Die Gartenlaube (1893)/Heft 36
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Nr. 36. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
„Um meinetwillen!“
Die Damen hatten im Boudoir der Generalin gespielt, im Salon war der Theetisch gedeckt worden, neben welchem Martin in dienstlicher Haltung wartend stand
Es war noch eine Excellenz vorhanden, aber eine von allerneuestem Datum, deren Adel zudem erst in der dritten Generation bestand – mit den Guttenbergs also gar nicht zu vergleichen! Die neue Excellenz trug braune Puffenscheitel und eine vornehme Miene zur Schau. Dann war noch eine Frau Generalmajor von Bienenfeldt mit weißen Löckchen und einem schwarzen Atlaskleide da und endlich Frau Oberst von Reisewitz, die eine auffallende Aehnlichkeit mit der Treffdame hatte und auch ebenso frisiert war.
„Mein Neffe, Universitätsprofessor Gregory,“ wurde mit geziemender Feierlichkeit diesen Würdenträgerinnen vorgestellt, und er hatte sich dreimal tief zu verneigen, sowie seiner Tante einen Handkuß zu leisten, was er übrigens alles mit guter Manier zustande brachte.
„Guten Abend, Annaliese!“ wandte sich darauf die Generalin zu dem jungen Mädchen. „Meine Damen, meine Enkelin schätzt sich glücklich, Ihnen zum Willkommen die Hand küssen zu dürfen.“
Es sah dem Professor nicht danach aus, als ob das Glück überwältigend groß sei, im Gegentheil, er fing einen unliebsam erstaunten Blick auf, den Annaliese ihrer Großmutter zuwarf und der, in Worte übersetzt, bedeuten konnte: das ist gegen die Abmachung, Du weißt, wie zuwider mir ein derartiger Akt ist! Aber die alte Excellenz lächelte gleichmüthig, im Innern froh, einen solchen moralischen Zwang ausüben zu können, und sah zu, wie die frische Lippen ihrer „Kleinen“ nacheinander die wohlwollend hingehaltenen Hände der Gäste berührte. Man gruppierte sich unter peinlichster Wahrung des Ranges um den Theetisch, Martin servierte tadellos. Frau Generalmajor von Bienenfeldt, die älteste Freundin des Hauses, gab der „neuen Excellenz“ flüsternd einige Weisungen – diese wünschte zu wissen, wo in aller Welt die liebe theure Excellenz Guttenberg diesen Neffen her habe.
„Nicht wahr?“ fragte die Generalin, die alles gehört hatte, leise, während Paul gerade in lebhaftem Gespräch mit Annaliese war, „er kann sich immerhin sehen lassen? Ich versichere Sie, er wirkt sogar im Salon unter meinen Offizieren, er macht eine so gute Figur, und ich kann es meiner verstorbenen Kousine noch heute nicht verzeihen, daß sie den hübschen aufgeweckten Jungen nicht ins Kadettenhaus gab. Er hätte wirklich Anlagen zum Offizier gehabt und könnte jetzt in kurzer Zeit Major sein, wenn mein Vetter Guttenberg sich für ihn interessiert hätte. Statt dessen nun … Gott, ja, ein Professor ist nichts Schlechtes, es hätte schlimmer kommen können – aber glauben Sie, liebe Excellenz, er ist zu meinen Gesellschaften zu haben? Kein Gedanke! War zweimal da, wurde gut behandelt, ich möchte sage bevorzugt
[598] von meinen Offizieren – sie haben ja nun ’mal ein Monopol auf die tadellosesten Manieren, unsere Herren! – aber wer nicht wiederkam, war mein Herr Neffe. Na, schließlich ist es sein eigener Schade, wenn er nicht in die besten Kreise hinein will!“
Excellenz von Rosen holte ihren Zwicker hervor und sah sich den merkwürdigen Menschen, der solch ein Glück verschmähen konnte, unverwandt an. Der Professor fand dies Anstarren unpassend, er neigte sich ein wenig gegen die Dame vor und sagte in verbindlichem Ton: „Excellenz befehlen?“
„Ich, o, nichts!“ Die Generalin ließ das Augenglas fallen und wandte sich lebhaft an ihre Nachbarin. „Liebste Frau Oberst, wir sprachen vorhin von dem entzückenden Menschen, dem kleinen Geyer – wo ist er doch geblieben?“
„Zu den rothen Husaren nach Straßburg versetzt!“
„O, o, meine beste Frau Oberst!“ ließ sich Excellenz Guttenberg in strafendem Ton vernehmen. „Wie können Sie die rothen Husaren nach Straßburg bringen? Die stehen ja in Rathenow!“
Beschämt sah die Frau Oberst diesen bösen Irrthum ein.
„Der kleine Geyer hat neuerdings wieder geerbt. Sein Vetter George ist beim Derbyrennen mit dem Pferde gestürzt und Ulrich war der nächste Anverwandte.“
„Was Sie sagen! Ueberdies heißt es, der Kleine soll demnächst Bräutigam werden – die schwarze Lulu F . . . . Sie wissen! Wirklich kolossal!“
„Wenn es wahr ist!“
„Ich pflege aus sehr guten Quellen zu schöpfen.“ Excellenz Guttenberg richtete sich noch steifer im Rücken auf als bisher. „Ich stehe ja im Briefwechsel mit der Tante des kleinen Geyer, ich sollte meinen, daß die genau unterrichtet ist!“
„Wer ist denn eigentlich dieser kleine Geyer?“ fragte der Professor dazwischen, den das lange Gespräch über eine ihm gänzlich unbekannte Persönlichkeit verdroß.
Seine Tante Guttenberg fand den nachlässigen Ton dieser Frage unstatthaft. „Ein sehr distinguierter junger Mann aus vorzüglichem Haus. Die Geyers von Geyerstein sind eine sehr alte Familie – verschwägert mit den Grafen Trutzberg, nahe verwandt mit den Falkenaus – Ulrichs Mutter ist eine Komtesse Falkenau –“
„Von der Wartenburgischen Linie,“ schaltete die neue Excellenz ein, um ihre Kenntnisse zu beweisen.
Die alte Excellenz sah sie mitleidig an. „Von der Hillsdorfischen Linie, Beste, ich weiß es genau!“
„Sollte ich mich da irren? Verzeihung, liebe, liebe Excellenz, aber ich fürchte, diesmal behalte ich recht!“
Die Generalin hatte nur ein mildes, überlegenes Lächeln. „Martin – holen Sie den Gothaer! Sie wissen, wo er liegt, dicht neben der Rang- und Quartierliste!“
„– Befehl, Excellenz!“
Eine feierliche Pause. Der Gothaische Almanach wurde gebracht, mit kundiger Hand blätterte die alte Excellenz nach.
„Geyer – Geyer-Trutzberg, Geyer-Falkenau . . . bitte, wollen Sie sich überzeugen: hier – Falkenau-Hillsdorf, da haben Sie es Schwarz auf Weiß!“
Die neue Excellenz murmelte eine demüthige Entschuldigung, und Frau von Bienenfeldt bemerkte lächelnd: „Ich hätte es Ihnen zum voraus sagen können, Liebe, daß Sie sich da eine Niederlage bereiten würden; in solchen Dingen, wie in vielen anderen, ist unsere theure Excellenz Guttenberg einfach Autorität. Sie weiß von jedem Avancement, jeder Versetzung, jedem Abschied – und nun gar die Familienbeziehungen, die Stammbäume. – erstaunlich! Der selige General, ein so herrlicher Militär er war, konnte da nicht mit, er nannte seine liebe Frau immer sein militärisches Gedächtniß.“
Paul Gregory räusperte sich unmuthig – was war das für eine alberne Unterhaltung! Er dachte bei sich, wenn doch den kleinen Geyer samt seiner ganzen hochgeborenen Verwandtschaft der Geier holen wollte! Zum ersten Mal saß der Professor heute so im kleinen Kreise an seiner Tante Theetisch, und er würde es sich selbst ohne weiteres zugeschworen haben, daß es auch zum letzten Mal sein werde, wenn nicht Annaliese dagewesen wäre. Armes Geschöpf! Das war nun ihr Heim; mit solchen Menschen wie diese verkehrte sie, Gespräche wie diese mußte sie mit anhören und selbst weiterführen helfen! War es ihr zu verdenken, wenn sie hinwegstrebte mit aller Kraft, wenn sie hinaus wollte aus diesem enggezogenen Kreise, zu Menschen, bei denen eine andere freiere Luft wehte? Wie reizend sie war! Und nicht bloß reizend – sie besaß Geist, Beobachtungsgabe, Humor, hatte auch Gemüth, die Kleine . . . Gregory leugnete sich’s gar nicht, sie gefiel ihm ausnehmend, und er wollte ihr gern helfen; aber wie?
Die alte Excellenz hatte sich inzwischen mitleidig darauf besonnen, daß ja ihr Neffe, der gute Paul, leider keine Ahnung von „ihren Kreisen“ habe und daß es ihm verwehrt sei, mitzureden, und er that ihr leid. „Nun, mein lieber Paul,“ begann sie in etwas gönnerhaftem Ton, der ihr sehr leicht kam, „was machen die Wissenschaften? Wie steht’s mit Deinen Arbeiten?“
Dem Professor sagte diese Art und Weise wenig zu. „Danke, Tante!“ entgegnete er trocken. „Die Wissenschaften regieren die Welt, und meine Arbeiten gehen ruhig ihren Gang weiter.“
Die militärischen Kränzchendamen lächelten einander zu, ihnen kam dieser Respekt vor den Wissenschaften, welche „die Welt regieren“ sollten, komisch vor. „Also steht nichts Neues auf Deinem Programm?“ examinierte die Generalin weiter.
„O doch, auf meinem Programm steht eine Reise!“ erwiderte Paul kurz, in einem nicht gerade verbindlichen Ton. Es widerstand ihm, diesem „Kränzchen“ etwas von sich selbst, seinen Plänen sagen zu sollen, aber erfahren mußte es ja die Generalin so wie so, daß er die Reise machte, er mußte sich doch zuvor von ihr verabschieden.
„Eine Reise? Sieh, sieh! Wohin denn, wenn man fragen darf? Ist es weit?“
„Ziemlich weit – Königsberg in Ostpreußen!“
„Um Gotteswillen!“ Alle Damen waren erschrocken, die Frau Oberst lieh dem Schrecken Worte. „Das ist ja dicht an der russischen Grenze!“
„Nicht so ganz dicht, meine Gnädigste!“
„Aber es soll ja eine greuliche Stadt sein, ganz reizlos und entlegen – und so kalt! Müssen Sie denn dorthin?“
„Im Interesse meiner Arbeit, ja!“
„Was wollen Sie dort thun?“ Annaliese, die bisher ziemlich theilnahmlos dagesessen hat, wurde aufmerksam und fragte – sehr freundlich und voll Antheil.
„Es giebt dort in der Nähe ein sehr interessantes Land.“ Gregory sprach jetzt höflich und wandte sich unmittelbar an das junge Mädchen. „Litanen heißt es, ist auch an und für sich nicht ohne Reiz, und seine Bewohner stellen einen ganz eigenen Menschenschlag dar. Die Sprache ist im Aussterben, das deutsche Element greift mächtig um sich, und in nicht allzu ferner Zeit dürfte es kaum mehr eine lebende litauische Sprache geben. Ich bin Sprachforscher, wie Sie wissen, war schon einmal dort und sammelte Stoff, finde ihn aber nicht genügend und eine zweite Reise immer der Mühe und des Gegenstandes werth, der ein wichtiger Bestandtheil meiner Arbeit sein soll – zumal, da mein bester Freund in Königsberg lebt und ich ein Wiedersehen mit ihm und seiner Familie freudig begrüße.“
„Was ist Ihr Freund dort?“
„Oberlehrer. Er hat arm und jung geheirathet, besitzt vier Kinder und muß sich ein bißchen quälen, um durchzukommen. Die Frau kommt ihm dabei zu Hilfe – sie ist aus adliger Familie, und dieser Umstand erleichterte ihr bedeutend das Unternehmen, junge Damen in Pension zu nehmen, die, theils zu ihrer Ausbildung, theils zu ihrem Vergnügen, sich für längere Zeit in der alten Krönungsstadt aufhalten.“ Hier entstand eine Pause, und der Professor befand sich in einiger Verwirrung, denn aus Annaliesens Augen hatte ihn ein so großer leuchtender Blick getroffen, daß es ihm eigenthümlich zu Muthe wurde; er war nur so schnell und flüchtig gewesen wie ein Blitz, aber dieser Blitz . . . hm!
„Es giebt dort vorzügliche Lehrer und Lehrerinnen für den Malunterricht, nicht wahr?“ fragte Annaliese laut, und ohne die Lippen zu regen, raunte sie, heftig mit ihrer Theetasse klappernd: „Sagen Sie ums Hilnmelswillen ja!“
„Gewiß – natürlich – vorzügliche!“ Gregory begann zu begreifen.
„Die Königsberger Malerakademie ist ja weit und breit berühmt,“ fuhr Annaliese mit einer Siegesgewißheit fort, die etwas Verblüffendes hatte. „Und hier lernt man so bitterwenig – um mein Talent ist’s wirklich schade! Und die Frau Ihres Freundes hat mehrere adlige junge Damen in Pension, nicht wahr?“ Wieder leise: „Bitte ja, ja!“
Der Professor hatte keine Ahnung, ob und wieviel junge Damen sich zur Zeit im Hause seines Freundes befanden, und [599] noch viel weniger, ob sie adlig oder bürgerlich waren, aber solchen großen prächtigen Augen zuliebe, die so beredt blicken konnten, mußte man schon ein Uebriges thun.
„Gewiß, mehrere – aus den besten Familien! Ich sagte Ihnen schon, die Frau meines Freundes ist selbst aus sehr gutem Haus, eine Freiin von Berg.“ Hiermit wenigstens hatte es seine Richtigkeit.
„Wie konnte sie diese Heirath machen?“ fragte die junge Excellenz naiv.
„Sie hatte sich sonderbarerweise in ihren Mann verliebt,“ entgegnete Paul ernsthaft.
