Die Gartenlaube (1893)/Heft 1
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Nr. 1. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Ein Frühlingstag im Süden! Himmel und Meer strahlen
in tiefem Blau, durchfluthet von Licht und Glanz, und mit
leisem Rauschen rollen die Wogen an den Strand der Riviera,
wo der Lenz schon eingezogen ist in seiner ganzen Pracht, während
droben im Norden noch Schneestürme über die Erde hinziehen.
Hier liegt goldener Sonnenschein auf den weißen Häusern und Villen der Stadt, die sich im weiten Halbkreise am Ufer hinzieht, schlanke Palmen heben ihre Wipfel, Lorbeer und Myrthe grünen; mit Tausenden von ganz und halb erschlossenen Blüthen, vom zarten Weiß bis zum tiefen Purpur, leuchten die Kamelien aus dem dunklen Laube und überall duftet und blüht es in unerschöpflicher Fülle. Von den Bergen ringsum blicken altersgraue Klöster und hellschimmernde Kirchen, von hohen Cypressen umgeben; freundliche Ortschaften heben sich aus Pinien- und Olivenwäldern, und in der Ferne blauen die Alpen mit ihren schneegekrönten Gipfeln, halb verschwimmend im Sonnenduft.
Nizza feierte eins seiner Frühlings- und Blumenfeste, und was die Stadt und deren Umgebung an Fremden und Einheimischen barg, war herbeigeströmt. In endlosen Reihen bewegten sich die geschmückten Wagen aneinander vorüber, jedes Fenster, jeder Balkon war dicht besetzt mit Zuschauern, und auf den Seitenwegen, unter den Palmen drängte sich eine schaulustige Menge, aus der überall die braunen malerischen Gestalten der Fischer und des Landvolkes auftauchten.
Auf dem Korso war die Blumenschlacht in vollem Gange, unaufhörlich kreuzten die duftigen Geschosse die Luft, hier das Ziel erreichend, dort es verfehlend; Blüthen, die im Norden als selten und kostbar gehegt werden, wurden hier achtlos und verschwenderisch verstreut. Dazu überall wehende Tücher, jubelnde Zurufe, wogende Musik und berauschender Veilchenduft, das ganze zauberhaft schöne Bild umflossen von dem goldenen Frühlingslicht, das Himmel und Erde erfüllte.
Auf der Terrasse eines der Gasthöfe stand eine kleine Gruppe von Herren, offenbar Landsleute, die sich hier zusammengefunden hatten, denn sie unterhielten sich in deutscher Sprache. Die lebhafte Theilnahme, mit welcher die beiden jüngeren dem fesselnden Schauspiel folgten, verrieth, daß es ihnen noch neu war, während der dritte, ein Mann in reiferen Jahren, es ziemlich gleichgültig an sich vorüberziehen ließ.
„Ich werde jetzt aufbrechen,“ sagte er, mit einem Blicke auf seine Uhr. „Man wird schließlich ganz betäubt von all diesem Wogen und Treiben und sehnt sich nach einem ruhigen Plätzchen. Die Herren bleiben wohl noch?“
Die jungen Herren
[2] schienen allerdings diese Absicht zu haben, und der eine, ein hübscher schlanker Mann, offenbar ein Offizier in Civil, erwiderte lachend:
„Gewiß, Herr von Stetten! Wir empfinden noch ganz und gar kein Ruhebedürfniß, und für uns Nordländer hat der Anblick etwas Märchenhaftes, nicht wahr, Wittenau? – Ah, da kommen die Wildenrods! Das nenne ich Geschmack; der Wagen verschwindet ja fast unter Blumen, und die schöne Cäcilie sieht so vollends aus wie eine Frühlingsfee.“
Der Wagen, der eben vorüberfuhr, zeichnete sich in der That durch einen besonders reichen Blumenschmuck aus. Er war über und über mit Kamelien geziert, Kutscher und Diener trugen Sträuße davon an den Hüten, sogar die Pferde waren damit geschmückt.
