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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[469]

Nr. 28.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.

 (14. Fortsetzung.)

19.

Es ist nichts so schlimm, daß es nicht zu etwas gut wäre, auch die fürstlichen Launen. Frau Sabine Eleonore vergaß, wie sie gedroht hatte, ihrer lieben Méninville sobald nicht, daß diese ihr durch unzeitige Erwähnung der Angelegenheit Polyxenens gegen Herrn von Nievern den Spaß jenes Nachmittags verdorben hatte. Dabei kam aber mehreres zusammen. Einmal trug die kleine Dame wirklich hartnäckig und lange nach wie alle in engen Grenzen begriffenen Naturen. Dann mochte sie gerade bei dieser Gelegenheit sich bewußt geworden sein, daß sie der titellosen Méninville doch in der letzten Zeit recht viel eingeräumt habe. Und diese Stimmung kam der braven Obersthofmeisterin zugute, deren Dienste jetzt wieder mehr begehrt wurden und die auch einigemal wieder vertraulicher Ansprachen der Fürstin gewürdigt wurde – alles natürlich, um die Méninville zu ärgern.

Diese wählte den Weg, mit der Miene verkannter Treue sich eine Weile schweigend zurückzuziehen, sicher, daß die Fürstin sie auf die Dauer nicht würde entbehren können. Inzwischen durfte die gute Kallenfels wirklich einmal aufathmen und sich in frühere Zeiten zurückversetzt glauben. Eines Tages, als es der Dienst so fügte, daß sie mit der Pfalzgräfin allein war, brachte diese

Die neue Elbebrücke zwischen Loschwitz und Blasewitz.
Nach einer Originalzeichnung von Olof Winkler.

[470] die Rede auf das Fräulein von Leyen. Und da mußte sie denn an der Obersthofmeisterin, die sie als einen getreuen Spiegel der Stimmung des übrigen Hofadels kannte, gewahren, wie wenig das Vorgehen gegen Polyxene nach dem Geschmack eben dieses Adels war. Dabei war offenbar in den Hofkreisen nur die Rede von einer Untersuchung in Glaubenssachen. Nun begann die kleine Pfalzgräfin, auch hier innerlich getrieben durch eine gewisse Auflehnung gegen die Méninville, und machte ihrer alten Getreuen Andeutungen von dem furchtbaren Verdachte gegen das unglückliche Fräulein von Leyen, den man ihr eingeflößt hatte.

Es dauerte lange, bis die Obersthofmeisterin sie verstand. Ja sie that dies überhaupt nicht, bis die Fürstim jetzt widerwillig genug, ihr mit dürren Worten sagen mußte, es scheine glaublich, daß die Polyxene ihren kleinen Vetter hinterrücks in den Mühlgraben gestoßen habe, um ihn zu beerben. Da aber war das Entsetzen der Obersthofmeisterin so ungeheuer und zugleich ihre Entrüstung, obwohl immer in den Schranken der Etikette, so groß, daß die Pfalzgräfin von ihrer Kallenfels dergleichen nie für möglich gehalten hätte.

Und gerade in diesem Augenblick ließ sich Herr von Nievern in außerdienstlichen Angelegenheiten melden. „Sagt nur von dieser Affaire nichts,“ mahnte die Fürstin gerade noch, ehe man den Kavalier eintreten ließ. „Er wird sonst gar kollerig –“ Sie selber war aber unruhig und fast unsicher, und der Obersthofmeisterin konnte man trotz ihrer Selbstbeherrschung eine unerhörte Verfassung anmerken. Und wie mußte es nun beiden zu Muthe werden, als sich sofort enthüllte, gerade in dieser Angelegenheit des Fräuleins von Leyen habe der Oberjägermeister eine Audienz nachgesucht!

„Wir redeten eben davon,“ fuhr Frau Sabine Eleonore unmuthig heraus: „Da seht die Kallenfels an . . . der stockt noch immer das Wort im Munde über das, was sie eben von mir über die Polyxene vernommen hat.“

Nievern wandte den scharfen kühnen Blick auf das meist so ausdruckslose Vogelgesicht der Obersthofmeisterin mit der gerötheten Nasenspitze, und er sah, daß es unter dem leicht kupferigen Anflug erblaßt war in nie dagewesener Erregung. „Die hoch zu verehrende Dame scheint damit auch eine Neuigkeit erfahren zu haben wie ich jüngst,“ sagte er schneidend. „Ist es so?“

„Gestatten Pfalzgräfliche Gnaden, daß ich mich zurückziehe,“ begann darauf die Obersthofmeisterin mit zitternden Lippen. „Mir ist ganz übel geworden. Das ist, ich erkühne mich, es zu behaupten, ein himmelschreiendes Unrecht, das man begeht. Nicht viel schlimmer dünkte es mich, Gott verzeih’ mir’s, wenn einer aufstehen wollte und vorgeben, ich hätte Euerer Hoheit nach dem Leben getrachtet.“

„Hei des verkehrten Zeugs, das Ihr schwatzt, liebe Kallenfels!“ rief die Fürstin, nicht erbaut von dem Vergleiche, der die fürchterlichste Ausschweifung bedeutete, zu welcher es die sonst stets hoffähige Phantasie der Würdenträgerin zu bringen vermochte.

„Im Grunde muß ich der Frau Obersthofmeisterin recht geben,“ wagte dennoch Herr von Nievern zu sagen. „Und fragen möchte ich Pfalzgräfliche Gnaden aufs ernstlichste, wie Sie eigentlich über die Entstehung eines Gerüchtes denken, welches, wie Hoheit sich überzeugen müssen, dem Adel wie der Stadt so fremd wie fürchterlich erscheint! Wer hat es zuerst ausgesprengt? Als wessen Verdacht giebt sich die niederträchtige Anschuldigung aus?“

Die Pfalzgräfin, so in die Enge getrieben, wurde ärgerlich. „Wollte Gott, ich hätte das letzte davon gehört,“ rief sie. „Uebrigens – was ist denn der Leyen bisher groß geschehen? Sie sitzt bei den Ursulinerinnen, ja, aber es giebt arme adlige Fräulein genug, die sich gar nichts Besseres wünschen, und ich glaube nicht, daß es ihr die Nonnen an irgend etwas werden gebrechen lassen!“

„Wollen Pfalzgräfliche Gnaden ihren Freunden nicht gestatten, sich davon zu überzeugen?“ sagte Nievern rasch. „Und Euch dann Bericht zu geben? Als eine Waise hat das Fräulein an unserer allergnädigsten Frau bisher doch auch eine Art Mutter gehabt. Ist es der Geistlichkeit zuzulassen, daß sie sich anmaßt, die mütterliche Fürsorge Euerer Hoheit für dies Fräulein so ganz beiseite zu schieben?“

Sabine Eleonore stutzte leicht. Diese Auffassung war ihr nicht mißfällig. Und nun kam noch ein Gedanke – wie auch sie einmal ihrer lieben Méninville einen Streich spielen könnte! Den kleinen innerlichen Triumph darüber verbarg sie, so gut es gehen wollte, hinter der Würde, mit der sie jetzt sagte: „Keineswegs denken wir, Herr von Nievern, uns dieses Rechtes völlig zu begeben. Wir werden eine vertraute Person in das Kloster senden, die sich an Ort und Stelle davon überzeugt, wie das Fräulein dort logiert ist und wie man mit ihr verfährt. Unser Abgesandter hat sich, nach unserem ausdrücklichen Wunsch und Willen, deshalb nicht im Sprechzimmer abspeisen zu lassen, sondern er wird verlangen, daß man ihm das Gemach der Leyen erschließt, in dem sie sich bisher aufgehalten hat. Da sie weder Nonne noch im Noviziat befindlich ist, so ist dies zulässig, was man dort auch etwa einwenden möge. Ich vertraue, daß ich den rechten Mann getroffen habe, der den guten Nonnen, sollten sie sich etwa sperrig zeigen, gewachsen ist. Denn Ihr, mein Herr Oberjägermeister, sollt in dieser Sache mein Bevollmächtigter sein.“

Herr von Nievern verneigte sich tief, vielleicht um das Aufblitzen seiner Augen bei diesem unverhofften Auftrage zu verbergen. „Hoheit verfährt wie eine echte Landesmutter,“ sagte er dann leise, und sie gestattete, daß er ihr dankbar die Hand küßte.

Seine Wärme, die sie wohl merkte, that ihr so wohl, daß sie ein wenig roth wurde. Gegen Polyxene empfand sie in diesem Augenblick keine Eifersucht – jetzt, da das Mädchen im Unglück saß, erlosch mehr und mehr der Groll, den sie früher eine Zeitlang gegen dasselbe gehegt hatte. War derselbe damals doch auch künstlich in ihr genährt worden von jener Seite, die gerade jetzt bei ihr nicht in Gunst stand. „Seid Ihr nun besser mit mir zufrieden, Obersthofmeisterin?“ fragte sie dann. Die Kallenfels hatte aber ihre gewöhnliche Fassung noch nicht völlig wieder gewonnen. „Hoheit wollen gnädigst excusieren – mir ist immer noch, als hätte ich einen Schlag vor den Kopf erhalten,“ klagte sie. „Es müßte unser einem ja sehr erfreulich sein, daß Euer Gnaden sich dieser arg verleumdeten jungen Person von Stande annehmen. Wenn es aber nur nicht schon zu spät ist!“

„Wie meint Ihr das?“ fuhr die kleine Hoheit sie förmlich an, in begreiflicher Weise geärgert durch den derben Nasenstüber, den ihr ihre Getreue da eben verabfolgt hatte.

„Hoheit haben die Geistlichkeit sich hineinmengen lassen, und mit der Geistlichkeit ist nicht gut Kirschen essen,“ beharrte die Obersthofmeisterin. „Gott verzeihe mir – ich gedenke, stets eine gute katholische Christin zu sein und zu bleiben. Aber es haben sich Personen in das Vertrauen Euerer Gnaden eingeschlichen, die den Mangel an Stand und Namen durch ein geistliches Ansehen verdecken wollen, das sie sich geben. Ich rede nicht von Seiner Hochwürden, dem Pater Gollermann. Geistlich sein ist seines Amtes, ich habe nichts dawider. Ob er aber ohne eine Anstiftung sich so viel gegen das Fräulein vermessen hätte? Ich fürchte, ich behalte Recht, wenn ich von einer gewissen Person Trug und Arglist mich immer des Schlimmsten versehen habe.“

Die Anspielung war so deutlich, daß der Name der Frau von Méninville gar nicht mehr ausgesprochen zu werden brauchte.

Frau Sabine Eleonore, in dem Gefühl, daß sie ja ihre dergestalt angefeindete Vertraute jeden Augenblick völlig fallen lassen oder aber, ihrem Hofadel zum Tort, erst recht wieder zu Gnaden aufnehmen könne, war innerlich belustigt über den Eifer ihrer Würdenträgerin. Wieviel Aerger mußte diese die Zeit her schweigend geschluckt haben, wenn sie so aus ihrer steifen Zurückhaltung herausging! „Ich denke, Ihr könnt unbesorgt sein, liebe Kallenfels,“ sagte sie jetzt. „Zum Ueberfluß soll es der Herr Oberjägermeister von uns schriftlich haben, daß er von uns beauftragt worden ist, im Kloster nach dem Fräulein zu inquirieren und sich mit eigenen Augen von ihrem Wohlbefinden zu überzeugen. Und dann wollen wir doch sehen; ob die Nonnen etwas dawider haben!“

Diese schriftliche Vollmacht wurde wirklich ausgefertigt und Herr von Nievern nahm sie etwas ironisch entgegen, da eine solche Unterstützung des ihm gewordenen Auftrages seinem Selbstgefühl nicht eben schmeicheln konnte. –

Es war gleich am Morgen nach seiner Audienz bei der Pfalzgräfin, daß der Oberjägermeister den Weg wieder ritt, den er vor kurzem im Abendnebel gekommen war, um sich nunmehr öffentlich an die Pforte des Hauses der Ursulinerinnen zu begeben. Er wurde alsbald vor das Angesicht der Aebtissin selber geführt und glaubte, gewonnenes Spiel zu haben. Denn diese, in ihrem vormaligen weltlichen Stande einer Raugräfin von Degenfeld, empfing den Oberjägermeister als Standesgenossen; das Gefühl [471] ihrer Herkunft und ihr altes menschliches Selbst schienen einmal wieder aufzuleben bei der unerwarteten Begegnung. Sie war eine korpulente Dame mit rasselndem Athem; sogar die Fastenvorschriften des Klosters hatten ihre Neigung zu beträchtlicher Körperfülle nicht aufzuhalten vermocht.

Als Herr von Nievern, nach allerlei Auskünften über alte Bekannte, die er ihr hatte geben müssen, zu seinem Auftrage kam, verbarg sie mit guter Miene eine leichte Betroffenheit und schickte nach der Schwester Veritas, der Subpriorin, die jede verlangte Auskunft geben werde. Ihre eigene Gesundheit, so bedeutete sie ihn, zwinge sie, einen Theil der Amtslast eben jener Schwester auf die willigen Schultern zu legen. Schon als er nun solchergestalt gewahr wurde, daß die Aebtissin selber Polyxene noch gar nicht gesehen habe, war Nievern wenig erbaut, und sehr geringes Gefallen nur fanden seine verwöhnten Augen an der jetzt eintretenden frommen Schwester Veritas, Ihr glattes Gesicht mit dem Ausdruck beschränkter Gewöhnlichkeit widerte ihn allsogleich an; es bildete allerdings einen starken Gegensatz zu dem vollen Adlerprofil der vornehmen Aebtissin, wenngleich diese auch um nichts klüger sein mochte.

Und in die Gewalt dieses Weibes war die stolze Schwertlilie gegeben – einer Person, der die Niedrigkeit ihrer Herkunft auf der Stirn stand und die – seltsam, daß das Standesgefühl sich gerade hier noch einmal bei dem Kavalier geltend machte – ohne dies schwarze Habit an Rang vielleicht nur einer Magd des unglücklichen Fräuleins gleichgekommen wäre! Aber Herr von Nievern nahm sich zusammen und erwies dem Gewande der geistlichen alten Jungfer die geziemende Ehrerbietung. Als er dann den beiden Klosterfrauen vortrug, die Pfalzgräfin wünsche von dem Zustand des Fräuleins von Leyen unterrichtet zu werden, war Schwester Veritas sogleich bereit, den Besucher mit einer erbaulichen Wiedergabe ihrer eigenen Beobachtungen in Betreff Polyxenens zu unterhalten. Er erfuhr, in merklich schonender Weise mitgetheilt, wie die klösterliche Obhut leider noch wenig Frucht bei der ihr Anvertrauten gezeitigt habe; wie weit entfernt das Fräulein noch sei von derjenigen Verfassung, die man doch ihres Seelenheils wegen ihr wünschen müsse. Aber die Geduld ihrer jetzigen geistlichen Vormünder sei groß und keineswegs erschöpft ...

Die des Oberjägermeisters war es aber, lange ehe die Nonne soweit gekommen war. „Ihr habt meinen Auftrag nicht ganz gefaßt, hochwürdige Frau Aebtissin, und Ihr, fromme Schwester,“ sagte er, sobald er zu Worte kommen konnte; es geschah höflich, aber doch schon mit einer gewissen schneidenden Deutlichkeit „Hoheit, llnfere gnädigste Frau, begnügt sich nicht damit, daß ich vom Hörensagen berichte: ich soll mich mit eigenen Augen von dem Befinden des Fräuleins überzeugen.“

„Unmöglich, Herr,“ erwiderte die Subpriorin kalt. „Die Klausur des Fräuleins darf ohne eine besondere Erlaubniß des Paters Gollermann, der ihre Bußübungen leitet, nicht unterbrochen werden. Ein Gang ins Sprechzimmer wäre für sie ganz unzulässig.“

„Wirklich? So streng haltet Ihr Eueren Gast ... das wird die Pfalzgräfin befremden,“ sagte Nievern mit funkelnden Augen. „Wie es sich trifft, wäre nun aber auch mein ausdrücklicher Auftrag durch eine Begegnung mit dem Fräulein im Sprechzimmer noch keineswegs erledigt. Ich bin hier in amtlicher Eigenschaft als Kommissar der Fürstin: meine Obliegenheit geht dahin, das Fräulein von Leyen in ihrer Zelle, ober wo sie sonst sich befindet, zu sehen, um berichten zu können, wie sie logiert ist und sonst bei Euch, ehrwürbige Frau, gehalten wird. Daß sie ein ihres Standes würdiges Unterkommen bei Euch gefunden hat, ist ja nicht anzuzweifeln. Aber das Gewissen unserer pfalzgräflichen Frau ist zart ... sie fühlt mütterlich gegen dies verwaiste Fräulein und wird sich nicht beruhigen ohne die Auskunft, die ich werde geben können.“

Jetzt war die peinliche Verlegenheit der Aebtissin nicht mehr zu verkennen. Sie bewegte sich auf ihrem Sitze und griff unruhig mit den fleischigen Händen umher; es war sogar, als wollten ihre Athembeschwerden sich einstellen, während sie hilflos nach der Subpriorin hinüberblickte. Diese aber war der Sache gewachsen. Sie sah ganz so nichtssagend wie immer aus, während sie erwiderte: „Eine begreifliche Fürsorge unserer gnädigsten Fürstin. Ich werde sofort darüber an Seine Hochwürden den Pater Gollermann berichten. Vielleicht läßt er alsdann zu, was eigentlich außer der Regel ist.“

„So, meint Ihr wirklich?“ sagte Herr von Nievern spöttisch. „Ihr versteht mich noch immer nicht. Heute muß ich das Fräulein sehen. Ich dächte, der ausdrückliche Befehl der Pfalzgräfin, Euerer Herrin, wiege die Licenz des hochwürdigen Herrn Paters auf. Uebrigens – hier ist meine Vollmacht,“ Er zog nun wirklich das Schriftstück aus dem Kollett, mit einer nicht eben respektvollen Bewegung; es wurmte ihn, daß er es nöthig hatte.