Um Annaliesens Lippen zuckte es, sie griff wieder zu ihrer Tasse. Die älteren Damen geriethen über allerlei wunderliche Heirathen junger Aristokratinnen mit Hauslehrern, Verwaltern und Geistlichen in ein lebhaftes Gespräch, und unterdessen flüsterte das Freifräulein dem Professor zu: „So – das war schön! Vielen Dank! Der Boden ist jetzt vorbereitet!“
„Sie glauben alles Ernstes, daß –“
„Natürlich! Lassen Sie mich nur machen! Ich sagte Ihnen ja schon, Großmama würde glücklich sein, mich für diesen Winter mit guter Art loszuwerden. Warum soll ich nicht in Pension nach Königsberg kommen? Heute und morgen findet sie diesen Gedanken ungeheuerlich, aber ich kenne sie: der stete Tropfen höhlt den Stein! Sehen Sie, wie gut meine Ahnung mich geleitet hat, als ich dachte, Sie, gerade Sie, könnten mir helfen! Wie heimtückisch von Ihnen, mir nicht gleich alles von Königsberg zu sagen!“
„Es fiel mir nicht sofort ein, und wenn auch . . . wie hätte ich denken sollen – es wird ja auch nichts daraus werden.“
„Warum aber nicht?“ Annaliese sah so unternehmend aus, daß Frau von Bienenfeldt zu der neuen Excellenz sagte: „Sie ist boch bildhübsch! Diese herrlichen Augen und die prachtvollen Zähne! Aber den Prosessor muß sie nicht leiden können, sehen Sie, liebe Exeellenz, wie herrisch sie ihn anschaut!“ –
„Wie wollen Sie es denn durchführen?“ fragte Paul leise und reichte seiner Nachbarin die Schalmandeln und Traubenrosinen hin. „Gesetzt, Ihre Großmutter ginge wirklich auf Ihren Plan ein, sie müßte sich doch mit Frau Oberlehrer Claassen in Verbindung setzen, Ihre Verhältnisse klar legen, und wenn Sie an Ihrem Plan festhalten –“
„Natürlich halte ich fest – und Sie sollen bei der Ausführung wacker mithelfen! Großmama leidet oft an Händezittern, sie kann die Feder nicht gut halten, kennt ja auch Ihren Freund nicht weiter – da werde ich ihr einreden, daß am besten Sie selbst die Anfrage nach Königsberg richten, und dann müssen Sie Ihren Freund bitten, in seiner Antwort Großmamas Gefühle zu schonen und nichts über meinen zukünftigen Beruf und Erwerb zu schreiben! Nur getrost, ich bekomme das alles fertig. Ach, Gevatter, bei dem Gedanken, daß ich von hier fort komme, fort von all den beobachtenden, intrigierenden, berechnenden Menschen –“
„Von wem sprichst Du, Kleine?“ fragte die Generalin über den Tisch herüber, sie hatte die letzten Worte gehört. „Ueber wen hättest Du nöthig, Dich so zu ereifern?“
„Ueber die Mitspieler eines Theaterstücks, Großmama, in dem ich durchaus eine Rolle übernehmen soll und nicht will!“
„Wo und wann soll denn das gespielt werden?“
„In unseren Kreisen – und sehr bald.“
„Und die anderen sind lauter beobachtende, intrigante, berechnende Menschen – sagtest Du nicht so?“
„Ja, so sagte ich! Aber ich spiele nicht mit, durchaus nicht!“
„Sehr richtig, mein Kind! Dies fortwährende Theaterspielen nimmt Zeit und Kräfte ungemein in Anspruch, und wenn man es recht bedenkt: wo ist der Nutzen davon zu sehen? Ich habe diese ewigen Vergnügungen für die Kleine schon recht satt und wünsche aufrichtig, ich hätte einmal einen Winter hindurch Ruhe.“
„Sehen Sie, Gevatter! – Sie wünscht es sich!“
„Meine liebe Excellenz, daran kann für Sie doch kein Gedanke sein, Ihre Enkelin gehört ja zu den gefeiertsten Damen der ganzen Stadt, und wenn nun gar noch, wie man munkelt, in kurzem ein freudiges Ereigniß –“
Die Generalin zog die Brauen hoch und winkte abwehrend mit der Hand, während die Frau Oberst leise zu der neuen Excellenz sagte: „Es ist ja in aller Leute Mund – kaum glaublich: Annaliese soll plötzlich anderen Sinnes geworden sein – einem Menschen wie Steinhausen gegenüber!“
„Er wollte sie doch offenbar haben.“
„Und sie ihn auch! Alle Welt wartete schon auf die Verlobung – die Vorbereitungen zum Frankenheimschen Polterabend sollten die Sache reif machen; aber eine Probe nach der anderen ging vorüber, und es kam nichts. Annaliese soll etwas gezwungen vergnügt gewesen sein und Steinhausen ganz anders behandelt haben wie früher, so kameradschaftlich kühl und ruhig, daß er ganz scheu geworden ist und offenbar keinen Antrag gewagt hat. Das ist denn doch stark!“
„Ja, meinen Sie denn nicht, daß ihr etwas von der Geschichte mit Erna von Torsten zu Ohren gekommen sein kann, so sehr auch Steinhausen und sein ganzer Anhang bemüht gewesen sind, alles zu vertuschen?“
„Ach, ich bitte Sie, was wäre denn da zu vertuschen? Welche Geschichte meinen Sie? Es ist ja überhaupt gar nichts gewesen, nichts als eine harmlose Courmacherei, die Steinhausen aus reiner Langeweile bei dem einen hübschen Mädchen in Scene gesetzt hat, solange das andere verreist war. Wer will ihm das verdenken! Nein, es wäre an der Zeit, Annaliese ’mal den Uebermuth ein bißchen auszutreiben – man hat sie allzusehr verwöhnt, den hübschen Wildfang, weil sie unserer lieben alten Excellenz Enkeltochter und Erbin ist, das ist ihr zu Kopf gestiegen und sie denkt, sie kann mit Leuten wie Steinhausen nach Belieben umspringen! Das sind Launen, nichts als Launen, und die sollte man bei einem so jungen Mädchen nicht dulden! Wenn sie dieser entzückende Mensch, der Steinhausen, jetzt zur Strafe sitzen ließe, es geschähe ihr ganz Recht!“
„Er wird nicht, dessen bin ich sicher. Mädchen mit solchem Vermögen läßt ein armer ehrgeiziger Lieutenant nicht so ohne weiteres sitzen wegen etwas ungleicher Behandlung – und schließlich ist die Kleine wirklich reizend. An dieser Verwöhnung übrigens ist sie unschuldig – wer hieß alle Welt, sie zu verziehen?“
„Wie ich Ihnen schon sagte – das hat sie doch nur ihrer Großmutter, ihrem allen Namen und ihrem Erbe zu verdanken!“
„Meinen Sie wirklich?“ Die Sprecherin sah zu dem lebensvollen Gesichtchen hinüber und schüttelte ungläubig den Kopf. Wäre Annaliese langweilig und reizlos, ja dann hätte jene Annahme recht; so aber war sie das gerade Gegentheil von beidem. Wie vortheilhaft sie heute wieder aussah! Und was sie doch immer mit dem Professor zu flüstern hatte! Da, eben jetzt wieder!
Ja, wenn die Kränzchendamen das gehört hätten!
„Den ersten Schritt müssen Sie thun – bitte, kein so erschrockenes Gesicht – es hilft Ihnen doch alles nichts! Was Sie sollen? Sie sollen die Güte haben, vorerst ’mal an Ihren Freund dort ganz hinten auf der Landkarte zu schreiben und bei ihm anzufragen, ob er in seinem Hause noch Platz für ein armes – verstehen Sie wohl, armes adliges Fräulein Ihrer Bekanntschaft habe, welches sich in der Malerei ausbilden wolle, um später damit sein Brod zu verdienen. Die Großmama besagten armen Fräuleins sei eine etwas empfindliche, sehr vornehme alte Dame, die man schonen müsse . . . Himmel, Excellenz Großmama hebt die Tafel auf! Ich verlasse mich ganz fest auf Sie – Sie schreiben in meinem Sinn, und wenn Sie die Antwort haben, dann melden Sie sich, bis dahin werde ich hier schon etwas Boden gewonnen haben. Ich habe Ihr Versprechen? Vielen Dank! Ich wußte es ja, Sie würden mir helfen!“
In Königsberg, oben in Ostpreußen, machte wieder einmal der Winter Gebrauch von seinem alten Vorrecht, früher da zu sein, als er im Kalender stand. Man schrieb den fünften Dezember und hatte bereits klingenden Frost, dem ein wildes Schneegestöber und ein steifer Nordwest vorangegangen waren. Jetzt lag es weiß und still auf Häusern und Straßen der alten Festungsstadt, ein hellblauer Frosthimmel spannte sich darüber aus, und eine fast spöttisch lachende Wintersonne warf ihren grellen Glanz in die Schneepracht und entlockte ihr ein augenblendendes Flimmern und Funkeln wie van Milliarden haarscharf geschliffener Brillanten.
Oberlehrer Claassen schritt auf seine Wohnung zu. Er kam aus dem Gymnasium, hatte einen Pack Hefte, mit einem Lederriemen zusammengeschnürt, unter dem Arm und den Bibekragen seines Pelzes hoch um sein Gesicht aufgeschlagen. Sein Athem ging wie eine kleine Dampfwolke vor ihm her – wenn sie sich zertheilte,
[600][601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] sah man sein heiteres Gesicht mit dem bereiften blonden Backenbart und der goldgefaßten Brille. Zuweilen riß ein Schüler die Mütze vor ihm ab, dann hob er die Rechte bis zum Rand der Biberkappe und nickte freundlich. „Morgen, Morgen, mein Jungchen!“
Das Haus, in dem er wohnte, lag in der Burgstraße; ein hübsches Haus war’s mit einem geräumigen Treppenflur, bunt gestreiften Läufern über den Stiegen und stattlichen Spiegelglasscheiben. Im untersten Stock wohnte ein Graf zu Woyna, Rittmeister bei den Kürassieren, mit seiner Familie. „Brauch’ ich alles!“ pflegte der Oberlehrer zu seinen guten Bekannten zu sagen. „Ich brauch’ die gute Gegend, die geräumige Wohnung im ersten Stock, die bunten Decken, die Spiegelglasfenster, ich brauch’ auch den Grafen. Wer höhere Töchter aus den besten Familien des Landes in Pension nehmen will, der muß auch etwas dransetzen können, den betreffenden Müttern und Tanten Sand in die Augen zu streuen. Mein Graf ist feudaler Goldsand, Sie glauben nicht, wieviel er mir nützt, obwohl er die Ehre meiner persönlichen Bekanntschaft nicht genießt und wir höchstens ’mal einen Gruß im Flur austauschen: er als vornehmer Kavalier, ich als gekrümmter Wurm! Wenn er einmal auszieht, zieh’ ich auch aus – ich bin entschlossen, mich an seine Fersen zu heften, solange er unsere gute Stadt mit seiner Anwesenheit beehrt!“
Doktor Claassen war eine humoristisch angelegte Natur. Seine Schüler wußten das zu würdigen, sie nannten ihn einen „gemüthlichen Kerl“, ein „famoses altes Haus“ und lernten im Ganzen gern „für ihn“ – denn der Untertertia, in welcher er Klassenlehrer war, wollte es immer noch nicht recht einleuchten, daß man für sich selbst und nicht für den Lehrer lerne. Auch in einer Mädchenschule unterrichtete der strebsame Herr, und er erlebte den Triumph, mit der schwer zu behandelnden Menschengattung der „höhern Tochter“ ebenfalls gut zurechtzukommen. Er ließ hier weniger seine launige Gemüthlichkeit als das feinere Kaliber der geistreichen Ironie, der schlagfertigen Andeutungen und Vergleiche spielen und galt allgemein für einen Mann, dessen Kritik man zu fürchten, um dessen Beifall man zu ringen habe. Oberlehrer Claassen hatte kein leichtes Leben, aber er trug nicht schwer daran und konnte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen, „aus der unscheinbarsten Blume seinen Honig schlürfen“.
Er war jetzt in seinem Hause und schritt die Treppe empor. Während er die Vorthüre mit einem Schlüssel öffnete, lauschte er dem Klavierspiel, das aus dem Salon zu ihm herüberklang; die erste Nummer der Schubertschen „Moments musicals“. Der Anfang ging gut – aber schon nach sechs, acht Takten kam ein böses Stolpern und Stocken; unentwegt jedoch fing die Spielerin wieder von vorne an, um abermals an derselben Stelle festzusitzen.
„Das ist die Elfriede Braun!“ murrte der Doktor vor sich hin. „Uebt nichtswürdig! Alle üben sie so!“
In diesem Augenblick erhob sich ein großer Lärm im Wohnzimmer, die Thüre that sich auf und heraus stürzten, purzelten und kegelten drei Jungen im Alter von vier bis sieben Jahren, alle drei gleich in dunkelblaue Matrosenanzüge gesteckt, alle drei mit blondem rundverschnittenen Haar und rosigen Apfelgesichtern.
„Du, Papa, heute giebt’s Chokoladenspeise!“ – „Ach, Du, Papa, denk’ Dir, die Mama hat uns nicht erlaubt, auszugehen!“ „Du, Papa, wie kalt ist’s denn aber draußen?“
„So kalt!“ entgegnete Papa, griff sich den fünfjährigen Fragesteller heraus, hob ihn hoch und drückte dessen warmes flaumiges Gesichtchen gegen seine eiskalten Wangen und den nassen bereiften Bart.
„Pfui, Papa!“ Das Bübchen zappelte heftig mit Armen und Beinen, während der Kleinste im Triumph rief: „Siehst! Was fragst Du!“
„Nun los, Jungens! Eins – zwei – drei!“
Auf dies Kommando entwickelte sich eine lebhafte Thätigkeit. Der Vater mußte sich bücken und wurde aus dem Pelz geschält, die Mütze wurde ihm vom Kopf, das Heftpaket aus der Hand genommen, Hausrock und warme Schuhe erschienen mit märchenhafter Schnelligkeit, der älteste lieh mannhaft seine Schulter als Stütze her, während Papa sich die Stiefeln auszog – kurz, die „Heinzelmännchen,“ wie Oberlehrer Claassen seine Söhne gern nannte, thaten ihre Schuldigkeit.
„Wie lange Zeit noch bis Mittag, Kurt?“
„Eine Viertelstunde, hat Mama gesagt!“
„Schön! Briefe für mich da?“
„Einer! Liegt auf Deinem Schreibtisch!“
„Bonus! Abtreten!“
Die Heinzelmännchen verschwanden mit einigem Lärm.
In seinem gemüthlichen Studierzimmer, das, wie die Hausfrau zu sagen pflegte, „meistens mit Büchern möbliert war“. schritt der Hausherr zunächst zum Ofen, hauchte in die kalten Hände und wärmte sich. Dann nahm er seinen Brief vom Schreibtisch.