Auf dem Vordersitz befanden sich ein Herr, eine stolze vornehme Erscheinung, und eine junge Dame in röthlich schillerndem Seidengewand, ein weißes duftiges Hütchen mit Rosen auf dem dunklen Haare. Auf dem Rücksitz hatte ein junger Mann Platz genommen, der sich mühte, die Fülle der Blumen zu bergen, die sich von allen Seiten wie ein duftender Regen gerade über diesen Wagen ergossen. Es waren die kostbarsten Sträuße darunter, offenbar Huldigungen für das schöne Mädchen, das lächelnd inmitten all der Blüthen saß und mit großen strahlenden Augen auf das fluthende Leben ringsum blickte.
Auch der Offizier hatte einen Veilchenstrauß ergriffen und schleuderte ihn mit geschicktem Wurfe in den Wagen, aber statt der Dame fing ihn deren Begleiter auf und warf ihn dann achtlos zu den übrigen, die sich neben ihm auf dem Rücksitz aufthürmten.
„Nun, für Herrn Dernburg war das gerade nicht bestimmt,“ sagte der Blumenspender etwas ärgerlich. „Er ist natürlich wieder im Wagen der Wildenrods, man sieht ihn gar nicht mehr anders als in ihrer Begleitung.“
„Ja, seit dieser Dernburg aufgetaucht ist, scheinen alle sonstigen Beziehungen überflüssig geworden zu sein,“ stimmte Wittenau bei, indem er dem Wagen einen finsteren Blick nachsandte.
„Haben Sie das auch schon erfahren?“ neckte der junge Offizier. „Ja, Millionäre stehen leider immer im Vordergrund, und ich glaube, Herr von Wildenrod weiß diese Eigenschaft an seinen Freunden zu schätzen, denn bisweilen läßt ihn doch das Glück drüben in Monaco im Stiche.“
„Aber davon kann doch gar nicht die Rede sein,“ erwiderte Wittenau beinahe unwillig. „Der Freiherr macht durchaus den Eindruck eines Kavaliers und verkehrt hier in den ersten Kreisen.“
Der andere zuckte lachend die Achseln.
„Das will nicht viel sagen, lieber Wittenau. Gerade hier in Nizza verwischen sich die Grenzen zwischen der Gesellschaft und der Abenteurerwelt oft in ganz bedenklicher Weise. Man weiß nie recht, wo die eine aufhört und die andere anfängt, und bei diesem Wildenrod sieht man nicht klar. Ob sein Adel überhaupt echt ist –“
„Unzweifelhaft echt, das kann ich verbürgen,“ mischte sich jetzt Stetten, der bisher schweigend zugehört hatte, in das Gespräch.
„Ah, Sie kennen die Familie?“
„Ich habe vor Jahren im Hause des alten, jetzt verstorbenen Freiherrn verkehrt und dort auch seinen Sohn kennengelernt. Von diesem weiß ich allerdings nichts Näheres, aber seinen Namen und Titel trägt er mit vollem Rechte.“
„Um so besser,“ sagte der Offizier leichthin. „Uebrigens ist es ja nur eine Reisebekanntschaft, und die verpflichtet zu nichts.“
„Gewiß nicht, wenn sich solche Beziehungen ebenso leicht lösen, als sie geknüpft werden,“ warf Stetten mit einer gewissen Betonung hin. „Doch ich will jetzt fort – auf Wiedersehen, meine Herren!“
„Ich gehe mit Ihnen,“ sagte Wittenau, der auf einmal die Lust am Zuschauen verloren zu haben schien. „Die Wagenreihen fangen ja schon an, sich zu lichten. Es wird nur schwer sein, durchzukommen.“
Sie verabschiedeten sich von ihrem Gefährten, der noch nicht an den Aufbruch dachte und sich eben wieder mit neuem Blumengeschütz versah, und verließen die Terrasse. Es war allerdings nicht leicht, in der dichtgedrängten Menge vorwärts zu kommen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie all das Wogen und Treiben hinter sich ließen. Allmählich aber wurde es einsamer um sie her, während der Festjubel in der Ferne verklang.
