäusern – in das Haus gehen 1640 Personen und der Platz kostet zwanzig Mark – ein finanzieller Ueberschuß nicht oder doch nur in geringem Grad erzielt wird.

Dies ist und soll auch völlig Nebensache bleiben. Es gilt den idealen Zweck, die Gedanken des Meisters lebendig und treu zum Ausdruck zu bringen, vorbildlich für alle anderen Bühnen. Der Zug, sich von Bayreuth unabhängig zu machen, nicht mehr in allen Wagnerfragen die künstlerische Losung von hier zu empfangen, macht sich neuerdings geltend. Fast alle großen deutschen Bühnen veranstalten „Musteraufführrungen“, voran München, welches sogar in diesem Jahre den „Lohengrin“ vorweg nahm und ihm in Ausstattung und Kostüm die Kulturprägung des zehnten Jahrhunderts gab, wie man es in Bayreuth vorher plante und nun auch ausführt. Hitzige Bayreuther sind ungehalten darüber. Ich möchte lieber „Bravo!“ dazu sagen. Denn bringt München Gleichwertiges mit Bayreuth, füllen sich an beiden Stätten die Häuser mit treuer Gemeinde, so erwächst dem Werk des Meisters nur Gewinn. Und neigt das Urteil sich zu gunsten der einen oder andern Stadt, so wird noch heißeres Bemühen die Folge sein. Und dann abermals: Gewinn für des Meisters deutschestes Werk! Ich schreibe „vor den Festen“ und kann nur andeuten, daß Außerordentliches wohl zu erwarten steht, auch liegt es ja in den Verhältnissen, daß die orchestrale Leistung, die Klangschönheit der Chöre und die scenische Einrichtnug nirgends ähnlich zu erreichen sind.

Das „deutscheste Werk“ sagte ich und brauche dies wohl nicht zu begründen; außer im Schluß der „Meistersinger“ gab Wagner nirgend seinen patriotischen Empfindungen so ehernen Ausdruck wie gerade im „Lohengrin“. Und wenn man sich das vergegenwärtigt, so kann man sich einer eigentümlichen Beobachtung nicht erwehren: die Liste der Mitwirkenden weist dieses Jahr eine ganze Reihe ausländischer Künstler auf.

Gewiß ist, daß das verfügbare „künstlerische Material“, wenn ich mich so ausdrücken darf, sich in einem Uebergangsstadium befindet. Die meisten von den großen Sängern und Sängerinnen, welche in dem ersten Jahrzehnt der Festspiele für des Meisters Werke ihr Können einsetzten, sind von der Glanzhöhe ihrer Kunst schon herniedergestiegen. Und viele von ihnen haben selbst in ihren besten Leistungen nach des Meisters eigener Aussage immer nur die eine oder andere Seite der zu verkörpernden Gestalten erfaßt. Die neue Kunst forderte ein neues Künstlergeschlecht. Es bedurfte naturgemäß eines langen Zeitraumes, dieses heranwachsen zu lassen.

Man hat längst erkannt, daß die schöne Stimme, welche vielleicht zuvor am Schemel des Handwerkers oder auf dem Kutscherbock sang, keine ausreichende Mitgift ist, um künstlerische Aufgaben zu bewältigen, sondern daß auch die Grundlage einer allgemeinen Bildung nötig sei zu großen Leistungen in der darstellenden Kunst. Durch die höchsten und umfassendsten Anforderungen, die Wagner an die Operntragöden stellte, hob er zugleich den ganzen Stand.

Und wenn nun auch in dem letzten Jahrzehnt Einzelpersönlichkeiten wie Rosa Sucher, Fritz Plank, Pauline Mailhac in ihrer vollkommenen Künstlerschaft das Wagnersche Ideal erreichten, so blieb bei vielen anderen desto mehr zu wünschen übrig, und Frau Cosima Wagner that klug und wohl daran, mit neuen Kräften neue Versuche zu machen.

Aber hierfür so viele aus dem Auslande zu berufen, halte ich für eine Gefahr, die hell beleuchtet werden muß, wenn auch diesmal allem Anschein nach der Versuch günstig ausfällt.

Was ist Volksseele? Die Summe aller hervorstechenden Eigenschaften von so und soviel Millionen Individuen. Und da in einem künstlerisch beanlagten Individuum diese Durchschnittseigenschaften in verstärktem und verschärftem Maß auftreten, könnte man vielleicht so sagen: der künstlerische Mensch ist ein Beispiel, aus dessen Art man auf die Art der Volksseele folgern kann.

Wenn nun Bayreuth die heilige Stätte deutscher Kunst bleiben soll, als welche Wagner sie gedacht hat, so wäre es ein Fehler, dem Ausländertum dauernd das Recht der Mitwirkung einzuräumen. Und nicht nur ein künstlerischer, sondern ganz einfach auch ein ökonomischer Fehler. Die Engländer, Amerikaner und Franzosen kommen hierher, um deutsche Kunst von deutschen [525] Künstlern zu sehen. Es ist kein Zufall, daß New York und London sich aus Deutschland die Künstler kommen lassen, die ihnen Wagner vorsingen und vorspielen sollen, und daß gerade in New York eine Wagnersaison mit amerikanischen Künstlern keinen Erfolg hatte!

Man muß gestehen, daß z. B. eine Lohengrinvorstellung, in welcher ein Belgier den Lohengrin, eine Amerikanerin die Elsa, eine Engländerin die Ortrud, ein Rumäne den Telramund singt, etwas sehr Eigentümliches ist. Man braucht auch noch kein Kirchthurmspolitiker zu sein um gerade für Bayreuth einem Theaterzettel mit deutschen Namen den Vorzug zu geben vor einem von kosmopolitischem Grundton.

Ernest van Dyck, G. Kaschmann, D. Popovici, M. Takàts, Zoltan Doeme – nebenbei ein Name von befremdender Unbekanntheit – Lillian Nordica, Maria Brema, das ist eine ganze Reihe von Ausländern. Ernest van Dyck zwar möchte beinahe als naturalisierter Deutscher gelten, wenigstens ist er dem Geheimnis der deutschen Seele so nahe gekommen als möglich.

Sehr bezeichnend ist es auch, daß Madame Nordica die guten Bayreuther zum erstenmal mit Primadonnenallüren bekannt macht, wenigstens ist die Stadt voll von ihrer großartigen Lebensweise und ihren Toiletten, während unsere große Rosa Sucher mit einer bürgerlichen Einfachheit auftritt, die bestrickend wirkt.

Richard Wagner mit seiner Frau und seinen Freunden Heinrich v. Stein und Paul v. Jannkowsky.

Die Leser finden von den Genannten nur die hervorragendsten auf der beigegebenen Bildertafel S. 517. Da es unmöglich war, die Porträts aller Mitwirkenden zu bringen, so war für die Auswahl entweder der künstlerische Ruf der Persönlichkeiten maßgebend, wie bei Madame Nordica, der großen Künstlerin Maria Brema, Popovici und Kaschmann; oder die Stellung der Betreffenden zu Bayreuth; eine ganze Reihe von Künstlerindividualitäten fühlt sich mit Bayreuth durch inneren Beruf, Bildungsgang und Ergebenheit aufs engste verbunden. Der einzige Novize für Bayreuth ist, außer den schon genannten ausländischen Künstlern, Willy Birrenkoven, der stimmbegabte, rühmlich bekannte Hamburger Tenorist. Die Wiener Hofoper stellt vier Namen allerersten Ranges: Hans Richter, der neben Levi am längsten bei den Festspielen dirigiert, dann van Dyck, Theodor Reichmann und Karl Grengg. Das Karlsruher Hoftheater, von dem ich nicht ohne eine gewisse künstlerische Andacht reden kann, hat auch vier Mitglieder geschickt: den Dirigenten Felix Mottl, der mit seinem starken feurigen großzügigen Wesen wohl als der treueste Träger Wagnerscher Ueberlieferung anzusehen ist und in Bayreuth neben Frau Wagner selbst stets den Mittelpunkt der Arbeit bildet, dann Fritz Plank, den Unvergleichlichen, Pauline Mailhac sowie Emil Gerhäuser, eine der verheißungsvollsten jüngeren Kräfte der deutschen Bühne. Aus Weimar ist ein Brautpaar gekommen: Richard Strauß, der junge Kapellmeister mit dem genialen, schöpferischen Kompositionstalent, und die vornehme, gemütvolle Sängerin Pauline de Ahna. Von Dresden ist diesmal nur Therese Malten erschienen und von München nur der Generaldirektor Hermann Levi. Als alleiniger Darsteller des Tannhäuser ist Wilhelm Grüning genannt, wenngleich man gestehen muß, daß es einen vollkommenen Tannhäuser zur Zeit in Deutschland nicht giebt, darf man doch hinzufügen, daß der Heldentenor der Hannöverschen Oper für die gewaltige Gestalt wenigstens die mächtige Kraft des Organs mitbringt.

Und so ist denn alles versammelt, und in emsiger, geheimnisvoller Arbeit bereitet sich die Künstlerschar vor, dem Unsterblichen von Bayreuth so gerecht zu werden, als es ihrem heißen Bemühen nur irgend gelingen kann. Seine frühen Werke, „Lohengrin“ und „Tannhäuser“, werden verkörpert werden und sein letztes, der „Parsifal“. So werden wir im Geist den ganzen Weg wandern, den jede Menschenseele geht, die kleine sterbliche mit zagenden halb unbewußten Schritten, die große Künstlerseele mit kühnem Stolz: den Weg von romantischen Träumen zu wildem Lebensdrang und von da durch reinigende Kämpfe zum religiösen Erlebnis, das von der Tragik des Daseins befreit!