Die Lektüre verursachte ihm einiges Kopfschütteln; er las, las noch einmal – „er muß verrückt geworden sein“, sagte er zuletzt vor sich hin.
„Wer denn, um Gotteswillen?“
Frau Melanie Claassen hatte sich geräuschlos im Zimmer eingefunden – eine kleine zarte Frau mit einem feinen Gesicht, das einen etwas bänglichen sorgenvollen Ausdruck zu tragen pflegte, recht im Gegensatz zu ihrem Gatten, der immer so vergnügt und zufrieden dreinsah, als sitze er ganz breit dem Glück im Schoße. Es war zu verwundern, daß das Freifräulein von Berg vor nunmehr zehn Jahren den muthigen Entschluß gefaßt hatte, sich lieber mit ihrer ganzen Familie – Vater, Bruder und zwei hochmüthigen Schwestern – zu überwerfen, als von ihrem Gustav zu lassen. Sie hatte aber daheim wirklich kein beneidenswerthes Dasein geführt; ihr Vater hatte ungeheuer hohe Begriffe von seinem Rang und Namen und wünschte, „standesgemäß“ auf Schloß Berg zu leben, während das Gut so tief verschuldet und die Kunde davon so weit verbreitet war, daß es mit dem Kredit des Freiherrn schlimm aussah – es gab Leute in der Nachbarschaft, die mit allen Eiden schworen, in diese festgefahrene Karre, wie sie sich respektlos genug ausdrückten, auch nicht einen Pfennig zu stecken. So saß der Freiherr beständig in peinlichen Verlegenheiten, aber seine großen Ansprüche und seinen sprichwörtlich gewordenen Hochmuth aufzugeben, das fiel ihm darum doch nicht ein, ebensowenig seinen zwei ältesten Töchtern, die ein starkes Standesbewußtsein im Busen trugen und beständig an Melanie, der jüngsten, herumtadelten, weil sie „demokratische Neigungen“ zeigte. In diese schwüle Luft kam der junge Kandidat Claassen, der bei dem einzigen Sohn und Erben des Freiherrn die ehrenvolle Stellung eines Hauslehrers auszufüllen berufen war, wie ein frischer kräftiger Windstoß. Der Freiherr und die beiden ältesten Töchter entsetzten sich über diesen Wirbel, der junge Detlev aber und die pflichtvergessene Melanie wirbelten lustig mit, ja, letztere trieb die Geschichte so weit, sich sterblich in den jungen Dozenten der allgemeinen Menschenrechte zu verlieben und ihm zu gestatten, ihr gegenüber dasselbe zu thun. Dann gab es schreckliche Auftritte auf Schloß Berg; Auftritte, in welchen der empörte Hausherr umsonst versuchte, dem „plebejischen Menschen“ begreiflich zu machen. daß es ihm gar nicht erlaubt sei, sich so ohne weiteres in die Freiin Melanie zu verlieben. Der „Plebejer“ hatte die Keckheit, zu entgegnen, ob erlaubt oder nicht, es sei einmal geschehen, sein Gefühl werde erwiedert, und er gedenke die Unverschämtheit so weit zu treiben, das hochgeborene Freifräulein von Berg zur einfachen Frau Oberlehrer Claassen zu machen. Darauf erfolgte ein väterliches Entweder – Oder. Die ungerathene Tochter wählte das letztere und zog einstweilen zu Gustavs alter Mutter, einer gemüthlichen Kanzleirathswitwe. Da der junge Mann als tüchtige Lehrkraft galt und gute Verbindungen hatte, so konnte sie nach Jahresfrist den neuernannten Oberlehrer heirathen, um sich an seiner Seite schlecht und recht durchs Leben zu schlagen. Bei der Geburt des ersten Kindes hatte es eine Art von Versöhnung mit der Familie der jungen Frau gegeben, die indessen sehr oberflächlicher Natur war – der Vater war nicht dazu zu bewegen, seinen freiherrlichen Fuß in die bürgerliche Wohnung des Eidams zu setzen, und so bildete nur ein äußerst spärlicher Briefwechsel zwischen Melanie und ihren Schwestern einen losen Zusammenhang. Keine Minute bereute es die junge Frau, ihrem Gatten gefolgt zu sein, sie liebte ihn und war glücklich; allein sie machte sich endlose Sorgen um ihre Zukunft und die ihrer Kinder, ängstigte sich leicht und nahm den heitern Trost ihres Gatten, der nie den Kopf verlor, etwas reichlich in Anspruch.
Auch heute mußte sie ähnliches wollen, denn trotzdem sie den Liebling der ganzen Familie, das kaum zweijährige Gretchen, ihr Nesthäkchen und einziges Töchterlein, auf dem Arme trug, blickten ihre Augen sorgenvoll, und auf der glatten Stirn unter dem schllcht gescheitelten Haar saß eine Kummerfalte.
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Das Observatorium auf dem Mont Blanc.
Die Wissenschaft, von der es eine Zeit lang schien, als habe sie ihr Auge von den Bergen abgewendet, schickt sich neuerdings wieder an, zu denselben zurückzukehren. Freilich galten früher ihre Forschungen dem Boden und seiner Gestalt und den darin aufgespeicherten organischen und anorganischen Körpern, während heute das Himmelsgewölbe es ist, das von jenen Höhen aus studiert werden soll.
Doch ist es nicht etwa der Wunsch, den Gestirnen näher gerückt zu sein, welcher den Gedanken erzeugt hat auf hohen Bergen Observatorien zu gründen. Denn selbst angenommen, daß es gelänge, eines jener Riesenfernrohre, deren sich die neuere Astronomie bedient, auf den höchsten Berggipfel der Erde zu bringen, so wollten die acht Kilometer, die man damit den Sternen näher gerückt wäre, im Vergleich zu der Entfernung, die immer noch zwischen ihnen und uns läge, nichts bedeuten; selbst der Mond, der unserer Erde doch am nächsten ist, wäre damit den Beobachtern nur um zwei Hunderttausendstel näher gebracht.
Der Grund für die Errichtung von Observatorien auf hohen Bergen ist vielmehr in dem Vortheil zu suchen, welchen die größere Reinheit und Dünne der Luft den Forschungen bietet. Es bleiben dort alle jene Hindernisse aus der Atmosphäre entfernt, welche dem Beobachter in der Tiefe der Thäler und Ebenen sich entgegenstellen; nicht, daß sich der Mensch den Gestirnen selber, sondern daß er sich dem an die Atmosphäre unseres Erdballs sich anschließenden luftleeren Raume näher befindet, ist von Wichtigkeit.
Niederere Berge sind von der Wissenschaft schon seit einiger Zeit zu meteorologischen Beobachtungsstationen ausersehen worden, da von ihnen aus die Luftströmungen, unbeeinflußt von den verschiedentlichen Einwirkungen der Tiefe, sich wahrnehmen und messen lassen. Solcher meteorologischer Stationen bis zu einer Höhe von 3000 Metern über dem Meeresspiegel giebt es in Europa und Amerika bereits viele, und ihre Zahl ist jährlich im Zunehmen begriffen; aber für astronomische Forschungen im engeren Sinne sind sie nicht eingerichtet.
Bis jetzt besaß nur Amerika zwei Hochsternwarten, welche den Wünschen der Astronomen entsprachen. Es sind dies das Observatorium auf dem 1351 Meter hohen Berg Hamilton in Californien, nach seinem Stifter, dem Industriellen James Lick, häufig einfach „Licksternwarte“ genannt, und das der Harward Universität in Cambridge bei Boston, errichtet bei Arequipa in Peru auf einer Höhe von etwa 3000 Metern in außerordentlich reiner Luft. Jetzt aber soll das Beispiel von Amerika auch in Europa Nachahmung finden, und zwar ist als Ort für die erste europäische Gebirgssternwarte, welche, wenn die Witterungsverhältnisse es erlauben in diesem Jahre noch eingeweiht werden soll, kein geringerer als der höchste Berg Europas, der Mont Blanc, ausersehen.
Dieses Projekt verdankt seine Entstehung den Forschungen, welche Professor Janssen, Direktor der Sternwarte von Meudon bei Paris, seit dem Jahre 1888 über die Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre unternommen hatte. Um festzustellen, ob gewisse Erscheinungen, welche das Sonnenspektrum von der Tiefebene aus darbietet, dem Vorhandensein von Sauerstoff in der Sonnenatmosphäre zuzuschreiben seien, ober ob sie vielmehr von Sauerstoff herrühren, welcher in unserer von den Sonnenstrahlen durchkreuzten Erdatmosphäre enthalten ist, beschloß Janssen, auf erhabenen Punkten, welche eine geringere Dichtigkeit der Luft aufweisen, Beobachtungen hierüber anzustellen. Im Oktober des Jahres 1888 schaffte er seine Instrumente bis zu der Schutzhütte auf den Grands Mulets (3050 Metern), einer der Stationen auf dem Wege von Chamonix auf den Mont Blanc. Da er schon hier bemerkte, daß die in der Ebene wahrgenommenen Hohlstreifen, welche auf das Vorhandensein von Sauerstoff in der Sonnenatmosphäre zurückgeführt wurden, sich im Spektrum bedeutend abgeschwächt hatten, so regte sich in dem Gelehrten natürlich der Wunsch, noch höher zu steigen, um zu sehen, ob mit zunehmender Höhe des Beobachtungspostens die Streifen nicht noch mehr an Stärke abnehmen würden und damit der Beweis für die Irrigkeit der bis dahin aufrecht erhaltenen Annahme sich erbringen ließe.
Aber den 64jährigen und an die Strapazen des Bergsteigens nicht gewöhnten Gelehrten hatte die Besteigung der Grands Mulets, obgleich er, wo es anging, sich einer Art Sänfte bediente, schon so sehr mitgenommen und seine körperlichen Kräfte so geschwächt, daß auch die geistige Arbeit ihm äußerst mühselig wurde. Er sah daher die Unmöglichkeit ein, noch den Gipfel des Mont Blanc, der 1800 Meter höher ist als die Grands Mulets, zu erreichen, zumal da er die Sänfte längs der fürchterlich steilen Abhänge, welche im letzten Theil des Anstiegs zu überwinden sind, nicht mehr hätte benutzen können.
War aber auch bei diesem ersten Versuch seine Körperkraft erlahmt, so erlahmte deswegen seine geistige Thatkraft noch nicht. Während des darauffolgenden Winters ließ er sich nach dem Modell der Grönländer eine Art Schlitten, aber ziemlich länger, bauen, der seitwärts mit einem dauerhaften Geländer versehen wurde. Vorn an demselben befand sich eine Strickleiter mit hölzernen Sprossen, an denen die Bergführer das wundersame Fahrzeug hinter sich her in die Höhe ziehen sollten.
Am 17. August 1890 begann der Aufstieg von Chamonix. Die Strecke bis zu den Grands Mulets wurde wiederum in einer Sänfte von Janssen zurückgelegt; doch war sie diesmal zwischen längeren Traghebeln und so befestigt, daß sie immer in senkrechter Lage verblieb.
Von den Grands Mulets an ging es im Schlitten weiter, der, von 22 Führern und Trägern gehoben und gezogen, ausgezeichnet sich bewährte. Ging es an steilen Abhängen hin, so wurde der Schlitten von einigen Männern, welche etwas tiefer sich aufstellten und das Seitengeländer unterstützten, in wagrechter Lage erhalten; auf den schmalen Kämmen wurde sein Gleichgewicht in ähnlicher Weise erzielt; ging es an den abschüssigen Wänden hinauf, so hieben die Führer ihre Aexte in das Eis ein und befestigten daran das Seil, welches das Ende der Strickleiter bildete.
So gelangte die Karawane wohlbehalten bis zu der Schutzhütte auf den Bosses (4367 Meter). Hier mußten sie vier Tage Rast machen, da ein fürchterlicher Sturmwind über die Alpen hinbrauste, der an Stärke demjenigen nichts nachzugeben schien, den [604] Janssen im Jahre 1874 an den Küsten Chinas miterlebt hatte und der einen Theil von Hongkong zerstörte. Am selben Tage fanden in nur geringer Entfernung von der Karawane Janssens drei Touristen, der Graf von Villanova mit zwei Führern, welche den Aufstieg von der Ostseite her unternommen hatten, in den Abgründen des Mont Blanc ihr eisiges Grab.
Auf dem Gipfel des Mont Blanc (4810 Meter), den Janssen am Morgen des 22. August endlich erreichte, konnte er einige Beobachtungen machen und zunächst feststellen, daß die absolute körperliche Ruhe, in welcher er während des ganzen gewiß auch für ihn nicht ungefährlichen Aufstiegs verharrt hatte, ihm die Arbeit außerordentlich erleichterte. Aber die kurze Frist, die ihm für den Aufenthalt dort oben vergönnt war, und die Gewißheit, daß bei längerem Verweilen auf dieser Höhe Fragen von der höchsten Wichtigkeit ihrer Lösung näher gebracht werden könnten, reiften in ihm vollends die Ueberzeugung, daß hier ein dauerhaftes Gebäude errichtet werden sollte, in welchem Forscher und Instrumente Unterkommen finden könnten.
Der Kostenpunkt machte keine Schwierigkeit. Nach Paris zurückgekehrt, fand er sofort bei verschiedenen reichen Gönnern der Wissenschaft offenes Gehör, so bei Prinz Roland Bonaparte, bei Bischoffsheim, dem Gründer der Sternwarte von Nizza, bei dem Ingenieur Eiffel und bei Baron Rothschild.
Im Jahre 1891 suchte man nun zunächst unter der Schneedecke des Berggipfels den harten Felsen, auf welchem die Grundlagen des Gebäudes ruhen sollten. Man grub 15 Meter unterhalb des Gipfels zwei Tunnel aus, die wagrecht gegen Südosten fortgeführt wurden, aber man fand keinen Felsen, sondern nur körnigen Schnee. Noch tiefer in die Eisdecke einzudringen, schien unnöthig; denn wenn man auch schließlich den Felsgrund gefunden hätte, so wäre derselbe doch zu tief gelegen gewesen, um ohne ganz außerordentliche Kosten das Gebäude von ihm aus durch den Schnee und das Eis hindurch bis an die Oberfläche und über dieselbe hinaus zu führen. Janssen dachte deshalb daran, dasselbe einfach auf der Schneekruste selber zu erbauen, zumal da die verschiedenen Beschreibungen des Gipfels, welche bis zur ersten Besteigung zurückreichen, erkennen ließen, daß dessen Schnee- und Eisdecke nur ganz unbedeutenden Verschiebungen unterliegt.