Die Unterhaltung der beiden Herren war ziemlich einsilbig. Der jüngere besonders schien verstimmt oder zerstreut zu sein und plötzlich sagte er ganz unvermittelt:
„Sie kennen also die Wildenrods näher, und das erfährt man erst heute? Und doch verkehrten Sie nie mit ihnen.“
„Nein,“ sagte Herr von Stetten kühl, „und auch Ihnen hätte ich einen anderen Umgang gewünscht. Ich deutete das auch verschiedenemal an, aber Sie wollten meine Winke nicht verstehen.“
„Ich wurde durch einen Landsmann dort eingeführt, und Sie sagten mir nichts Bestimmtes –“
„Weil ich selbst nichts Bestimmtes weiß. Jene Beziehungen, von denen ich vorhin sprach, liegen um zwölf Jahre zurück, und seitdem hat sich vieles geändert. Ihr Freund hat recht, die Grenzen zwischen der Gesellschaft und der Abenteurerwelt verwischen sich hier oft sehr bedenklich, und ich fürchte, Wildenrod steht bereits jenseit dieser Grenze.“
„Sie halten ihn nicht für reich?“ fragte Wittenau betroffen. „Er lebt mit seiner Schwester auf großem Fuße, anscheinend in den glänzendsten Verhältnissen, und hat jedenfalls für den Augenblick bedeutende Mittel in Händen.“
Stetten zuckte mit vielsagender Miene die Schultern.
„Fragen Sie die Spielbank in Monaco, er ist ja ständiger Gast dort und soll auch meist mit Glück spielen – so lange es dauert! Man hört auch bisweilen von anderen Dingen, die noch bedenklicher sind. Ich habe mich nicht veranlaßt gefühlt, die einstige Bekanntschaft zu erneuern, obgleich unser Verkehr ein ziemlich häufiger war, denn die ehemaligen Wildenrodschen Besitzungen liegen in unmittelbarer Nähe unseres Familiengutes, das jetzt in meinen Händen ist.“
„Die ehemaligen?“ fragte der junge Mann. „Die Besitzungen sind also verkauft? Doch ich sehe, Sie sprechen nicht gern darüber.“
„Zu Fremden allerdings nicht – Ihnen will ich Auskunft geben, denn ich weiß, daß Sie ein näheres Interesse an der Sache haben. Aber dies Gespräch bleibt unter uns!“
„Mein Wort darauf!“
„Nun denn,“ sagte Stetten ernst, „es ist eine kurze, traurige, aber leider nicht ungewöhnliche Geschichte. Die Güter waren längst mit Schulden überlastet, trotzdem wurde ein glänzender Haushalt geführt. Der alte Freiherr hatte noch in späteren Jahren, als der Sohn längst erwachsen war, eine zweite Ehe geschlossen, er konnte seiner jungen Frau keinen Wunsch versagen, und sie brauchte viel, sehr viel. Der Sohn, der im diplomatischen Dienst stand, war auch gewohnt, als großer Herr zu leben, allerlei sonstige Verluste kamen hinzu, und endlich brach die Katastrophe herein. Der Freiherr starb plötzlich an einem Schlagfluß – so hieß es wenigstens.“
„Er hat Hand an sich gelegt?“ fragte Wittenau leise.
„Wahrscheinlich. Gewisses hat man nicht erfahren, aber vermuthlich wollte er das Unglück und die Schande dieses Zusammenbruches nicht überleben. Die Schande wurde allerdings abgewendet, denn man trat an allerhöchster Stelle für die Familie ein. Die Wildenrods gehören zum ältesten Adel des Landes, und der Name sollte um jeden Preis gerettet werden. Das Schloß und die Güter gingen in königlichen Besitz über, so konnten wenigstens die Gläubiger befriedigt werden, und der Verkauf galt in weiteren Kreisen für einen freiwilligen. Allerdings blieb nichts übrig. Die Witwe mit ihrem kleinen Töchterchen wäre dem Elend preisgegeben gewesen, wenn die Gnade des Königs ihr nicht einen Wohnsitz im Schlosse und eine jährliche Rente gesichert hätte. Sie starb übrigen auch bald darauf.“
„Und der Sohn? Der junge Freiherr?“