Ihm, der still hinter seinem Hause Wahnfried schläft, unter der dunklen Marmorplatte, die von tiefstem Grün umschattet ist, ihm ist geworden, was wenigen Unsterblichen ward, dahinzugehen, als er sein letztes, sein reifstes, sein erlösendes Wort gesprochen.


Meine Hyacinthen.

Von Julius Stinde.

Sie gehören alle sechs dem Mittelstande an; der Gärtner verkaufte sie ohne Stammbaum und hochtrabende Namen durcheinander, wie sie da waren. Er nannte das „im Rommel“ und gab sie zu ermäßigtem Preise weg. „Sie sind dritter Klasse,“ sagte er, „aber es sind auch ausgezeichnete Zwiebeln darunter, bloß fehlt ihnen der Name.“ – „Es geht manchem so, der sein Leben über dritter Klasse fährt,“ erwiderte ich, „ausgezeichnet von Charakter, befähigt, tüchtig, und doch nicht von solchen geschätzt, denen ein wenig äußerer Glanz die Augen blendet, daß sie nur ihn sehen und nichts weiter. Es giebt unglaublich viele geistig Augenschwache.“

„Merkwürdig,“ sagte er, „heutzutage kommen Krankheiten auf, von denen man früher nie etwas hörte. Die Wissenschaft schreitet eben zu mächtig vor. – Nehmen Sie diese weiße Zwiebel, die ist fest und rund, die wird großartig blühen.“

„Das wäre nichts Besonderes,“ entgegnete ich, „denn was ist gegenwärtig nicht ‚großartig‘? Das dritte Wort in der Unterhaltung heißt ‚großartig‘. Sogar einen Zwerg von ungewöhnlicher Kleinheit, der neulich in einem Radschlag-Theater auftrat, fand das Publikum ‚großartig‘.“

„Und war er denn nicht großartig?“

„Nein, er war klein geartet. Mir persönlich ist freilich dies Wort eben so widerlich wie der Moschusgestank, mit dem sich Vertreterinnen des schönen Geschlechtes verpesten, um zu beweisen, daß ihnen ein Sinn fehlt, nämlich der Geruchsinn, aber es hat doch wiederum viel für sich, denn ein Volk, das jeden Quark großartig findet, das ist leichtlich zufrieden gestellt und nimmt kritiklos hin, was ihm geboten wird. Das ist das rechte Volk für König Schund, unter dessen Scepter sich das Ende des Jahrhunderts willig beugt. Ich sage ihnen, nicht nur der Schund ist großartig, sondern daß er auch noch großartig gefunden wird, das ist das Großartige.“

Der Mann machte ein Gesicht, als wenn er mir einen Arzt wünschte, und er hatte auch recht. Er handelte mit Blumenzwiebeln und ich hielt ihm eine Vorlesung über ein Zeichen der Zeit, das weder seine Zwiebeln, noch seine Anschauung über die Welt und was damit zusammenhängt, berührte. Er war glücklich, ebenso zu empfinden, ebenso zu urteilen, sich derselben Ausdrucksweise zu bedienen wie alle Menschen, die er kannte. War es recht, dies Glück zu stören, sein seelisches Gleichgewicht durch das Hinzuthun von Zweifel ins Schwanken zu bringen, zumal in einer Zeit, in der das Evangelium der Gleichheit als die Erlösung von allem Uebel gepredigt wird? Diese wird gekommen sein, wenn alle Menschen gleich empfinden. Gleiches Empfinden erzeugt gleiches Begehren, gleiches Wünschen, gleiches Entsagen. Dann ist die goldene Zeit angebrochen, die großartige Zeit.

Und solches Wunder bewirken die Naturgesetze. Wie sie das anstellen, ist noch nicht ganz klar und deshalb ist es geboten, die [526] Natur zu studieren, damit das Dunkel erhellt werde, in dem die Naturgesetze ihr Wesen treiben. Einige studieren die Naturgesetze an den Himmelskörpern, andere durchforschen die unsichtbare Welt mit Hilfe des Mikroskopes, wieder andere messen Schädel und Knochen, etliche vertiefen sich in die Geheimnisse der Elektricität und des Magnetismus, noch andere durchwühlen den Grund der Erde nach Urkunden der Vorzeit ... ich hatte diesmal sechs Hyacinthenzwiebeln dritter Klasse zu demselben Zwecke.

Welche Verschiedenheit bot schon allein das Aeußere der Zwiebeln! Einige hatten weiße Schale, einige waren blaßrot, einige dunkelrot. Hiernach waren helle und dunkel gefärbte Blüten zu erwarten, vermutlich weiße, rötliche und dunkelrote oder blaue, mehr aber verrieten sie nicht.

Während ihres sommerlichen Wachstums hatten die Zwiebeln alles in sich aufgenommen, was zur späteren Ausbildung der Blätter und Blüten erforderlich ist, so ward jede ein Speicher von Baustoffen für die kommende Entfaltung der blühenden Pflanze. Außer diesen Baustoffen jedoch barg jede Zwiebel noch etwas ganz Geheimnisvolles: nämlich die Gesetzmäßigkeit, mit der die Stoffe sich aufbauen, daß gerade diese Art zustande kommt und keine andere. Die eine Art hat kleine Blütenglocken, die andere große, diese krümmt ihre fein geschnittenen Spitzen der Röhre zu, jene breitet ihre derben Zipfel flach aus, und große Mannigfaltigkeit giebt sich nicht nur in der Form, sondern auch in Farbe und Duft kund. So erkennen wir schon ohne viele Beobachtungskunst, daß in der Hyacinthenfamilie keine Gleichheit herrscht, und nur der Oberflächliche kann behaupten, eine Hyacinthe sei wie die andere, da doch das bißchen Form und Farbe nicht in Betracht komme. So wie dieser denken auch Theoretiker über Menschen. Sie denken sich Menschen zurecht: gute, böse, rechtspolitische, linkspolitische, und sind der Meinung, wenn man ihnen gleichmäßige Erziehung zuteil werden ließe, das Gute, Böse, Rechte und Linke auf einen Durchschnitt abrunde, dann wären die Gleichheitsmenschen nur eine Frage der Zeit. Ich schließe nach meinen Hyacinthen anders.

Diese hatten alle die gleiche Erziehung genossen; derselbe Gärtner hatte sie von klein auf gehegt und gepflegt, dasselbe Erdreich gewährte ihnen Nahrung, gleiches Maß an Sonnenschein, Schatten und Feuchtigkeit war ihnen geworden. Außerdem stammten sie von den Rummelsburger Hyacinthenfeldern und wurden als richtige Berliner Kinder der Heimat nicht entfremdet, als ich sie nach den Regeln der Kunst auf Gläser setzte, die mit Spreewasser gefüllt waren. Wie es sich gehört, blieben sie in dunkler Kühle, bis Bewurzelung und Blattbildung ihre Versetzung an das Licht zwischen Doppelfenstern gestattete. Alles dies geschah nach den Erfahrungssätzen, denn nicht allein über die Erziehung der Menschen sind viele Bücher geschrieben, sondern auch über die Pflege der Pflanzen, die sich von der sogenannten „Krone der Schöpfung“ meist durch Dankbarkeit unterscheiden.

Man hätte nun erwarten sollen, daß die Zwiebeln ihre Wurzeln alle in gleichem Zeitmaß herausgebracht hätten, etwa wie eine gut gedrillte Kompagnie die Füße vorstreckt; aber schon bei der ersten Entwicklung zeigte es sich, daß jede ihre eigene Gangart hatte, wenn man die Ausbreitung der Wurzeln so nennen darf. Es ist ein Gehen in die Tiefe, ein langsames Vorwärtsdringen.

Bei einer Zwiebel bildeten sich wenige, aber derbe Wurzeln, bei einer zweiten viele kräftige derbe. Daraus schloß ich, daß die erste einen starken Stengel mit wenigen Blüten, die andere einen solchen mit vielen Glocken hervorbringen würde. Ob diese Meinung richtig war, das mußte sich später ausweisen und so gewannen die Zwiebeln vermehrtes Interesse, wie ja auch ein Mensch uns um so näher rückt, je mehr wir imstande sind, die Entwicklung seiner Anlagen zu verfolgen, und die Erfüllung oder Nichterfüllung der auf ihn gesetzten Hoffnungen erleben.