Um jedoch noch sicherer zu gehen und festzustellen, ob der schneeige Untergrund unter dem Gewicht des zu errichtenden Gebäudes nicht weichen werde, machte Janssen während des Winters in Meudon folgenden Versuch: er schichtete Schnee so auf, daß derselbe die Dichtigkeit des auf dem Mont Blanc befindlichen bekam, und da ergab sich nun, daß der Schnee dem Druck einen ganz ungewöhnlichen Widerstand leistet. Eine Bleisäule mit 35 Centimeter Durchmesser und 880 Kilogramm Gewicht, aufrecht auf den Schnee gestellt, hinterließ auf dessen Oberfläche eine nur 7 bis 8 Millimeter tiefe Spur. Der Schnee erträgt also auf jeden Quadratmeter eine Belastung von 3740 Kilogramm, fast ohne darunter zu weichen.
Die Frage der Festigkeit des Untergrundes war damit gelöst, und es blieb nur noch übrig, die gehörige Widerstandsfähigkeit des Gebäudes gegenüber den Windstößen zu erreichen. Diese sollte dadurch angestrebt werden, daß man den Wänden eine leichte Neigung nach einwärts gab, so daß das Gebäude die Form einer stumpfen Pyramide bekam, und indem man außerdem die Basis, den Unterstock des Hauses, tief in den Schnee eingrub, so daß es schwerlich, selbst nicht von starkem Winde, aus seiner Grundlage herausgerissen werden konnte.
Nachdem so die Vorbedingungen für den Bau genügend geklärt waren, ward im Jahre 1891 ein kleines Modell konstruiert und auf die Spitze des Mont Blanc gebracht, wo es sich voriges Jahr in gutem Zustand und gewissermaßen unverrückt noch vorfand. Unterdessen ward an dem richtigen Observatoriumsgebäude rüstig gearbeitet. Schon im vorigen Sommer war es fertig und wurde sofort nach den Grands Mulets gebracht. Von dort wird es nun vollends auf die Höhe befördert, um endgültig in dem ewigen Schnee aufgeschlagen zu werden. Unser Bild stellt das Gebäude so dar, wie es, noch ohne Verkleidung der Wände, in Meudon aufgeschlagen war, ehe es nach Chamonix gebracht wurde.
In einem Berichte an die Pariser Akademie der Wissenschaften giebt Professor Janssen davon folgende Beschreibung: „Das Gebäude besteht aus zwei Stockwerken mit einer Terrasse und einem Balkone. Es hat die Form einer stumpfen Pyramide, deren Grundfläche, die in den harten Schnee eingelassen werden soll, 10 Meter in die Länge und 5 Meter in die Breite mißt. Die Zimmer des Erdgeschosses werden durch niedere, aber breite Fenster erhellt, welche über den Schnee zu liegen kommen. Der Oberstock wird für Beobachtungszwecke dienen. Die Mitte des Gebäudes nimmt eine Wendeltreppe ein, welche über die Terrasse hinausgeht und auf eine kleine zu meteorologischen Beobachtungen bestimmte Plattform führt. Das Gebäude hat doppelte Wandungen zum Schutze vor der Kälte; ebenso besitzt es besondere Vorsatzfenster, die hermetisch schließen. In dem Erdgeschoß mit gleichfalls doppelten Wänden befinden sich Fallthüren, welche es ermögliche, in die darunter liegende Schneemasse hinabzudringen und, falls eine Verschiebung der Grundpfeiler sich ergeben sollte, die nöthigen Verbesserungen auszuführen. Das Observatorium wird mit Heizapparaten und dem nöthigen Mobiliar ausgestattet werden, um es bewohnbar zu machen. Es wird einen internationalen Charakter haben und allen offenstehen, welche daraus für ihre Beobachtungen Nutzen ziehen wollen.“
Diese letztere Versicherung ist dieser wahrhaft glänzenden Unternehmung würdig. Es ist ein schöner Gedanke, daß es hoch über den verschiedenen Staaten Europas und allem, was sie trennt, ein Hüttchen geben soll, wo ihre Söhne als reine Vertreter des ganzen Menschengeschlechts im Suchen nach der Wahrheit sich brüderlich die Hand reichen können, und daß dieses Hüttchen auf dem unbefleckten Gipfel erstehen soll, welcher mit der uns alle gleichermaßen bescheinenden Sonne den ersten Morgen- und den letzten Abendgruß tauscht!
[605]
Das schöne Limonadenmädchen.
Die Geschichte, die ich heute erzählen will, ist keine erdachte, keine Kunstnovelle. Lieber als die Gestalten, die ganz aus der Phantasie entstanden sind, die sich bewegen und reden nach der Stimmung des Verfassers, wie der sich’s erträumt hat – schildere ich Personen, die wirklich gelebt, deren Herzen wirklich geschlagen, deren Lippen wirklich gelächelt haben. So erzähle ich denn auch dieses Geschichtlein nur nach, wie’s etwa ein alter deutscher Sänger gemacht hat, wenn er vor den Bildern in der Halle seiner Burg auf und abschritt an Wintertagen, während der „schriber“ in der tiefen Fenstermulde das Diktierte mit kunstvollen Buchstaben in das Pergament einzeichnete.
Von der Heldin dieser Erzählung las ich zum ersten Mal in dem Tagebuch, das der russische Generalstabsoffizier Moritz von Kotzebue während seiner französischen Gefangenschaft in den Jahren 1812 bis 1814 nieberschrieb. Mit bewundernden Worten schildert er da, wie er in dem „café des mille colonnes“, so genannt nach den Säulen, die sich endlos vervielfältigten in den reichen Spiegelwänden des Kaffeehauses, die schönste Frau getroffen habe, die er je in seinem Leben gesehen – das „schöne Limonadenmädchen“, von dem ganz Paris spreche, zu dem ganz Paris wallfahre. Meine Neugier war erregt. Die schönste Frau, die ein Offizier, der die ganze Welt durchwandert hatte, je gesehen! In meinem Geiste stellte sich ihr Bild mit dem berühmten Gemälde des „Chokoladenmädchens“ von Liotard zusammen und ward gleichsam eins mit demselben. Und ich gab nicht nach, bis ich die wirkliche Geschichte dieser wunderbaren Frau aus der Napoleonischen Zeit aufgestöbert hatte, die Geschichte, die ich nun erzählen will.
Das Haus, das einst Peter Paul Rubens in Antwerpen bewohnt hat, ist heute durch eine breite Mauer in zwei Theile getheilt. Der eine davon wurde in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts von einem Banquier bewohnt, der den guten Geschmack besaß, dem Gebäude jenes Aussehen zu lassen, das es noch aus der Zeit des Königs aller vlämischen Maler sich bewahrt hatte; nur die Ateliers waren verschwunden. Der Hintergrund des Gartens aber wies noch die kleine Hütte auf, in welcher einst Helene Fourment kühlen Schatten suchte, während Rubens inmitten seiner Schüler unter freiem Himmel malte und auf seinen Gemälden mit dem Licht und dem Glanz des hellen Tages wetteiferte.
In dem Flügel des Gebäudes, in dem der Banquier wohnte, herrschte der Reichthum und jene Behaglichkeit Flanderns, die sich seit Jahrhunderten so erhalten hat, wie sie uns aus den wohlthuenden Stimmungsbildern der holländischen und vlämischen Malerschule entgegentritt. Auf den Treppen lagen weiche Teppiche, an den Thüren hingen dunkelgetönte dicke Vorhänge herab; Wärmeöffnungen strömten eine behagliche Temperatur aus. Vorzüglich aber war das Wohnzimmer der Dame des Hauses ein wahres Nest von Behaglichkeit und Glanz. Ein Künstler hatte den Marmor des Kaminmantels gemeißelt. Das Spiegelglas über demselben ließ in einen wundervollen Wintergarten blicken, dessen grüne fremdländische Blattpflanzen gar hübsch abstachen gegen den wirbelnden Schnee des Wintertages draußen. Zugleich war dieser große Raum das Kleinodienkästchen für die schönsten Kunstwerke des Hauses; unter den kostbaren Bildern berühmter Mater der Blüthezeeit sah man da auch verschiedene Familienporträts aus dem Stamme der Rubens.
Wer in dieses Zimmer trat, mußte sich wohl fragen: wie kommt der Bewohner dieser Räume zu all den Familienstücken hier? Und der Fremde, der die Fassade des Hauses in Begleitung seines Antwerpener Führers betrachtete, fragte den letzteren sicherlich: „Wie kommt es, daß man den Herrn Banquier van Eyckens in einem Hause wohnen läßt, das eigentlich ein Heiligthum der alten Künstlerstadt und in öffentlichem Besitz sein sollte?“ Und die Antwort würde gelautet haben: „Weil dieses Haus und diese Bilder ein Erbtheil der jungen schönen Gattin des reichen und stattlichen Geldfürsten sind. Denn sie hieß als Mädchen Pauline Rubens und ist eine Ur-Urenkelin des Malerfürsten.“
Madame van Eyckens war wirklich werth, ein Nachkomme des Künstlers zu sein, dessen Ideal die Schönheit und die Lebensfreude war. Wie sie jetzt am Kamin ihres winterdunklen prächtigen Zimmers stand, glich sie ganz den Heldinnen jener Bilder aus der Zeit der vlämischen Kunstblüthe. Ihr gelblichweißes Atlaskleid, die purpurrothe, mit weichem weißen Pelzwerk besetzte Jacke, der wunderbar schöne Kopf mit den sammetschwarzen sanften mandelförmigen Augen, den schöngeschwungenen Lippen, dem reichen dunkelglänzenden Haar – das alles wirkte zusammen zu der überwältigenden Schönheit dieser Erscheinung. In die knisternden Falten des Atlaskleides hatte sich ein kleiner vierjähriger Knabe geschmiegt, mit den langen Seidenlocken der deutschen Märchenprinzen. Auch der Gatte der schönen Frau, der Großhändler und Geldmann van Eyckens, war da – ein noch junger Mann, in seiner Stattlichkeit der bewunderten Gattin wohl ebenbürtig. Aber sein wohlgebildetes Antlitz war jetzt verstört und gleich dem seiner Gattin totenbleich.
„Unmöglich!“ rief Pauline van Eyckens mit zitternder Stimme. „Alles soll verloren sein? Alles? So plötzlich?“
Er rang die Hände und warf sich in die Damastkissen des Sofas, als lasse er sich in einen Abgrund fallen – so erschöpft, so außer sich, so ohne Fassung. „Plötzlich? Ach, ich hatte Dir den langsamen Weg abwärts verschwiegen, Pauline! Ich habe gekämpft und gekämpft, bis endlich das ganze unterwühlte Gebäude unseres Glanzes, unseres Reichthums und – meiner Ehre über uns zusammengebrochen ist!“
[606] „Deiner Ehre? Das darf, das kann nicht sein!“ rief sie heiser, sich stolz aufrichtend, ihre Hand wie in gebieterischer Abwehr ausgestreckt, die schwarzen Augen flammend.
„Ach, was versteht Ihr Frauen davon!“ entgegnete er mit der Rücksichtslosigkeit, welche das Unglück in schwachen verwöhnten Glückskindern wachruft. Und Herr van Eyckens war ein Schwächling trotz all seiner glänzenden Eigenschaften; er war es in demselben Grade, in dem seine zarte junge Frau stark und tapfer war. „Verlust über Verlust hat mich getroffen,“ fuhr er grollend fort. „Ein Unglück zieht da das andere nach sich – wo sich erst ein Mörtelstückchen loslöst, klafft bald eine Lücke. Dann kam das Schreckliche – die Handelsschiffe, die mir zu Grunde gingen. Ich mußte suchen, die Lücke wieder auszufüllen, ich spekulierte – spekulierte gewagt, tollkühn, wie eben ein sinkender Mann spekulieren muß. Ich setzte die Gelder anderer dran, um mich, um uns vielleicht dennoch zu retten – nun ist alles verloren! Nur schleunige Flucht kann mich vor dem Gefängniß, vor einer entehrenden Verurtheilung retten. Flucht! Was rede ich von Flucht! Sterben muß ich!“ Und er vergrub sein Gesicht in die verschlungenen Arme, in die Polster des Sofas, und ein lautes Stöhnen schien ihm die Brust zersprengen zu wollen.
Jetzt aber lag sie auch schon neben ihm auf den Knien; ihre weißen Arme umklammerten ihn und hielten ihn fest, fest, als wollte sie einen Versinkenden aus brandenden Fluthen emporhalten mit Aufwendung aller ihrer Kräfte. „Sterben?“ keuchte sie. „Du, Du, Georg? Dein Weib verlassen und Dein Kind? Unseren Adrian? Das kannst Du nicht wollen, das wäre feig, und Du bist nicht feig, Du bist es nicht, wie könnte ich Dich sonst so lieb haben!“ Und auch ihr Schmerz zerfloß jetzt in Thränen. Aber sie besaß ein tapferes muthiges Herz, diese mädchenhafte Frau von zwanzig Jahren, die man fast noch für ein Kind hätte halten können; sie richtete sich entschlossen auf. „Es muß einen Ausweg geben, eine Rettung!“
„Es giebt keine!“ erwiderte ihr Gatte tonlos. „Kaum daß es mir geglückt ist, Deine Mitgift zu retten aus dem allgemeinen Zusammenbruch. Du brauchst nur die Schriften zu unterzeichnen, die ich hier mitgebracht habe, und Dich auf unseren Heirathsvertrag zu berufen ...“
„Wie, Georg? Ich sollte wohlhabend bleiben, während Du in Schande und Tod getrieben wirst? So also verstehst Du unsere Vereinigung, die Treue, die wir einander gelobt haben? Du redest von meiner Mitgift – Gott gebe, daß die halbe Million genügt, um die Gelder, die Dir anvertraut waren, zu decken, Deinen Namen rein zu erhalten! Warum willst Du diesen Ausweg nicht? Ich habe Deinen Reichthum getheilt und werde fortan Dein Elend theilen. Du darfst nicht sterben, Georg! Wir geben den Gläubigern, was wir besitzen, und sagen ihnen, daß wir arbeiten wollen – arbeiten ohne Unterlaß, Tag und Nacht, bis wir die letzte Schuld getilgt haben. Der Himmel wird uns Muth und Kraft dazu verleihen, Geliebter!“
„Aber das Elend, die Armuth, die Schande, Pauline . . .“
„Armuth ist noch nicht Schande!“
„Und unser Kind?“
„Unser Kind? Wir werden ihm einen ehrlichen Namen hinterlassen, das wird mehr sein als Gold. Wir werden ihn arbeiten lehren, an ein stilles fleißiges Leben gewöhnen. Das übrige ist Gottes Sache!“
„Aber ich kann dieses Opfer nicht von Dir annehmen! Ich allein bin der Schuldige, ich allein muß die Folgen meines Leichtsinns oder meines Irrthums tragen! Du darfst es nicht. Du nicht!“
Sie lächelte – eine rasche Bewegung und die Schriften, die sie vom Tische genommen hatte, flatterten zerrissen in das Feuer des Kamins, in diese ruhige behagliche Flamme, umrahmt von dem künstlerischen Marmorgewinde.