Die Aebtissin griff mit leicht bebenden Händen zu und nahm Einsicht in dasselbe; sie verwünschte in ihrem Herzen den Besuch, oder vielmehr, daß sie sich hatte verleiten lassen, ihn zu empfangen, statt auch das gleich der Subpriorin zuzuschieben, „Das ist allerdings eine eigenhändige Vollmacht der Pfalzgräfin,“ sagte sie, hilflos im Gesicht der andern Nonne forschend, während sie ihr das Papier hinreichte. „Doch wer zweifelte auch an Euerem adligen Worte, Herr Oberjägermeister ...“

„Und selbstverständlich sind wir in Demuth der Frau Pfalzgräfin in allem zu Dienste,“ fuhr die Schwester Veritas fort. „Sicherlich aber sind unserer gnädigsten Frau, als sie dies schrieb, die Maßregeln heilsamer Disciplin unbekannt gewesen, welche der hochwürdige Herr Pater in Betreff des Fräuleins für nöthig erachtet hat. Hoheit sollte erst mit denselben bekannt gemacht werden ...“

„Ja, ganz recht,“ fiel hier die Aebtissin, die nun wieder Fahrwasser merkte, lebhaft ein. „Und da der Pater Gollermann das Gewissen auch unserer gnädigsten Frau Pfalzgräfin als ihr Beichtiger leitet, so ist kaum anzunehmen, daß sie seinen trefflichen Gründen Widerstand entgegensetzen werde.“

Das hätte sie nicht sagen sollen! Nievern überlegte blitzschnell, wie sehr sie recht habe. Ließ man dem Jesuiten Zeit, Frau Sabine Eleonore zu bearbeiten, so war auch auf sie zu gunsten der armen Polyxene nicht mehr zu rechnen. Und hatte schon vorher sein Entschluß festgestanden, das unglückliche Mädchen heute zu sehen, so war er in diesen letzten paar Sekunden unerschütterlich geworden. Gerade das Sträuben der Nonnen zeigte ihm am besten, wie nöthig Polyxene von Leyen ihre wenigen Freunde haben mochte. So sagte er denn jetzt mit einer Ruhe, ja Behaglichkeit, welche den beiden Klosterfrauen am allerbedenklichsten vorkommen mußte: „Eueren Gehorsam gegen den Pater Gollermann in Ehren, würdige Mutter, aber ich setze demselben den Gehorsam gegen meine allergnädigste Frau entgegen. Mein Auftrag lautet, heute das Fräulein hier zu besuchen, im Namen der Pfalzgräfin. Weiter weiß ich nichts ... haltet Euch aber versichert, daß ich dies Haus nicht verlassen werde, bis er ausgeführt ist.“

Es gingen rasche Blicke zwischen den beiden Nonnen hin und her. „Dann hat der Herr wohl Zeit,“ begann die Schwester Veritas jetzt wieder, während Aerger und Bosheit ihr Gesicht verfärbten, „bis wir nach dem Pater Gollermann schicken. Ohne seine Erlaubniß vermögen wir ihm nicht zu willfahren.“

„Nein, ich habe keine Zeit!“ rief da der Oberjägermeister mit einem Male und sprang von seinem Stuhle so jäh auf die Füße mit den sporenklirrenden Reiterstiefeln, daß die Nonnen entsetzt zusammenfuhren. Besonders die Schwester Veritas; denn jetzt stand er unheimlich dicht vor ihr und die hohe sehnige Männergestalt überschattete sie wie drohend, sie, die nur weibliche Nähe oder höchstes die der geistlichen Herren mit ihrem friedlichen Wesen gewohnt war. War es denn Zufall und gehörte es zur weltlichen Ausrüstung, daß der ciselierte Kolben einer unhöflich langen Reiterpistole diesem Besucher da vorn aus dem Gürtel des Kolletts sah? Die fromme Seele wußte es nicht – sie wich zurück. Aber siehe, er folgte ihr und blieb ihr dicht auf den Fersen, als sie einige Schritte durchs Zimmer that.

„Wie, wollt Ihr uns hier vergewaltigen, Herr von Nievern?“ rief da die Aebtissin vorwurfsvoll klagend, während die Schwester Veritas sogar mit einem leisen Stich ins Keifende sich hören ließ: „Hochwürdige Mutter, wehrt dieser Ungebühr! Oder ich rufe mir zum Schutze den Gärtner und den Schaffner her, die auch kräftige Arme haben. Was wollt Ihr, Herr?“

„Nichts als Euch versichern, Schwester Subpriorin“ – dazu lächelte der Herr von Nievern ein wenig grimmig – „daß Ihr dies Gemach nicht ohne mich verlassen werdet. Denn wisset, Euer Behaben fängt an, mir sehr seltsam zu erscheinen, und läßt mich befürchten, daß es so wohl nicht mit dem Fräulein von Leyen stehen muß, wie zu wünschen wäre. Was? Ihr haltet sie versteckt und verschlossen wie ein Nönnlein in Pönitenz, sie, eine Dame von Stand, die nach meinem besten Wissen nicht daran gedacht hat, bei Euch Profeß zu thun? Wer, ich frage, giebt Euch das Recht [472] zu solchem Unterfangen? Euere Privilegien in Ehren, aber [hü]tet Euch! Es möchte sonst eine gemeine Justiz dieses Birkenfelder Landes Anlaß finden, sich mit der absonderlichen Sache zu befassen.

„Die gemeine Justiz zu scheuen, hätte vielleicht dies Fräulein mehr Ursache als wir,“ versetzte darauf Schwester Veritas giftig. „Und hütet Euch, Herr, Euere Zunge gegen Anordnungen zu gebrauchen, welche der Herr Bischof von Trier selber hat ausgehen lassen gegen das überhandnehmende Gift ketzerischer Lehren. Wegen der Neigung zu hochmüthigem Irrglauben ist dies Fräulein zunächst einmal in geistliche Zucht genommen. Sehe zu, wer sich ihrer so dreist annimmt, daß er nicht auch dieser Seuche verfällt! Vielleicht gar hat er sie schon, ohne daß er’s weiß!“

Nievern verharrte in verächtlichem Schweigen und seine Haltung und Miene zeigten kein Nachlassen seiner verwegenen Entschlossenheit. Die Aebtissin begann nun wieder, und durch ihren Ton klang es durch wie eine etwas weinerliche Berufung auf sein Kavaliergefühl: „Bedenkt, was Ihr thut, Herr von Nievern! Wir sind schutzlose Frauen hier, die Ihr zum Ungehorsam gegen den geistlichen Berather dieses Klosters nöthigen wollt.“ Und dann, nun auch ihrerseits zur Drohung übergehend: „Wir müssen, so Ihr Euch jetzt nicht willig von hier entfernt, gegen Euch vor geistlichen Oberen und weltlichem Gericht ernstlich Klage führen, und Euer Eigensinn könnte Euch übler bekommen, als Ihr denkt!“

„Verklagt mich, wo Ihr wollt, ehrwürdige Mutter, sobald Ihr mich glücklich los seid!“ sagte darauf Herr von Nievern kaltblütig. „Jetzt aber bedeutet diese treffliche Schwester mit ihrer feinen Nase für Ketzerei, daß sie mir unverzüglich zu dem Gelaß des Fräuleins von Leyen vorangehe und dasselbe erschließe; den Schlüssel verwahrt sie, darauf möcht’ ich wetten. Denn ich gebe Euch meine Kavalierparole, daß weder ich von hier weiche noch aber auch Ihr das Gemach verlaßt, bis mir willfahrt wird. Das heißt, wir gehen von hinnen, ja, aber zusammen: ich in Euerer ehrwürdigen Gesellschaft.“

Damit schwieg der Herr von Nievern; er stand gemächlich da, leicht in den Hüften ruhend, die Linke ebenso leicht auf dem Degenknauf, und so die ganze kräftige Anmuth seiner Gestalt zeigend, für welche die beiden Nonnen indessen schwerlich Sinn hatten.

Sie wurden inne, daß sie sich entschließen müßten. Und naturgemäß merkte das die schlauere von beiden, die Schwester Veritas, noch eher als ihre Oberin. Diese, mehr an der Form der Sache sich stoßend, war aufs äußerste empört über ihre verletzte Würde, und ein gerechter Aerger über diesen Verwegenen drohte ihr mehr und mehr den Athem zu rauben und wirklich einen Anfall ihres Asthmas herbeizuführen. Die Schwester Veritas dagegen hatte rasch das Für und Wider erwogen, mit einer nachhaltigen inneren Wuth, denn sie merkte, daß man sich in einer Falle befand. Sie hatte sich zuerst gefragt, was sie eigentlich hindere, das Kloster zu alarmieren, wonach dann diesem Menschen doch die Erreichung seines Zweckes sollte schwer geworden sein! Aber ein gewisses Etwas in seinem entschlossenen Gesicht, ein Zug fast von wildem Humor verrieth ihr, daß ihr Leben allerdings schwerlich gefährdet sei, wenn sie zu entkommen suche, daß er aber ganz der Mann dazu sei, ihr sonst auf unerhörte Weise mitzuspielen! Das hatte sie blitzschnell überlegt, auch schon, wie die, die es anging ihr später für diese Viertelstunde zahlen sollten, und jetzt sagte sie „Erregt Euch nicht ferner, ehrwürdige Mutter; wir fügen uns dem Begehr des Herrn. Die Verantwortung dafür mag er tragen. Denn es ziemt diesem Hause gottergebener Conventualinnen nicht, den Verdacht aufkommen zu lassen, als wollten wir etwa aus Menschenfurcht unser Verfahren mit diesem Fräulein heimlich halten. Der Herr folge mir und habe seinen Willen!“

Herr von Nievern ließ sich durch diese etwas überraschende Willfährigkeit keineswegs verleiten, weniger auf der Hut zu sein. Er behielt die beiden Klosterfrauen scharf im Auge, ob sie etwa durch heimliche Zeichen sich verständigten. Doch war nichts der Art zu merken, nichts als bei der Aebtissin eine aufrichtige Verblüffung. Ihre Mienen schienen zu sagen: warum dies lange Herumziehen? Soviel hätten wir gleich thun können. Sie faßte sich indessen mit leidlichem Anstand und nahm ihre Zuflucht zu dem salbungsvollen Tone, der ihrer Ordenskleidung ziemte. „So geht denn, Herr von Nievern, in Gottes Namen, und begleitet die Schwester! Und wir wollen Euerem Diensteifer für unsere allergnädigste Frau Pfalzgräfin das etwas unziemliche Drängen zugute halten, dessen Ihr Euch schuldig gemacht habt.“

„Wollt Ihr uns nicht begleiten, ehrwürdige Mutter?“ fragte Herr von Nievern höflich. „Wäre es nicht an der Zeit, daß auch Ihr Euch durch den Augenschein überzeugtet, wie der Gast Eueres Hauses untergebracht ist?“

Die Aebtissin blickte, hilflos und aufs neue geärgert, zu der Schwester Veritas hinüber. Diese, nicht ohne leise Schadenfreude bei der Noth der unbehilflichen und allzu bequemen Oberin, beantwortete deren verzweifelten Frageblick mit einigen raschen halblauten Worten, durch welche die Aebtissin offenbar erst erfuhr, wo eigentlich das Fräulein untergebracht sei. „Im Oberstock des Glockenhauses!“ rief sie klagend. „Unmöglich, Herr von Nievern! Ihr kennt meinen Zustand nicht. Es wäre mein letztes, sollte ich jene Stiegen hinauf! Ein tödlicher Fluß nach dem Herzen wäre mir gewiß. Ihr müßtet mich denn hinauftragen wollen, was Euch auch nicht zuzumuten wäre.“

Unter dem Schnurrbart des Oberjägermeisters zuckte es sonderbar, doch behielt er für sich, was er über diesen Zustand der Hüterin einer frommen Schwesternschar denken mochte. „Voran denn, ich bitte!“ sagte er nur zur Subpriorin, welche Bitte aber sehr nach einem Befehl klang. Und nun hinter der Schwester her, erst zu ihrer Zelle, wie er vermuthet hatte, wo sie ihm aber dicht unter seiner Nase doch noch einen Streich spielte, indem sie von dem Brette doch eine ganze Anzahl Schlüssel nahm und dann mit fast taschenspielerischem Geschick den, auf welchen es ankam, mit einem Male dazwischen hatte; sie hatte ihn aus ihrem Gewand gezogen wo er die ganze Zeit gewesen war; das Suchen an dem öffentlichen ehrlichen Schlüsselbrett war nur ein Scheinmanöver gewesen. Und jetzt weiter, über Treppen und durch Gänge, eine lange Wanderung, während deren er mit äußerster Abgunst das häßliche plumpe Nonnenhabit auf ihrer unansehnlichen Gestalt studieren konnte. Kein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt, bis sie vor der wohlverwahrten Thür von Polyxenens Zelle anlangten.

(Fortsetzung folgt.)

Künstliche Augen.

Von Dr. C. Wettlaufer.

In den ältesten Zeiten der plastischen Kunst stellte man bekanntlich bei Nachbildungen des menschlichen Antlitzes die Augen in geschlossenem Zustande dar; später erst lernte man den Gesichtern geöffnete Augen geben und endlich setzte man auch, um den Gesichtsausdruck mehr zu beleben, künstliche Augen ein, welche aus farbigen Steinen, Metall oder Elfenbein bestanden. In unserer Zeit verwendet man zu diesem Zwecke aus Glas hergestellte Augen, am meisten bei dem beliebten Spielzeuge unserer Kleinen, den Puppen, bei Wachsfiguren und ausgestopften Thieren. Mit diesen künstlichen Augen wollen wir uns jedoch nicht weiter beschäftigen, sondern nur die in Betracht ziehen, welche eine vornehmere Bestimmung haben, nämlich dem Menschen als Ersatz für ein verlorenes Auge zu dienen.

Wann der Gebrauch der letzteren aufgekommen ist, darüber fehlen uns sichere Nachweise. Es ist zwar von Schriftstellern des Mittelalters behauptet worden, daß die alten Aegypter, Griechen und Römer sich solcher Augen bereits bedient hätten, allein ältere Forscher, wie Mauchard, wollen darüber in den einschlägigen Schriften jener Völker nichts gefunden haben. Die erste wissenschaftliche Abhandlung über künstliche Augen finden wir bei Ambroise Paré in seinem 1582 erschienenen chirurgischen Werke. Dieser verdienstvolle Mann, Leibwundarzt von vier französischen Königen hintereinander, unterscheidet zweierlei Arten, die sogenannten „Ekblephari“ und „Hypoblephari“. Die ersteren bestanden der Beschreibung und Abbildung nach aus einem federnden, schmalen, metallenen Bügel, dessen eines Ende bis zum Hinterkopf reichte, während das andere in eine runde, die Augenhöhle samt den Lidern deckende Platte auslief; diese war mit feinem Leder überzogen, auf welchem sich ein gemaltes Auge befand – ein Aushilfsmittel, das gerade nicht schön und bequem benannt werden

[473]

Am Strande.
Nach einem Aquarell von J. v. Wodzinski.

[474] kann. Die andere Art, die „Hypoblepharie“ waren Schalen, ähnlich einer halben Nußschale, aus Gold, Silber oder Kupfer, theils mit theils ohne Schmelzarbeit, und wurden in die Augenhöhle unter die Lider eingelegt. Auf ihrer gewölbten Seite war die bunte Iris (Regenbogenhaut), die schwarze Pupille und die weiße Sclera (Lederhaut) aufgemalt Sie waren die Vorläufer unserer jetzt gebräuchliche künstlichen Augen; allerdings mußten sie noch manche Wandlung durchmachen, bis sie eine solche Vollkommenheit erreichten, wie man sie heute von ihnen verlangt. Einmal waren sie nicht nur recht theuer, sondern auch ihrer Schwere wegen sehr lästig.

Beide Uebelstände suchte man dadurch zu beseitigen, daß man die Augen aus Porzellan und später aus Glas herstellte. Die Anfertigung und Zeichnung der letzteren war eine verhältnißmäßig recht einfache, indem man auf eine große weiße Perle einen blauen oder braunen Kreis und in dessen Mitte einen schwarzen Punkt malte, die untere Hälfte der Perle wegschmolz und so eine dünne Schale erhielt – das nunmehr fertige Auge.