Eine dritte Zwiebel sandte sehr viele feine Wurzeln aus, ich schätzte ihre kommende Blüte auf eine krausköpfige. Die vierte brachte beides: derbe lange Wurzeln und feine dichtgebuschte. Die fünfte glich der vierten, nur kamen ihre dünnen Wurzeln langsamer vorwärts. Nummer sechs aber rührte sich nicht. Das Wasser reizte sie nicht, Wurzeln auszusenden. Vielleicht war ihr ganzes Wesen auf Erdreich zugeschnitten, und im Topfe hätte sie mutmaßlich lustig getrieben. Mir fiel dies erst ein, als es zu spät war, und ich habe sie nie ohne Gewissensbisse betrachtet. „Du hast sie in Verhältnisse gebracht,“ sagte ich mir, „die ihrer Natur nicht zusagen. Sie ist eine Erd-Hyacinthe, und Du wolltest sie zwingen, gegen ihre Natur auf dem Wasser zu erblühen. Denk’ daran, wie manches Menschenkind elend vergeht, weil es in Verhältnisse gesetzt wird, die seinen Gaben, seinen Anlagen widerstreben. Einer, der ein tüchtiger Bauer geworden wäre, wird auf die Gelehrtenschule gethan, ein anderer, in dem die Gabe der Sprache schlummert, kommt in die Kesselschmiede, manch frisches Mädchen martern die Musikstunden bleichsüchtig und im Gerassel der Spinnmaschinen ertäubt vielleicht ein Mozart, und manches Menschenherz, das überselig in Liebe erblüht wäre, vergeht blütenlos, weil es nicht fand, wo es Wurzel schlagen konnte, obgleich ihm gegeben ward, was begehrenswert erscheint und ausieht wie irdisches Glück.“

Wenn die Hyacinthe wirklich fühlte, wie ich ihr zumutete? Daß sie überhaupt fühlte, war zweifellos, denn sie mochte das Wasser nicht, sie wollte Erde.

Nach und nach kamen die grünen Blätter und darin erschien der knospenreiche Stengel. Nur die sechste blieb zurück.

Eines Abends, es war um die Frostzeit, geschah es, da die Gläser nicht rechtzeitig weggenommen waren, daß sich Eis in dem Wasser bildete. Vor gänzlichem Erfrieren wurden sie gerettet, und als das Eis aufgetaut war, schienen sie nicht gelitten zu haben. Erst nach zwei Wochen ließ sich erkennen, daß die fünfte Zwiebel krank war. Bei den andern – mit Ausnahme von Nummer sechs – wuchsen die Wurzeln und blieb das Wasser klar, die fünfte jedoch hielt mit dem Wachstum der Wurzeln und Blätter inne und das Wasser wurde trübe und übelriechend. Ein Tropfen davon, unter das Mikroskop gebracht, wimmelte derart von Bacillen und gröberen Lebewesen, daß Verseuchung dafür ein viel zu gelinder Ausdruck gewesen wäre. Milliarden und aber Milliarden von Tierchen waren vorhanden, und die alle nährten sich von den Wurzeln der Hyacinthe. In den andern Gläsern waren auch Keime und Sippen derselben Tierchen, aber sie konnten den gesunden Wurzeln nichts anhaben: die Lebenskraft der Wurzeln war mächtiger als die Raubkraft der Lebewesen. Jene hielt alle Zellen mit ihrem Inhalte zusammen. Wo aber etwas abstirbt, wo das Leben nicht mehr bindet, da ist das Feld der Bakterien, da nähren sie sich, da mehren sie sich.

Die fünfte Zwiebel zeigte schon in dem feinen langsamen, gewissermaßen schwächlichen Wurzelwuchs, daß sie zart veranlagt war. Die anderen waren härter, die vertrugen den Frost, sie allein war angegriffen worden. Der Frost hatte in ihren Wurzeln Veränderungen bewirkt, die dem Stoffwechsel Hindernisse in den Weg legten, die Zellen waren erkrankt und auf die erkrankten stürzten sich nun die Tierchen.

Doch wozu ist die Wissenschaft, wenn sie nicht helfend und fördernd eingreift? Leben wir doch in dem Zeitalter der Antiseptica, unter dem Banner des heiligen Karbols und seiner Verwandten, sind doch Bacillenentdecken und Desinfizieren die Hauptpunkte, zwischen denen die Hygieine pendelt! Es ist nicht schwer, Bacillen zu töten, wohl aber macht es Schwierigkeiten, das richtige Gift zu wählen, wenn man mit den Schmarotzern nicht gleich den Wirt vernichten will, auf dessen Befreiung vom Uebel es doch ankommt. Karbol würde die Pflanze gemordet haben, desgleichen Salicylsäure. Quecksilbersalze waren von vornherein ausgeschlossen, da sie pflanzliches Leben leicht vernichten. Chinin ist aber auch ein Bakteriengift, es tötet die Fiebermikroben und ist fertig gebildet in dem Cinchonabaum. Daher dachte ich: was für den Fieberbaum kein Gift ist, wird der Hyacinthe auch nicht schaden, wohl aber die Horden der Lebewesen töten, die sich an ihren widerstandsschwachen Wurzeln vollfressen. Ich wusch die Wurzeln sorgsam, reinigte das Glas, goß frisches Wasser hinein, fügte ein wenig Chinin hinzu und senkte die Zwiebel wieder ein. Der Erfolg war der vorausgesehene. Das Wasser blieb klar, die Wurzeln blieben sauber, die Tierchen waren tot, sämtlich.

Die Wurzeln und das Wasser waren allerdings wunderschön, wenn man sich mit ihrem äußeren Anscheine zufrieden gab; wer aber den Teil der Zwiebel beobachtete, wo ihr Leben sich entfalten sollte, der merkte bald, daß sie totkrank war bis ins Innerste hinein ... vergiftet.

Während die gesunden Zwiebeln Blütenschaft und Blätter fröhlich heraustrieben, hielt die mit Chinin behandelte im Wachstum inne und ward jener Zwiebel ähnlich, die auf dem Wasser [527] nicht gedeihen mochte. Beide glichen sie Krüppeln. Die grünen Blätter waren klein und schwach und die Knospentraube schwoll an, ohne daß der Blütenschaft an Länge zunahm. Sie erinnerten an jene kranken Kinder mit großen Köpfen und überzarten Gliedern, die so kluge Augen haben und auch so klug sind und nie heranwachsen.

Die Gesunden fingen bald an, zu blühen. Die erste Zwiebel mit den spärlichen derben Wurzeln trug wenige große, herrlich ausgebildete Blüten an einem kräftigen Schaft; die zweite wartete noch; die dritte vergeudete ihre Kräfte auf drei Blütenschäfte, von denen jeder unter dem Mittelmaße blieb, die vierte zeitigte eine große dunkelblaue und eine kleinere Blütentraube, zwei Geschwister, denen man dieselbe Abstammung ansah und die doch in Kraft, Größe und Wuchs auffallend voneinander abwichen. Dies überraschte mich bei den Hyacinthen. Ungleiche Geschwister bei den Menschen zu finden, fällt nicht schwer, in Körperart und in Sinnesart giebt es der ungleichen Brüder überall seit aller Zeit, wie die Ueberlieferung in dem Beispiel von Kain und Abel kund thut. Daß aber hier aus einer Zwiebel ein starkes und ein schwaches, ein reich und ein arm begabtes Wesen an den Tag kam, das war eine Widerlegung der Gleichheit in der Natur, wie sie eindringlicher gar nicht hätte sein können.

Kann man aber die eine blühende Hyacinthe reich, die andere arm begabt nennen? Ich denke ja, wenn es uns überhaupt gestattet ist, die Außenwelt mit unseren menschlichen Empfindungen zu beleben. So belebt das Kind sein Spielzeug, so entstanden Märchen, Sagen, Mythen und Götter, so ward der wilde Wind zum Wotan und der blütenerweckende Hauch des Frühlings zur Freia, die Sonne zum göttlichen Baldur, Frost und Wintersturm zu ungetümen Riesen. Und solange es Dichter giebt, wird des Menschen höchste Macht nicht ersterben, die stumme Natur zum holden Echo menschlichen Empfindens zu machen. Da wird er zum Schöpfer, der Totes mit seinem Hauche belebt, wird durch ihn doch erst die Rose mit ihrem Duft zum Liede der Liebe!

Wenn die Hyacinthen blühen, senden sie ihre Düfte aus. Was sie damit sagen wollen, das ist ihr Geheimnis, von dem jedoch die Forscher den Schleier gezogen haben. Sie blühen und duften für die Frucht, daß sie Nachkommen haben, die ihre Art, ihre Schönheit, ihre Wesenheit erhalten. Jede Glocke ist eine Begabung, je herrlicher sie sich entwickeln, um so harmonischer wird die Gesamtblüte, sie ragt hervor vor den anderen wie ein Mensch, dessen Können und Wissen, dessen Begabungen ihn Unzähligen voranstellen.

Allmählich begann auch die zweite Zwiebel zu blühen. Fest und derbe wie ihre Wurzeln waren die Blätter und der mit Knospen dicht besetzte Schaft. Nur noch wenige Tage, und das Ideal einer Hyacinthe stand in ganzer Schönheit da. So war ich zu vermuten berechtigt. Es kam aber anders. Eine einzelne der oberen Knospen färbte sich bläulich und wuchs denen ihrer nächsten Umgebung sichtlich voraus, und als sie sich bereits entfaltet hatte, waren jene noch grün und gering. Diese eine Blüte ward größer als alle übrigen der ausgeblüten Glocken, ja sie zeigte sogar Neigung zum Gefülltwerden und lenkte die Aufmerksamkeit alsobald auf sich. Wer sie sah, erfreute sich ihrer und lobte sie. Als jedoch ihre Mitknospen in ihrer unmittelbaren Nähe nicht nur nicht erblüten, sondern gilbten und abstarben, da machte sie keine ungetrübte Freude mehr, denn sie war groß und hervorragend auf deren Kosten geworden und hatte an sich gerissen, was jenen bestimmt war. Neben ihrer Pracht hingen gelb und welk die im Mangel zu Grunde gegangenen: neben dem Schwellen des Ueberflusses die magere Not.