„Pauline!“ rief er.
Sie antwortete nicht, sondern klingelte.
Frau Hinrik, ihre Kammerzofe, trat ein, eine echte vlämische Erscheinung: groß und stark, nichts weniger als anmuthig; alles bei ihr ging in die Breite. Die Haare hatte sie so straff nach hinten gestrichen, daß es schien, als hätten sie die Augenbrauen in die Höhe gezogen – wenn man die blonden Schatten über den rehbraunen runden Augen überhaupt so nennen konnte. Ihr Stumpfnäschen schaute aus dem weißen Gesicht munter und zugleich erstaunt in die Welt. Ihre Schürze, ihr Krägelchen, ihre Manschetten waren immer so blendend weiß, daß es den Eindruck machte, als rieche die ganze Person nach Waschtag und Plätteisen.
„Frau Hinrik,“ sagte Pauline gefaßt, „wissen Sie, wann vom ‚Goldenen Lamm‘ der Stellwagen nach der französischen Grenze abfährt?“
„Um sieben Uhr, Madame.“
„Dann gehen Sie sogleich hin und lassen zwei Sitze vormerken. Zwei Innensitze!“
„Zwei Innensitze?“ fragte die Hinrik erstaunt und gedehnt.
„Ja. Hören Sie denn nicht? Auf was warten Sie noch?“
Die Hinrik ging schweigend hinaus, und bald darauf sah man sie mit einem dicken Tuch über Kopf und Schultern durch das Schneegestöber der Gegend zutraben, wo sich der Gasthof zum „Goldenen Lamm“ befand.
„Unsern Adrian werde ich auf dem Schoß halten,“ sagte Frau van Eyckens lächelnd zu ihrem Gatten, als die Dienerin sich entfernt hatte. „Wir haben noch den ganzen Nachmittag Zeit. Ich packe rasch einen Koffer mit Wäsche und den nöthigsten Kleidern. In meiner Sparbüchse – ach, es ist das tönerne Büchschen, das mir Adrian vom letzten Jahrmarkt mit nach Hause brachte! – befinden sich viertausend Franken, die ich mir nach und nach von meinem Nadelgeld erspart habe. Das ist das einzige Geld, das wir mit gutem Gewissen mitnehmen dürfen. Und Du, Georg, fasse Muth! Besprich Dich mit Deinem ersten Buchhalter! Herr Goevaert ist klug und treu – er muß die ganze Lage des Geschäftes erfahren. Gieb ihm eine Generalvollmacht und laß die Urkunde aufsetzen, in der ich meine Mitgift Deinen Gläubigern überlasse. Die Veröffentlichung unseres Ruins darf uns nicht mehr hier treffen. In Frankreich, in Paris lassen sich die Ereignisse besser abwarten. Und sollte Deine Anwesenheit hier nothwendig werden, so kannst Du immer wieder zurückkehren.“
Eine wunderbare Entschlossenheit war über sie gekommen und sprach aus jedem ihrer Worte. Georg van Eycken fügte sich in allem den Anordnungen seiner Gattin. Mit dem Reichthum schien seine ganze Thatkraft, sein ganzes vornehmes Selbstbewußtsein verschwunden zu sein. Es giebt Menschen, die nur in der Treibhauswärme des Ueberflusses leben können, die nur da Halt und Ansehnlichkeit bewahren. Kommt die Armuth, so legt sie sich tödlich über sie wie Frühlingsfrost über Blüthen.
Es war schon finster und die Laternen warfen ein kümmerliches Licht über die Straßen, als der Stellwagen dem Stadtthore zu holperte. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß sich die beiden Gatten mit ihrem Kind allein in dem Gefährt befanden. Als der Wagen aus dem Thore rollte, brach der junge Banquier wie in sich selber zusammen und schluchzte auf. Seine Gattin zog ihn an sich, lehnte das Haupt des Unglücklichen an ihre Schulter und setzte den Knaben auf den Schoß dieses verzagten vernichteten Mannes mit der reckenhaften Gestalt und dem verzweifelnden Herzen.
„Der Himmel wird uns nicht verlassen,“ sagte sie mit sanfter Stimme, „denn wir haben unsere Pflicht gethan.“
Nach langer mühseliger Fahrt kamen die Flüchtlinge in Paris an und stiegen in einem bescheidenen Gasthaus ab. Nichts vermag so sehr die Traurigkeit des Gemüthes zu vermehren als diese kleinen kahlen Miethwohnungen, die sich dem ersten Besten öffnen, die ewig ihre Bewohner wechseln und deren schäbige und gebrechliche Möbel von dem Glückswechsel früherer Besitzer erzählen, von zwangsweisen Versteigerungen, bei welchen sie gesammelt wurden. Wie traurig war da die erste Nacht für die Drei! Van Eycken hatte fast keine Antwort auf die Ermuthigungen seiner jungen Frau, der kleine Adrian schmiegte sich ängstlich, verschüchtert an die Mutter, und Pauliue mußte all’ ihre Kraft zusammennehmen, um nicht selber zu verzweifeln und in einen Strom von Thränen auszubrechen.
Ueber die nächsten Wochen kann man kurz hinweggleiten. Der Kampf mit dem Leben begann. Pauline suchte und fand in einer Vorstadt eine kleine, im vierten Stockwerk gelegene Wohnung, die nicht allzu theuer war und im Sommer wenigstens den Blick auf das Grün der benachbarten Gemüsegärten freilassen mußte. [607] Und nun, nachdem sie wieder ein nothdürftiges Heim besaßen, galt es, nach Arbeit zu schauen. Und das Glück gönnte ihnen einen bescheidenen Sonnenstrahl. Sie fanden beide Beschäftigung bei einem Kaufmann, dem Georg die Bücher führen sollte, während seine Frau Stickereien und Toilettearbeiten anzufertigen hatte. Daneben versah die muthige Frau noch die kleine Wirthschaft und that alles, was die Sorge für ihr Kind irgend erforderte.
Während das Ehepaar sich so in die Armuth einzuleben versuchte, verbreitete sich in Antwerpen erst langsam und dann mit Blitzesschnelle die Nachricht von dem Sturz des großen Handelshauses und erregte einen Sturm von Unwillen und Angst. Denn obgleich Pauline ihr großes Erbe zur Masse geschlagen hatte, verloren die zahlreichen Gläubiger doch immer noch ein Viertel ihrer Forderungen. In Paris würde die edelmüthige Entsagung der jungen Frau, die ihre ganze Habe opferte, für eine Narrheit gehalten worden sein; in Antwerpen, wo noch patriarchalische Sitten herrschten, verwunderte man sich nicht einmal darüber. Für alle Antwerpener hatte Frau van Eyckens einfach ihre Pflicht erfüllt, und nicht einmal die Schuld oder die Unvorsichtigkeit ihres Gatten erschien diesen dadurch in einem milderen Licht. Die Gläubiger theilten sich in das ganze noch vorhandene Vermögen, ohne sich viel darum zu kümmern, daß Pauline und ihr Kind an den Bettelstab geriethen. Doch gelang es den Bemühungen einiger Freunde und vor allem dem selbstlosen Eifer des ersten Buchhalters, wenigstens die Ehre des Banquiers zu retten; die Gläubiger willigten in einen Vergleich, und der Bankerott wurde nicht gerichtlich erklärt. Das waren die Nachrichten, welche die beiden Gatten in Paris ereilten, und zwar durch einen unerwarteten Boten.
Eines Morgens nämlich, als Pauline, einen Korb am Arm, mit ihren kleinen Wirthschaftseinkäufen vom Gemüsemarkt nach Hause ging, müde von der Arbeitslast, die auf ihr lag, stieß plötzlich eine Frau, die von der entgegengesetzten Seite der Straße kam, einen Ruf der Ueberraschung aus. Freude und Bestürzung mischten sich in diesem Schrei. Es war Frau Hinrik, die getreue Hinrik, die in dieser Weise ihren Gefühlen Luft machte beim Anblick ihrer einstigen Herrin, welche wie eine Dienerin gekleidet ging und den plumpen Korb schleppte; die robuste, einfältige, aber goldherzige Vlämländerin konnte sich der Thränen nicht erwehren.
„Frau Hinrik! Sie hier in Paris?“ rief Pauline erstaunt.
„Ja, ich bin heute morgen angekommen“, antwortete die Magd halb schluchzend, halb lachend. „O, und wie gut ist’s, daß ich Ihnen nachgefolgt bin! Sie brauchen doch jemand, der Sie bedient! Du himmlische Güte, ich werde flennen müssen, so oft ich dran denke, wie ich Sie da wiedergefunden habe!“
„Sie – Du bist also nur unseretwegen hergekommen?“
„Warum denn sonst? Bin ich denn nicht bei Ihnen im Dienst, seit Sie auf der Welt sind? Habe ich Sie nicht schon als kleines Kind auf den Armen gehalten? Und kann ich denn leben ohne Sie, Madame? Ich sage Ihnen, vom Morgen bis in die späte Nacht habe ich geweint, seit Sie mich in Antwerpen allein zurückgelassen haben. Das Herz war mir stets voll zum Zerspringen. Zuletzt hab’ ich’s nicht mehr aushalten können. Ich habe den Herrn Buchhalter so lange gebeten, bis er mir die Adresse des gnädigen Herrn gab und den Weg sagte, den ich bis hierher zu nehmen hätte. Da hab’ ich mich denn auf die Reise gemacht und schon die Postkutsche bezahlen wollen, als mir einfiel, wir könnten vielleicht das Geld hier besser brauchen, und so bin ich statt dessen auf eigene Faust hergewandert, manchmal zu Fuß, manchmal auf einen Leiterwagen aufsitzend, wie sich’s eben traf. Der Weg war freilich lang und ich bin oft müde genug geworden, denn ich machte tüchtige Strecken, um nur desto eher bei Ihnen, bei unserem kleinen Adi und beim gnädigen Herrn zu sein. Na, bis hierher nach Paris ging’s gut trotz allem. Aber, Du lieber Himmel, seit ich in dieser verrückten großen Stadt bin, kenne ich mich nicht mehr aus! Ich verirre mich in den Gassen, und wenn ich rechts gehen soll, gehe ich just verkehrt. Zuletzt wußte ich gar nicht mehr wo aus und ein, bis ich da auf einmal vor Ihnen stehe! Ist das eine merkwürdige Geschichte! O, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich mich erst auf den kleinen Adi freue! Ich könnte wahrhaftig mitten auf der Straße zu tanzen anfangen!“
„Daheim kannst Du tanzen, soviel Du willst – da sind wir schon!“
„Und ich lasse Sie da immer den schweren Korb tragen! Wo hab’ ich meine Gedanken! Die Freude, daß ich Sie endlich wieder habe, macht mich ganz wirbelig!“
Und Frau Hinrik nahm ihrer jungen Herrin den Korb fast mit Gewalt ab und folgte ihr in das düstere kasernenartige Wohnhaus.
Im ersten Stockweck angekommen, blieb sie stehen. Pauline lächelte traurig und sagte: „Wir sind noch nicht am Ziel, es geht noch drei Treppen hinauf.“
„Die Häuser hier in Paris scheinen wahre Kirchthürme zu sein,“ rief die Hinrik, den Korb fester fassend und lustig weiterschreitend.
Die Anwesenheit der Frau Hinrik in der Familie van Eyckens brachte freilich eine Person mehr in die Kost, enthob aber die junge Frau der gröbsten Arbeiten und gestattete ihr, desto mehr Zeit auf ihre Stickereien zu verwenden und auf diese Weise das kleine Einkommen zu vermehren, von welchem sie jetzt leben mußten. Und dank ihrer Umsicht und dem fast krankhaften Geiz der Magd kam man eben durch. Frau Hinrik machte sich jedes Stück Brod, das sie aß, zum Vorwurf; wenn sie abends in die kleine Bodenkammer trat, die man für sie gemiethet hatte, zündete sie sich nicht einmal ein Lichtstümpfchen an. Bald übernahm sie noch im Hause die Bedienung mehrerer lediger Herren und von Zeit zu Zeit ließ sie irgend ein größeres Geldstück in die Tischlade ihrer Herrschaft gleiten und leugnete dann mit eherner Stirne, etwas davon zu wissen. Nur für ihren kleinen Adi wurde sie zu einer wahren Verschwenderin; sie ging nie mit ihm aus, ohne ihm eine Näscherei oder ein kleines Spielzeug zu kaufen, denn Adrian war ihr Stolz, ihr Abgott. Wenn die vierschrötige Vlämländerin mit ihrem „Adi“ an der Hand stolz und glücklich über die Gasse schritt, da kam ihr keine Königin gleich. Und als sie im Tuileriengarten einst zwei Damen davon sprechen hörte, daß die einzige anständige Gewandung für kleine Knaben ein Sammetkleidchen sei, da wurde sie von der fixen Idee erfaßt, Adrian müsse um jeden Preis in Sammet gehen. Sie arbeitete Tag und Nacht, strickte, stickte, that Dienste für alle Nachbarparteien, kroch förmlich vor den alten Junggesellen, bei denen sie aufräumte, um Extratrinkgelder zu erschmeicheln, und warf endlich eines Abends mit mürrischer Miene und hochroth vor Verlegenheit ein Stück Sammet auf den Tisch und sagte: „Da ist nun der Sammet zu dem Kleidchen für unsern Adi.“
Frau van Eyckens schaute erstaunt, fast bestürzt von ihrer Arbeit auf und sah bald den Stoff, bald die Magd an. „Was hast Du denn nur?“ Da fuhr die Hinrik fast giftig auf. „Nun freilich – wir können doch unser Kind nicht herumgehen lassen wie einen Betteljungen! Jeder anständige Knabe hat ein Sammetkittelchen – und Sie thun mir wirklich leid, Madame, wenn Sie das noch nicht wissen!“ Damit floh sie erbost aus dem Zimmer, und als Pauline ihr nacheilte, fand sie die treue Dienerin auf der Treppe zu ihrem Dachstübchen hockend, die blüthenweiße, brettsteife Schürze über den Kopf geschlagen, in herzzerbrechendem Schluchzen.