Bereits im Anfang des 17. Jahrhunderts waren diese Augen ziemlich allgemein bekannt. Mit der Zeit wurden sie mehr und mehr vervollkommnet, besonders bemühte man sich, ihnen ein natürlicheres Aussehen zu geben. Wie weit man es schon damals darin gebracht hat, läßt sich aus jener ergötzlichen Geschichte entnehmen, welche uns Mauchard in seiner 1749 zu Tübingen erschienenen Inaugural-Disputation „Oculus artificialis Ekblepharos kai Hypoblepharos“ mittheilt. Mauchard hatte nämlich einer Bäuerin ein Glasauge eingesetzt, welches wegen seiner großen Natürlichkeit die Bewunderung der Zuschauer erregte und laut von ihnen gerühmt wurde. Hierdurch wurde nun die gute Frau zu dem Glauben verleitet, daß sie mit diesem Auge auch sehen könne, und schloß, um sich davon zu überzeugen das andere, worauf sie zu ihrem größten Leidwesen bemerkte, daß trotz aller Natürlichkeit eben doch das Wichtigste, die Sehkraft, fehlte.

Figur 1.   Figur 2.

Figur 3.
a. Sclera. b. Hornhaut. c. Vordere Kammer. d. Pupille. e. Iris.

Obschon nun diese Glasaugen mancherlei Vorzüge aufzuweisen hatten, so haftete ihnen doch noch der Hauptfehler an, daß sie infolge ihrer Sprödigkeit sehr leicht zerbrachen. Aber auch dieser wurde beseitigt, als man im vorigen Jahrhundert anstatt des gewöhnlichen Glases Schmelzwerk, Emaille, zu verwenden anfing, eine besonders vorbereitete Glasmasse, welche durch Zusatz hauptsächlich von Arsen und Metalloxyden größere Geschmeidigkeit und Elasticität sowie verschiedene Färbung erhält. Diese Masse ist noch heute theilweise, z. B. bei den Franzosen, in Gebrauch. Die Franzosen waren es überhaupt bis in die neueste Zeit fast ausschließlich, welche die Kunst des Augenblasens ausübten und es darin zu so großer Fertigkeit brachten, daß ihre Erzeugnisse von keinen anderen übertroffen wurden.

Zu den besten und bekanntesten Augenkünstlern seiner Zeit gehörte der geniale Chr. Fr. Hazard, der Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts in Paris lebte und seine Kunst zu großem Ansehen brachte. Ferner ist zu nennen sein Neffe und Schüler Hazard-Mirault, der uns eine größere Abhandlung über künstliche Augen hinterlassen hat, dann Desjardins, der Vater, und Boissoneau, Vater und Sohn. „Boissoneau fils“ dürfte wohl jetzt noch das bedeutendste Geschäft für künstliche Augen in Paris sein.

In Deutschland war zu Anfang dieses Jahrhunderts die Kunst des Augenblasens noch nicht eingeführt; man kannte und benutzte eben auch bei uns nur französisches Fabrikat. Da kam Mitte der vierziger Jahre ein gewisser Ludwig Müller-Uri aus Lauscha in Thüringen, wo damals schon eine hochentwickelte Glasindustrie blühte, nach Paris. Während seines dortigen Aufenthaltes hatte er Gelegenheit, künstliche Augen von Desjardins dem Aelteren zu sehen und sich davon zu überzeugen, daß ihre Anfertigung ein gewinnbringendes Geschäft sei. Auf alle mögliche Art und Weise suchte er das Verfahren bei der Herstellung kennenzulernen, aber vergebens, denn der schlaue Franzose bewahrte sein Geheimniß aufs sorgfältigste. Trotzdem beschäftigte sich Müller-Uri, in seine Heimath zurückgekehrt, eifrig mit der Kunst des Augenblasens und brachte auch nach einiger Zeit Augen zustande, die sich, was Natürlichkeit und Leichtigkeit betraf, mit den französischen messen konnten. Nur war das von ihm verwendete Glas sehr spröde und wenig dauerhaft; der in ihm enthaltene kieselsaure Kalk löste sich in der Thränenflüssigkeit auf, wodurch nicht nur die Oberfläche des Glases rauh, sondern auch die Schleimhaut der Augenhöhle angeätzt wurde.

Figur 4.

Auch Müller-Uri suchte gleich seinen französischen Vorbildern das Geheimniß seiner Kunst ängstlich zu hüten und er hatte, um bei seiner Arbeit ja ganz unbeobachtet zu sein, seine Werkstätte auf dem Boden in einer Dachkammer aufgeschlagen. Allein das hinderte seinen Neffen F. A. Müller – derselbe legte später zur Unterscheidung von seinem Onkel den zweiten Namen „Uri“ ab – nicht, genug von ihm zu erfahren, um Ende der fünfziger Jahre selbständig künstliche Augen anfertigen zu können. Ja er erhielt bereits im Jahre 1864 zusammen mit seinem Onkel auf der Ausstellung in Wien einen Preis. Er war es denn auch, der in der Folgezeit durch verschiedene Verbesserungen der Technik und des Materials die deutschen Erzeugnisse zu immer größerer Vollendung führte. So erfand er ein neues Verfahren, die Iris herzustellen. Die Franzosen trugen diese nämlich mit Schmelzfarben auf einen Glasstempel auf, brannten sie in diesen ein und lötheten sie dann auf die die Sclera darstellende Kugel auf. Müller dagegen schmolz und drehte verschiedenfarbige Gläser zu dünnen Stäbchen und zeichnete mit diesen die Iris unmittelbar auf die Kugel. Was aber seinen Augen am meisten zugute kam, das war die Erfindung einer neuen Glassorte, die nach ihrem Hauptbestandtheil „Kryolithglas“ genannt wird, Diese Glasart hat einmal den Vortheil, daß sie nicht wie die früher benutzte durch die Thränenflüssigkeit angegriffen wird, sondern sehr widerstandsfähig ist, noch mehr als das französische Glas, und daß sie zweitens doch alle Vorzüge der Emaille besitzt. Sie läßt sich leicht bearbeiten, wird nie rauh und behält ihren Glanz. Aus ihr gefertigte Augen können gut ein Jahr getragen werden; erst nach dieser Zeit wird die aus Krystallglas bestehende Hornhaut, und nur diese, rauh, während alle ausländischen, aus einer bleihaltigen Glasmasse hergestellten Augen bedeutend früher und auf ihrer ganzen Oberfläche rauh und damit unbrauchbar werden. Eine Eigenthümlichkeit des Kryolithglases mag hier noch erwähnt werden. Es verliert nämlich in der Stichflamme seine milchglasartige Färbung vollständig und wird ganz durchsichtig, nach Erkalten und Wiedererwärmen auf einen bestimmten Hitzegrad aber nimmt es jene wieder an. Endlich gelang es Müller noch, an seinen Augen die sogenannte „vordere Kammer“ anzubringen – am natürlichen Auge versteht man darunter den mit klarer Flüssigkeit gefüllten Raum zwischen Horn- und Regenbogenhaut – wodurch sie bedeutend an Naturtreue gewannen, ohne daß sie dadurch an Durchmesser zu dick oder an Gewicht zu schwer geworden wären, Fehler, welche andere Augen zeigten, denen man eine vordere Kammer zu geben versucht hatte. Die beistehenden Zeichnungen dürften dies mit genügender Klarheit zeigen. Fig. 1 stellt ein französisches Auge dar ohne Vorderkammer, wobei Hornhaut und Regenbogenhaut fast in demselben Niveau liegen, Fig. 2 ein deutsches Auge mit normaler vorderer Kammer, ebenso Fig. 3 dasselbe in wagrechtem Durchschnitte, Fig. 4 ein schweizer Auge mit anormaler vorderer Kammer, die den Lidschlag nahezu unmöglich macht. Eine vordere Kammer läst sich allerdings nur dann anbringen, wenn nicht ein in der Augenhöhle zurückgebliebner größerer Augenstumpf das Einsetzen einer sehr dünnen Schale erfordert.

Durch alle diese Verbesserungen waren die Müllerschen Augen den französischen nicht nur in jeder Beziehung ebenbürtig geworden, sondern übertrafen sie in verschiedener Hinsicht noch bedeutend. Trotzdem und obwohl namhafte Augenärzte warm dafür eintraten, hielt es doch schwer, dem deutschen Fabrikate die gebührende Anerkennung zu verschaffen, bis der Krieg 1870 bis 1871 auch hierin Wandel schaffte. Er brachte für uns die Nothwendigkeit mit sich, einheimische Fabrikate zu kaufen, und dabei kam man endlich zur Einsicht, daß die deutsche Arbeit weit besser als die französische und noch dazu billiger war. Infolgedessen nahm das Müllersche Geschäft einen großen Aufschwung, und Müller sah sich veranlaßt, seinen Wohnort von dem etwas weltverlorenen Lauscha nach der Weltkurstadt Wiesbaden zu verlegen.

[475] Hier erfanden die zwei Söhne Müllers, welche nach dem Tode des Vaters die Augenanfertigung in künstlerischer Weise weiterbetrieben, im Jahre 1880 einen technischen Fortschritt, welcher die Schönheit ihrer Augen noch bedeutend erhöhte; es gelang ihnen nämlich die Herstellung des sogenannten „Corneo-Scleralrandes“, wie er sich am natürlichen Auge darstellt. Betrachtet man ältere Augen (z. B. Fig. 1), so bemerkt man, daß an ihnen die Iris gegen die Sclera mit einer ganzen scharfen Grenze aufhört, während diese beim natürlichen Auge gleichsam verwaschen erscheint. Und dies wird eben bei dem neuen Müllerschen Verfahren aufs glücklichste nachgeahmt. Mit der Zeit lernte man auch im Ausland die Vorzüge der deutschen Augen schätzen, so erhielten sie auf den Ausstellungen zu Amsterdam 1883 und zu Antwerpen 1885 den höchsten Preis, welchen bis dahin immer die für unübertrefflich gehaltenen französischen Fabrikate für sich in Anspruch genommen hatten. Auf der Ausstellung in Chicago haben die Gebrüder Müller eine Sammlung künstlicher Augen ausgestellt, welche die verschiedenen krankhaften Veränderungen des Auges in treuer Nachbildung der Natur veranschaulichen. Das ist eine neue Art der Verwendung des künstlichen Auges; aus einer Anregung des Professors Pagenstecher hervorgegangen, sind derartige Sammlungen dazu bestimmt, an den Universitäten als Lehrmittel zu dienen. –

Figur 5.

Figur 6.

Außer Müller, dem Vater, gab es in Deutschland nur wenige, welche wirklich gute Augen herzustellen verstanden. Zu ihnen gehört Dr. Klaunig in Leipzig, der auf Veranlassung seines Lehrers, des Professors Ritterich – beide haben Abhandlungen über künstliche Augen veröffentlicht – sich längere Zeit bei Müller-Uri mit Augenblasen beschäftigte und darin großes Geschick erlangte. Ferner sind zu erwähnen Jerack in Prag und sein Schüler Paul Greiner in Hamburg, welche beide Hervorragendes leisteten. Sie waren zugleich in Deutschland die einzigen, welche ihre Augen nach venetianischer Schule anfertigten, die Jerack in Murano bei Venedig sich angeeignet hatte. Dort stellte man nämlich die Irisfarben dadurch her, daß man farbige Perlen zerrieb und mit diesem Pulver die Iris aufzeichnete. Jerack aber sowohl wie Greiner trieben ihre Kunst mehr aus Liebhaberei. In Lauscha lernte Müller eine Anzahl Schüler an, aber keiner hat es zu größerer Bedeutung gebracht. Es gehört eben zur Anfertigung wirklich guter künstlicher Augen, abgesehen vom Material, ein gewisses Talent, ein sehr ausgeprägter Farben- und Formensinn Ohne diesen kann wohl jemand es durch lange Uebung dahin bringen, künstliche Augen zu blasen; aber künstlerisch vollendete wird er niemals schaffen lernen.

Wie wird aber nun ein künstliches Auge gemacht?

Am besten bekommen wir davon eine Vorstellung, wenn wir uns einmal in eine Werkstatt versetzen, wo man gerade im Begriff ist, eine „Prothese“, so lautet der technische Ausdruck für ein künstliches Auge, anzufertigen. Wir sehen da einen Tisch, der mit Glasstäben und -röhren von allen möglichen Farben bedeckt ist und eine Vorrichtung zur Erzeugung einer Stichflamme trägt. Vor derselben sitzt der Künstler, neben ihm der Patient. Von Werkzeugen bemerken wir nur eine Art Zange zum Anfassen der heißen Augen und einen Kühltiegel, die Hauptarbeit fällt Hand und Mund zu. Als Material dienen die schon erwähnten Glasröhren und -stäbchen. Die krystallklaren geben die Hornhaut und Vorderkammer, die ganz dunkeln die Pupille, die rothen die Aederchen und die anderen bunten die Iris. Die milchglasartigen Röhren von bald mehr röthlichem, bald mehr bläulichem, gräulichem oder gelblichem Ton bestehen aus dem uns schon bekannten Kryolithglase, aus welchem der größte Theil des Auges, die Sclera oder weiße Augenhaut, hergestellt wird, und kommen bereits so verarbeitet von der Glashütte. Ihre Bestandtheile sind zwar bekannt, aber das Verhältniß ihrer Zusammensetzung ist Geschäftsgeheimniß. Die Farbenschattierungen der Gläser werden durch Zusatz von Metallen oder deren Oxyden erzeugt, so grün durch Brom, blau durch Kobalt, braun und schwarz durch Braunstein, gelb durch Chrom und Uran, grau durch Nickeloxyd und roth durch Gold. Die Herstellung der letzteren Farbe in der Abtönung, wie sie bei den Aederchen gebraucht wird, soll besonders schwierig sein und manche Probe muß als unbrauchbar verworfen werden, bis die richtige getroffen ist.

Nachdem wir uns so einigermaßen über Handwerkszeug und Material haben belehren lassen, kann die Arbeit beginnen. Zu diesem Zwecke wird noch die Augenhöhle, welche die Prothese aufnehmen soll, einer genauen Besichtigung unterzogen, ebenso das gesunde Auge in Bezug auf seine Farbe. Nun wird eine jener Röhren in passender Schattierung ausgesucht und an der Stichflamme ein Stück so abgeschmolzen daß es in zwei dünne hohle Handhaben ausläuft, deren eine geöffnet ist, um als Mundstück zum Blasen zu dienen (Fig. 5). Die nachfolgenden Arbeiten werden, um dies hier gleich einzufügen, alle an der Stichflamme unter beständigem Hin- und Herdrehen des Auges ausgeführt, um das Glas in dem zum Verarbeiten nöthigen weichen Zustand zu erhalten.

Die hohle Glasspindel wird zu einer Kugel aufgeblasen und die eine Handhabe abgeschmolzen. Auf der dem Mundstück gegenüberliegenden Fläche wird dann als Untergrund für die Iris eine entsprechende Grundfarbe aufgetragen, mit der zugleich auch ein als Fabrikmarke dienendes Sternchen aufgesetzt wird, das man an der Rückseite des fertigen Auges sehen kann. Ist die Grundfarbe genügend verblasen, so werden auf die so entstandene Fläche von etwa 6 mm Durchmesser die verschiedenen Irisfarben mit den vorher präparierten Glasstäbchen in strahlenartiger Anordnung aufgezeichnet und eben geblasen. Nachdem sodann mit schwarzem Glas die Pupille aufgeschmolzen ist, wird durch Aufsetzen von Krystallglas Vorderkammer und Hornhaut hergestellt. Das Ganze wird nun gleichmäßig verblasen, worauf die Aederchen aufgemalt werden, und zwar so, daß man ein rothes Stäbchen zu haarfeinen Fäden auszieht und diese an die Kugel anlegt. Haben sie sich mit jener verschmolzen, so erhält die Kugel durch weiteres Erhitzen und Blasen eine mehr ovale Form. Dann wird ein Loch hineingeblasen und von diesem aus mittels eines Glasstäbchens durch Abschmelzen die Trennung der Augenschale von dem Mundstück bewirkt, wobei jene zugleich die gewünschte Form erhält. Fig. 6 zeigt die Augenschale halb abgeschmolzen. Ist zum Schluß der Rand noch geglättet, so wird das nunmehr fertige Auge in den Kühltiegel gelegt, um sich dort langsam abzukühlen, was von großer Wichtigkeit ist, da ein zu rasch abgekühltes Auge leicht springt.

Figur 7.

So haben wir in etwa dreiviertel Stunden ein künstliches Auge entstehen sehen. Das Gewicht eines solchen, welches Fig. 2 in Seitenansicht, Fig. 7 in Vorderansicht zeigt, beträgt ungefähr zwei Gramm, die Dicke der Sclera 3/4 bis 1 mm, die der Iris mit Vorderkammer je nach der größeren oder geringeren Tiefe derselben 2 1/2 bis 5 mm.