So entwickelt sich oft auf Kosten mehrerer Fähigkeiten eine besondere Begabung, hier die Begabung für Mathematik, dort für Malerei, für Rechtswissenschaft, für Medizin, für Musik, für Bauen und Zimmern, und häufig genug unter Verkümmerung dieser oder jener wünschenswerten Eigenschaften. Der Künstler ist nicht immer ein gut rechnender Haushalter, dem Mediziner bleibt zuweilen das Gebiet der Künste verschlossen. Der Sprachforscher geht oft blind für die Natur durch das Leben und dem Ingenieur sind die Dichter der Griechen Ballast der Erkenntnis. Und jeder, der sich selbst prüft, wird finden, daß auch bei ihm nicht alle Begabungen gleichwertig entwickelt sind, daß die eine oder die andere wie die Glocke der blauen Hyacinthe Vorsprung nahm und sich zu besonderer Geltung ausprägte. Wer also prüft und nachdenkt, der wird das laute Geschrei von den Gesetzen der Gleichheit, denen die Menschen in Zukunft ihre Glückseligkeit verdanken sollen, gar bald als das erkennen, was es ist: ein Hohngeschrei auf die Gesetze der Natur, das nur Bethörte für erlösende frohe Botschaft halten können.

Die Chininzwiebel ward immer kränker. Zwar drängten sich purpurrote Blüten in dichter stengelloser Traube vor, aber sie trockneten dürr auf und die Spitzen der grünen Blätter färbten sich gelbbraun. Unten an der Zwiebel wucherte bläulicher Schimmel, der zehrte sie aus, ihm konnte die erkrankte, vergiftete Zwiebel keinen Widerstand leisten, und so sah hier das Auge frei, was im Tierkörper verborgen vor sich geht. Den geschwächten Organismus überfallen Bacillen, diese tötet das Arzneigift, gleichzeitig aber ist der Organismus so heruntergebracht, daß ein Pilz, dem das Arzneigift nichts anhat, ihn als Wirt erkiest und ihn gänzlich vernichtet.

Die sechste Hyacinthe aber machte zuletzt den Versuch, vom Lichte so viel zu erhaschen, als die verfehlten Umstände gestatteten. Die Sehnsucht nach dem Licht, das Begehren, auch zu leben und zu blühen, machte sich mit der Gewalt des Naturtriebes geltend. Sie hatte jedoch keine Wurzeln und mußte so nahe dem Wasser verschmachten. Wohl sah ihre Blüte das Licht, aber es waren nur wenige, winzige, weiße Glöckchen, die aus der Zwiebel hervorschauten: eine Blüte, alt vor der Zeit, wie verfehltes Leben.

So waren meine Hyacinthen, nur sechs an der Zahl; für mich aber waren sie ebensoviel Blätter aus dem Buche der Natur, darin auch die Gesetze für den sogenannten „Herrn der Schöpfung“, für den Menschen, geschrieben stehen.


„Up ewig ungedeelt!“

Novelle von Jassy Torrund.

Es war in jener Zeit, da Schleswig-Holstein sich zum zweitenmal aufraffte, seine Freiheit, sein gutes altes verbrieftes Recht gegen den dänischen Erbfeind zu verteidigen, verhaßte Bande abzuschütteln.

Jedermann weiß, wie es 1848 ergangen war, wie auf den großen Sturm der Begeisterung der traurige Rückschlag folgte, wie fremdländische Diplomatie diesem Freiheitskampf ein ruhmloses Ende bereitete. Rußland machte die Karten, und Preußen war genötigt, sie auszuspielen – und das Ende war, daß alles schlimmer wurde, wie es je zuvor im Lande gewesen.

Aber es kam eine andere Zeit, es kam das Jahr 1864, und aus dieser besseren siegreichen Zeit gilt es eine kleine Begebenheit zu erzählen, die auf keiner Geschichtstafel eingetragen wurde und es dennoch verdient, festgehalten zu werden, weil sie im kleinen wiederspiegelt, wie Schleswig-Holstein und Preußen sich die Hände reichten – für ewige Zeiten.

Also, um mit dem Anfang zu beginnen – es war einmal ein kleines wildes Eichkätzchen, ein „Katteeker“, wie man im holsteinischen Lande sagt; das wohnte aber nicht bei seinen Eltern draußen im grünen Walde, sondern in einer altmodischen kleinen Stadt, hatte auch keinen buschigen roten Schwanz, sondern zwei dicke kohlschwarze Zöpfe, die es lustig hinter sich her fliegen ließ, wenn es durch den Garten trabte. Daß ich’s nur gestehe: unser Katteeker war ein hübscher kleiner Backfisch mit den lustigsten schwarzen Schelmenaugen, die genau so verschmitzt blicken konnten wie die seines kleinen Namensvetters draußen im Walde.

Zur Zeit, da unsere Geschichte spielt, war das Katteeker zur Erziehung und Verfeinerung von seinen hartherzigen Eltern „ausgethan“ worden und fristete nun sein junges Leben in einem hübschen epheuumsponnenen Hause, bei Onkel und Tante Genthin, in der Gesellschaft zweier kleinen Basen und eines winzigen Vetters, der aber noch ganz ungefährlich war. Das heißt, wenn er schlief. Denn zu anderen Zeiten konnte einem manchmal wohl Hören und Sehen vergehen, wenn der musikalisch veranlagte junge Mann so recht aus vollem Herzen seine Jubelouverture – eigene Komposition! – anstimmte.

[528] Da sagen die Leute nun immer: „Holsatia non cantat“ – „Holstein singt nicht“, aber wer Fränzchen Genthin nur ein einzigesmal singen hörte, mußte sich schnell genug zu der Ansicht bekehren: Holstein kann dat doch!

Im Augenblick freilich herrschte tiefe Stille im ganzen Hause. Onkel Genthin war verreist, war mit den anderen Männern der schleswig-holsteinischen Abordnung nach Frankfurt gegangen, dem Bundestage die Wünsche des schwerbedrängten Landes vorzutragen. Die beiden kleinen Basen waren mit ihren Weihnachtspuppen in Kaffeegesellschaft; der hoffnungsvolle Erbprinz und Hauskomponist ruhte auf seinen Lorbeeren und schlief den Schlaf des Gerechten. Und Tante Hedwig – ach ja, die Tante!

Das Katteeker seufzte gar bitterlich, als es an diese Tante dachte, die in ihres Mannes Abwesenheit auf so furchtbare Irrwege geraten war. Und nicht allein das! Sie selber, Marie Kattein, genannt Katteeker, sie selber stand im Begriff, in die Fußstapfen dieser Tante zu treten!

In dieser Minute zwar stieg sie nur in den großen Holzpantoffeln der Köchin durch den festgefrorenen Schnee und schnitt mit viel Seufzen und heimlichen Gewissensbissen ganze Hände voll Grün von den Buchseinfassungen und den immergrünen Sträuchern ihres pflegeelterlichen Gartens ab, obgleich ein unbefangener Zuschauer durchaus nichts Böses oder Verbotenes an diesem Thun entdeckt haben würde. Höchstens hätte er denken können, das Katteeker wird sich einen gesegneten Schnupfen holen! Dennoch seufzte das Katteeker einmal ums andere. Endlich war der große Korb bis zum Rande gefüllt; das halberfrorene Mädchen zog sein dickes Tuch fester um die schmächtigen Schultern, denn es war ein bitterkalter Januartag, und begab sich auf den Rückweg, langsam und nachdenklich – erstlich, weil man in Stines schweren Holzpantoffeln überhaupt nicht schnell vorwärts kommen konnte, und zweitens, weil sie sich in einem tiefen Konflikt befand, wie siebzehnjährige Mädchen ihn zum Glück nicht oft durchkämpfen müssen. Nämlich in einem Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und der Liebe zu ...

„Aha, schaut’s da heraus?“ wird nun manch einer sagen. „Die alte Geschichte! Das kennen wir, haben es schon oft erlebt!“ Aber diesmal kommt’s doch anders, denn es handelt sich bei dieser Liebe um gar keinen Herrn, sondern um eine Dame und zwar um Katteekers angebetete Tante.

Patriotismus und Liebe miteinander im Zweikampf, und der Schauplatz ein siebzehnjähriges Mädchenherz – wie sollte das enden?

Frau Hedwig Genthin, die der jungen Nichte so große Sorge machte, saß indessen mit leidlicher Gemütsruhe in ihrem Wohnzimmer. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Korb mit Tannenzweigen und allerhand Wintergrün, aus dem sie unzählige kleine Sträußchen wand, um sie dann mit schmalem schwarz-weißen Seidenbande zu schmücken. Sie war noch jung, mit dunklem Haar, dunklen Augen und einem ernsthaften Zug um den feingeschnittenen Mund. Das einfache Hauskleid in jener Mode der sechziger Jahre, die von dem jetzigen Geschlecht als geschmacklos belächelt wird, mit dem schmalen schneeweißen Leinwandstreifen um Hals und Hände, hob die eigenartige, fast südliche Schönheit der jungen Frau lebhaft hervor. Mit halber Stimme summte sie bei ihrer Arbeit einen Vers des alten Preußenliedes vor sich hin, unterbrach sich aber, als sie die Thür des Nebenzimmers gehen hörte, und rief hinüber: „Sind die Kleider geplättet, Christine?“

„Ja,“ kam es grollend zurück, „plätt’ sünd se. Awer wat schüllt[2] de oll Lütten doch mit de witten Kledaschen nu in Winter?“

Die alte Köchin breitete die Kinderkleider behutsam auf dem Sofa aus und blickte ihre Herrin vorwurfsvoll an. Die ließ sich indes nicht stören; nur ein Lächeln flog über das dunkle Gesicht, und begütigend sagte sie in etwas fremd klingender Mundart. „Wir zieh’n halt die Kinder recht warm darunter an, Christine. Es ist ja nur für ein Viertelstündchen!“ Dann, sich besinnend, fügte sie hinzu. „Es fehlen noch ein paar Knöpfe an dem einen Kleide; bring’ es zu Jette hinüber – sie soll auch die Schleifen festnähen!“

Kopfschüttelnd und immer noch leise vor sich hinbrummend, trat die Köchin die Reise nach der Kinderstube an, wo „Neihersch“, die „Näherin“, wie das alte Mädchen im ganzen Ort genannt wurde, beim letzten Tagesschein am Fenster saß und emsig stichelte.