[608] Als Frau Hinrik am nächsten Morgen ins Wohnzimmer herunterkam, traf sie das Sammetkittelchen für den kleinen Jungen bereits fertig und ihn selber darin herumstolzierend. Pauline hatte die ganze Nacht daran gearbeitet, um der guten Seele die Freude zu machen, das Kind in seinem Staatsgewand schon am nächsten Tag in den Tuileriengarten führen zu können. Und Kindermagd und Kind stiegen an diesem Tag unter den in den Anlagen promenierenden Leuten umher wie ein großer und ein kleiner Pfau. So wenig ist nöthig, um zufrieden zu sein selbst im ärmsten Dasein.
Mitten in diesen bescheidenen Anfängen eines neuen Lebens traf ein zweiter entsetzlicher Schlag die arme junge Frau. Ihr Gatte hatte sich in den so völlig veränderten Verhältnissen nie von dem Unglück erholt, das ihn niedergeworfen: finster, hoffnungslos kam er seiner mechanischen Beschäftigung nach – immer tiefer in Entmuthigung und Trübsinn verfallend, bis sich diese eines Tages zum Wahnsinn steigerten. Er mußte in eine Heilanstalt gebracht werden und starb dort nach kurzer Zeit in Tobsucht. Seine Krankheit zehrte die letzten Mittel auf, die seiner Familie von früher noch geblieben waren.
Frau van Eycken hatte sich mit Ergebung, ja fast lächelnd, in die Armuth gefügt; aber das schreckliche Ende ihres Gatten brach ihre Kraft, ihren Muth. Sie erkrankte. Ihr ganzes Nervensystem schien zerrüttet, all ihr Lebensmuth war dahin. Sie verließ das Bett nicht; jeder Lichtstrahl, jedes Geräusch verursachte ihr die heftigsten Schmerzen, und das Elend, das nackte Elend zog ein in die kleine Wohnung und in das Dasein der Armen.
Ja, das nackte Elend hatte sich in der armseligen Stube eingenistet, welche Pauline mit ihrem Kinde noch bewohnte. Und diesem Elend mußte sogar die ängstliche vlämische Reinlichkeit weichen, die früher der Stolz der Frau Hinrik gewesen war; denn da sich die Magd in der Stube kaum regen durfte, ohne der Kranken lästig zu fallen, so legte sich der Staub langsam auf alles und jedes und verlieh der ganzen Wohnung das eintönige Grau der Vernachlässigung. Frau van Eycken beschäftigte sich mit gar nichts mehr; sie blieb gleichgültig gegen alles um sie herum und vermochte nicht einmal die einfachsten Aufträge zu geben, ohne sofort wieder die heftigsten Nervenschmerzen zu fühlen. Auf der guten Hinrik ruhte also die ganze Last der Arbeit und Verantwortung, und manchmal überkam die starke Frau ein solches Gefühl der Hilflosigkeit, daß sie nicht anders konnte, als den Nachbarinnen von links und rechts ihr Herz auszuschütten. Diese Nachbarinnen zögerten natürlich nicht, sich um jede Kleinigkeit zu bekümmern, die das Hauswesen der armen jungen Witwe betraf, ja sie drangen mit ihrem zudringlichen Bedauern, mit ihren Rathschlägen und Hausmitteln bis in die Krankenstube, und Pauline, hilflos, wie ihr Zustand sie machte, mußte das alles wie einen wirren Traum über sich ergehen lassen.
Zuweilen glimmte ein bewußter Gedanke in dem matten flügellahmen Geist der Kranken auf: gesunden – gesunden und arbeiten! Aber würde sie das jemals wieder können? Ach, nicht für sich bat sie den Himmel um Rettung, um Genesung, nur für ihr armes Herzensgut, für ihren kleinen Knaben.
Doktor Destrée, der Armenarzt des Viertels, der Frau van Eyckens behandelte, hatte veranlaßt, daß Adrian in eine Kleinkinderschule der Nachbarschaft aufgenommen wurde. Er predigte auch – freilich meist vergebens – gegen die Besuche der unruhigen und klatschsüchtigen Nachbarinnen. Denn alles, was er thun konnte, war, seine Patientin zu unbedingter Ruhe zu vermahnen und von der Zeit und dem Zufall die Genesung zu erhoffen, die im Gemüthe beginnen mußte.
Unter den Nachbarn, die manchmal in die Wohnung der schönen jungen Kranken kamen, befand sich auch ein kleines dürres altes Männchen aus dem „noblen“ zweiten Stockwerk. Herr Mussault – so hieß er – wurde von den Nachbarinnen der höheren Stockwerke wie ein Ausnahmewesen bewundert und beknixt, und obwohl er nicht viel redete und lieber zuhörte, wurde doch jedes seiner Worte wie ein Orakel aufgenommen. Das Geheimniß dieser Glorie und dieses Ansehens bestand in der Rente von zehntausend Franken, deren sich der Alte angeblich erfreuen sollte. Die Brille auf der Nase, ein gesticktes Hauskäppchen auf dem kahlen Scheitel, die Hände in den tiefen Taschen seines Hausrockes, saß er wohl in Paulinens Zimmer und hörte das Gewäsch der ungebetenen Besucherinnen mit so unzerstörbarem Gleichmuth an, daß man nicht wußte, ob er mit dem gelangweilten Interesse eines beschäftigungslosen Rentiers oder mit dem feinen Spott eines klugen Mannes zuhöre. Wie dem auch sein mochte – er wurde mit der Zeit ein stetiger Besucher der Frau van Eyckens und wurde fast als Hausfreund betrachtet. Er saß oft stundenlang da, nur manchmal irgend ein gleichgültiges Wort sprechend oder aus einer goldenen Dose eine ungeheure Prise nehmend, und dabei schien es doch, als ob er gleichsam warte. Aber auf was?
Es giebt Fischer, die stunden- und tagelang nach ihrer regungslosen Angelschnur sehen und mit unergründlicher Geduld auf das Fischlein warten, das den Köder verschlingen soll. Und es giebt Spinnen, die ohne Bewegung stunden- und tagelang in einem dunklen Winkel lauern und auf das leise Zittern ihres kunstreichen Gewebes harren, das ihnen anzeigt, eine Fliege mit goldschimmernden Flügeln habe sich in demselben gefangen. Und es giebt Bettler, die in ihrer schlechten Kammer im zerlumpten Bett Haufen von Goldstücken verborgen haben und dennoch stunden- und tagelang an der Landstraße hocken, in Sonnenbrand und Regen, mit heiserer Stimme ihr Elend betheuernd, bis es einem vorüberwandernden gutherzigen Handwerksburschen einfällt, von seiner eigenen fröhlichen Armuth ein mitleidiges Scherflein in den zerknüllten Hut des anscheinend noch Aermeren zu werfen.
So geduldig schien der alte runzlige Nachbar vom zweiten Stockwerk zu warten und zu lauern bei der bleichen hoffnungslosen Kranken. Aber auf was?
„Wer ist denn dieser Herr Mussault eigentlich?“ erkundigte sich mit der Zeit Doktor Destrée, der den Alten hie und da am Bett seiner Patientin getroffen hatte, bei einem in der Nähe wohnenden Bekannten, der stets über alles unterrichtet war.
„Wie, das wissen Sie nicht, Doktor?“ entgegnete der Allwissende verwundert. „Herr Mussault ist ja der Besitzer des Hauses.“
„Welches Hauses?“
„Nun, des Hauses, in dem er wohnt. Aber er will nicht dafür gelten. Er meint, es lebe sich ruhiger als ‚Partei‘.“
„Also ein Sonderling?“
„Etwas dergleichen, aber ein ganz vernünftiger und pfiffiger Sonderling. Er ist sehr reich und hat sich nach einem thätigen rastlosen Leben jetzt zur Ruhe gesetzt. Er ist, wie gesagt, Eigenthümer des großen Zinshauses, überläßt aber alle Geschäfte darin seinem verläßlichen ‚Intendanten‘ und lebt nur noch seinen Liebhabereien.“
„Was für Liebhabereien kann der Mann haben, der aussieht wie die verkörperte Langeweile!“
„Sie verkennen ihn, Doktor! Herr Mussault war in seinen jüngeren Jahren einer der bekanntesten und glücklichsten ‚Unternehmer‘. Er versuchte sich in allem, was Geld einträgt, war Spekulant, Impresario, Theaterdirektor, Cirkusbesitzer, Schaubudeninhaber, Hotelier, Straßenbauer – kurz er ist ein geschäftliches Universalgenie. Er hat eine Zeitlang neuentdeckte Diamantengruben in Brasilien ausgebeutet und mit Glück. Als dieselben zu versiegen begannen, schlug er sie mit Hilfe einer großartigen Reklame sehr zu seinem Vortheil an eine Aktiengesellschaft los. Dann ging er mit einer berühmten, aber alternden Sängerin auf Reisen und wußte aus ihrem verblassenden Ruhm in den Provinzen noch viel Geld zu schlagen. Dann wieder zeigte er im ‚Cirkus Guillaume‘ dressierte Hirsche und richtete eine Kompagnie Hasen dazu ab, in Soldatenuniform sich Schlachten zu liefern. Er besaß eine Zeitlang das Theater der Mademoiselle Malaga, der Equilibristin, die sich hundertmal nacheinander auf der rechten Fußspitze drehte, ohne schwindlig zu werden – und so weiter und so weiter! Als er endlich alt und steif wurde, hinterließ er die laufenden Geschäfte seinem Sohn, Mussault dem Jüngeren, der ganz in die Fußstapfen seines Vaters tritt und dessen ‚Genie‘ geerbt hat, während der Alte ruhig von seinen Renten lebt. Aber sein immer reger Geist läßt ihm keine Ruhe. Er muß stets neue ‚Spekulationen‘ ersinnen, die sein Sohn in Scene setzt. Das ist Herr Mussault!“
„Was Sie da sagen, ist merkwürdig genug,“ meinte der Doktor sinnend. „Aber was kann die kleine Mumie so Anziehendes an meiner Patientin finden?“
[609]
[610] „Ist die Dame früher vielleicht Seiltänzerin gewesen?“
„Gewiß nicht.“
„Oder ist sie etwa ein Abkömmling von Oliver Cromwell oder sonst einer geschichtlichen Größe?“
„Nein, aber warten Sie – sie ist eine Ur-Urenkelin von Peter Paul Rubens, und ...“
Der Allwissende ließ einen schrillen Pfiff hören.
„Aha! Und? ...“
„Und dabei das schönste Wesen, das jemals aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen ist.“
„Nun, da haben Sie die schönste ‚Spekulation‘ für Herrn Mussault!“ – –
(Fortsetzung folgt.)
Aus der Geschichte des Pulvers.
Im Jahre 1853 wurde in der Stadt Freiburg i. Br. Berthold dem Schwarzen, dem angeblichen Erfinder des Pulvers, ein Denkmal errichtet. Wir wissen heute, daß dieses Verdienst des Franziskanermönches nur auf sagenhaften Ueberlieferungen beruht. Sicher waren Chinesen die ersten, welche Salpeter mit leichtverbrennlichen Stoffen mischten und diese Mischungen zu Feuerwerkskünsten verwendeten. Marco Polo, der berühmte Reisende des dreizehnten Jahrhunderts, berichtet von ihnen: „Sie lassen Ungewitter aufsteigen mit zuckenden Blitzen und Donnerschlägen und bringen viele andere wunderbare Dinge hervor.“ Von China drang die Kenntniß dieser Kunst in das byzantinische Reich und die Byzantiner waren wieder die ersten, welche die Feuerwerkskünste der Chinesen zu kriegerischen Zwecken benutzten. Jahrhundertelang wußten sie die Bereitung ihres „Griechischen Feuers“ als Staatsgeheimniß zu hüten. Das dieses Feuer in einigen seiner Zusammensetzungen dem Schießpulver durchaus gleich war, beweist ein Rezept, welches in dem „Buche der Feuer zur Verbrennung der Feinde“ von dem Byzantiner Marcus Graecus spätestens im 12. Jahrhundert veröffentlicht wurde. Demnach war für die Zubereitung einer Art des „Griechischen Feuers“ folgende Mischung vorgeschrieben: 11 Prozent Schwefel, 22 Prozent Kohle und 67 Prozent Salpeter, während das frühere preußische Kriegspulver folgende Zusammensetzung hatte: 10 Prozent Schwefel, 16 Prozent Kohle, 74 Prozent Salpeter.
Wenn aber auch das Pulver den Byzantinern bekannt war, so blieb ihnen doch dessen treibende Kraft jahrhundertelang verborgen; erst in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts lernte man jene Mischung als Schießpulver benutzen; die Kriegskunst wurde völlig umgewandelt, und Konstantinopel ging durch seine eigene Erfindung verloren: unter den türkischen Kanonen fiel es im Jahre 1453.
Wohl wurde das Schießpulver im Laufe der Zeit verbessert, aber in seiner wesentlichen Zusammensetzung blieb es sich gleich. Das alte Pulver beherrschte die Welt länger als ein halbes Jahrtausend. Es hat in dieser Zeit unendlich viel zerstört und unendlich viel vertheidigt; es hat den Entdeckern in fernen Welttheilen die Wege geebnet, es hat Berge gesprengt, um dem Verkehr freie Bahn zu schaffen und der Erde ihre Schätze zu entreißen – aber es hat sich überlebt. Wir sind heute Zeugen einer großen Umwälzung, in welcher das alte Pulver von dem Kriegsschauplatze abtreten muß, um einem neuen die Herrschaft zu überlassen.
Das alte und das neue Pulver! Diese wenigen Worte bedeuten eine Wendung in der Geschichte der Menschheit, deren Tragweite wir nur zu ahnen vermögen; in ihnen ist ein ungeheuerer Fortschritt der angewandten Naturwissenschaft zusammengefaßt, und auf der 64. Versammlung der deutschen Naturforscher und Aerzte zu Halle a. d. S. hat B. Lepsius in einem geistreichen Vortrage die Entwicklung und Bedeutung dieser Wendung klarzulegen gewußt.