„Er nahm natürlich den Abschied, mußte ihn nehmen unter diesen Umständen, denn er konnte bei völliger Mittellosigkeit doch nicht Gesandtschaftsattaché bleiben. Es mag ein harter Schlag gewesen sein für den stolzen ehrgeizigen Mann, der vielleicht gar [3] nicht gewußt hatte, wie es mit seinem Vater stand, und der nun so plötzlich und gewaltsam aus seiner Bahn geschleudert wurde. Es hätte ihm freilich noch mancher andere ehrenhafte Lebensweg offen gestanden, man hätte ihm zweifellos irgend eine Stellung verschafft, aber das bedingte ein Herabsteigen aus den Kreisen, in denen er bisher eine erste Rolle gespielt hatte, bedingte ernste, unausgesetzte Arbeit in einfachen Verhältnissen, und das waren Dinge, die Oskar von Wildenrod nun einmal nicht kannte. Er wies alle Vorschläge zurück, ging ins Ausland und blieb für seine Heimath verschollen. Jetzt, nach zwölf Jahren, begegne ich ihm hier in Nizza mit seiner jungen Schwester, die inzwischen herangewachsen ist, aber wir ziehen es beiderseits vor, uns als Fremde zu behandeln.“
Wittenau war bei dieser Erzählung sehr nachdenklich geworden, er erwiderte nichts darauf; da legte sein Gefährte die Hand auf seinen Arm und sagte halblaut:
„Sie sollten den jungen Dernburg nicht mit so feindseligen Blicken ansehen, denn sein Erscheinen war es vermutlich, das Sie vor einer Thorheit bewahrt hat – vor einer großen Thorheit!“
Ueber das Gesicht des jungen Mannes floß bei dieser Andeutung eine glühende Röthe und er gerieth sichtlich in Verlegenheit.
„Herr von Stetten, ich –“
„Nun, ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf daraus, daß Sie zu tief in ein Paar schöner Augen geblickt haben,“ unterbrach ihn Stetten. „Das ist so natürlich in Ihrem Alter, hier aber hätte es doch verhängnißvoll werden können. Fragen Sie sich selbst, ob ein Mädchen, das unter solchen Umständen und Umgebungen aufgewachsen ist, zur Frau eines einfachen Gutsbesitzers und für ländliche Verhältnisse paßt. Uebrigens hätten Sie schwerlich ein Jawort von Cäcilie Wildenrod erhalten, denn darüber bestimmt der Bruder, und der braucht einen Millionär zum Schwager.“
„Und Dernburg ist der Erbe verschiedener Millionen, wie es heißt,“ ergänzte Wittenau mit unverhohlener Bitterkeit, „also wird er wohl dieser Ehre theilhaftig werden.“
„Es heißt nicht bloß so, es ist Thatsache. Die großen Dernburgschen Eisen- und Stahlwerke sind wohl die bedeutendsten in ganz Deutschland und vorzüglich geleitet. Der gegenwärtige Chef ist ein Mann, wie es nicht viele giebt, ich habe ihn vor einigen Jahren zufällig kennengelernt. – Doch da kommen die Wildenrods zurück!“
Es war in der That der Wagen des Freiherrn, der gleichfalls den Korso verlassen hatte und sich auf der Heimfahrt befand. Die feurigen Pferde hatten es ungeduldig genug ertragen, daß man sie so lange zu langsamem Schritte gezwungen, sie griffen jetzt mit voller Macht aus und brausten an den beiden Herren vorüber, die zur Seite getreten waren und nun der aufwirbelnden Staubwolke nachblickten.
„Schade um diesen Oskar Wildenrod!“ sagte Stetten ernst. „Er gehört nicht zu den gewöhnlichen Menschen, und vielleicht wäre etwas Großes aus ihm geworden, wenn das Schicksal ihm den Lebenskreis, für den er geboren und erzogen war, nicht so jäh und gewaltsam verschüttet hätte. – Sehen Sie nicht so finster aus, lieber Wittenau! Sie werden den Jugendtraum verschmerzen und, wenn Sie erst wieder daheim auf Ihren Feldern und Wiesen sind, dem Schicksal dankbar dafür sein, daß es nur ein Traum geblieben ist.“ –
Der Wagen hatte inzwischen seine Fahrt fortgesetzt und hielt jetzt vor einem der großen Gasthöfe, dessen Aeußeres hinreichend zeigte, daß er nur reichen und vornehmen Fremden zur Verfügung stand. Die Zimmer, welche Freiherr von Wildenrod mit seiner Schwester bewohnte, gehörten zu den besten und selbstverständlich theuersten des Hauses und entbehrten keine von all den Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten, auf die verwöhnte Gäste Anspruch erheben. Sie waren glänzend eingerichtet – freilich eine Gasthofeinrichtung, der jede Behaglichkeit fehlte.