Christine richtete ihren Auftrag aus, blieb dann mit untergestemmten Armen neben der kleinen Verwachsenen stehen und entschloß sich endlich zu der schwerwiegenden Frage. „Neihersch – de Preuß’, is dat ’n Fründ oder ’n Fiend?“

„’n Fiend!“ antwortete die kleine Person mit Nachdruck, ohne sich nur eine Sekunde lang zu besinnen. Dabei bohrte sie ihre Nadel so heftig in den zierlichen Perlmutterknopf hinein, als hätte sie den Landesfeind in eigener Person vor sich.

„Un de Fru will em bewillkam’n!“ rief die Köchin in tiefer Entrüstung.

„Neihersch“ nickte und arbeitete eifrig weiter.

„Weet ik. Weet ik allens,“ sprach sie überlegen. „De Herr is mit de grote Deputatschon nah’n Bunnesdag un will de Lüd dar dat bedüden, dat wi hier keen Preußenvulk hebbn wüllt. De freten uns doch man schier arm ...“

„Ja,“ unterbrach Stine hier den politischen Vortrag der Kleinen – „un ’t is so allens all so düer!“

„Neihersch“ biß einen neuen Faden ab, fädelte ihn ein und sagte ärgerlich. „Dar kümmt dat hier nich up an, Stine! Dar reden wi nu nich vun. Ik segg man: de Herr is weg un will Hülp holen gegen de Preußens, un wat de Fru is, de ward sik ünnerdes ’n preuß’sche Fahn neih’n, swart un witt un söß[3] Ehlen lang, vun den besten witten Schirting – vun den swarten Orleang noch ganz to swiegen! – un ward en ganzen Scheepel[4] vull lütte Buketters maken ...“

„Un de oll Lütten de witten Kleeder antrecken – bi düsse Küll[5], Neihersch!“ schob die Köchin grollend ein.

„Ja, Stine. Se hebb je ümmer recht, lütt Stine!“ erwiderte die kleine Verwachsene mit einer gewissen gutmütigen Ironie, die man ihr kaum zugetraut hätte. Sie hielt mit ihrer Arbeit inne und fuhr nachdenklich fort. „Man up een Ort kann ik ehr dat nich verdenken! De Preußens sünd nu doch eenmal ehr Landslüd, un in teihn[6] Johren hett se keen vun ehr to sehn kregen. Kiek, wenn unsereen dat so güng, lütt Stine! Ik will man segg’n, wenn wi buten[7] in’t preuß’sche Lann un unner frömde Lüd weer’n, un wenn denn weck vun unse sleswig-holsteinsche Jungs kamen schüllt – wat, lütt Stine, schüllt wi denn nich ok wul en blag–rod–witte[8] Fahn neih’n un Kräns’ winnen un all so wat?“

Christine blickte in grenzenlosem Staunen auf das alte Mädchen, deren eingefallene Wangen brannten, deren kluge dunkle Augen in jugendlichem Feuer leuchteten. „Herre Jesus, Neihersch! Wat künnt Se doch eenmal klok[9] snaken – jüs as’n Paster!“ rief sie in ehrlicher Bewunderung.

„Ne, dat lat man, Stine!“ wehrte Jette bescheiden ab, hielt das weiße Kleidchen auf Armeslänge von sich und prüfte, ob die Schleifen auch gerade säßen. Sie schien die Unterredung für beendet zu halten, denn sie nickte der Köchin zu und sagte mit Nachdruck: „Wat ik man noch seggn wull, Stine. Wenn de Fru dat deiht, so ward dat doch wul sien Richtigkeit hebb’n un ward nix Unrechtes nich wesen. Un denn geiht dat je ok keen wat an – nich, lütt Stine?“

„Je, dat verstah ik denn wul nich so,“ meinte Stine; jedoch den andern Wink verstand sie und zog sich mit ihrem Groll gegen die Hausfrau in ihre Küche zurück, aber noch im Hinausgehen murmelte sie. „Blot mit de witten Kledaschen – un denn bi düsse Küll!“

Und abermals knarrte drüben neben dem Wohnzimmer eine Thür, und die junge Frau, in der Meinung, daß Stine zurückkäme, fragte. „Wo ist denn Fräulein Marie?“

„Hier ist sie in höchsteigener Person – und verleugnet all ihre Vaterlandsliebe, um ihrer angebeteten Tante den Willen zu thun!“ rief eine pathetische junge Stimme. Unter der Thür stand das Katteeker, in einem leuchtend rot- und blaugestreiften Kleid und einer großen weißen Schürze, denn Fräulein Marie Kattein kleidete sich mit Vorliebe in die schleswig-holsteinischen Landesfarben. Sie schleppte ihren schweren Korb voll Grünkram herbei und setzte ihn mit einem tiefen Seufzer zu den Füßen der Tante nieder.

„So – nun kann’s losgehen! Tante, wenn ich an Papa denke und an den Herzog und an all das andere, kommt es mir ordentlich schlecht vor, daß ich Dir helfe!“ sprudelte sie atemlos hervor und rieb die halberstarrten Finger.

Ein Schatten flog über das Gesicht der jungen Frau, aber sie antwortete nichts, stand schweigend auf und holte eine kleine braune Kanne aus der Ofenröhre.

„So!“ sagte sie dann freundlich, während sie Tassen und Teller zurechtstellte, wärme Dich erst einmal ordentlich, Kind!“

[529]

1) Fahrt mit aufgehobenem Hinterrad. 2) Ohne Anwendung der Beine. 3) Sitzend auf dem großen Rad allein. 4) Stehend auf dem großen Rad allein. 5) Auf dem kleinen Rad allein. 6) Liegend auf dem Sattel. 7) Handstand auf der Lenkstange. 8) Schwung über das Rad. 9) Sprung zum Stand in den Sattel.
Kunstfahren auf der Radfahrbahn in Halensee bei Berlin.

[530] Katteeker ließ es sich schmecken, und während ihre kleinen weißen Zähne herzhaft in den Kuchen bissen, trotz ihres großen patriotischen Kummers, sagte die Tante nachdenklich: „Ich höre, daß wir nächster Tage schon Einquartierung bekommen, Mieze. Da wirst Du wohl Dein Zimmer hergeben und so lange zu mir übersiedeln müssen.“

Marie schlug die Hände zusammen. „Ich soll ausquartiert werden? Tante, das ist doch nicht Dein Ernst! Was soll denn aus dem Kanarienvogel werden, aus dem Buchfinken, aus den Fröschen eins, zwei und drei, aus ...“

Frau Genthin wehrte mit beiden Händen ab. „Um Gotteswillen, Mädel, hör’ auf mit Deinem Unsinn!“

Aber Marie schenkte ihr nichts.

„Aus dem Geiste des seligen Kardinals, den Doktor Karstens mir mitbringen wollte und der unterwegs starb, aus den ausgestopften Vögeln und aus dem Altare meines Herzens?“ rief sie kläglich. Besagter „Altar“ war ein kleines braunes Kästchen mit allerlei verblaßtem Krimskrams, mit Stammbuchblättern, welken Blumen und dergleichen, womit das Katteeker einen großen Kultus trieb.

Tante Hedwig lachte. „Den Altar könntest Du vielleicht so lange an den Nagel hängen, das würde ich sogar sehr ratsam finden,“ bemerkte sie, scheinbar harmlos auf den Scherz eingehend, aber doch mit einer gewissen Betonung.

Katteeker warf kaum merklich den Kopf zurück. „O, das hat keine Gefahr,“ sagte sie hastig. „Die Preußen ...“

Sie unterbrach sich, denn wieder verdunkelte ein Schatten die klare Stirn der jungen Frau.

„Verzeih’, liebste Tante! Ich will Dir ja auch furchtbar fleißig helfen, aus lauter Liebe zu Dir!“

Und mit Eifer machten sich Tante und Nichte an das Sträußchenbinden. Ihre Gedanken mochten wohl verschiedene Wege wandern – tiefe Stille herrschte, nur ab und zu warf Marie einen forschenden Blick auf das heiße Antlitz der jungen Frau. Plötzlich sprang sie auf und lief nach ihrem Nähkorb.

„Ich hab’ noch ein Endchen blau–rot–weißen Bandes,“ rief sie und schon befestigte sie es an einem besonders hübsch geratenen Sträußchen. „Tante Hedwig, wenn ich dieses Epheusträußchen jemals wiedersehe, werde ich es für einen Wink des Schicksals halten!“

Wie eine Seherin stand sie vor ihrer Tante, das Sträußchen hoch in der Hand haltend.

„Nimm einstweilen den Wink von Deiner Tante, die Sträußchen nicht zu groß zu machen, sonst reichen wir nicht,“ lautete die trockene Antwort.