Zwei Gründe waren es, die zur Abschaffung des alten Schwarzpulvers in der Kriegsrüstung der Völker führten. Ursprünglich waren die Handfeuerwaffen von sehr großem Kaliber; noch im vierzehnten Jahrhundert schoß man mit Flinten, deren Kugeln einen Durchmesser von 35 mm hatten. Bald überzeugte man sich jedoch, daß mit der Verkleinerung des Geschosses die Treffsicherheit der Handfeuerwaffe zunehme, und schließlich sind alle Heeresleitungen zu dem kleinkalibrigen Gewehr übergegangen. Die Verkleinerung des Geschosses brachte es aber mit sich, daß dieses leichter wurde, und wenn es dieselbe Wirkung wie die schwereren Kugeln haben sollte, mußte ihm beim Abschießen eine größere Anfangsgeschwindigkeit gegeben werden. Das vermochte aber das Schwarzpulver nicht zu bewirken, und so trachtete man, es durch ein stärker wirkendes zu ersetzen.
Gleichzeitig wurde an Stelle der gewöhnlichen Hinterlader das Magazingewehr eingeführt. Der Schütze wurde dadurch instand gesetzt, in einer Minute mehr als 20 Schüsse abzugeben – aber in dieser seiner Leistungsfähigkeit wurde er durch den Rauch beschränkt, den er mit dem Schwarzpulver selbst erzeugte. So stellte sich die zweite Nothwendigkeit heraus, das alte Pulver durch ein zugleich möglichst rauchfreies zu ersetzen.
Als die Heeresleitungen mit ihren Wünschen hervortraten, hatte ihnen die Wissenschaft längst vorgearbeitet. Der Chemie war es gelungen, neue Sprengstoffe zu entdecken, welche die Wirkung des Schwarzpulvers bei weitem übertrafen und ohne Rauch verbrannten. Es handelte sich jetzt nur darum, diese Stoffe, die bis dahin nur zu Sprengzwecken benutzt worden waren, den modernen Feuerwaffen anzupassen.
Das erste rauchlose Pulver, das in größerem Maße von sich reden machte, war der von der französischen Regierung für das neue Lebel-Gewehr im Jahre 1886 eingeführte Poudre B. Dieses Pulver erwies sich später als eine Mischung von Pikrinsäure mit etwas Schießbaumwolle und als ebenso unbrauchbar wie das gleichfalls von den Franzosen vielgerühmte Melinit. Wir müssen die Werkstätten der deutschen Forscher aufsuchen, um grundlegende Arbeiten für die Herstellung des neuen Pulvers kennenzulernen.
Um die Mitte der vierziger Jahre machte der berühmte Chemiker Schönbein in Basel Versuche, die sich auf die Einwirkung der Salpetersäure auf Pflanzenfasern bezogen. Ein junger Artillerieoffizier in Berlin, der kürzlich verstorbene Werner Siemens, erkannte sofort die Tragweite dieser Versuche, experimentierte weiter, und es gelang ihm, einen neuen Sprengstoff, die Schießbaumwolle, herzustellen. Er lenkte die Aufmerksamkeit des preußischen Kriegsministeriums auf seine Erfindung und bald darauf wurden in Spandau Fabrikationsversuche und im Herbst des Jahres 1846 auf dem Tegeler Schießplatze Schießversuche mit Gewehren und Kanonen angestellt. Die Schießbaumwolle bestand damals ihre Probe nicht; man ließ die Sache fallen. Die Versuche waren als Staatsgeheimniß behandelt worden, und so erfuhr die Welt von ihnen erst auf jenem Kongreß in Halle, als Siemens zu dem Vortrage von Lepsius das Wort ergriff.
Inzwischen gelang es auch Schönbein und später Böttger und Otto, Schießbaumwolle herzustellen und man knüpfte an das neue rauchlose Schießmittel weitgehende Hoffnung; schon vor vierzig Jahren schilderte man rauchlose Schlachtfelder!
Aber der Siegeszug wurde der Schießbaumwolle nicht so leicht gemacht. Sie explodierte zu leicht; als Fabriken und Niederlagen mit dem neuen Sprengstoffe in die Luft flogen, kühlte sich die Begeisterung ab und es bedurfte langjähriger Arbeit, bis die Schießbaumwolle derart vervollkommnet wurde, daß sie als Sprengmittel in der Industrie und als Füllmittel für Bomben und Torpedos benutzt werden konnte.
Soweit war sie „gezähmt“, als die Frage des stärkeren und rauchlosen Pulvers brennend wurde. Die Schießbaumwolle besaß beide Eigenschaften.
Warum erzeugt das Schwarzpulver Rauch? Das Schwarzpulver enthält im Salpeter das Metall Kalium, welches beim Verbrennen des Pulvers sich mit Kohle und Schwefel zu Salzen verbindet, die als feinste Theilchen zerstäuben und den Rauch bilden. Diese unverbrannten, nicht in gasförmigen Zustand verwandelten festen Theile bilden beinahe zwei Drittel der Pulvermasse. Die Schießbaumwolle zerfällt dagegen beim Verbrennen in Kohlensäure, Stickstoff und Wasserdampf. Kohlensäure und Stickstoff sind durchsichtig, der Wasserdampf kann sich in der kühleren Luft derart verdichten, daß er ähnlich wie der weiße Dampf der Lokomotive sichtbar wird, aber er verflüchtigt sich rasch und das Schießfeld ist nach dem Feuer fast augenblicklich frei. Das Schwarzpulver giebt also wirklichen Pulverrauch, das aus Schießbaumwolle bereitete Pulver nur Pulverdampf.
[611] Die Explosion der Schießbaumwolle ist im Vergleich zu der des Schwarzpulvers ungleich gewaltiger. Ein Kilogramm Schwarzpulver liefert 270 Liter gasförmige Produkte, ein Kilogramm Schießbaumwolle verwandelt sich in 859 Liter Gase; dabei verbrennt ein Kilogramm Schwarzpulver in etwa 1/100 Sekunde und ein Kilogramm Schießbaumwolle in nur 1/50 000 bis 1/60 0000 Sekunde.
So besaß die Schießbaumwolle weitaus Kraft genug, um dem an sich schon leichteren Geschoß der kleinkalibrigen Gewehre die nöthige höhere Anfangsgeschwindigkeit zu geben, ja, sie besaß einen Ueberschuß an Kraft, der sich sogar nachtheilig erwies. Die Schießbaumwolle setzte das Geschoß durch einen einzigen Schlag in Bewegung. Das war ein Fehler, denn ein gutes Schießpulver soll das Geschoß erst langsam in die Züge des Laufes drängen und dann nach und nach seine Geschwindigkeit verstärken, es muß, allerdings im Bruchteile einer Sekunde, nach und nach verbrennen bis zu dem Augenblick, in dem die Kugel den Lauf des Gewehres verläßt. Es ergab sich also die Aufgabe, die Schießbaumwolle in ihrer Explosionswuth weiter zu zähmen, sie genau den Bedürfnissen einer Feuerwaffe anzupassen – und diese Aufgabe wurde glänzend gelöst. Auch hierin haben Wissenschaft und Industrie den Bedürfnissen des Heeres vorgearbeitet.
Unsere Leser kennen ohne Zweifel das Kollodium, das zum Ueberziehen kleiner Schnittwunden benutzt wird, oder das Celluloid, aus welchem Billardkugeln, Manschettenknöpfe und tausend Galanteriewaren bereitet werden. Beide sind Abarten gezähmter Schießbaumwolle. Eine schwach nitrierte Schießbaumwolle, in Aether und Alkohol gelöst, giebt das Kollodium; das festgewordene Kollodiumhäutchen verbrennt wohl, wenn wir es mit Feuer in Berührung bringen, aber es explodiert nicht. Eine Art Kollodium, mit Kampher vermischt, giebt das Celluloid. Auch das Celluloid verbrennt, wenn es mit Flammen oder einem glühenden Gegenstande in Berührung kommt, aber es explodiert nicht. Ein „Schwarzkünstler“, der amerikanische Buchdrucker Hyatt, erfand das Celluloid, als er einen Ersatz für die farbeauftragenden Leimwalzen finden wollte; er erfand damit zugleich das Prinzip, die Schießbaumwolle in eine hornähnliche Masse zu verwandeln, und ebnete der neuen Pulverfabrikation die Wege.
Es giebt viele Flüssigkeiten, welche die Schießbaumwolle auflösen und sie in eine gelatineartige Masse verwandeln. Je nachdem man dieser „Gelatine“ Kampfer oder andere unwirksame Zusätze beimengt, kann man die Explosionskraft der Masse beliebig abschwächen. Solange nun die Masse noch knetbar ist, kann man sie durch Pressen oder Zerschneiden in verschiedene Form bringen, und so macht man aus ihr in der That das neue rauchschwache Pulver. Gewöhnlich benutzt man jetzt für die Kanonenpulver kubische Körner, indem man die Masse durch Maschinen in kleine Würfel von 1 bis 4 mm Dicke verwandelt. Für Gewehre wird die Masse in kleine viereckige Blättchen geformt, indem man sie in dünne Tafeln auswalzt und dann mit Scheren zerschneidet. Nach dieser Operation läßt man das Lösungsmittel ganz verdunsten und es bleibt eine elastische, durchscheinende gummi- oder hornähnliche Masse zurück – das neue rauchschwache Pulver.
Alfred Nobel, der berühmte Dynamitfabrikant, ist sogar auf die Idee gekommen, die Schießbaumwolle in einem Sprengkörper, in Nitroglycerin, dem wirksamen Bestandteile des Dynamits, aufzulösen. Er stellte auf diesem Wege die sogenannte Sprenggelatine her, die in kürzester Zeit das Dynamit überflügelt hat. Aus viel Schießbaumwolle und wenig Nitroglycerin hat er dagegen eine Gelatine gewonnen, aus der ein ausgezeichnetes Kanonenpulver erzeugt werden kann – ein Pulver, das, wie umfangreiche bei Krupp und Gruson angestellte Schießversuche ergaben, geradezu das Ideal eines artilleristischen Treibmittels verwirklicht.
Da man nun diese Gelatine je nach Belieben stärker oder schwächer herstellen kann, so ist der Chemiker auch in der Lage, für ein bestimmtes Gewehr ein bestimmtes Pulver zusammenzusetzen. Sind ihm die Grundlagen gegeben, der Kammerraum des Gewehres, der Gasdruck und das Gewicht des Geschosses, so muß er imstande sein, ein Pulver zu konstruieren, das auf den Meter genau die Bedingungen erfüllt.
Allerdings sind dazu sehr umfangreiche Kenntnisse auf den
schwierigsten und dunkelsten Gebieten der Chemie nöthig, und so
stehen auch heute in den Kriegslaboratorien die ausgezeichneten
wissenschaftlichen Kräfte aller Länder im Dienste der gewaltigen
Rüstung, welche die Völker an der Neige des neunzehnten Jahrhunderts
angelegt haben. C. F.
Das Andreas Hofer-Denkmal auf dem Berg Isel bei Innsbruck. (Zu dem Bilde S. 597.) „Gut Ding braucht Weile“ – sagt ein altes Wort, und wie es seinerzeit vieler Jahre bedurfte, bis die Gebeine des tiroler Nationalhelden eine Ruhestätte in der Heimath fanden, so hat es auch lange gedauert, bis endlich der Gedanke, dem Sandwirth Hofer auf dem Berg Isel ein würdiges Denkmal zu errichten, festen Fuß gewann und zur Ausführung gebracht werden konnte.
Der Urheber dieses Gedankens war der Innsbrucker Oberst und Kommandeur des Tiroler Kaiserjäger-Regiments, Alois von Knöpfler. Auf seine Anregung hin bildete sich im Jahre 1881 ein Ausschuß, der einen Aufruf mit der Bitte um freiwillige Beiträge für das Denkmal erließ. Ueberall, namentlich auch bei Bürgern und Bauern, fand der Aufruf Unterstützung. Nach einigen Jahren konnte Heinrich Natter, der Schöpfer des Denkmals für Walter von der Vogelweide in Bozen, mit der Herstellung der Hoferstatue beauftragt werden. Natter, der das Modell im August 1888 in Innsbruck ausstellte, übernahm die Verpflichtung, das Standbild sowie die sonstigen zum Denkmal nöthigen Bronzetheile in tadellosem Gusse für die Summe von 25000 Gulden an den Ausschuß zu übergeben.
Aber er sollte die Vollendung seines Werkes nicht mehr erleben. Am 13. April 1892 starb er zu Wien in der Vollkraft der Mannesjahre. Er war am 16. März 1844 zu Graun in Tirol geboren die ersten Anfangsgründe seiner Kunst hatte er sich bei Meister Pendl in Meran erworben. Gesundheitsrücksichten zwangen den jungen Bildhauer, nachdem er die Akademie bezogen hatte, längere Zeit in Riva und dann in Venedig seinen Aufenthalt zu nehmen. Der Krieg von 1866 führte ihn auf kurze Zeit zu den Fahnen. Nach Beendigung des Feldzuges finden wir Natter in München und endlich dauernd in Wien, wo er sich ein glückliches Heim gründete. Mit Ernst und Eifer nahm er sich all seiner Aufgaben an, vor allem aber derjenigen, welche die Gestaltung des Hofer-Denkmals ihm stellte. Wiederholt unternahm er Reisen nach Passeier, in Hofers Heimath, um dort an den markigen Volksgestalten sowie an mancherlei Ueberlieferungen aus dem Jahre 1809 seine Studien zu machen und Begeisterung zu schöpfen für das Bildniß, das sein letztes werden sollte.
Der Tod des Meisters hielt den Guß der Statue, der in Turbains Erzgießerei zu Wien schon begonnen hatte, nicht auf, und am 23. August des vorigen Jahres konnte das fertige Standbild vom Bahnhof in Innsbruck aus auf den Berg Isel übergeführt werden. Nun zeigte sich erst die Größe desselben im Verhältniß zu seiner Umgebung im richtigen Lichte, aber man mußte leider auch erkennen, daß der indeß vorbereitete Sockel für die riesige Figur bedeutend verstärkt und vergrößert werden müsse. Die Bildsäule mißt bis zur Fahnenspitze 5,6 Meter und hat ein Gewicht von 56 Centnern. Dieses Frühjahr endlich langte aus den Porphyrbrüchen von Branzoll bei Bozen der Hauptblock zur Verstärkung des Sockels in Innsbruck an, und nachdem der 180 Centner schwere Felskoloß nach wochenlangen Bemühungen und einem noch glücklich abgelaufenen Absturz auf den Berg Isel hinaufgeschafft worden war, konnte am 18. Mai Hofers Denkmal endgültig aufgestellt werden.