Während wir dem Künstler zuschauten, haben wir natürlich nur die gröberen Einzelheiten bei der Herstellung des Auges bemerkt, alle die technischen Feinheiten und Schwierigkeiten, in deren Bewältigung sich gerade der Meister zeigt, sind unseren Laienblicken entgangen. Diesmal ist auch gleich das erste Auge gelungen, während ein andermal mehrere ohne erkennbare Ursache platzen und die Arbeit wieder von neuem begonnen werden muß. In unserem Falle ist auch der Sitz und die Beweglichkeit in der Augenhöhle sofort zur Zufriedenheit des Künstlers ausgefallen. Bei schwierigeren Verhältnissen aber, z. B. wenn Narbenstränge oder Schleimhautwucherungen in der Augenhöhle entsprechende Ausschnitte an der Augenschale erfordern, paßt vielleicht erst das zweite oder dritte Auge genau, was um so begreiflicher ist, wenn man bedenkt, daß nur nach dem Augenmaß gearbeitet wird.

Das künstliche Auge muß, wenn es allen Anforderungen genügen soll, dem natürlichen in Färbung der Sclera und Iris, in Größe der Iris und Pupille völlig gleichen; es muß sich möglichst leicht bewegen und darf seinem Träger keinerlei Beschwerden machen. Es muß endlich dauerhaft sein und darf sich nicht zu früh abnutzen. Was den letzten Punkt anbetrifft, so kommt es [476] dabei auch auf eine zweckmäßige Behandlung des künstlichen Auges an, weshalb wir über diese einige Winke geben wollen.

Das künstliche Auge soll nur am Tage getragen werden. Es wird daher früh morgens eingesetzt und abends vor dem Schlafengehen wieder herausgenommen Beim Einsetzen beobachte man folgende Regeln. Man tauche das Auge in reines Wasser – einölen ober einfetten ist schädlich – und fasse es mit dem Daumen und Zeigefinger der einen Hand je in der Mitte des oberen und unteren Randes. Während nun die andere Hand von oben her das Oberlid an seinem Rand und den Wimpern in die Höhe zieht, schiebt man die mit ihrer Höhlung nach der Wange gekehrte Schale mit ihrem breiten Schläfentheil über das Unterlid weg nach oben bis zur Hälfte in die Augenhöhle ein. Dann läßt die andere Hand das Oberlid los, faßt das Unterlid und zieht es nach unten. Dabei wird das Auge so gedreht, daß es horizontal liegt, und dann das Unterlid losgelassen, welches sich nun über die Prothese legt und diese mit dem Oberlid in der richtigen Lage erhält. Um das Auge herauszunehmen, zieht man das Unterlid wieder nach unten, geht mit einem kleinen Häkchen oder dem Kopfe einer größeren Stecknadel hinter den unteren Rand und macht einige hebelnde Bewegungen mit dem Instrument, wodurch das Auge unter dem Oberlid hervorgleitet. Um ein Zerbrechen des zarten Glaskörpers zu verhüten, kann man sich in der ersten Zeit bei dem Einsetzen und Herausnehmen über ein Bett oder eine weiche Unterlage beugen, bis man die nöthige Fertigkeit erlangt hat, das Auge mit der Hand aufzufangen. Sollte die Augenhöhle tagsüber viel Schleim absondern, so muß man auch mittags das Auge herausnehmen und Augenhöhle und Auge mit lauem Wasser reinigen. Ueber Nacht wird die gereinigte Prothese trocken, nicht etwa in Wasser, und vor Staub geschützt, am besten in dem vom Fabrikanten gelieferten Kästchen aufbewahrt. Alle vierzehn Tage muß das Auge gründlich mittels lauen Wassers, Seife und einer weichen Bürste gesäubert werden. Behandelt man das Auge auf diese Weise, so kann man es gut ein Jahr tragen.

Ehe man sich ein künstliches Auge anschafft, frage man einen Augenarzt, ob dem Tragen eines solchen keine Bedenken entgegenstehen; es giebt Fälle, wo es schädliche Folgen haben kann. Wenn möglich, stelle man sich dem Augenfabrikanten selbst vor, daß sich dieser bei seiner Arbeit nach den persönlichen Verhältnissen richten kann. Gut thut man auch, sich mindestens ein Reserveauge anfertigen zu lassen, damit man bei Verlust des einen nicht in Verlegenheit komme.

Zum Schluß wollen wir nun noch einiges darüber sagen, welchen Zweck es hat, ein künstliches Auge zu tragen. In einer großen Anzahl van Fällen geschieht es wohl lediglich aus Rücksichten der Schönheit. Es soll eben der das Gesicht entstellende Fehler ausgeglichen werden. Wie weit man dabei in der Nachahmung der natürliche Verhältnisse gehen kann, beweist jener Opernsänger, der bei Tag ein Auge mit kleiner Pupille und abends ein solches mit größerer trug, weil sich bekanntlich bei herabgesetzter Beleuchtung die Pupille erweitert.

Bei Kindern kommt der Gesichtspunkt des äußeren Eindrucks nicht allein in Betracht; durch das Tragen einer Prothese wird auch ein unsymmetrisches Wachsthum der beiden Gesichtshälften vermieden, während sonst diejenige, welcher der Augapfel fehlt, im Wachsthum zurückbleiben würde. Hauptsächlich aus diesem Grunde ist daher der Gebrauch eines künstliche Auges bei Kindern anzurathen, und wenn es auch nur eine Schale ohne Zeichnung wäre. Daß es durch Stoß oder Schlag häufig zertrümmert werden könnte, ist nicht leicht zu befürchten, da die nach außen gewölbte Oberfläche der halbkugeligen Schale schon einen äußerst harten Schlag erhalten muß, ehe sie zerbricht, was in der That auch nur sehr selten vorkommt. Aber selbst wenn dies geschehen sollte, so können ja doch die Splitter keine edleren Theile verletzen.

Stellen wir uns ferner vor, ein wie schmerzlich unerquickliches Bild ein Einäugiger bietet! Kein Wunder, daß es ihm schwerer fällt als anderen, sein Fortkommen zu finden, wenn er auch wirklich mit seinem einen Auge noch gerade soviel leisten kann wie vorher mit zweien! Das künstliche Auge verdeckt nicht nur einen Schönheitsfehler, sondern es erfüllt auch einen gewissen Heilzweck und gestaltet die soziale Lage seines Trägers günstiger. Daher bedarf seiner noch mehr als der Reiche derjenige, welcher auf seiner Hände Arbeit angewiesen ist. Für ihn kommt allerdings auch der Kostenpunkt in Betracht, der indessen den Vortheilen gegenüber, welche das künstliche Auge bietet, nicht allzu hoch anzuschlagen ist. Man lasse sich aber ja nicht etwa aus Sparsamkeit dazu verleiten, ein Auge zu lange zu tragen. Denn nach ungefähr Jahresfrist wird, wie schon oben erwähnt, auch bei dem beste Fabrikat die Oberfläche rauh und die Schleimhaut ist einer fortwährenden Reizung ausgesetzt, welche zu langwierigen Entzündungen und schließlich zu Schrumpfung führt, so daß das fernere Tragen einer Prothese endlich ganz unmöglich werden kann. Also lieber etwas mehr Geld ausgeben als sich dieser Gefahr aussetzen! Wünschenswerth wäre es deshalb auch, wenn die Krankenkassen für ihre Mitglieder nicht nur wie bisher die erstmalige Anschaffung eines künstlichen Auges, sondern auch dessen jährliche Erneuerung übernehmen würden.


Zürnende Brunnengeister.

Wer kennt nicht die zahlreichen Sagen von überfließenden Brunnen, welche Dörfer und Felder überschwemmt und Landseen gebildet haben sollen? Solche Legenden sind weit verbreitet, „allgemein menschlich“ – könnte man sagen; denn wir begegnen ihnen in verschiedenen Welttheilen, und selbst die schwarzen Eingeborenen an den Ufern des Tanganjika in Deutsch-Ostafrika erzählen, daß der gewaltige See durch das Ueberfließen eines Brunnens entstanden sei, als einmal die Gebote des Brunnengeistes von den Menschen nicht befolgt wurden. Diesen Volksüberlieferungen liegen gewiß wahre Ereignisse zu Grunde, woran gerade in unseren Tagen niemand zweifeln wird, nachdem ein überfließender Bohrbrunnen die Stadt Schneidemühl mit den schlimmsten Gefahren bedroht hat.

Man hatte dort Ende vorigen Jahres einen alten Brunnen verbessern wollen und tiefer gebohrt. Dabei erschloß man eine Quelle, deren Wasser jedoch mit Sand vermengt war; so bohrte man immer tiefer. Das Rohr verstopfte sich, aber neben demselben bahnte sich das Wasser den Weg zur Oberfläche, begann immer mächtiger hervorzuquellen und dabei große Massen von Sand und Erde fortzuspülen. Der Brunnen höhlte das Erdreich aus, auf welchem ein Theil der Stadt steht, und nun suchte man, die Gefahr ahnend, das Bohrloch zu verstopfen, aber man konnte die heraufbeschworenen Wassergeister nicht sogleich bändigen. Anfang Juni fing der Boden an, sich zu senken. Zwei der schönsten Straßen der Stadt, die Große und die Kleine Kirchenstraße, an deren Vereinigungspunkt der Brunnen steht, wurden aufs ernstlichste gefährdet, und das Verhängniß schritt unaufhaltsam vor. Wie unsere Leser aus den Berichten der Tagespresse erfahren haben, mußten bis Ende Juni über 80 Familien ihre Wohnungen räumen; die Häuser an der bedrohten Stelle bekamen Risse und Sprünge und schließlich brach ein dreistöckiges ganz neues Wohngebäude in der Großen Kirchenstraße zusammen, während 23 andere Häuser halb zerstört dastanden, bereit, jeden Augenblick einzustürzen.[1]

Die Bohrbrunnen, die auch artesische Brunnen genannt werden, sind seit uralter Zeit bekannt, und man hat von ihnen immer nur Gutes gehört. Schon die alten Aegypter verstanden auf diese Weise die Wasser der Tiefe an die Erdoberfläche zu fördern, und man entdeckte während der letzten Jahrzehnte in den Oasen von Theben und Dachel eine große Zahl derartiger verschütteter Brunnen, von denen manche 300 bis 400 m tief waren. Als man in der Neuzeit einen dieser Brunnen reinigte, da bot er eine eigenthümliche Erscheinung: mit dem Wasser kamen aus einer Tiefe von 107 m Fische empor. Heute bohren die Franzosen im Süden Algeriens artesische Brunnen und verwandeln mit dem gewonnenen Wasser weite Strecken der Wüste in grünende Oasen. In China sind artesische Brunnen massenhaft vorhanden und oft bis 900 m tief. Mehrere Geschlechter mußten bei den geringfügigen Mitteln der chinesische Technik arbeiten, bis eine Wasserquelle in solcher Tiefe erschlossen wurde.

Die Kunst, Brunnen zu bohren, nahm in Europa erst zu Anfang dieses Jahrhunderts einen besondere Aufschwung, und gegenwärtig spenden in Europa und Nordamerika zahlreiche artesische Brunnen nicht nur reines kühles, sondern auch warmes Wasser. Auf einem Platze in Paris befindet sich z. B. ein Bohrbrunnen, der 719,2 m tief ist und ein Wasser von 34,5° C. Wärme liefert. In Ungarn giebt es mehrere Brunnen, die Wasser von einer Temperatur bis zu + 51° C. führen. Der eine dieser Brunnen, auf der Margaretheninsel zu Budapest, reicht in eine Tiefe von 970 m hinab. Tiefer noch ist ein artesischer Brunnen, der vor 25 Jahre zu St. Louis in den Vereinigten Staaten gebohrt wurde; er steigt 1200 m in den Schoß der Erde hinunter, endigt aber im felsigen Granitlager und giebt kein Wasser. Anderwärts hat man auf diesem Wege salzreiche Sole aus der Tiefe der Erde zu gewinnen gewußt, kurz, vielfach ist der Segen, den die Brunnengeister der Tiefe der Menschheit spenden. Es ist eine äußerst seltene Ausnahme, daß sie, einmal heraufbeschworen, die Werke der Menschenhand zu zerstören trachten.

Wenn nun die Völker in ihren alten Ueberlieferungen trotzdem von zürnenden Brunnengeistern berichten, so hängt dies mit Umwälzungen [477] zusammen, die sich von Zeit zu Zeit im Schoß der Erde vollziehen und auch den Lauf und die Vertheilung der unterirdischen Gewässer verändern. Ueberströmende Brunnen werden schon in dem biblischen Berichte über die Sintfluth erwähnt. Man sucht dieses auch in anderen Sintfluthsagen erwähnte Hervortreten der Grundwassermassen durch die Annahme zu erklären, daß die Sintfluth von einem Erdbeben eingeleitet worden sei. Auch aus geschichtlicher Zeit ist eine ganze Reihe von Fällen bekannt, wo durch Erdbeben Brunnen verändert und große Wassermassen emporgehoben wurden. Am Tage des großen Erdbebens von Lissabon, am 1. November 1755, warf die große Hauptquelle zu Teplitz zwischen 11 und 12 Uhr plötzlich eine so große Menge Wasser aus, daß in einer halben Stunde alle Bäder überflossen. Schon eine halbe Stunde vor diesem Aufquellen war das Wasser schlammig geworden; nachdem es hierauf beinahe eine Minute lang ausgeblieben war, brach es mit großer Gewalt hervor und führte eine Menge röthlichen Ockers mit, hierauf wurde die Quelle wieder ruhig und rein wie zuvor.

Am 12. Januar 1812 wurde die ganze südliche Umgebung des Baikalsees von einem heftigen Schlage getroffen. Die Steppe östlich von dem in den See mündenden Flusse Selenga, auf welcher sich eine Burjäten-Niederlassung befand, senkte sich auf eine Länge von etwa 21 km und eine Breite von 9,5 bis 15 km zur Tiefe; Gewässer brachen allenthalben hervor, wurden auch aus den Brunnen hervorgestoßen, und endlich trat gar das Wasser des Baikal in die große Senkung und füllte sie gänzlich aus. An vielen Punkten entstanden Springquellen. In der Ortschaft Kudara wurden die Holzdeckel der Brunnen wie Stöpsel aus Flaschen in die Höhe geschleudert, und Quellen von lauem Wasser erhoben sich stellenweise bis zur Höhe von 6,5 m. Die Mongolen wurden durch diese Erscheinung so erschreckt, daß sie ihre Priester, die „Lamas“, zu religiösen Ceremonien veranlaßten, um die bösen Geister zu beruhigen.

Die Unglücksstätte in Schneidemühl.
Nach Photographien von T. Graszynski in Schneidemühl

Aber auch ohne das Auftreten von Erdbeben können die Grundwasser eine Thätigkeit entfalten, die schließlich dem auf der Oberfläche hausenden Menschen verderblich wird. Kommen sie auf ihrem unterirdischen Laufe mit Erdschichten in Berührung, welche lösliche Salze, namentlich Kochsalz, kohlensauren Kalk und Gips enthalten, so laugen sie diese Schichten aus und bilden in ihnen mit der Zeit immer größer werdende Höhlen. Bischoff fand, daß 4000 Pfund Wasser des Flüßchens Pader bei Paderborn etwa 1 Pfund kohlensauren Kalk enthalten. Nach angestellten Messungen beträgt die Menge des in einer Minute fortfließenden Wassers dieses Flusses 1 074 450 Pfund, worin also rund 270 Pfund kohlensaurer Kalk enthalten sind. Hieraus läßt sich berechnen, daß dieser Fluß in einem Jahre einen Würfel von etwa 30 m Seite kohlensauren Kalkes dem Gebirge entzieht. Die Lorenzquelle zu Leuker-Bad im Walliser Gebirge liefert in jeder Sekunde 29 Pfund Wasser und fördert im Laufe eines Jahres 8 Millionen Pfund Gips aus der Tiefe.

Die Folgen dieser Auslaugung der tieferen Erdschichten und der Bildung unterirdischer Höhlen kommen im Karstgebirge am deutlichsten zum Vorschein. Wohl sind die Grotten und unterirdischen Flüsse jener Gegenden prächtige Naturschauspiele, aber es wohnt sich nicht gut über ihnen. Von Zeit zu Zeit stürzt die Erde nach und es entstehen an der Oberfläche Trichter oder „Dolinen“. Diese Erdfälle vollzogen sich manchmal so rasch, daß mehrere Häuser samt ihren Einwohnern in der Tiefe begraben wurden.

Die norddeutsche Tiefebene ist reich an Salzlagerstätten, welche ebenfalls häufig vom Grundwasser ausgelaugt werden. So entstehen auch hier unterirdische Hohlräume, die zu Bodensenkungen führen; darum begegnen wir in diesem Gebiete öfter sogenannten Einsturzkesseln. Viele von ihnen haben sich später mit Wasser gefüllt und in Seen verwandelt. Aehnliche Verhältnisse finden sich in Thüringen und am Saum des Harzes; manches tiefe Wasserbecken, wie der Salzunger-, Schön- und Grävensee, und eine ganze Reihe von Seen am Fuße des Harzes verdanken ihnen ihren Ursprung.