Spät am Abend, als alle Vorbereitungen getroffen und mit Mariens Hilfe der letzte Nagel in die „Preußenfahne“ eingeschlagen war, ging Frau Genthin noch einmal mit sich zu Rate, in tiefem Sinnen saß sie allein in ihrem Zimmer, die Hände im Schoß gefaltet. Leise lösten sich ihr die Worte von den Lippen. „Lieber Gott, es ist ja sicherlich nichts Böses dabei! Ich freue mich so grenzenlos, wieder preußische Soldaten zu sehen, Landsleute, die heimatliche Musik wieder zu hören, die ich fast elf lange lange Jahre nicht mehr gehört! Und wenn Johannes es wüßte, er würde nicht böse sein, würde es begreifen, daß ich meine Landsleute begrüßen muß, hier im fremden Lande, wo sie nichts finden als verschlossene Thüren und Haß und Mißtrauen. Nein, nein, es kann nichts Unrechtes sein!“ Entschlossen erhob sie sich und begab sich mit ruhigem Gewissen und erwartungsvollem Herzen zur Ruhe. Aber schlafen konnte sie nicht, die Freude hielt sie wach. –

Der wichtige Tag brach an.

Rauhreif auf allen Hecken und Bäumen, welke Blätter und dürre Zweige davon umsponnen, daß sie leuchteten und flimmerten wie eitel Silber. Darüber spannte sich kalt und klar der nordische Winterhimmel, so tiefblau, so dunkel, wie die Maler ihn über der Adria zu malen pflegen. Gleich einem Dornröschenschloß in verzauberter Pracht stand das epheuumrankte Haus da – einsam, fast das letzte im ganzen Ort, jedes Epheublatt, jedes Zweiglein war versilbert und glänzte in der klaren Wintersonne. Auf dem schmalen steinernen Balkon zwischen dem bereiften Blattwerk lugten ein paar rosige Kindergesichter hervor und schauten erwartungsvoll die lange Straße hinunter. Frau Genthin stand in ihrem schwarzen Seidenkleide neben den kleinen Mädchen, eine schlanke vornehme Erscheinung, und wies sie an, wie sie die Sträußchen werfen sollten, wenn die Truppen vorüberziehen würden.

An der Balkonthür lehnte Marie als müßige Zuschauerin, die Arme in die Seiten gestemmt, und betrachtete sich die Scene. In den schwarzen Augen blitzte der Schalk auf.

„Tante Hedwig, wenn Onkel Genthin dies doch bloß ’mal mit anschauen kbnnte!“ rief sie lebhaft. „Er schilt vielleicht gerade jetzt in Frankfurt auf die Preußen, die uns damals so schändlich im Stich gelassen haben. Was der sich wohl verwundern würde, wenn er Dich und die kleinen Gören hier so sehen könnte, wie Ihr alle ganz schwarz und weiß und preußisch auf dem Balkon steht und die Preußen mit Buchs bewerfen wollt! Ob Onkel Johannes das nicht furchtbar komisch finden würde?“

Katteeker war keineswegs bösartig angelegt; sie gehorchte nur, unbedacht und thöricht, wie sie war, dem Antrieb des Augenblicks, der ihr diese Gedanken förmlich aufdrängte. Frau Hedwig zuckte zusammen, als hätte ein Schlag sie getroffen. Sie fühlte das laute stürmische Klopfen ihres Herzens bis an den Hals herauf.

„Jetzt laß mich in Ruh’, Marie!“ sagte sie nervös und hüllte die Kinder fester in die warmen Tücher. „Und wenn Du dies abscheuliche bunte Kleid nicht ablegen willst, so thu’ mir die Liebe und zieh’ Dich wenigstens etwas vom Balkon zurück!“

„Nein, Tante Hedwig, das kannst Du von mir nicht verlangen!“ erwiderte das Katteeker gekränkt. „Ich habe mein Gefühl so wie so schon Dir zu Liebe schrecklich verleugnet. Nein, meine blau–weiß–roten Landesfarben, die trage ich bis zu meiner Todesstunde! Nur über meine Leiche geht der Weg nach Küßnacht, Herr!“ deklamierte sie mit drolligem Pathos und verschwand von der Bildfläche. Gleich darauf tauchte ihr Schelmengesicht droben am Giebelfenster auf, wo sie leise ein Fähnchen von blau–rot–weißem Seidenpapier, ein Wunderwerk nächtlicher Klebekunst, hinaushängte und sich dahinter aufstellte, mit klopfendem Herzen und glänzenden Augen der Preußen wartend.

Und sie kamen.

Die Truppen hielten ihren Durchzug durch die kleine Stadt. Totenstille rings umher. Thüren und Fenster geschlossen, als sei das sonst so betriebsame lustige Städtchen eine aus Schutt und Moder ausgegrabene Totenstadt. Keine Seele ließ sich erblicken, selbst das kleine Volk der Straße war wie von der Erde verschlungen. Fürwahr, ein trauriger Einzug für diese braven Leute, die Weib und Kind und Heimat verließen und gen Norden eilten, um den stammverwandten deutschen Brüdern beizustehen! Ein trauriger Einzug! Kein frisches fröhliches Marschlied – nur der dumpfe Schall der Schritte, das Stampfen der Pferde, das Dröhnen der Räder auf dem hartgefrorenen Boden. Stumm, enttäuscht und müde, hungrig und durchfroren, so zogen die Soldaten durch die ganze Stadt, die lange lange Straße hinab, und bittere Gedanken stiegen wohl in manchem Herzen auf.

Schon lichteten sich die Häuserreihen, vereinzelt, wie Vorposten draußen im Felde, standen die letzten Wohnungen, dahinter zog sich in endloser Linie zwischen beschneiten Hecken die Landstraße hin – und keine Hand hatte sich den Helfern in der Not entgegengestreckt, kein Auge mit freundlichem Blick sie begrüßt, kein Labetrunk sie erquickt! Wie anders hatte manch einer sich diesen Einmarsch geträumt, als einen Triumphzug durch das unglückliche mißhandelte Land, das seinen Erlösern von Schmach und Knechtschaft aus vollem Herzen zujauchzen würde!

„Da soll man noch Lust haben, Blut und Leben für diese schleswig-holsteinischen Querköpfe einzusetzen!“ sagte ein junger Offizier finster zu seinen Kameraden, und ähnlich sprachen oder dachten sie alle.

Nur einer der Offiziere, ein hoher stattlicher Mann, achtete nicht auf die halblaut geflüsterten Bemerkungen um sich her. Weit voraus flog sein Adlerblick in weite Ferne. Schaute er wohl mit Seheraugen die glorreichen Schlachten voraus, in denen das verhaßte Preußenvolk seine verpfändete Ehre so herrlich einlösen würde? Schrieb die Hand, die jetzt so ruhig den stolzen Rappen zügelte, schrieb sie im Geiste schon mit blutigen Zügen jene Worte, die das Andenken dieses Mannes im schleswig-holsteinischen Lande unsterblich machten, die Worte: „Los von Dänemark! Up ewig ungedeelt“? Wer weiß es, wer schaut in die Herzen derer, die auf einsamer Höhe stehen!

In diesem Augenblick machte Prinz Friedrich Karl – denn er war es – eine Bewegung der Ueberraschung – eine kurze Orientierung mit dem Krimstecher, ein schneller Befehl an seinen Adjutanten, und zündend, elektrisierend eilte es durch die Reihen, manch einer richtete sich strammer auf, manches Auge, das müde [531] und unlustig geblickt, bekam neuen Glanz. Brausend schallte es durch die totenstille Straße, jubelnd über die verschlossenen Häuser, die beschneiten Dächer hinaus zum blauen Himmelszelt:

„Heil Dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands,
Heil König Dir!“

Ergreifende Klänge, ergreifend für jedes deutsche Herz, wo immer sie gehört werden, erschütternd für den, der in der Fremde weilt und lange lange Jahre sich nach ihnen sehnte!

Wie leuchtende Goldfunken blitzte es auf; die Trompeten und die blanken Helmspitzen, die Bajonette – wie das glänzte und schimmerte in der hellen Wintersonne! Stolz im Winde blähte sich die altehrwürdige zerschossene Regimentsfahne und grüßte ihre junge Schwester, die bescheidene Preußenfahne am Balkon des epheuumrankten Hauses.

Und von dort oben zwischen den bereiften Epheublättern nickten lachende rosige Kindergesichter herunter, von da flog es aus kleinen weichen Kinderhänden hernieder auf die gewappnete Schar – grüne Sträußchen ohne Zahl, geschmückt mit den Preußenfarben.

Begierig fingen die Soldaten die Sträußchen auf, kein einziges durfte ihnen verloren gehen, sie steckten sie an die Helme, auf die Bajonette, sie nickten und winkten und grüßten hinauf zu den kleinen Spendern. Prinz Friedrich Karl selber senkte im Vorbeireiten den Degen vor der jungen Frau, die, mit dem kleinsten Kinde auf dem Arm, im Hintergrunde stand und ihren Sohn hoch emporhielt, damit auch er die Landsleute seiner Mutter sehen möchte.

Sie selber, die ihr heißes Gesicht hinter dem Lockenköpfchen des Kindes barg, sie sah nichts vor aufquellenden Thränen, hörte nichts als die feierlichen Klänge, die ihrem Herzen so teuer waren, die ihre Seele erschütterten; all ihr Denken und Fühlen war in diesem Augenblick nur ein einziges wortloses inbrünstiges Gebet.