Dort prangt es nun im schönsten Bronzeguß, mitten im Waldesgrün der Höhe, an welcher „der Mann vom Land Tirol“ wiederholt die Landesfeinde schlug. Eine kraftstrotzende Bauerngestalt, steht der Sandwirth auf dem Piedestal, der Stadt zugewendet, auf welche die ausgestreckte Rechte wie im Kampf gebietend hinunterweist, während er mit der Linken die wallende Fahne Tirols schirmend an sich drückt. Er trägt die alte Volkstracht des Passeierthales, welche er getreulich beibehielt, auch als er zu Innsbruck in der Hofburg als Oberkommandant die Herrschaft des Landes führte. Das Denkmal wird von zwei mächtigen, flugbereiten Adlern flankiert, während vorn am Sockel eine von Eichenlaub und Kriegstrophäen umrahmte Bronzetafel den Wahlspruch weist: „Für Gott, Kaiser und Vaterland!“
Ende September wird die feierliche Enthüllung des Denkmals stattfinden, für welche schon jetzt große Vorbereitungen getroffen werden. Mit der Feier wird die Eröffnung des neuerbauten Landes-Hauptschießstandes verbunden sein, und so werden sich schon aus diesem Anlaß Tausende von Schützen mit ihren malerisch gekleideten Musikkapellen und den kriegsberühmten Sturmfahnen zum Feste in Innsbruck einfinden. Am Vormittag des 28. September wird in Gegenwart des Kaisers die Hülle von dem Denkmal fallen, dem dann eine Schar von Tirolern im Festgewande der alten Zeit die Huldigung des Landes darbringen wird. Mittags defiliert der große Zug der Schützenkompagnien und Kriegervereine vor der Kaiserburg, und nachmittags geht es hinab zum neuen Hauptschießstand, wo der Kaiser selbst das tiroler Fest- und Freischießen eröffnet. Eine Serenade des Tiroler und Vorarlberger Sängerbundes und die Aufführung des von Oberlieutenant Josef Kerausch verfaßten Andreas Hofer-Spieles im Innsbrucker Stadttheater schließen die Feier.
Es wird ein schöner Tag werden für Innsbruck, für das ganze Land,
das sich selber ehrt, indem es in dem einen Helden zugleich allen seinen
Freiheitskämpfern, dem ganzen Heldenthum seiner Vorfahren den Dank
des Vaterlandes darbringt. J. C. Platter.
[612] Selbstthätige Bahnsteigkarten-Verkäufer. Im November 1891 stellte man auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin einen nach dem System Simmes erbauten Automaten in Dienst, der gegen Einwurf eines Zehnpfennigstücks eine zur Betretung des Bahnsteiges berechtigende Karte auslieferte. Der Apparat, welcher einen ganz eigenartigen inneren Mechanismus hat, arbeitete mit großer Sicherheit, gab mit unbedingter Zuverlässigkeit die richtige Karte, genau der Nummer nach, heraus und nahm unter keinen Umständen unrichtige Münzstücke an, die er vielmehr einfach zurückgab. So fand er bei dem Publikum großen Beifall, weshalb er bald auch auf anderen Bahnhöfen in Berlin, in Köln, in Breslau etc. eingeführt wurde.
Was ein solcher Apparat, der im Ankauf 190 Mark kostet, alles leistet, das geht daraus hervor, daß an der Friedrichstraße auf diese Weise gegenwärtig etwa 1000, am Bahnhof Alexanderplatz gegen 900 Karten täglich automatisch verkauft werden. Im ganzen wurden von November 1891 bis Oktober 1892, also in der ersten Zeit, in welcher sich der Apparat bei dem Publikum einbürgern mußte, auf den Berliner Bahnhöfen etwa 408000 Karten auf diesem Wege verabfolgt.
Tag und Nacht muß solch ein stummer Beamter „im Dienst“ sein, denn fast auf jede Minute entfällt eine verkaufte Karte.
Süßes Nichtsthun. (Zu dem Bilde S. 609.) Die Denker des Morgen- und des Abendlandes haben den Frieden des Geistes gepriesen, der sich still in die eigenen Tiefen und die Tiefen des Alls versenkt. Es giebt aber auch ein gedankenloses paradiesisches Ausruhen, und das Bild von H. Coomans – der Name ist ein Pseudonym, hinter welchem sich zwei Malerinnen verbergen – zeigt uns eine solche träumerische Ruhe, der sich einige Schönen unter dem wolkenlosen Himmel des Südens hingeben. Still liegt die Landschaft bis zu den fernen Hügeln, kaum das Rauschen der Wellen dringt herauf, kein Lufthauch bewegt die Blätter und Zweige der Bäume. Das Räucherwerk, das auf kunstvoll gemeißelter Säule entzündet ist, verbreitet einen süßen Duft. Und all den Lebensgeistern der Natur, an Duft und Klang, erquicken sich die Frauen, die sich hier dem ungestörten Genuß schöner Tage hingeben. Die eine, auf dem Tigerfell bequem hingestreckt, hört nachdenklich den sanften Tönen zu, die ihre Gefährtin der Doppelflöte entlockt. Die Züge dieser beiden spiegeln die klare Welt eines ungetrübten Empfindens; es liegt in ihnen ein sanfter ruhiger Reiz. Mehr im Hintergrund aber sitzt eine dunkle Schöne, mit schwarzen Zöpfen und Feueraugen, in der Hand das Instrument, dessen Saiten sie vorher geschlagen. Ihre Züge sprechen von einem reicher bewegten Leben – vielleicht denkt sie einer fernen Heimath, oder in ihrem Herzen flammt die Gluth einer leidenschaftlichen Liebe.
Das Bild ist stimmungsvoll; es versetzt uns aus der Unruhe des
Abendlandes in eine Welt, wo das dolce far niente, das süße Nichtsthun,
Leib und Seele traumhaft umspinnt. †
Einzug zur Fahnenweihe. (Zu dem Bilde S. 600 u. 601) Auf den kühuen Höhenzügen des Herzogenstand und seines Nachbarn, des Heimgarten, der keck vorgestreckt das Loisachthal beherrscht, leuchtet helles Sonnengold; ein prachtvoller Morgen flammt und blitzt über der herrlichen Gebirgslandschaft. Im Thale wogt noch der Nebel, gejagt von den siegreichen Sonnenstrahlen, bis die einzelnen Nebelstreifen aufsteigen und in Duft zerstieben. Die Felswände mit dem dunklen Fichtenstand spiegeln sich im glitzernden lieblichen Kochelsee, der traumumfangen daliegt. Eine paradiesische Landschaft, gesegnet zumal in alter Zeit, als am Heimgarten noch eine goldhaltige Quelle sprudelte und im Berg bei Schlehdorf eine Goldader war, die den drei Schwestern Ainbet, Vilbet und Vorbet gehörig, in Kriegszeiten zugedeckt und später nicht mehr gefunden wurde. Das Kloster Schlehdorf ist von dem Ertrug gebaut; die aus gediegenem Gold gefertigte Monstranz rührt von dem Goldbächlein her.
Sonntag ist heute und ein herrlicher Sommermorgen dazu. Gestern
haben fleißige Hände bis in den späten Abend hinein daran gearbeitet,
dem lieblichen Dorfe Festschmuck anzulegen; vorne am Dorfeingang ist
eine Triumphpforte errichtet, mit Tannengrün umwunden und mit der
blau-weißen bayerischen Fahne und dem Landeswappen stolz geziert. Und
aus den Dachfensterchen des Hauses ragen die Fahnen, vom frischen
Morgenwind leicht bewegt. Jung und Alt hat Feiertagskleidung angelegt
– die Burschen sind in der schmucken „kurzen Wichs“ und die
Dirndln haben das beste Tüchl vor dle Brust gesteckt und tragen den
Galahut auf den langen Flechten. Die seidenen Schürzen schillern im
Sonnenlichte und die Goldquasten glitzern. Das Vereinszeichen am Hut,
den mit der Schärpe geschmückten Vorstand an der Spitze, hinter sich die
Musik – so erwartet der Veteranenverein die eingeladenen Nachbarvereine
der Kampfgenossen. Schulmädchen in weißen Kleidchen harren an der Festpforte.
Der Schlehdorfer Veteranenverein hat sich eine neue Fahne gestiftet,
die in kunstvoller reicher Goldstickerei um hohen Preis aus der Hauptstadt
gekommen ist. Zur Einweihung derselben ist der heutige Sonntag ausersehen,
und sie haben Glück, die wackeren Schlehdorfer, der blaue Himmel
ist ihnen und ihrer Fahne günstig. Nun erklingen lustige Marschtöne,
kräftige Weisen, die das Blut rascher durch die Adern treiben und an die
Zeiten von Weißenburg, Wörth und Sedan erinnern, als die tapferen
Bayern Schulter an Schulter mit den anderen deutschen Brüdern gegen
den französischen Feind kämpften. Unter dem grüßenden Senken ihrer
Fahnen ziehen die Nachbarvereine ein. Die Schlehdorfer schließen sich ihnen
an und der Zug begiebt sich in die Kirche, wo in Gegenwart der
Fahnenmutter und der Fahnenjungfer der Pfarrer die neue Fahne weiht.
Dann folgt der weltliche Theil der Feier, von Gewehrsalven und Böllerschüssen
eingeleitet. Kernige Worte werden gesprochen; bei Becherklang
und Tanz setzt sich die Lust fort, bis die Abendschatten niedersinken und
zum Abschied mahnen. Die Reihen ordnen sich zum Abmarsch, nochmals
werden der neuen Fahne die Honneurs erwiesen, und unter den Klängen
alter bayerischer Soldatenmärsche wird abgerückt. Wenn die Töne der
Abendglocke sanft im lauen Wind verklingen, dann wird’s wieder still
im Dorfe. Arthur Achleitner.
Das Chokoladenmädchen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Eine der hervoragendsten Zierden der Dresdener Gemäldesammlung ist es, die unsere heutige Kunstbeilage wiedergibt. Die Feinheit, die graziöse Anordnung und Ausführung aller Einzelheiten zeichnen dieses Bild ebenso aus wie der schlichte Stoff, an dem sich eine so vollendete Kunst bewährt hat. Schlichte Naturtreue neben großem technischen Können machen überhaupt den Vorzug der Gemälde aus, die wir von Jean Etienne Liotard besitzen. Vor allem sind es die Porträts, die dem 1702 zu Genf geborenen Meister sehr bald einen Ruf verschafften und ihn sogar für mehrere Jahre nach Konstantinopel führten. In Wien, in Paris, in London übte er dann nacheinander seine Kunst aus, in türkischer Tracht, die er sich zu Konstantinopel angewöhnt hatte, um sich vor den Beleidigungen der mohammedanischen Einwohner sicherzustellen. Allgemein führte er daher den Namen des „türkischen Malers“. Sogar als er sich ums Jahr 1756 verheirathete, konnte er sich nicht entschließen, seiner orientalischen Kleidung zu entsagen; nur sein gewaltiger Bart fiel als erstes Opfer seiner Ehe. Liotard starb, 88 Jahre alt, im Jahre 1790.
Das von uns wiedergegebene Bild, das „Chokoladenmädchen“ genannt, weil die darauf dargestellte Schöne eine Tasse Chokolade zu kredenzen im Begriff ist, zählt zu den bekanntesten Werken Liotards. Unsere Leser werden es mit um so größerem Interesse kennenlernen, als Vacano im Eingang seiner Erzählung, die in dieser Nummer beginnt, das Geständniß macht, er habe die Züge des „schönen Limonadenmädchens“ eben diesem Gemälde entlehnt.
Inhalt: „Um meinetwillen!“ Novelle von Marie Bernhard (3. Fortsetzung). S. 597. – Das Andreas Hofer-Denkmal auf dem Berg Isel bei Innsbruck. Bild. S. 597. – Einzug zur Fahnenweihe. Bild. S. 600 und 601. – Das Observatorium auf dem Mont Blanc. Von Hermann Gauß. S. 603. Mit Abbildungen S. 603 und 604. – Das schöne Limonadenmadchen. Erzählung von E. M. Vacano. S. 605. Mit Abbildungen S. 605 und 607. – Süßes Nichtsthun. Bild. S. 609. – Aus der Geschichte des Pulvers. S. 610. – Blätter und Blüthen: Das Andreas Hofer-Denkmal auf dem Berg Isel bei Innsbruck. S. 611. (Zu dem Bilde S. 597.) – Selbstthätige Bahnsteigkarten-Verkäufer. S. 612. – Süßes Nichtsthun. S. 612. (Zu dem Bilde S. 609.) – Einzug zur Fahnenweihe. S. 612. (Zu dem Bilde S. 600 und 601.) – Das Chokoladenmädchen. S. 612. (Zu unserer Kunstbeilage.)
In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Mit diesem Bande liegt die illustrierte Ausgabe von Heimburg’s Schriften nunmehr vollständig vor.
Zur Aufnahme der 10 stattlichen Bände hat die Verlagshandlung eine feine englische Leinwand-Truhe herstellen lassen, und kostet die vollständige Sammlung:
Jnhalt: Band 1. Aus dem Leben meiner alten Freundin. Mit Illustr. von W. Claudius. – Band 2. Lumpenmüllers Lieschen. Mit Illustr. von R. Wehle. – Band 3. Kloster Wendhusen. – Ursula. Mit Illustr. von A. Zick. – Band 4. Ein armes Mädchen. – Das Fräulein Pathe. Mit Illustr. von A. Mandlick. – Band 5. Trudchens Heirath. – Im Banne der Musen. Mit Illustr. von E. Ravel. – Band 6. Die Andere. – Unverstanden. Mit Illustr. von W. Claudius. – Band 7. Herzenskrisen. Mit Illustr. von C. Zopf. – Band 8. Lore von Tollen. Mit Illustr. von M. Flashar u. H. Albrecht. – Band 9. Eine unbedeutende Frau. Mit Illustr. von R. Gutschmidt. – Band 10. Unter der Linde. 12. Novellen. (Am Abgrund. Unsere Hausglocke. Unser Männe. Sascha. In der Webergasse. Großmütterchen. Nachbars Paul. Aus meinen vier Pfählen: 1. Dorotheens Bild. 2. Onkel Leos Verlobungsring. 3. Flickdorchen. 4. Großvaters Stammbuch. Auf schwankem Boden.) Mit Illustr. von A. Zick. C. Koch. R. Wehle, C. Zopf und W. Claudius.
In den meisten Buchhandlungen vorräthig. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die
- ↑ Es wird unsere Leser interessieren, in dieser Erzählung eine der letzten Arbeiten des namhaften Novellisten kennenzulernen, den am 9. Juni 1892 ein früher Tod ereilte und dessen Gedächtniß erst jüngst durch die Enthüllung seines Grabdenkmals in Karlsruhe aufs neue befestigt wurde.Die Redaktion.