Hoffen wir, daß der Boden von Schneidemühl fester geartet sei und die Wasser der Tiefe, denen durch Menschenhand der Weg zu den durchlässigen Schichten eröffnet wurde, sich nun für immer beruhigt haben! Sonst müßten wir auch an jener Stätte die Bildung eines Sees mit erleben, vor unseren Augen ein Vineta entstehen sehen!

Die nagende Thätigkeit der Grundwasser, die wir als Bildnerin von Seen kennengelernt haben, vermag aber auch Seen zum Verschwinden zu bringen. Die Flußläufe und Seen ruhen auf einer undurchlässigen Erdschicht; entstehen in dieser Spalten, so können dadurch dem Wasser Wege in unterirdische Räume geöffnet werden und Flüsse und Seen in der Tiefe verschwinden.

Plötzlich, mit einem Schlage kann eine solche Katastrophe nach Erdbeben sich ereignen. In den früher blühenden Wüsten Westasiens entdeckten Reisende Ruinen großer Städte, die schon vor Jahrtausenden von ihren Bewohnern verlassen wurden. An den Mauerresten bemerkt man noch heute Spuren von Erdbeben. Aber wegen eines Erdbebens verlassen doch die Menschen nicht die ihnen liebgewordene heimathliche Scholle! Sie bauen die Trümmer wieder auf und leben weiter „auf dem Vulkane“! Es muß also noch etwas anderes mitgespielt haben. Und in der That ist dem so. Die Erdbeben hatten den Boden zerklüftet, die Wasser der Brunnen sanken in unerreichbare Tiefe, der Lauf der Ströme wurde abgelenkt; und da blieb freilich der Bevölkerung nichts anderes mehr übrig, als das wasserlos gewordene Land zu verlassen.

Was durch das Erdbeben in einem Augenblick vollbracht wird, das bringt die nagende Kraft der Grundwasser mitunter im Laufe von Jahrhunderten zustande. Durch die Auswaschungen und Auslaugungen wie wir sie oben geschildert, entstehen im Boden der Seen Trichter, Kanäle, welche dem Wasser den Zutritt zur Tiefe ermöglichen, eines Tages beginnt zum Erstaunen der ahnungslosen Umwohner der Spiegel des Sees, der seit unvordenklichen Zeiten bestand, zu sinken und schließlich verschwindet er ganz.

Weit ab von Schneidemühl, im Mansfeldischen, in der Nähe von Eisleben, spielt sich seit vorigem Jahre ein solches Ereigniß ab. Dort sinken langsam aber stetig die Spiegel des Süßen und des Salzigen Sees und ihre Wasser ergießen sich in die Schächte des Mansfelder Bergbaus und drohen, die Werke zu ersäufen. Im Boden des tiefer gelegenen Salzigen Sees hat sich ein Erdfall gebildet, durch dessen Trichter das Wasser auf neuen Wegen in tiefere Flußbette sickert und die Kupfergruben überschwemmt. Hier kämpft eine Industrie, die 18 000 Arbeitern Brot gewährt, mit den Wassern der Tiefe um ihr Dasein – möge dieser Kampf ebenfalls vom endlichen Sieg begleitet sein, wie wir dies bei der schwerbetroffenen Stadt Schneidemühl nunmehr annehmen dürfen. C. Falkenhorst.     

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[478]

Der Sänger.

Roman von Karl v. Heigel.

 (1. Fortsetzung.)

2. Der Kammersänger.

Nahe der See, die unter dem Sommerhimmel nur leise athmete, auf einem umgestürzten Fischerboot saß ein junger schöner Mann und klimperte auf einer Mandoline; es war Herr Hofopern- und Kammersänger Siegfried Leisewitz. Er trug einen abenteuerlichen Sommeranzug, das Werk eines Pariser Schneiders, und auf dem braunen Lockenhaar – die Locken waren das Werk seines Kammerdieners Purzel – einen verfeinerten Südwester. Um ihn im Halbkreise stand eine dichte Schar barfüßiger Dorfkinder – der Delphinenschwarm um den modernen Arion. Er klimperte und sang eine italienische Barcarole. Als er geendigt hatte, schwang er sich herab und rief fröhlich: „Und nun, Ihr baltischen Nixen und männlichen Meerungeheuer, sagt: wie hat Euch dieses Lied gefallen? Sprecht Euch aus, ich bin gegen alle Kritik gefeit, ein hörnerner Siegfried ohne Achillesferse. Sprecht!“

Die Buben und Mädchen grinsten oder kauten verlegen an den Fingern, dann fing ein Knirps zu kichern an, andere fielen ein, zuletzt brachen alle in ein unbändiges Gelächter aus. Er aber zog lustig den Hut und verbeugte sich.

„Euer Beifall rührt mich. Hier“ – er griff in die Tasche und warf eine Handvoll Nickelmünzen unter sie, die sich alsbald darum im Sande balgten und pufften – „hier die Reste eines königlichen Vermögens! Vergeudet sie, obzwar ich nicht weiß, wie das hier möglich ist. Aber das kindliche Gemüth ist erfinderisch. Und nun fort, und wenn Ihr alt und grau seid, erinnert Euch, daß Ihr ihn gesehen, gehört und vierzehn Tage lang besessen habt, den letzten großen Sänger, Siegfried Leisewitz!“

Seine Mahnung war überflüssig, der Kinderschwarm wirbelte zankend und sich zerrend weiter und weiter, dem Dorfe zu, das zwischen der zerklüfteten waldbestandenen Düne lag. Leisewitz hing seine Laute über die Schulter und rief einem Manne zu, der weitab im nassen Geröll stand und meerwärts blickte. Dieser folgte dem Rufe sogleich und gesellte sich zu dem Sänger.

Neben dem hochgewachsenen breitschulterigen Leisewitz machte der andere, der städtische Kapellmeister Robert Lenz, einen dürftigen Eindruck. Er war mittelgroß und leidlich hübsch. Man erkannte auf zwanzig Schritte den Deutschen, während sich Leisewitz getrost für einen Romanen ausgeben konnte. Lenz war ein tüchtiger Musiker, und das eine und andere „Opus“ pon ihm hatte einen Verleger und wohl auch eine kleine gläubige Gemeinde gefunden. Wegen dieser bescheidenen Anfänge indes würde ihn der gefeierte und verwöhnte Leisewitz kaum seines Umganges gewürdigt haben. Allein im Fischerdorf war Lenz die einzige Gesellschaft. Unter Tages brachte nur die liebe Jugend, die Schulferien hatte, einiges Leben in das Dorf – die Männer waren auf der See, die Frauen auf den Feldern oder am Webstuhl; abends ging alles mit den Hühnern schlafen. Den dunklen Vorstellungen von einer „Idylle am Meer“, die Leisewitz verlockt hatten, die paar Wochen bis zur Ankunft der Prinzessin nicht im Seebad Wörde, sondern in dem benachbarten Wahndorf zu verleben, entsprach die Wirklichkeit nur wenig. Ohne Lenz, der sich in die Einsamkeit begeben hatte, um zu arbeiten, würde Leisewitz nach den ersten drei Tagen geflohen sein; glücklicherweise war jener ein guter Kamerad.

„Undankbarer!“ redete Leisewitz den Ankommenden an, „ich singe mit meiner schönsten Stimme, und Sie patschen im Nassen und kümmern sich den Kuckuck um den Sänger.“

„Ich blieb immer in Hörweite, lieber Herr Leisewitz. Während Sie die ‚Meerfahrt‘ sangen, kam ein Dampfer in Sicht, tauchte auf und verschwand in fröhlicher Fahrt, und das machte sich sehr hübsch.“

„Da sind Sie glücklicher als ich. Ich habe auf diesem fluth- und ebbe- und salzlosen Wasser noch kein ordentliches Schiff gesehen,“ sagte Leisewitz gähnend. „Wie viel Uhr haben wir denn?“ Er zog aus der bunten Schärpe, die er anstatt einer Weste trug, eine diamantenbesetzte Uhr. „Ein Geschenk des Großsultans,“ ließ er einfließen. „Zehn Uhr vorüber! Um Elf holt uns der Wagen des Sonnenwirths ab. Es bleibt dabei, Sie fahren mit!“

Robert nickte vergnügt.

Und der Knecht schafft nachmittags unser Gepäck in die Stadt. Und wenn Sie Ihr altes Klavier nicht in den Dorfkrug stiften wollen –“

„Sie sind ein Spaßvogel, Herr Leisewitz.“

„– so hat auch das noch auf der Karre Platz. Wir aber sind um Zwölf in Wörde und haben gerade noch Zeit, uns zur Wirthstafel in der ‚Sonne‘ umzukleiden. Denn daß Sie heute mein Gast sind, versteht sich von selbst.“

Robert nickte wieder, ganz roth vor Vergnügen und Verlegenhelt.

„Das Packen wird von meinem Kammerdiener besorgt,“ fuhr Leisewitz fort, „doch was machen wir?“ Er sah gelangweilt umher. „Es ist zu warm, und der Seespiegel und die weißen Ufer blenden mich. Kommen Sie mit auf die Düne! Aber, liebenswürdigster Maestro, einen Gefallen: rauchen Sie nicht! Die Luft ist das einzige Gute hier, und Ihre Cigarren – nehmen Sie mir meine Offenherzigkeit nicht übel – Ihre Cigarren riechen verrucht!“

Auf der bewaldeten Düne unter jungen Buchen standen Tisch und Bank. Leisewitz schwang sich auf den Tisch, so daß er die Sonne und das blitzende Meer im Rücken hatte, und benutzte den Sitz, auf dem sein Begleiter Platz nahm, als Fußbank.

„Es thut mir leid,“ begann Robert, „daß Ihnen der Aufenthalt hier so ganz und gar nicht gefallen hat.“

„Der Name dieses Nestes verführte mich; er erinnerte mich an Richard Wagner und seine Lehre vom Wahn. Gerade unsere edelsten Empfindungen wurzeln nur im menschlichen Wahnvermögen. Wahn, überall Wahn! Das stimmt! Hoffentlich sind auch Sie dieser Ansicht.“

„Hoffentlich werde ich niemals dieser Ansicht sein,“ erwiderte Robert. „Doch wie dem auch sei – ich muß dem Philosophen Wagner dankbar sein, denn mir werden diese vierzehn Tage unvergeßlich bleiben!“

„Sie sind ein guter Junge, alter Freund! Uebrigens, wie alt sind Sie denn eigentlich?“

„Gestern feierte ich meinen zweiunddreißigsten Geburtstag.“

„Feierten? Sagen Sie, wie man das hier möglich macht! Haben Sie vom Göttertranke ,Frank und Söhne‘ eine Schale mehr getrunken?“

Der andere lächelte verschmitzt. „Der Trank, den unsere Wirthin braut, dankt seine Kraft nicht ‚Frank und Söhne‘, sondern Fritz Hagemann und Kompagnie. Aber gefeiert hab’ ich meinen Geburtstag – und wie gefeiert! Erinnern Sie sich, daß ich Sie vorgestern abend bat, mir das neukomponierte Lied meines ,Tasso‘ zu singen; Sie wissen, im letzten Akt kurz vor der Wende:

  ,In Deinem Haar die blasse Rose –‘

und Sie Ahnungsloser erfüllten meinen Wunsch und sangen, sangen wie ein Gott! Konnte der Vorabend schöner sein?“

„Ei, ei, solche Scherze treiben Sie mit mir!“

„Und dann, wahrhaft begeistert, brachte ich während der Nacht das Finale der Oper zu Papier. Und als ich die letzten Noten hingeworfen hatte, brach der Morgen an. Ich ging ans Meer. Himmel und Erde kamen mir festlich vor – ich hörte Sonntagsglocken den ganzen Tag.“

„Eigentlich sollten Sie erst zwanzig Jahre zählen. Sie haben noch soviel jugendliche Begeisterung.“

„Und Sie, der wahrhaft große Künstler, etwa nicht?“

„O doch – das heißt, wenn ich auf der Bühne stehe oder in einer glänzenden Gesellschaft vor einem Schwarm schöner Mädchen und Frauen – dann wohl. Aber wie Sie in Wörde ausdauern konnten, ohne daß die Sonntagsglocken einen Sprung bekamen, ist mir unbegreiflich.“

„Nun, ein Krähwinkel ist Wörde denn doch nicht. Und was die schönen Frauen anbelangt, so kann man ja nur für eine schwärmen, und die ich meine, ist schön!“

„Ah, das ist stark! Vierzehn Tage lang reden Sie mir nur von Gesang, niemals von Wein und Weib – also doch Don Juan, aber heimlich!“

Robert schüttelte traurig den Kopf und sagte einfach : „Hoffnungslos!“

Leisewitz strich seinen Schnurrbart. „Am Ende bilden Sie [479] sich das nur ein. Wenn Ihr Name erst bekannt wird, wenn Sie berühmt sind –“

„Du lieber Himmel!“

„Warum nicht? Ihre Oper ist eine sehr achtbare Arbeit, allerdings eine Erstlingsarbeit, aber vielversprechend, voll Talent – Maëstro, als nachträgliches Geburtstagsgeschenk gebe ich Ihnen das Versprechen, für Ihr Werk ins Zeug zu gehen. Mein Chef ist zwar kein Licht aber ich habe Einfluß. ‚Excellenz,‘ werd’ ich sagen, ‚die Talente sind heutzutage dünn gesät – hier ist eins; greifen wir ihm unter die Arme! Der Erfolg eines Bühnenwerkes ist allerdings unberechenbar, doch nach meinem Gefühl, nach meiner Erfahrung erringen wir mit ‚Tasso‘ einen schönen Erfolg.‘“

„Das würden Sie –“

„Das werde ich sagen! Beiläufig, haben Sie Feinde in Ihrer Vaterstadt?“

„Ich? Nein!“

„Warum sind Sie dann aus Ihrer Heimath verzogen?“

„Ach, das ist eine traurige Geschichte! Ich war schon als vaterlose Waise – doch das ist für einen Mann wie Sie nur langweilig.“

„Warum? Der Künstler kann niemals genug Erfahrungen sammeln. – Aber einen Augenblick, lieber Maëstro! Bitte, nehmen Sie die Mandoline, ich will mich nur in eine bequemere Lage bringen – so!“ Er streckte sich auf den Tisch, zog die Beine ein und legte den Kopf in die aufgestützte Hand. „Es ist zwar kein Diwan, aber in Wahndorf – bitte, erzählen Sie!“

Und Robert Lenz begann seine Lebensgeschichte, die alte Geschichte aller mittellosen Kunstjünger, die erst um den Ruhm ringen und dann um das Brot kämpfen. Er war noch lange nicht bei seiner Uebersiedlung nach Wörde angelangt, als er bemerkte, daß Leisewitz trotz seiner unbequemen Lage den Schlaf des Gerechten schlief. Es verletzte ihn nicht. Der unsterbliche Goethe läßt die reizende Marianne bei den Jugendgeschiehten ihres Geliebten entschlummern; wie kann ich verlangen, daß meine kleinen Fahrten und Erfahrungen einen Weltmann und Weltberühmten wie Leisewitz anziehen, dachte er, freundlich lächelnd, und setzte seine Erzählung in Gedanken fort. Und plötzlich ging es wie Verklärung über sein Gesicht und er sagte laut: „Emma!

„Ja,“ antwortete Leisewitz und raffte sich auf. „Beinahe wär’ ich eingeschlafen. Die Hitze, die Stille – wovon sprachen wir eben? Bei Gott, ich habe geschlafen, bin ganz in Schweiß – und gerade jetzt beginnt es zu wehen!“ Er schlang rasch ein Tuch von himmelblauer Seide um den Hals. „Ach, lieber Maëstro, danken Sie dem Schöpfer, daß Sie keine Million in der Kehle haben! Immer in Sorgen, immer auf dem Posten! Was sind Sie dagegen beneidenswerth!“

Leisewitz hatte über dem Schlaf die Erzählung Roberts vergessen. Die Uhr des Sultans zeigte auf Elf. Das brachte ihn aus Rand und Band; als ob jede Minute länger in Wahndorf Unheil sei, drängte er fort. Er war bissig und übelster Laune, bis er im Dorfe den Landauer vor dem Schulzenhofe stehen sah.

Das Wohnhaus des Gemeindevorstehers war neben den übrigen Häusern der Einäugige unter Blinden. In der Schlafstube der Ehegatten links vom Flur hatte der Tondichter, in der Amts- und Staatsstube rechts der Sänger gehaust. Die Schulzenleute waren unters Dach gezogen, unb der Bediente Peppi Purzel hatte seine Schlafstelle in der Schenke. Dieser Purzel war von Leisewitz im Laden eines Wiener Haarkräuslers entdeckt und angeworben worden. Der schöne Peppi, den der Sänger mit Vorliebe Giuseppe nannte, war flink und geschmeidig wie ein Windhund und ebenso treu.