Die Herrschaften befanden sich bereits im Salon – Cäcilie hatte sich zurückgezogen, um Hut und Handschuhe abzulegen, und die beiden Herren traten plaudernd auf die Veranda hinaus, die einen schönen Blick auf das Meer und einen Theil von Nizza gewährte.
Der junge Dernburg mochte vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt sein; sein Aeußeres machte einen wenn auch angenehmen, doch ziemlich unbedeutenden Eindruck. Die schmächtige Gestalt mit ihrer etwas gebeugten Haltung und die bleiche Farbe mit der eigenthümlichen Röthe auf den Wangen ließen errathen, daß er nicht zu seinem Vergnügen sondern aus Gesundheitsrücksichten die sonnigen Gestade der Riviera aufgesucht hatte. Das Gesicht hatte feine ansprechende Züge, aber die Linien waren viel zu weich für ein Männerantlitz, und dieselbe Weichheit lag in dem träumerischen, verschleierten Blick der braunen Augen. Das Selbstbewußtsein des reichen Erben schien dem jungen Manne vollständig zu fehlen, seine Haltung war anspruchslos, beinahe schüchtern, und hätte ihm nicht der Name, den er trug, überall Beachtung gesichert, so wäre er wohl in Gefahr gekommen, von den meisten übersehen zu werden.
Die Persönlichkeit des Freiherrn stand im vollsten Gegensatz dazu. Oskar von Wildenrod war nicht mehr jung, er befand sich bereits am Ende der Dreißig. Seine hohe Gestalt hatte etwas Gebietendes, und die stolzen regelmäßigen Züge konnten noch für schön gelten, trotz der scharfen Linien, die sich darin ausgeprägt hatten, und der tiefen Falte zwischen den Brauen, die dem Gesicht etwas Düsteres gab. In den dunklen Augen schien nur kühle beobachtende Ruhe zu liegen, und doch blitzte es bisweilen darin auf, mit einem Feuer, das auf eine leidenschaftliche ungezügelte Natur deutete. Im übrigen war die Erscheinung des Freiherrn eine durchaus vornehme, in seiner Haltung vereinigte sich die Verbindlichkeit des Weltmannes ganz zwanglos mit dem Stolze, den der Abkömmling des alten Adelsgeschlechtes in unverkennbarer, aber keineswegs verletzender Weise zur Schau trug.
„Sie denken doch nicht im Ernst schon an die Abreise?“ fragte er im Laufe des Gespräches. „Das wäre viel zu früh, da würden Sie gerade in die Sturm- und Regenzeit gerathen, die man in unserem lieben Deutschland mit dem Namen Frühling beehrt. Sie haben den ganzen Winter in Kairo zugebracht, sind erst seit sechs Wochen in Nizza und dürfen sich jetzt noch nicht das rauhe nordische Klima zumuthen, wenn Sie Ihre kaum befestigte Gesundheit nicht wieder aufs Spiel setzen wollen.“
„Es handelt sich ja auch nicht um heut’ oder morgen,“ sagte Dernburg, „aber allzulange kann ich die Heimkehr nicht mehr aufschieben. Ich bin länger als ein Jahr im Süden gewesen, fühle mich wieder vollständig wohl, und mein Vater wünscht dringend, daß ich sobald als möglich nach Odensberg zurückkehre, vorausgesetzt, daß die Aerzte mir die Erlaubniß dazu geben.“
„Es muß eine großartige Schöpfung sein, dies Odensberg,“ bemerkte der Freiherr. „Nach allem, was ich von Ihnen und anderen höre, nimmt Ihr Vater ja beinahe die Stellung eines kleinen Fürsten ein, nur daß er ein unumschränkterer Herr und Gebieter ist als dieser.“
„Gewiß, aber er hat auch alle Sorgen und die ganze große Verantwortlichkeit seiner Stellung. Sie ahnen doch wohl nicht, was es heißt, an der Spitze eines derartigen Unternehmens zu stehen. Es gehört eine eiserne Natur wie die meines Vaters dazu; es ist eine Riesenlast, die er auf seinen Schultern trägt.“
„Gleichviel, es ist eine Macht, und Macht ist immer Glück!“ erwiderte Wildenrod mit aufblitzenden Augen.