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Der scharfe Ostwind hatte Mariens papierene Fahne zerrissen und die bunten Fetzen in tollem Wirbel umhergestreut. Aber das schadete nichts! Sie hatte doch ihre Schuldigkeit gethan und den Preußen bewiesen, daß auch in diesem Hause ein herzogstreues Herz schlug! Mit glühenden Wangen stand das Katteeker am Giebelfenster. Nur eine einzige Minute lang hatte sie der Versuchung nicht widerstehen können, sich hinauszubeugen und neugierig hinabzuspähen. Und just in diesem Augenblick warfen drunten vom Balkon die Kinderhände ein buntgebändertes Sträußchen hinunter, blau–rot–weiße Farben flatterten in der Luft, in weitem Bogen flog es dahin, traf eine blitzende Helmspitze und blieb dort hängen. Ein Augenpaar schaute herauf zu ihr, eine Hand erhob sich wie zum Gruß –

Himmel, dieser Landesfeind würde doch nicht etwa glauben, daß sie ihm das Sträußchen zugeworfen habe? Sie zuckte hastig vom Fenster zurück, sah also auch nicht, wie der blondbärtige Offizier, derselbe, der vorhin über die holsteinischen Querköpfe gemurrt hatte, den Helm herunterriß, die Epheuzweige loslöste und an seine Brust steckte. Aber dann stand sie noch lange droben am Fenster, beugte sich hinaus und schaute den Fortziehenden nach, die wie eine endlose schwarze Linie zwischen den weißen Hecken dahinzogen. Ab und zu blitzte es noch auf von einer Helm- oder Bajonettspitze, ab und zu klang noch ein letzter verhallender Ton der Musik herüber, und dann war alles vorbei und das Städtchen lag wie zuvor einsam, verschneit und lautlos im kalten Glanze der Wintersonne.

Wie war das alles doch so rasch vorübergegangen und entschwunden! Wie eine bunte märchenhafte Vision erschien es dem Katteeker. Vorhin, als die Preußen ihre Nationalhymne anstimmten, da war ihr ganz wunderlich zu Mut geworden, fast so feierlich wie in der Kirche. Atemlos hatte sie gelauscht und unwillkürlich die Hände falten müssen und dabei gedacht: ob sie wohl alle, die hier so frisch und gesund vorübermarschieren, auch ebenso wiederkehren werden, oder ob mancher von ihnen sein junges Leben lassen muß? Und ob ihre großen Brüder wohl auch eines Tages hier so vorüberkommen würden, mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel wie diese anderen? Ja, ob sie überhaupt wußten, daß hier wieder Krieg werden sollte, ihr Vater und sie alle, alle, die von dänischer Willkür in die Verbannung getrieben worden waren, ins fremde Land?

Und da war ihr plötzlich wieder eingefallen, was sie in der letzten Stunde fast vergessen hatte, daß „diese Preußen“ doch eigentlich all das bittere Elend verschuldet hätten, das ihre Eltern traf und das den ersten Schatten in ihre fröhliche Kinderzeit warf. Was wußte solch ein kleines thörichtes Katteeker auch von der Diplomatie, die ihre unsichtbaren Fäden hin und her webt, bis das Netz so fein und dicht geworden, daß sich die Menschheit drin verstrickt? Für sie war alles eins – der Preuße, der hier eben mit Sang und Klang vorüberzog, und jener andere, der ihrem Vater dereinst die Waffen der Befreiung aus den Händen gerungen – einer so unzuverlässig und treulos wie der andere!

Wie finster die schwarzen Augen blicken konnten! Der Schatten der Kindheit stieg darin auf und verdunkelte selbst den Sonnenglanz dieses hellen Tages. Sie ballte ihre kleinen Hände und starrte gedankenverloren auf die roten und blauen Papierfetzen drunten im Schnee, die letzten Reste ihrer Fahne. Und endlich rang sich ein schwerer Seufzer über die roten Lippen. Diese Preußen! Was brachten sie einem doch für schrecklich ernsthafte traurige Gedanken! Katteeker schüttelte den Kopf, daß die schwarzen Zöpfe und die schwarzen Gedanken flogen, zupfte ihre Schürze zurecht und lief die Treppe hinunter, um zu sehen, wie der Tante und den Kindern die Empfangsfeierlichkeiten bekommen waren.

Kaum eine Stunde später kamen ganz unerwartet die Quartiermacher. Es hieß, eine Stafette hätte die Truppen, die vorhin durchgezogen waren, auf halbem Weg erreicht mit dem Befehl, ein Teil der Mannschaften müsse zurück, da in der Nachbarstadt schon alles überfüllt sei mit Sachsen und Hannoveranern.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.


Kunstfahren auf dem Rade. (Zu dem Bilde S. 529.) Große Entfernungen möglichst rasch zurückzulegen, wird stets das Endziel aller Radfahrer sein; darauf weist der natürliche Vorteil des Stahlrads ohne weiteres hin. Und es ist ja auch schon ganz Hervorragendes auf diesem Felde geleistet worden. Fischer, der Sieger auf der kürzlich veranstalteten Distanzfahrt Mailand-München, hat beispielsweise diese rund 590 Kilometer lange Strecke in 29½ Stunden zurückgelegt, also durchschnittlich in der Stunde 20 Kilometer oder den Kilometer in 3 Minuten bewältigt. Andere Jünger des Radsports trachten weniger nach dem Ruhm der Geschwindigkeit als nach dem der Kunst. Für sie wird das Rad, was für den Seiltänzer das Seil ist. Was Kraft und Uebung in dieser Beziehung zustande bringen können, das zeigen unsere Bilder, die keineswegs aus der Phantasie geschöpft, sondern unmittelbar dem Leben entnommen sind, und zwar den Vorführungen des Kunstfahrers Richard Schulz aus Hamburg-Altona, die gelegentlich auf der Radfahrbahn in Halensee bei Berlin zu sehen waren. Die Kunststücke im einzelnen erklären sich aus den beigefügten Unterschriften – soweit man hier von „erklären“ reden kann. Denn dem Auge des Beschauers erscheinen die Leistungen dieses Akrobaten auf dem Rade der großen Mehrzahl nach so gut wie unerklärlich. Im übrigen liegen sie dem eigentlichen Zwecke des Radfahrens ziemlich fern. Eine gesunde Körperbewegung ist das Radfahren auch ohne solche halsbrecherische Kraftstücke, und die Bedeutung der flinken Maschine ruht in ihrer Eigenschaft als Verkehrsmittel, nicht darin, daß sie Gelegenheit zu neuen Cirkuskünsten bietet.

Elektrische Küche. Daß die Elektricität sich auch in den Dienst der Küchenfeen stellen könnte, daran hat man seit geraumer Zeit nicht gezweifelt. Sie läßt sich ja in Hitze umsetzen und mit ihrer Hilfe wird die stärkste Glut erzeugt, über die der Mensch überhaupt verfügt. Es handelte sich also nur darum, elektrische Apparate zu ersinnen, welche als Heizapparate in der Küche verwendet werden könnten. In den letzten Jahren hat man wiederholt von elektrischen Kochtöpfen gehört, deren Boden und Wände Heizkörper darstellten: brachte man diese mit einer elektrischen Leitung in Verbindung, so erhitzten sich die Töpfe und es wurde möglich, die in ihnen enthaltenen Speisen zu kochen und zu braten. Aber diese Apparate waren nicht einfach und bequem; ihre Bedienung erheischte eine besondere Uebung und technische Fertigkeit, die man vom Küchenpersonal nicht gut verlangen kann.

Voriges Jahr wurde nun auf der großen Weltausstellung in Chicago und in der kleinen, aber interessanten Tiroler Landesausstellung zu Innsbruck eine elektrische Küche vorgeführt, die anscheinend alles leistet, was man von der Elektricität als Heizmittel in der Küche fordern kann. Die Ausstellerin dieser in den meisten Ländern zum Patent angemeldeten Neuerung war eine deutsche Firma, „F. Schindler-Jenny“ in Kennelbach bei Bregenz.

Die elektrischen Kochöfen sehen äußerlich unsern gewöhnlichen Kochmaschinen und Kochherden nicht unähnlich; im Innern aber schaut es anders aus. Auf feuerfesten Platten liegen die elektrischen Leiter, welche, sobald der Strom durch sie kreist, sich erhitzen. Diese geben ihre Hitze an metallene Platten ab, welche wie unsere gewöhnlichen Kochringe in gleicher Ebene mit der Herdplatte und in dieser selbst angebracht sind. Auf dem elektrischen Ofen kocht man also in derselben Weise wie auf einem gewöhnlichen Kochherde. Er besitzt aber auch Back- oder Braträume, in [532] welchen die Heizkörper unten und an den Seiten der metallenen Wände angebracht sind, und auch hier gleicht die Behandlung des Bratens oder der Backware durchaus der bisher üblichen.

Aber der elektrische Ofen bringt verschiedene Vorteile und manche Bequemlichkeiten. Wer über einen solchen Herd verfügt, der braucht kein Holz und keine Kohlen zu schleppen, auch kein Zündholz zum Anmachen der Glut; er rückt einfach ein Hebelchen und läßt den elektrischen Strom durch einen der Heizkörper kreisen, dadurch wird eine der Heizplatten erhitzt. Braucht er mehr Hitze, so rückt er mehr der Hebelchen und versetzt dementsprechend mehr Heizkörper in Glut. Und wenn er nicht mehr kochen will, so rückt er die Hebelchen zurück und in einem Augenblick ist der Strom abgestellt, der Ofen erkaltet. Da giebt es keine Asche, keinen Rauch und keinen Ruß im Zimmer. Diese Vorteile bietet ja auch schon die Gasfeuerung. Aber der elektrische Ofen ist vollkommener; er birgt nicht die Gefahren einer Leuchtgasexplosion oder Kohlenoxydvergiftung in sich.