Jetzt bürstete Purzel, in einen Staubmantel gekleidet, geschäftig, aber zwecklos an Leisewitz herum, während der Kapellmeister seine Handtasche aus dem Hause holte. Zuschauer waren die Jugend und das hohe Alter und die eine und andere Stallmagd aus dem Dorfe. Nun kam Lenz zurück, von der halb erwachsenen Tochter seiner Hauswirthe begleitet. Sie hatte zu Ehren der Scheidenden blaue Strümpfe und Holzschuhe an, machte vor Leisewitz einen steifen Knicks, wobei sie lachte, und sagte leise und stockend, was ihr die Eltern an den Künstler aufgegeben hatten. Dabei sah sie nicht den Sänger an, sondern schielte nach den Pferden.

„Verstehen Sie, was unser Meermädchen sagt?“ fragte Leisewitz den Kapellmeister.

Dieser machte den Dolmetsch. „Trudels Eltern lassen uns bitten, nicht ohne Abschied abzureisen. Der Schulze ist zu einem Termin in die Stadt, die Frau zu einem Begräbniß nach dem Kirchdorf. Aber die Kleine meint, jetzt müßten beide bald heimkommen. Und da wir nichts versäumen, denk’ ich –“

„Der Recke Siegfried warten? Was fällt Ihnen ein! Ich warte nie, auch im Vorzimmer eines Königs nicht! Und wofür soll ich unseren Wirthen danken? Für gute Luft und schönes Wetter? Für die kurzen Betten und langen Brühen? Nein, mein elegischer Freund, ich hinterlasse dem Schulzen und den Seinen meinen Segen – Ceres fülle ihre Tennen mit Korn und Poseidon ihre Netze mit Flundern! – aber ich bleibe keine Minute länger. Sie haben Fischblut, ihre Kehlen sind rauh und ihre Ohren dem Zauber eines schöngetragenen Tons verschlossen!“

„Wenigstens der Kleinen thun Sie Unrecht, sie hat ein gutes Ohr und stand immer auf der Lauer, so oft Sie sangen.“

„Nun, so komm’ her, sangesfreundliche Nixe, und wenn Du eine verwitterte Großmama bist, so erinnere Dich –“

Trudchen verstand den Sänger zum ersten Mal und spitzte den Mund. Leider hatte sie Schwarzbeeren gegessen. Leisewitz bog sich schaudernd zurück; – „so erinnere Dich, daß Dir Siegfried Leisewitz die Hand gedrückt.“

„Gnädiger Herr,“ sagte Purzel, „Sie reden sich heiser . . . einen Augenblick! Ihr Foulard sitzt zu locker.“ Er liebte die Fremdwörter wie Trinkgelder.

„Ich danke Dir, Giuseppe! Und nun, steigen wir ein! Der Sänger scheidet. Blast die Muscheln, Rangen! Fort! Ktscher, peitsche Deine Sonnenpferde!“

Aber Robert stieg nicht ein, ohne das gekränkte Mädchen herzhaft auf den schwarzen Mund geküßt zu haben.

Ein paar Köter sprangen wüthend und kläffend vor den Pferden her, die johlenben Buben umschwärmten den Wagen. Auch im Ententeich gab es einen gewaltigen Aufruhr, als der Zug vorbeikam. Doch in den Häusern blieb es still; sie schienen ausgestorben, nur da und dort stieg Rauch aus den Strohdächern. Das Dorf dehnte sich lang; bei den letzten Häusern blieben Vorläufer und Gefolge zurück. Eine Strecke weit fuhr man zwischen Kornfeldern, dann begann der Wörder Stadtwald, ein echter Wald; hüben und drüben Stamm an Stamm und verschlungenes Grün, ringsum Waldesstille.

Erst ließ Leisewitz die Unterhaltung einschlafen, dann schlief er selber ein, aber nicht so fest wie auf der Düne. Zuweilen richtete er sich auf, um mit großen Augen umherzusehen. Er fand den Wald kühl, aber feucht. Robert dagegen war von der Fahrt entzückt, weil er ein Naturfreund war, weil er die fertige Partitur in seinem Handkoffer heimbrachte, weil der Weg zu Emma führte!

Der Wald lichtete sich; die Straße lief dicht am Meere hin. Ein leichter Wind furchte das Gewässer und trieb sachte die Wellen ans Land. Auf einer freundlichen blumenreichen Halde, die Stirnseite dem Meere zugekehrt, stand ein Sommerhaus. Leisewitz ermunterte sich. „Hier beginnt städtischer Schliff und Gesittung,“ bemerkte er, indem er auf das hübsche Gebäude deutete. „Wie man mir gesagt hat, wird unsere Prinzessin in dieser Villa wohnen.“

„Das mag wohl sein, Sie gehört Herrn Fritz Hagemann.“

„Sagen Sie ’mal, dieser Fritz Hagemann muß in Ihren Augen eine sehr wichtige Persönlichkeit sein. Ich erinnere mich, diesen Namen wiederholt von Ihnen gehört zu haben. Wie Sie roth werden! Sind Sie dem Manne Geld schuldig?“

„Bei Gott, nein!“ erwiderte eifrig der andere. „Fritz Hagemann hat mit einem Kaffee-Ersatzmittel – ‚Hagemanns Hagedorn-Fruchtkaffee‘ – ein großes Vermögen erworben und zählt allerdings zu den ersten Bürgern Wördes. Seine Tochter ist eine anerkannte Schönheit.“

„Ah so!“

„Sieht es nicht aus, als ob unsere Prinzessin schon eingezogen sei?“

„Unmöglich! Der Mann dort würde sonst nicht in Hemdärmeln am Stallthor stehen, Ich erinnere mich seiner, er gehört zur Hofdienerschaft. Ei, wen erblicken meine Augen! Herr Stenzel, Herr Hoffourier Stenzel, ja, grüß’ Sie Gott!“

Am Waldsaum erhob sich ein runder Bau, ein Siehdichum mit zierlicher Brüstung. Dort oben tauchte der Hoffourier Stenzel auf, der sich in stiller Beschaulichkeit auf die Bank gestreckt hatte. Nun kam er eilig herab, um den berühmten Sänger, mit dem er in der blauen Grotte bekannt geworden war, zu [480] begrüßen. Sie drückten einander die Hände, sprachen von daheim und vom fürstlichen Hofe, vom Seebad und von der Julihitze, von der auf morgen festgesetzten Ankunft der Prinzessin. Endlich schüttelten sie sich wieder die Hände, und der Wagen rollte von dannen, dem Städtchen zu.


3.0 Fritz Hagemann und Kompagnie.

Hafenstadt und Seebad Wörde sind räumlich nicht eins; das alte Städtchen mit dem Hafen liegt in der Tiefe einer Bucht. Als man in Wörde wie anderwärts mit den Erinnerungen an die vergangenen Zeiten aufräumte, als die Thore fielen und die Wälle in Anlagen verwandelt wurden, erstanden auf der umbrandeteu Westspitze der Bucht das große Badehotel zum „Deutschen Kaiser“, das städtische Schützen- und Konzerthaus „Strandschloß“ und eine Anzahl niedlicher Sommerhäuser, eine vielversprechende Siedlung, mit Wörde durch eine Pferdebahn und durch wohlgepflegte Anlagen verbunden.

Zur Zeit unserer Geschichte gab es in Wörde sehr viele alte Häuser, aber nur noch wenige alterthümliche. Zu diesen gehörte ein großes Giebelhaus auf dem Hafenplatz, der Gasthof „Zur Sonne“. Ein eiserner Vorbau, der im ersten Stock als Söller diente, war zwar stilwidrig, aber zweckmäßig. Der „Sonne“ gerade gegenüber, in der jenseitigen Häuserreihe, stand das nagelneue zweistöckige Wohnhaus Fritz Hagemanns, des reichsten Wörder Bürgers. Im Erdgeschoß war ein Laden. In den zwei Schaufenstern zwischen der Ladenthür und der Hausthür lagerten Hunderte großer und kleiner Düten mit Fritz Hagemanns Hagedorn-Fruchtkaffee. Der Ladengehilfe, ein bleicher Jüngling mit einer blauen Brille, besaß eine außerordentliche Geschicklichkeit, diese Düten jeden Tag anders zu ordnen. Er folgte dabei ganz seiner Stimmung und Laune und huldigte heute einer strengen Klassicität, morgen dem freiesten Naturalismus. Uebrigens hatte er vollauf Muße, Neues zu ersinnen, denn das Stadtgeschäft ging flau. Doch Fritz Hagemann konnte sich über diese Verkennung seitens seiner Mitbürger leichter trösten als die Propheten. Schon in den umliegenden Dörfern halte er zahlreiche Gläubige, und draußen in der weiten Welt waren es ihrer Millionen. Man trank Hagemanns Fruchtkaffee - mehr oder minder rein – am Rhein und an der Donau, vom Fels zum Meer; das Geschäft Hagemanns blühte wie der Hagedorn auf seinen ausgedehnten Ländereien. Als junger Mann, wohlhabender Eltern Sohn, hatte er sich der Apothekerkunst gewidmet, nach wenigen Jahren indes diesem Beruf entsagt, um seinem alternden Vater, der einen lebhaften Handel mit Farben und Droguen trieb und in Schweden und Norwegen seinen festen Markt hatte, an die Hand zu gehen. Dann gelang ihm der große Wurf. Ueber die Anfänge seiner Erfindung, ob er selbst sie gemacht oder sie irgend einem armen Burschen mit schöpferischem Kopf und erschöpftem Beutel abgekauft habe, war Gewisses nicht zu ermitteln. Er war schon reich, als er Gesellschafter fand, die dem Geschäft einen neuen Schwung gaben und es in großem Stile betrieben. Jetzt war man auch am Hudson und Mississippi vor seinem Fruchtkaffee nicht mehr sicher. Hauptort der Verwaltung war Berlin; die alten Werkstätten und Verwaltungsgebäude bei Wörde blieben unter der Leitung und Aufsicht des Erfinders. Sie lagen gerade weit genug außerhalb der Stadt, um Hagemann täglich zu einer gesunden Bewegung zu veranlassen, und wenn das Unwetter zu arg war, so benutzte er Pferd und Wagen oder ließ seinen Geschäftsführer zu sich kommen. Ihm schlug alles glücklich aus. Er hatte ein armes Mädchen niedrigen Standes wegen ihrer Schönheit geheirathet – sie wurde ihm eine zärtliche, durchaus würdige Gattin. Der erste Kummer, den sie ihm bereitete, war auch der letzte – ihr Tod. Er hatte wohlgerathene Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Der älteste trat früh in ein großes Bankgeschäft Chicagos ein, genügte dann im Vaterland seiner Militärdienstpflicht, ging wieder hinüber und hatte jetzt die sichere Aussicht, der Schwiegersohn und Geschäftstheilhaber seines Prinzipals zu werden. Der jüngste war vorläufig noch unbesoldeter Handlungsgehilfe in einem Hamburger Hause. Beide Söhne besaßen die Tugenden des Kapitalisten: Produktivität und Enthaltsamkeit. Die Tochter, welche die Schönheit und Gemüthsart der Mutter geerbt hatte, führte dem Witwer das Haus und wurde von ihm vergöttert. Ihr zuliebe ließ Hagemann sein Elternhaus von Grund aus umbauen, zu Emmas heimlichem Leide, denn ihr war im windschiefen winkligen Häuschen wohl gewesen. Jetzt stand an seiner Stelle ein glatter regelmäßiger Neubau, der allen Anforderungen der Neuzeit entsprach und durch hohe Spiegelscheiben den Tag in alle Räume blicken ließ. Der zweite Stock enthielt außer einigen Fremdenzimmern eine große Stube, über deren Bestimmung verschiedene Stillleben an den Wänden und eine reichgeschnitzte Anrichte keinen Zweifel ließen. Allein dieses Prunkgemach wurde nur geöffnet, wenn Hagemann Gäste hatte, wenn er sein Steckenpferd zäumte.

Ja, Hagemann hatte wie jeder Kulturmensch sein Steckenpferd, war aber auch darin glücklich: er hielt sich nämlich für einen Feinschmecker, ohne es zu sein. Seine gewöhnliche Nahrung bestand in gesunder Hausmannskost; die gekünstelten scharfgewürzten und schwerverdaulichen Speisen kamen nur bei Gastereien auf den Tisch. Dann war er aber so eifrig in der Anpreisung der Leckerbissen, im Vorlegen und Anbieten, daß er selbst kaum zum Essen kam und so verdarben sich in der Regel nur die Freunde, nicht der Wirth den Magen. Trotzdem hielt Hagemann die Feinschmeckerei für sein höchstes Verdienst. Es kam vor, daß ihm gute Bekannte seine Erfindung schlecht machten, dann antwortete er gelassen: „Meine Herren, haben Sie jemals bei mir anderen als reinen Kaffee getrunken? Sagen Sie, ich wünsche arabischen Mokka oder West India Perl oder die Hamburger Mischung, Plantagen Ceylon mit grünem Java – eins, zwei, drei – er wird Ihnen gereicht. Nur wenn Sie Hagemanns Fruchtkaffee verlangen, kann ich Ihnen innerhalb meiner vier Wände nicht aufwarten. Ich halte jeden Zusatz für Barbarei, aber seien Sie überzeugt: ich befinde mich mit dieser meiner Ansicht stark in der Minderheit!“

Wehe aber, wenn ihm jemand im Speisezettel, den er entworfen hatte, kleine Sünden gegen den Geist der Kochkunst nachwies, zum Beispiel, daß des Geflügels zuviel sei oder daß zwei Tunken von ähnlichem Geschmack aufeinander folgten – dann war er gekränkt, dann war er unglücklich.

Vater und Tochter lebten im schönsten Einverständniß; für Emma waren nur die Mahlzeiten im zweiten Stock ein schwarzer Punkt an diesem reinen Himmel; da nämlich Hagemann behauptete, daß ihm alle Freude verdorben sei, wenn sie nicht mitspeise, mußte sie bei jeder Herrentafel bis zum Nachtisch ausharren. Nun aber sprachen diese Herren beim Essen immer nur vom Essen, und das verdroß Emma. Sie war ein schlichtes Mädchen, doch nicht ohne einen Anflug von Romantik, mit einem Hauch von Schwermuth. Sie galt nicht nur für das reichste, sondern auch für das schönste Mädchen Wördes, und zwar bei der ganzen Bevölkerung. Allerdings hatte diese wunderbare Unparteilichkeit im weiblichen Lager ein Aber. Wenn bei Frau X oder Z ein auswärtiger Vetter oder Onkel oder Bekannter zum Besuch war, kam die Rede sicherlich auf Emma Hagemann. „Ja, ja, Fräulein Hagemann fällt jedem auf,“ sagte dann wohl die älteste Tochter, „sie ist wirklich schön.“ „Vollkommen schön,“ fällt eine andere ein, „achten Sie nur auf das herrliche lichtblonde Haar und den Schmelz ihrer Augen ... die blendend weiße Haut, die rosigen Wangen, die purpurnen Lippen! Und wie ist sie gewachsen! Sie ist breitschulterig und voll und erscheint dennoch schlank.“ „Ja,“ nimmt schließlich Mama das Wort, „Emma ist ein schönes Mädchen und ein Engel. Schade, daß sie taub ist – das heißt nicht so taub, aber doch recht schwerhörig. Ein rechtes Unglück!“

In Wahrheit hörte Emma so gut und im Vergleich zu einem Wilden so schlecht wie die Mehrzahl von uns Kulturmenschen. Als Kind verlor sie einst infolge eines heftigen Schreckens das Gehör, doch schon nach kurzem war sie wieder von dem Uebel genesen, und die Aerzte erklärten einen Rückfall für unwahrscheinlich. Nur wenn jemand sehr leise sprach, drückten Emmas Züge eine gewisse Spannung aus. In der Wörder Gesellschaft aber blieb die Erinnerung an jenen Unfall lebendig, und so war Emma „eine reizende Erscheinung, doch leider, leider beinahe taub“. Wenn Emma von ihrer Begeisterung für Musik sprach, lächelten die Freundinnen eigenthümlich, und als sie den Klavierunterricht, dem sie auf Bitten der geängstigten Mutter entsagt hatte, nach langer Zeit wieder aufnahm, bedauerte man ihren Lehrer, den armen Robert Lenz.

Wie es zu gehen pflegt, erfuhr die Betroffene das Gerücht zuallerletzt, und als eine vornehme Natur vertheidigte sie sich nicht. Doch die Lieblosigkeit der Welt erfüllte sie mit Schrecken.

[481]

Von der Landwirthschaftlichen Ausstellung in München.
Originalzeichnung von C. Thoma.

[482] Sie fühlte sich beobachtet und wurde schweigsam. Das bestärkte die Leute erst recht in ihrem Vorurtheil. Emma ergab sich der Einsamkeit, in der sie wie alle Einsamen schließlich die Entdeckung machte, daß sie zur Schwermuth veranlagt sei.