Der junge Mann lächelte trübe. „Für Sie vielleicht und wohl auch für meinen Vater – ich bin anders geartet. Ich würde ein stilles Leben in bescheidenen Verhältnissen an einer dieser paradiesischen Stätten des Südens vorziehen, aber ich habe als einziger Sohn dereinst die Odensberger Werke zu übernehmen, da ist von keiner Wahl die Rede.“
„Sie sind undankbar, Dernburg! Ihnen hat eine gütige Fee ein Los, nach dem Tausende geizen und ringen, als Geschenk in die Wiege gelegt, und Sie – ich glaube, Sie seufzen darüber.“
„Weil ich fühle, daß ich ihm nicht gewachsen bin. Wenn ich sehe, was mein Vater leistet, und daran denke, daß mir dereinst die Aufgabe zufallen soll, ihn zu ersetzen, dann überkommt mich eine Muthlosigkeit und Zaghaftigkeit, deren ich nicht Herr werden kann.“
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[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] Wildenrods Blick haftete mit einem eigenthümlichen Ausdruck auf der schmächtigen Gestalt und den bleichen Zügen des jungen Erben.
„Dereinst!“ wiederholte er. „Wer wird jetzt schon um die ferne Zukunft sorgen. Noch lebt und schafft Ihr Vater ja in vollster Kraft, und im äußersten Falle wird er Ihnen tüchtige Beamte zurücklassen, die in seiner Schule gebildet sind. Also Sie bleiben wirklich nicht mehr lange in Nizza? Das thut mir leid, wir werden Sie sehr vermissen.“
„Wir?“ fragte Dernburg leise. „Sprechen Sie auch im Namen Ihrer Schwester?“
„Gewiß, Cäcilie wird ihren allergetreuesten Ritter ungern verlieren. Man wird sich allerdings Mühe geben, sie darüber zu trösten – wissen Sie, daß ich gestern einen förmlichen Strauß mit Marville zu bestehen hatte, weil ich Ihnen den Platz in unserem Wagen anbot, auf den er sicher rechnete?“
Die letzte Bemerkung wurde scheinbar ganz absichtslos hingeworfen, aber sie that ihre Wirkung. Das Gesicht des jungen Mannes verdüsterte sich, und mit unverkennbarer Gereiztheit erwiderte er:
„Vicomte von Marville beansprucht ja stets den Platz neben der Baroneß, er würde mich auch wohl vorkommenden Falles vollständig bei ihr ersetzen.“
„Wenn Sie ihm freiwillig den Platz räumen – vielleicht. Bis jetzt hat sich Cäcilie allerdings noch immer mit Entschiedenheit auf die Seite ihres deutschen Landsmanns gestellt, aber der liebenswürdige Franzose gefällt ihr, daran ist kein Zweifel, und der Abwesende hat immer unrecht, zumal bei jungen Damen.“
Er sprach in scherzendem Tone, ohne irgendwie Gewicht auf seine Worte zu legen, als nehme er die Sache überhaupt nicht ernst; um so mehr schien dies Dernburg zu thun. Er antwortete nicht, allein er kämpfte offenbar mit sich selber, und endlich begann er, unsicher und stockend:
„Herr von Wildenrod, ich habe etwas auf dem Herzen – schon längst – aber ich wagte es bisher nicht –“
Der Freiherr hatte sich zu ihm gewendet und sah ihn fragend an. In seinen dunklen Augen lag ein halb spöttischer, halb mitleidiger Ausdruck – der Blick schien zu sagen: Du hast Millionen zu bieten und wagst es nicht? Laut aber erwiderte Wildenrod:
„Nun, so sprechen Sie doch, wir sind uns ja nicht fremd, und ich hoffe, Anspruch auf Ihr Vertrauen zu haben.“
„Es ist Ihnen vielleicht kein Geheimniß mehr, daß ich Ihre Schwester liebe,“ sagte Dernburg beinahe schüchtern. „Aber lassen Sie es mich auch aussprechen, daß Cäciliens Besitz mir das höchste Glück sein würde, daß ich alles thun würde, um auch sie glücklich zu machen – darf ich hoffen?“
Wildenrod zeigte sich in der That nicht überrascht von diesem Geständniß, er lächelte nur, aber es war ein verheißungsvolles Lächeln.