Die Firma F. Schindler-Jenny hatte große und kleine elektrische Küchenherde und auch kleine Siedapparate ausgestellt, die in den Kochtopf gesteckt werden und 1 Liter Wasser in 5 Minuten zum Sieden bringen. Ja mit der Elektricität macht sie Bügeleisen heiß und behütet so die Plätterin vor den schädlichen Dünsten der Kohlenbügeleisen.

Aber – ja leider hängt an der sauberen, bequemen elektrischen Küche noch ein Aber: sie kann nur dort errichtet werden, wo der Anschluß an ein Elektricitätswerk möglich ist! Dadurch sind der elektrischen Küche in der Gegenwart noch Schranken gesetzt. Dann kommt der sehr wichtige Kostenpunkt in Betracht. Was diesen anbelangt, so hängt alles davon ab, wie der Strom berechnet werden muß. Wo Wasserkraft vorhanden ist, da stellt sich der Betrieb eines elektrischen Herdes billiger als der eines Kohlenherdes. Wo aber der Strom teuer kommt, da gestaltet sich das Verhältnis umgekehrt. Aber auch in diesem Falle dürfte sich die Anschaffung der kleinen Herdchen, der Sieder und Bügeleisen ihrer großen Vorzüge halber doch lohnen, zumal bei diesen der Stromverbrauch keine große Rolle spielt.

Gegenwärtig kann allerdings die Elektricität, selbst wo sie billig zu haben ist, die schwarze Kohle nicht gänzlich aus der Küche verdrängen. Wenn der Winter kommt, dann vermag der elektrische Herd, der nur gerade die zum Kochen und Braten nötige Wärme giebt und sie in wohlabgemessener Sparsamkeit auf bestimmte Heizplatten konzentriert, den Küchenranm nicht genügend zu erwärmen. Die Kochfrau ist alsdann genötigt, die Küche in der bisher üblichen Weise zu heizen. Aber man sagt, daß auch der elektrische Heizofen nur eine Frage der Zeit sei. Dann kann es ja wohl noch soweit kommen, daß Dienstmädchen und Köchinnen sich an Herrschaften nicht vermieten wollen, bei welchen ihnen die Zumutung gestellt würde, wie einst im 19. Jahrhundert Kohlen treppauf und Asche treppab zu tragen. Wenn aber auch dieses Goldene Zeitalter der Küche aufgegangen sein wird, so wird der Hausherr keine Wendung zum Besseren spüren; ebenso oft wie heute wird er mißmutig vor versalzener Suppe und elektrisch angebräuntem Braten sitzen und die uralte Wahrnehmung machen können, wie wenig durch alle Fortschritte und Erfindungen der Zeit die Natur des Menschen verändert und die Zerstreutheit der Köchinnen gemindert wird. *


Ein „Tischlein deck’ dich!“ im Walde.
Nach einer Originalzeichnung von H. Morin.

Ein „Tischlein deck’ dich!“ im Walde. Wenn der erfahrene Sammler die Titelblätter der Schmetterlings- und Käferbücher betrachtet, auf denen eine Menge der seltensten Tiere in buntem Gedränge durcheinanderschwirrt, so entlockt ihm das ein mitleidiges Lächeln, denn er weiß gar wohl, wie viel Mühe und Sorgfalt aufgewendet werden muß, um auch nur eine der begehrenswerten Raritäten, mit denen der Zeichner des Bildes so freigebig war, in seine Gewalt zu bekommen. Und doch hat auch er zuweilen an besonders glücklichen Tagen Gelegenheit zu einem reichen Fang, wie er ihn sonst oft während eines ganzen Sommers nicht zusammenzubringen vermag. Auch die Natur deckt den formenreichen, farbenprangenden Insekten zuweilen an lauschig stillen Plätzchen einen reichen Tisch und groß ist dann auch die Menge der bunten, schimmernden Tiere, welche sich zur leckeren Tafel drängen. Der bekannte Insektenforscher Professor Dr. Taschenberg sen. erzählt in Brehms „Tierleben“ von dem prächtigen Anblick, den eine große Anzahl von Goldkäfern an einem Eichenstamme bot, wo sie begierig den aus einer verletzten Stelle fließenden Baumsaft leckten, dabei weithin wie ein goldenes Pflaster leuchtend. Die gleiche, von Käfern vielbegehrte Süßigkeit hat auch auf unserem Bilde eine Anzahl Käfer am Strunk eines frischgeschnittenen Baumes vereinigt. Die große, goldgrüne Cetonia speciosissima, der Stolz aller Sammler, leuchtet wie ein breiter Edelstein hervor, an Glanz und Größe die gemeinen Goldkäfer, ihre Vettern, weit übertreffend, von denen einer, vom süßen Nektar berauscht, bereits unten auf dem Rücken liegt und von einigen neugierigen Ameisen in Bezug auf seine Eßbarkeit eindringlich untersucht wird. Neben der Cetonie sitzt ein länglicher Schmalbock (Strangalia armata), welcher mit dem schwarz und rot gebänderten Bienenwolf gleichfalls am Mahle teilnimmt. Sie alle überragt der Riese unserer Käferwelt, der mächtige Hirschkäfer, der, im Genuß gestört, einem heranschwirrenden Bienenwolf drohend seine Zangen entgegenstreckt. Das Getümmel hat auch ein paar Laufkäfer herbeigelockt, den rotgrün glänzenden Puppenräuber (Calosoma sycophanta), der im Begriff ist, eine Eulenraupe zu überfallen, und den schwarzen, rot oder violett gerandeten Carabus violaceus, der mit dem vorigen als Raupenvertilger zu unseren nützlichsten Käfern gehört. Haben die Käfer sich gütlich gethan, so werden der gebänderte Eisfalter und die schwarze blutfleckige Jacobaea sich einstellen, welche mit ihren zarten Flügelchen sich so wenig in das Getreibe der groben Käfer wagen wie eine feingekleidete Dame in einen Haufen Betrunkener, und wenn sich die Schatten der Nacht herniedersenken, dann kommen auf kräftigen Schwingen die großen Schwärmer und die schöngefärbten Ordensbänder herbei, um auch ihren Anteil vom reichen Tisch zu holen.

Flatterrose. (Zu unserer Kunstbeilage.) Von dem Leben und dem Entwicklungsgange des am 15. Juli d. J. verstorbenen Münchener Malers Bruno Piglhein haben wir auf der Beilage einiges Nähere mitgeteilt. Als eine Probe seiner Kunst, wenn auch nur einer Seite derselben, legen wir unsern Lesern das Bild „Flatterrose“ vor. In trefflicher Weise veranschaulicht es Piglheins Gabe einer flotten anmutigen Darstellung. Wie graziös sind die schwarzen Locken, die Rosen darin, der dunkle Hut, das luftige Gewand, die schleierartige Hülle um den schlanken Hals der Dame behandelt! Es ist, als fühlte man einen Windhauch, der leise mit den Enden des dünnen Gewebes spielt.


Kleiner Briefkasten.

F. L. in Berlin. Ihre Zuschrift haben wir erhalten. Prinz Adalbert von Preußen ist am 6. Juni 1873 in Karlsbad gestorben. Er war übrigens, wie Sie richtig bemerken, nicht ein Bruder, sondern ein Vetter Kaiser Wilhelms I., der Sohn des jüngsten Bruders von Kaiser Wilhelms Vater.

G. K. in Ulm. Besten Dank für Ihre freundliche Aufmerksamkeit!

A. B. in E. Wir bedauern, Ihnen auf Ihre Anfrage einen Bescheid nicht geben zu können, da wir grundsätzlich in Bank- und Versicherungsangelegenheiten keinen Rat erteilen.

B. St. in Scheiben. In den „Gesammelten Schriften“ Moltkes sind die Briefe an seine Braut und Frau nur in gekürzter Fassung enthalten. Eine vollständige Ausgabe ist in 2 Bänden bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschienen.



manicula Hierzu Kunstbeilage IX: 0Flatterrose. Von Bruno Piglhein.

Inhalt: Die Brüder. Roman von Klaus Zehren (4. Fortsetzung). S. 518. – Ein Stimmungsbild aus Bayreuth. Von Ida Boy-Ed. S. 523. Mit Abbildungen S. 517, 521, 524 und 525. – Meine Hyacinthen. Von Julius Stinde. S. 525. – „Up ewig ungedeelt!“. Von Jassy Torrund. S. 527. – Kunstfahren auf der Radfahrbahn in Halensee bei Berlin. Bild. S. 529. – Blätter und Blüten: Kunstfahren auf dem Rade. S. 531. (Zu dem Bilde S. 529.) – Elektrische Küche. S. 531. – Ein „Tischlein deck’ dich!“ im Walde. Mit Abbildung. S. 532. – Flatterrose. S. 532. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 532.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. WS: Zwei fehlende Worte aus dem Zusammenhang ergänzt.
  2. sollen.
  3. sechs
  4. Scheffel.
  5. Kälte.
  6. zehn.
  7. draußen.
  8. blau–rot–weiß.
  9. klug.