Sie suchte in der Kunst Ersatz für die Gesellschaft, und der städtische Kapellmeister wurde ihr Klavierlehrer. Da Vater Hagemann den Stunden beiwohnte, knüpfte sich bald an den Unterricht ein Plauderstündchen. Vater und Tochter empfanden die geistige Ueberlegenheit des jungen Mannes, doch ohne Unbehagen, denn Robert Lenz war auch ein guter Mensch. Emma blickte in eine neue Welt. Mit Ungeduld wartete sie auf sein Kommen, mit Bedauern sah sie ihn gehen. Sie sah von ihm auf den Vater, vom Vater auf ihn und wünschte sich keine andere Gesellschaft. Dann fragte sie sich, ob das Gleiche wohl auch bei Robert Lenz der Fall sei, und beantwortete eines Abends die Frage folgendermaßen: er liebt mich. Weiterer Fragen wurde sie überhoben, denn ein Briefchen des Kapellmeisters meldete, daß ihm eine große Arbeit die Fortsetzung der Klavierstunden unmöglich mache. Emma war bestürzt, Hagemann brummig. Er ging schnurstracks zu dem Abtrünnigen, doch seine Mittheilungen über die Unterredung waren ebenso dunkel wie trostlos. „Er kann wirklich nicht mehr kommen – Du darfst ihm nicht zürnen; er verdient alle Hochachtung, er ist ein ehrlicher Kerl!“ Eine Ahnung beschlich Emma. Robert Lenz dachte: „Arm zu arm und reich zu reich!“ und wagte nicht, ihre Hand zu erobern. Sie versagte ihm nicht ihre Achtung, aber Robert Lenz war von nun an nicht mehr der „Herrlichste von allen“. Der Mann nach ihrem Herzen mußte nicht nur gut und geistvoll, sondern auch kühn und verwegen sein.

Sie redete sich ein, den Verlust leicht zu ertragen, doch die Musik blieb ihr verleidet; so flüchtete sie sich zu den Büchern. An den langen Winterabenden saß sie allein bei der Lampe und las. Punkt Neun verließ der Vater die Herrengesellschaft in der „Sonne“ und erschien daheim zum Thee. Ein halbes Stündchen wurde von beiden verplaudert, dann las Hagemann seine Zeitung, die er beim Morgenkaffee nur überflog, vom Leitartikel bis zur letzten Anzeige gründlich durch, und Emma las auch – Gedichte, Dramen, Geschichte und Geschichten, „populärwissenschaftliche“ Werke. Sie hatte keine kritische Ader, las ohne Auswahl, vielleicht manches ohne Verständniß, aber alles mit völliger Hingabe. Wenn sie las, hörte sie nicht den klatschenden Regen, nicht das Brausen und Rollen der See.

Während einer Reise hatte Emma in Berlin einer Aufführung von Ibsens „Nora“ beigewohnt. Die theatralischen Genüsse, die den Wördern dann und wann von Wandertruppen geboten wurden, waren mäßig. Das glänzende Haus, die gute Darstellung, die eigenartige Dichtung, alles trug dazu bei, Emma jenen Berliner Abend unvergeßlich zu machen. Henrik Ibsen war fortan ihr Lieblingsdichter und sie verschlang seine Werke, die sie vielleicht mit Vorsicht hätte lesen müssen.

Der Tochter Hagemanns würden die Freier nicht gefehlt haben, wenn sie nur weniger znrückhaltend gewesen wäre. Ihr Vater war selbstsüchtig genug, über ihre Unnahbarkeit sich zu freuen, denn der Gedanke an ihren Verlust war für ihn fürchterlich. Wenn er die Goldene Jugend seiner Geburtsstadt musterte, fühlte er sich beruhigt. Aber auf Ausflügen, oder wenn die Sommerfrischler aus dem „Deutschen Kaiser“ in das friedliche Städtchen einbrachen, zitterte er für seine Perle. Als die Kaufmannschaft zu einem Ball, der besonders glänzend werden sollte, die Offiziere der nächsten Garnisonstadt einlud, würde Hagemann mit Vergnügen abgesagt haben. Anderseits hielt er seine Anwesenheit für eine patriotische Pflicht. Als er mit Emma am Arm in den Ballsaal trat, erfüllten Stolz und Furcht sein Herz; Emma schoß den Vogel ab – das war keine Frage. Eine Stunde lang schwelgte er dann beruhigt in Vaterwonnen. Die Herren vom Ausschuß drückten ihm ihre Dankbarkeit, ihre Bewunderung aus. Der Regimentskommandeur und seine sämtlichen Offiziere stellten sich dem Papa der Ballfee vor.

Schon trug sich Hagemann mit dem Gedanken, die bewaffnete Macht auf nächsten Sonntag zu Tisch zu bitten, schon entwarf er bei den Klängen der ersten Quadrille den Speisezettel, den wunderbarsten seines Lebens – da entdeckten seine eifersüchtigen Augen, daß Emma mit einem ihrer vielen Tänzer mit Vorliebe tanzte. „Natürlich ein Lieutenant!“ murmelte er grimmig, und sein Vergnügen verwandelte sich in Wermuth. Seine üble Laune endigte nicht mit dem Ball, er ging mit ihr zu Bett und wachte mit ihr auf. Er wagte keinen Schritt aus dem Hause zu thun, denn er erwartete den Feind. Und seine Ahnung verwirklichte sich, der Lieutenant traf ein.

„Was denkst Du,“ fragte Hagemann lauernd, „nehmen wir ihn an?“

Emma sah vom Buche auf. „Ganz wie Du willst, lieber Vater.“

Hagemann that erleichtert einen tiefen Athemzug. „Wir lassen bitten,“ sprach er zu seinem Kutscher, der, wenn er nicht fuhr, den Diener vorstellte.

Emma benahm sich musterhaft. Der Lieutenant war ein ausgezeichneter Tänzer, aber er hatte sie gekränkt. Als sie mit ihm nach einem Walzer die Runde durch den Saal machte, fiel ihr Blick auf den Kapellmeister, der schwermüthig hinter dem Dirigentenpulte saß. Die Wörder Ballmusik, früher entsetzlich, war diesmal ausgezeichnet, dank Robert Lenz, der sich freiwillig erboten hatte, nicht nur in den Proben, sondern auch am Ballabend zu dirigieren. Bisher hatte der Lieutenant seine Tänzerin über dies und das ausgefragt nun fragte sie: „Wie finden Sie unsere Musik?“

„Wenn man mit einer Sylphe tanzt, ist die Musik gleichgültig,“ versetzte der Kriegsmann. „Mit Ihnen, mein Fräulein, würde ich ebensogut und gerne nach einer Sackpfeife als nach einem Orchester tanzen. Uebrigens spielen die Leute recht brav, der Kapellmeister ist leider nur kein Strauß.“ Die Schmeichelei that keine Wirkung, das Herz Emmas war vielmehr für den armen Robert aufgewallt. So beobachtete sie denn während des kurzen Besuches eine höfliche Schweigsamkeit, die den Vater entzückte, den Lieutenant entmuthigte. Gestern war ich versucht, das Gerede für Fabel zu halten, dachte der junge Mann, als er an der Hausthür mit einem letzten Aufblick rechtsum machte; aber sie ist wirklich taub wie eine Wachtel! –

Als Frau Hagemann noch lebte, hatte die Familie Sommer für Sommer in ihrem Landhause an der See verbracht. Mit Emma allein fühlte sich der Witwer dort durch die Erinnerungen drinnen und die Waldeinsamkeit draußen bedrückt. In der Stadt hörte er den Marktlärm am Morgen und das Hafengetreibe den ganzen Tag. Wenn er einen Blick aus dem nächsten Fenster warf, sah er drüben das traute alte Haus, die „Sonne“; wenn er in der Nacht aufwachte, unterschied er die Tritte auf dem gepflasterten Platz, den eiligen eines Bürgers, der zu lang in lustiger Gesellschaft geblieben war und nun muthig seiner Gardinenpredigt entgegenging, oder den schweren eines Fischers, der mit dem Tagesgrauen in die See stach. Er hörte die Stadtuhren schlagen, hörte das Rasseln der Ankerketten im Hafen oder Dampfpfeife und Schiffsglocke von der fernen Ostspitze, wo die Dampfer lagen. In seinem Strandhause sah er oft tagelang kein bekanntes Gesicht und hörte nachts nur Wind und Wogen. Aber sein Widerwille wurde von der Tochter nicht getheilt.

In diesem Jahre nun hatte sich eine Gelegenheit geboten, auf die Sommerfrische draußen mit Anstand zu verzichten. Der Fürst von H., hieß es, suche ein großes Wohnhaus an der See für seine Tochter. Sofort bot Hagemann dem Bürgermeister sein Landhaus an. „Es ist ein Opfer, das wir für das allgemeine Beste bringen,“ sprach er zu der schmollenden Emma. „Eine Prinzessin! Das macht Reklame für Wörde.“ Glücklicherweise fand der Bevollmächtigte, daß die Villa Hagemanns allen Wünschen seiner Gebieterin entspreche, und der Miethsvertrag wurde abgeschlossen. Hagemann vertröstete sein Kind auf eine Herbstreise.

„Nach dem Süden!“ rief Emma.

„Wohin Du willst,“ antwortete er mit einem Seufzer, denn er dachte an die vielen Fallen und Gefahren für die Freiheit seiner Tochter.

Nachdem die Vorläufer der hohen Gäste angelangt waren, machte Hagemann jeden Mittag vor seiner Heimkehr aus der Fabrik einen Abstecher nach seinem Landhause. Der Umweg war groß, doch das neue Leben dort zog ihn mächtig an. Das alles hatte Schick, und sie alle, vom Leibkutscher bis zum Stalljungen, waren von einer beneidenswerthen junkerhaften Gelassenheit. In der Villa wurde das unterste zu oberst gekehrt. Aber auch das geschah planmäßig, ohne Ueberhastung und ohne die geringste Rücksicht auf den Hausherrn. Und wenn Hagemann eine saure Miene machte, tippte ihm der Hoffourier auf die Brust, das heißt, auf das oberste Knopfloch und sagte verbindlich: „Unsere Hoheit wird entzückt sein, und unsere Hoheit weiß Verdienste zu schätzen.“ Ueber Herrn Stenzel sprach sich Hagemann besonders lobend aus. „Er ist ein vielgereister vielsprachiger Mann. Und gerieben! [483] Schlosser und Schreiner, Gärtner und Tapezierer werden aus meiner Tasche bezahlt. Aber ich bringe auch dieses Opfer. Und das alles einer Bürgerschaft zulieb, die mit wenigen Ausnahmen ‚Frank und Söhne‘ trinkt!“

Auch an dem Tage, an dem Siegfried Leisewitz von Wahndorf für immer schied, war Hagemann in der Villa gewesen. Nun saß er seinem Töchterchen gegenüber bei Tisch, rückte den geleerten Suppenteller von sich und sagte: „Nichts Neues im Städtchen?“

„Doch! Wie mir Anna erzählt hat, ist Herr Lenz zurückgekommen, mit dem Wagen von der ,Sonne‘ drüben, in Begleitung eines Fremden –“

„Weiß ich alles und noch mehr. Der Herr wird längere Zeit in der ,Sonne‘ bleiben, ich habe ihn in der Strandstraße gesprochen – hier ist seine Karte!“ Hagemann reichte seiner Tochter eine Besuchskarte größter Form über den Tisch, und Emma las:

 „Siegfried Leisewitz.
      Hofopern- und Kammersänger.
Chevalier de plusieurs ordres.“

„Ist Dir der Name bekannt?“

„Aber, Vater, den Namen liest man doch oft genug. Leisewitz ist ein berühmter, ein großer Künstler.“

„Ach was, die berühmten Künstler sind heute wie der Sand am Meer, der Kuckuck behalte alle ihre Namen! Jedenfalls ist der Mann ein wunderlicher Kauz – grob wie Bohnenstroh und dann wieder kannst Du ihn um den Finger wickeln. Unsere Fuhrwerke begegneten sich auf der Strandstraße. Erst hatten unsere Kutscher einen kleinen Wortwechsel, und plötzlich springt ein baumlanger Mensch aus dem Wagen und schreit wie besessen auf unsern Wilhelm ein. Doch da hüpft schon unser Kapellmeisterchen nach und legt sich ins Mittel. Und dann steige auch ich aus, der Kapellmeister bläst Frieden und so machte sich die Bekanntschaft.“

„Wie sieht er aus?“

„Ja, wie soll ich ihn beschreiben? Er sieht aus wie ein Abenteurer – wie ein stutzerhafter Waldmensch – wie ein Budenherkules – ein Herodes!“

„Ein Holofernes,“ sagte Emma und lächelte ihren Vater an.

„Ich bin überzengt, Dir mißfällt er! Du bist für das Zarte, Blonde, Poetische.“

„Meinst Du?“ Sie lächelte wieder, doch diesmal sah sie vor sich nieder.

Die Aufwärterin brachte das zweite Gericht und das Gespräch ruhte eine Weile. „Nun ja, man merkt’s, wir haben Fremde,“ begann dann Hagemann verdrießlich und stach mit der Gabel da und dort in den Braten. „Das Fleisch erster Güte kommt wieder alles in das Badhotel, und die Wörder Bürgerschaft muß vorlieb nehmen.“

„Morgen gehe ich mit Rike zum Einkauf,“ besänftigte ihn Emma, die in der Hauswirthschaft mindestens ebensogut Bescheid wußte wie in der Litteratur. „Uebrigens finde ich es sonderbar, daß ein so berühmter Mann wie Leisewitz nicht im ersten Gasthof, im ‚Deutschen Kaiser‘, wohnt.“

„Das habe ich dem Sänger auch gesagt. ‚Aber glauben Sie denn,‘ rief er mit einer großartigen Handbewegung, ‚wenn man dort den ersten Stock an Russen und Amerikaner vermietet, daß ich zwei Treppen hoch steigen werde? Ich wohne niemals anderswo als im ersten Stock.‘ An Bescheidenheit geht dieser Siegfried nicht zu Grunde. Gleichviel – ich werde meine neue Bekanntschaft doch zu Tische laden!“

„Den Sänger?“ rief Emma.

„Erlaube, den Hofopernsänger Leisewitz! Das ist ein Unterschied. Diamantene Hemdknöpfe, feine Kleider und ein Diener auf dem Kutschbock können Sand in die Augen sein. Vielleicht sind die Diamanten falsch und die Kleider nicht bezahlt, und der Diener kann morgen verduften. Aber ich verlasse mich als erfahrener Kaufmann auf mein Gefühl. Dieser Leisewitz hat ’was und hält fest, was er hat. Auch wollen wir uns ja nicht verheirathen. Er ist ein Kauz und wir werden über ihn lachen.“

„Ich nicht – ich kann nicht fröhlich sein.“

„Warum in aller Welt auf einmal so elegisch? Bist Du nicht gesund, nicht Fritz Hagemanns Tochter, nicht so hübsch und gescheit wie nur irgend ein Wörder Kind?“

Hagemann sprang auf und an die Thür. „Wilhelm,“ schrie er hinaus, „Wilhelm, anspannen! Schnell!“ Dann wandte er sich ins Zimmer zurück. „Du sitzt, Du liest zuviel! Du mußt in die freie Luft, in die Sonne! Wir werden eine Spazierfahrt machen. Wozu hat man denn Wagen und Pferde! Wir fahren nach unserem Landhaus. Ich werde Dir den Leibkutscher der Prinzessin und den Hoffourier Stenzel zeigen – das sind Menschen! Gesund, wohlgenährt und zufrieden! – Geh’, Kind, mach’ Dich schön! Unb während der Fahrt entwerfen wir einen Speisezettel, einen Speisezettel, daß der Hofopernsänger sagen soll: das ist nicht nur eine gute, das ist die beste Tafel meines Lebens!“

Emma war eine gehorsame Tochter; sie ging und machte sich schön.

Und Hagemanns Voraussagungen gingen in Erfüllung. Als Wilhelm spät in der Nacht seinen Herrn vor der „Sonne“ abgesetzt hatte und nun dem Fräulein vor der eigenen Hausthür den Kutschenschlag öffnete, hüpfte Emma leicht wie eine Nymphe heraus; sie klopfte den wohlgenährten Gäulen auf den Rücken und wünschte Wilhelm freundlich Gutenacht. Dann sprang sie die Treppe hinauf, übermüthig fröhlich wie ein Schulmädchen, zum höchsten Erstaunen der Jungfer Anna, die mit der Lampe im Flur erschien. Emma trat in ihre Stube, legte Handschuhe, Hut und Ueberwurf ab und ordnete ihr Haar vor dem Spiegel.

„Na, Fräulein,“ sagte Anna, „die Fahrt hat Ihnen wohl sehr gut gethan! Sie leuchten förmlich –“

„Pst!“ unterbrach Emma sie und lächelte verschmitzt. „Ich habe ihn gesehen!“

„Den Sänger?“

Emma nickte.