„Da werden Sie wohl vor allen Dingen Cäcilie selbst fragen müssen. Junge Damen sind etwas eigenwillig in solchen Punkten, und mein Fräulein Schwester ist es ganz besonders. Ich bin vielleicht zu nachsichtig ihr gegenüber, und in der Gesellschaft wird sie noch mehr verwöhnt, wie sehr, das sahen Sie ja wieder bei der heutigen Korsofahrt.“
„Ja, ich sah es,“ – der Ton, in welchem der junge Mann sprach, klang gedrückt – „und eben deshalb habe ich bisher immer noch nicht den Muth gefunden, ihr von meiner Liebe zu sprechen.“
„Wirklich? Nun dann werde ich Ihrer Schüchternheit wohl zu Hilfe kommen müssen. Unsere kleine launenhafte Prinzessin ist zwar unberechenbar, aber, im Vertrauen gesagt, ich fürchte nicht, daß Sie sich bei ihr einen Korb holen werden.“
„Sie glauben?“ rief Dernburg in aufflammendem Entzücken. „Und Sie, Herr von Wildenrod?“
„Ich werde Sie gern als Schwager begrüßen und mit vollem Vertrauen die Zukunft meiner Schwester in Ihre Hände legen. Ich will ja weiter nichts, als dieses Kind, dem ich von jeher mehr Vater als Bruder gewesen bin, geliebt und glücklich sehen.“
Er streckte ihm die Hand hin, die der junge Mann mit innigem Druck ergriff.
„Ich danke Ihnen. Sie machen mich sehr, sehr glücklich mit dieser Zusage, mit der Hoffnung, die Sie mir geben, und jetzt –“
„Möchten Sie diese Zusage auch aus einem anderen Munde haben,“ ergänzte Wildenrod lachend. „Die Gelegenheit zu dem Geständniß will ich Ihnen gern geben, aber das Jawort müssen Sie sich selbst holen, ich lasse meiner Schwester volle Freiheit. Ich denke indessen, mein Ausplaudern hat Ihnen Muth gemacht, also wagen Sie es immerhin, lieber Erich!“
Er winkte ihm freundlich zu und ging. Auch Erich Dernburg trat wieder in den Salon, und sein Blick glitt über all die Blumenspenden, die der Diener herausgebracht und auf den Tisch gehäuft hatte. Ja freilich, Cäcilie Wildenrod war verwöhnt und gefeiert wie wenige ihres Geschlechtes. Wie war sie heute wieder überschüttet worden mit Blumen und Huldigungen! Sie hatte nur zu wählen, durfte er da der Hoffnung trauen, daß sie gerade ihn wählen würde? Er hatte Reichthum zu bieten, aber sie war ja selbst reich, die Art, wie ihr Bruder auftrat, ließ daran nicht zweifeln, und sie war überdies der Sprößling eines alten Adelsgeschlechtes, die Wage stand zum mindesten gleich. Trotz der Ermuthigung, die ihm geworden, verrieth das Gesicht des jungen Mannes doch, daß er ebensosehr fürchtete als hoffte. –
Wildenrod hatte inzwischen das anstoßende Gemach durchschritten und trat jetzt in das Zimmer seiner Schwester. Cäcilie stand vor dem Spiegel und wendete sich bei seinem Eintritt flüchtig um.
„Ah, Du bist es, Oskar? Ich komme sogleich, ich will nur noch eine Blume ins Haar stecken.“
Der Freiherr sah auf den Strauß prachtvoller mattgelber Rosen, welcher halbgelöst auf dem Spiegeltischchen vor ihr lag, und fragte kurz.
„Sind das die Blumen, die Du von Dernburg erhalten hast?“
„Gewiß, er brachte sie mir zu der heutigen Korsofahrt.“
„Gut, so schmücke Dich damit!“
„Das hätte ich auch ohne Deine allergnädigste Erlaubniß gethan,“ lachte die junge Dame, „denn es sind die schönsten von allen.“
Sie zog eine der Rosen hervor und hielt sie prüfend gegen das Haar, es lag eine ungemeine, aber freilich sehr bewußte Grazie in dieser Bewegung. Das schlanke, neunzehnjährige Mädchen glich dem Bruder wenig oder gar nicht, auf den ersten Blick schienen sie nur die dunkle Farbe des Haares und der Augen miteinander gemein zu haben, sonst verrieth kaum ein Zug die nahe Blutsverwandtschaft.