„Nun, habe ich zuviel gesagt? Ist er nicht –“

Aber ihre Herrin legte ihr den Finger auf den Mund. „St!“

Als Emma allein war, löschte sie die Lampe aus, denn es war eine herrliche Mondnacht. Sie beugte sich hinaus. Im Hafen umgaukelten die blitzenden Wellen kaum hörbar die Schiffe und schaukelten leicht die Nachen und fernhin ruhevoll dehnte sich die See. Emma warf einen halben Blick nach dem alten Giebelhaus gegenüber. Nur das Erdgeschoß leuchtete mit rothen Fenstern, droben brannte nirgends Licht. Sie setzte sich und träumte mit offenen Augen still vor sich hin. Da traf Musik ihr Ohr. Auf der Brüstung des Söllers, seine Mandoline in den Händen, saß der Sänger im hellen Mondlicht, zupfte die Saiten und sang und sang, wie Emma nie singen gehört hatte:

„O, wie sehn’ ich mich nach Süden,
Nach der Sonne Gnadenfülle,
Nach des Herzens Kirchenstille,
In des Lebens Blüthenreich!
O, wie sehn’ ich mich nach Frieden!“

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüthen.

Eine Pflicht der Pietät. Es ist unseren Lesern bekannt, daß zur Pflege der Kriegergräber auf dem Schauplatz des deutsch-französischen Krieges, hauptsächlich in den Reichslanden, durch freiwillige Vereinigungen viel geschieht. Weniger Beachtung haben bisher die Grabstätten genossen, die aus den Feldzügen vor der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches herstammen. Diesem Mangel abzuhelfen, ist nun in Leipzig ein Verein gegründet worden, der vorerst in engerem Rahmen seine Wirksamkeit entfalten will, aber darauf berechnet ist, durch verwandte Gründungen an anderen Orten seine Ergänzung zu finden. Er führt den Namen „Abtheilung Leipzig des Vereins für die Pflege der Grabstätten und Denkmäler von Offizieren und Mannschaften, die in den Feldzügen vor Wiedererrichtung des Deutschen Reiches gefallen oder gestorben sind,“ und stellt sich die Aufgabe, zunächst wo nöthig für die Pflege der im Königreich Sachsen gelegenen Denkmäler und Kriegergrabstätten einzutreten, dann aber auch für Instandhaltung der im ganzen deutschen Vaterlande sowie auf österreichischem Boden gelegenen Ehrenplätze mit besorgt zu sein. Die Mitgliedschaft kann jede Person erlangen, die unbescholten und verfügungsfähig ist und einen regelmäßigen Jahresbeitrag von drei Mark bezahlt. Daneben rechnet der Verein auch auf solche Förderer, die unter Verzicht auf die Mitgliedschaft durch Geldzuwendungen oder sonstige Unterstützungen zur Erreichung des gesteckten Zieles behilflich sind. Vorsitzender ist der Hauptmann der Landwehr Robert Rost. Es ist zu hoffen, daß der Leipziger Vereinigung eine rege Theilnahme werde und daß das schöne Beispiel von Pietät, das sie gegeben, eine eifrige Nachfolge im Reiche finde.

Von der deutschen Landwirthschaftsausstellung zu München. (Zu dem Bilde S. 481.) Die Theresienwiese in München ist ein günstiger [484] Ausstellungsplatz, geräumig und doch nahe dem Herzen der Stadt, eben und von allen Seiten leicht zugänglich, überragt von dem unvergleichlich schönen Bilde Bavaria-Ruhmeshalle und gegrüßt im fernen Süd von den kühnen Zackenlinien des Hochgebirgs. Wohl rückt ihr die Stadt immer näher auf den Leib, wohl wird ihr immer mehr der Blick nach Süden abgeschnitten, aber noch ist soviel von ihr übrig, daß sie Raum giebt für manche festliche Veranstaltung.

Auf diesem Platze, wo alljährlich das landwirthschaftliche Oktoberfest eine schau- und vergnügungslustige Menge versammelt, fand denn auch in den Tagen vom 8. bis 12. Juni d. J. die siebente Wanderausstellung der Deutschen Landwirthschaftsgesellschaft statt. Stand sie diesmal insofern unter einem ungünstigen Zeichen, als die Wachsthumsverhältnisse dieses Frühjahrs und Sommers in vielen Theilen unseres deutschen Vaterlandes und Europas keineswegs günstige zu nennen waren, ja stellenweise geradezu ein öffentlicher Nothstand eintrat, so war sie doch wieder dadurch bevorzugt, daß sie sich in Bayern in einem Lande befand, dessen Schwergewicht so recht auf der Landwirthschaft ruht, das ihr also eine ganz besonders rege Theilnahme entgegenbringen mußte. Bayern hat einen Gesamtflächenraum von 7.586.349 ha; davon stehen nach den Mittheilungen, welche der bayerische Ministerialrath Haag auf der Hauptversammlung der Deutschen Landwirthschaftsgesellschaft machte, nicht weniger als 4.563.883 in landwirthschaftlicher Benutzung, und etwa 67% der Bevölkerung Bayerns ziehen ihren Lebensunterhalt mittelbar oder unmittelbar aus der Landwirthschaft. Dem entsprach denn auch der äußere Erfolg der Ausstellung, die an Besucherzahl alle ihre Vorgängerinnen zu Frankfurt a. M., Breslau, Magdeburg, Straßburg, Bremen und Königsberg hinter sich ließ. Eine sehr wirksame Förderung fand sie durch ihren Ehrenpräsidenten, den Prinzen Ludwig von Bayern, der, selbst ausübender Landwirth, seit Jahren eifrig an der Hebung und Verbesserung der Bodenkultur in seinem engeren Heimathlande mitarbeitet. Ihm fiel auch die Aufgabe zu, die Ausstellung durch eine feierliche Ansprache zu eröffnen, wie dies unser Bild darstellt.

Das Schwergewicht der Ausstellung lag selbstverständlich in der Vorführung der so außerordentlich blühenden bayerischen Rindviehzucht. Das Generalkomitee des bayerischen Landwirthschaftlichen Vereins hatte eine Art Sammelausstellung von bayerischen Rindern veranstaltet, die über die Hälfte sämtlicher anwesenden Stücke – es waren deren gegen 1300 – ausmachte und ein anschauliches Bild von dem Reichthum gewährte, den Bayern in seinen Gebirgs- und Höhenschlägen besitzt. Ihnen zunächst fesselten die öffentliche Aufmerksamkeit die Pferde, die ebenfalls gut und zahlreich vertreten waren; weiterhin gab es noch alle die Thiere zu sehen, die sonst in der Landwirthschaft von Wichtigkeit sind, Schweine, Schafe, Geflügel u. dgl.; eine Gärtnerei-, ja sogar eine Fischerei- und eine Hundeausstellung hatte sich angeschlossen. Endlich gab es eine Fülle von landwirthschaftlichen Maschinen und Geräthen aller Art, und es war nur ein Glück, daß die vom vielen Schauen und Studieren erschöpften Besucher sich leicht an einem Kruge „selbstgewachsenen“ Gerstensaftes oder in der „Weinkosthalle“ an einem Schluck Rhein-, Mosel- oder – Seewein erquicken konnten.

Wie die Bauten der Ausstellung, vor allem das architektonisch hübsch ausgestattete Thor des Haupteingangs, einen guten Eindruck machten, so hatte auch die gärtnerische Kunst alles gethan, den Platz der Ausstellung vortrefflich herzurichten und beim Besucher den Eindruck hervorzurufen, als trete er in einen wohlgepflegten herrschaftlichen Garten. Große Rasenflächen mit schönen Blattpflanzengruppen dehnten sich vor den Ausstellungshallen, auch der Gabentempel war mit einer gefälligen Anlage umgeben, aus welcher sich kräftig entwickelte Lorbeerbäume – eine zarte Hindeutung auf die Preisgekrönten, deren drinnen prächtige Schätze harrten – stolz hervorhoben. Es ist nur zu wünschen und zu hoffen, daß diesen Pokalen und Silberschalen und anderen Ehrengaben der Himmel das werthvollste Kleinod hinzufüge – ein fruchtbar Wetter.

Die neue Elbebrücke zwischen Loschwitz und Blasewitz. (Zu dem Bilde S. 469.) Mit der immer dichter werdenden Bevölkerung des Elbethals in der Umgebung Dresdens hat sich das Bedürfniß einer neuen festen Verbindung beider Ufer des Stromes oberhalb der drei städtischen Brücken herausgestellt. Jetzt ist diese Verbindung geschaffen worden durch eine mächtige neue Kettenbrücke, welche von dem romantischen schillerberühmten Loschwitz hinüberführt nach dem volkreichen Blasewitz. Es war eine schwierige Aufgabe für den entwerfenden Ingenieur, das hier immerhin 150 Meter breite Strombett zu überspannen, ohne doch durch plumpe Massen das schöne Landschaftsbild zu stören, auf das man aus den Gärten von Loschwitz niederschaut. Unsere Abbildung beweist, daß er diese Aufgabe mit Glück gelöst hat. In gefälligem Bogen, gleich einem luftigen Gewebe schwingt sich der riesige Eisenbau von Pfeiler zu Pfeiler; 147 Meter mißt die große mittlere Spannung, und von Anker zu Anker sind’s je noch 60 Meter weiter. Die Breite der Brücke beträgt 11 Meter und ihre Fahrbahn liegt 10 Meter über dem mittleren Wasserstand der Elbe, so daß sie also vom Hochwasser nicht leicht etwas zu fürchten hat. Bauherr der Brücke war der sächsische Staat, der zwei Millionen Mark auf sie verwendet hat einschließlich der Kosten für die Zufahrtstraßen.

So führt nun also ein fest gegründeter direkter Weg vom stillen Schillerhäuschen, darin der „Don Carlos“ zum großen Theil entstand, hinüber nach der Heimath der „Gustel von Blasewitz“.

Brütende Schlangen. Als vor einigen Jahrzehnten aus Indien berichtet wurde, daß dort die große Tigerschlange ihre Eier ausbrüte, da lächelte man in Europa ungläubig über ein derartiges Ammenmärchen. Die Reptilien kümmern sich nicht um ihre Brut, sagte man; aber man irrte. Die Riesenschlangen der Alten Welt bekümmern sich wohl um ihre Eier, und im Monat Juni d. J. bildeten zwei Pythonschlangen, die auf ihren Eiern zusammengeringelt lagen, eine Sehenswürdigkeit des Zoologischen Gartens zu Leipzig. Sie waren mit anderem Gethier durch den Dampfer „Benares“ aus Kalkutta gebracht worden und sind schöne große Exemplare von 6 bis 7 m Länge. Die Eier sind ungefähr von der Größe der Gänseeier und mit einer dicken lederartigen Haut überzogen; über dem Eierhaufen brütet die Pythonschlange derart zusammengeringelt, daß ihr Leib ein flaches Gewölbe bildet, das vom Kopfe der Schlange gekrönt wird. Es vergehen etwa zwei Monate, bis die Brut die Eier verläßt.

Die südasiatische Pythonschlange wurde bei ihrem Brutgeschäft zum ersten Male im Pflanzengarten zu Paris im Jahre 1841 von Valenciennes und Dumeril beobachtet. Aus fünfzehn Eiern schlüpften damals acht junge Tigerschlangen heraus. Während des Brutgeschäfts wurde wiederholt die Temperatur innerhalb der Falten der Schlangen gemessen und es stellte sich heraus, daß die Wärme des Schlangenkörpers die der Umgebung zuweilen um 10 bis 12° C. übertraf.

Auch die nahe Verwandte der asiatischen Tigerschlange, die Hieroglyphenschlange oder Assala, welche in West- und Mittelafrika heimisch ist, pflegt ihre Eier auszubrüten. Eine dieser Riesenschlangen hatte im Jahre 1862 im Londoner Thiergarten gegen 100 Eier gelegt und brütete vom 13. Januar bis zum 4. April; auch in diesem Falle wurde eine Wärmezunahme zwischen den Falten des Schlangenleibes festgestellt, die zwischen 5 bis 9° C. schwankte. Die Eier gingen jedoch in Verwesung über.

Ob es im Leipziger Zoologischen Garten gelingen wird, Riesenschlangenbrut zu erhalten, wird die nächste Zukunft lehren.

Wir möchten bei dieser Gelegenheit bemerken, daß die Beobachtung der Entwicklung unserer harmlosen weit verbreiteten Ringelnatter nicht weniger lehrreich ist. Die Ringelnatter legt je nach Alter und Größe 6 bis 30 Eier, die etwa die Größe der Taubeneier erreichen und von einer pergamentartigen weißen bis grauweißen Schale umgeben sind. Die Schlange entwickelt bei der Wahl des Ortes, an dem sie die Eier ablegt, eine gewisse Vorsorge, indem sie feuchtwarme Erdlöcher, die nach Süden gelegen sind, aufsucht; ja sie wählt auch gern Misthaufen, Löcher im Stallboden und legt mitunter ihre Eier – unter ein Hühnernest, wo von der Brutwärme der Henne den Schlangeneiern etwas zugute kommt. Es wurde auch wiederholt festgestellt, daß mehrere Ringelnattern ihre Eier gemeinschaftlich an einem Orte ablegten. Der verdiente Erforscher der Lebensgewohnheiten der deutschen Kriechthiere und Lurche, A. Franke, fand z. B. in einem alten Steinbruche in Leulitz bei Wurzen einen Haufen von traubenartig zusammengeklebten Schlangeneiern, deren Zahl an 600 betrug; zu deren Hervorbringung waren mindestens 30 Pärchen nöthig.

Die Eier der Ringelnatter bedürfen zum Ausreifen der Zeit von etwa acht Wochen. Man kann in einem gut eingerichteten Terrarium das Ausschlüpfen des Schlängleins aus dem Ei wohl beobachten. „Endlich,“ schreibt darüber A. Franke, „durchbricht die junge Schlange die Eihülle oft an mehreren Stellen und sieht neugierig und vorsichtig aus einer der gemachten Oeffnungen in die Welt. In dieser Situation habe ich sie öfters bewundert, wie sie zögernd hervorkam und erstaunt und erschrocken über das zahlreiche Auditorium sich schnell wieder zurückzog und stundenlang denselben Versuch wiederholte.“ *      

Das letzte Werk von Schmidt-Weißenfels, an dem er noch bis Ostern dieses Jahres gearbeitet hatte, ist nun erschienen. (Berlin, Oswald Seehagen). Auf Grund jahrelanger Studien und Sammlungen hat er seine „Geschichte des modernen Reichthums“ geschrieben, ein Buch, so reich an merkwürdigen Thatsachen, an Stoff zu ernsten Betrachtungen wie zu behaglicher Unterhaltung, daß niemand es zur Hand nehmen wird, ohne von dem Inhalt gefesselt zu werden. Da tauchen sie vor uns auf, die Millionengrößen aller Welttheile, ehrliche Arbeiter und gewissenlose Spieler, sorgfältige Rechner und kühne Spekulanten, da schauen wir in ihre Paläste und Landsitze, in ihre Prunkzimmer und Schatzkammern – aber auch die Schöpfungen der Humanität, die aus solchen gehäuften Millionenvermögen hervorgingen, sind nicht vergessen. Da werden alle die tausend Wege beleuchtet, auf denen Menschen zu Reichthum emporstiegen, aber auch die Abgründe, die so viele von ihnen wieder verschlangen. Das Buch ist ein Mikrokosmos, ein zusammengedrängtes Bild unseres gesamten neuzeitlichen Erwerbslebens, das im Streben nach Reichthum gipfelt, es ist in seinem Theile ein Spiegel unserer Zeit. Darin liegt sein Werth und seine Bedeutung.

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KLEINER BRIEFKASTEN


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Carl Otto. Ihre Gedichte sind leider nicht verwendbar.

O. R. 1876. Wir halten den Vorschiag, den Sie uns unterbreitet haben, für völlig aussichtslos.

Ch. G. St. in Karlsruhe. Sie fragen uns, „ob im Falle eines Krieges die Staaten Württemberg und Bayern Preußen unterstützen müssen“. Wir theilen Ihnen zur Behebung Ihrer Zweifel mit, daß im Jahre 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, was Sie bisher übersehen zu haben scheinen!

C. F. in Weimar. Es ist eine längst festgestellte Thatsache, daß Eisenbahnschienen, so lange sie in Benutzung sind, nicht rosten. Ein neuerer Forscher Namens Springer in Brüssel erklärt dies wie folgt: der nach einem Regen sich bildende Rost verbindet sich mit dem darunter liegenden reinen Eisen, sobald ein Zug über die Schiene geht, zu Magneteisen, weiches nun den Körper der Schiene als schützende Hülle vor weiterem Rosten bewahrt. Springer hat dies durch die chemische Untersuchung eines von der Schiene abgelösten Metallhäutchens nachgewiesen. Wurde umgekehrt Eisenrost auf eine blanke Schiene unter einem etwa dem Gewicht einer Lokomotive entsprechenden Drucke aufgepreßt, so entstand ebenfalls Magneteisen. Auch von der Eisenbahnschiene gilt hienach, wenn auch in leidendem Sinne, das Wort Moltkes: „Rast’ ich, so rost’ ich!“


Inhalt:

[ Verzeichnis der Beiträge in Nr. 28/1893, z. Zt. nicht dargestellt. ]


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Soeben geht uns ein „Hilferuf“ aus Schneidemühl zu. Er beziffert den entstandenen Schaden auf über eine Million Mark und bittet alle Menschenfreunde im weiten deutschen Vaterlande dringend um Unterstützung. Beiträge nimmt die Stadthauptkasse zu Schneidemühl entgegen. Die Red.