Cäcilie Wildenrod war eine von jenen Erscheinungen, die auf die Männerwelt einen fast unwiderstehlichen Zauber ausüben. Ihre Züge waren unregelmäßiger als die des Bruders, hatten jedoch einen eigenartigen Reiz, der immer wieder von neuem fesselte. Das tiefschwarze Haar, das, nach der neuesten Mode geordnet, in seiner reichen Fülle gar nicht recht zur Geltung kam, die matte bräunliche Hautfarbe ließen nicht auf deutsche Abkunft schließen; unter langen schwarzen Wimpern barg sich ein Paar dunkler feuchtschimmernder Augen, welche dem, der tiefer hineinblickte, ein Räthsel aufzugeben schienen. Es waren nicht die Augen eines eben erst erblühten Mädchens, sie glichen nur zu sehr denen des Bruders. Auch in diesen dunklen Tiefen glühte ein Funke, der zur Flamme werden konnte, auch sie hatten etwas von jenem heißen leidenschaftlichen Feuer, das sich in dem Blicke Oskars unter anscheinender Kälte barg. Hier allein lag die Aehnlichkeit zwischen den Geschwistern, aber es war eine verhängnißvolle Aehnlichkeit.
Cäcilie trug noch das Seidenkleid, das sie bei der Korsofahrt getragen hatte, ihre Brust schmückten bereits einige der mattgelben, halb erschlossenen Knospen, und jetzt befestigte sie eine voll erblühte Rose in den dunklen Haarwellen. Sie sah reizend aus in diesem duftigen Schmucke, und der Blick des Bruders ruhte mit sichtbarer Befriedigung auf ihr.
Die „schöne blaue“ Donau ist – wenn man von der eigentlich schon zu Asien gehörigen Wolga absieht – der größte Fluß Europas. Gleichwohl schrumpft sie gegenüber anderen Riesenströmen der Erde zu einem Bache zusammen. In das Stromgebiet des Amazonas verlegt, würde sie zu einem kaum beachteten Nebenflusse herabsinken. Die physisch wahrnehmbare Größe giebt aber bei Strömen so wenig den Ausschlag wie bei Menschen. Der gewaltige Amazonas, der Mississippi, der ungeschlachte Kongo: sie alle haben keine Geschichte. Nur im Vergleich mit dem Nil tritt die Donau in den Schatten zurück. Aber ein Band verknüpft beide, den Riesen und den Zwerg, miteinander – der sagenhafte Zug des Sesostris, der über Kleinasien bis zur Donau gegangen sein soll. Das ist freilich eine Fabel, die uns Herodot aufgetischt hat; aber sie ist immerhin bezeichnend für den alten Ruhm des größten europäischen Stromes, der in Ueberlieferungen eine Rolle spielt, welche noch über die Argonautenmythe hinaufreichen.
Außer den Helden der Sage haben indes auch die größten geschichtlichen Eroberer an der Donau gestanden und an ihren Ufern Lorbeeren gepflückt: der Perserkönig Darius, der makedonische Alexander, Trajan, Attila, Karl der Große, Dschingis-Khan, Suleiman, Napoleon. Das „Nibelungenlied“ verknüpft die beiden sagenreichsten Ströme Europas – Donau und Rhein – miteinander. Wenn gleichwohl der letztere so viel im Liede verherrlicht worden ist, während sein Rivale leer ausging, so liegt die Schuld auf Seite der alten Sänger und der modernen Wander-Rhapsoden, welche die Idylle der gewaltigen Majestät vorzogen, die örtlich beschränkten Märchen anziehender fanden als die wilden Völkersagen des Ostens. Diese Schuld ist noch immer nicht abgetragen, denn noch harrt die Donau ihres Biographen, welcher Sage und Geschichte zu einem fesselnden Gesammtgemälde vereinigt und das altersgraue Haupt des Vater Danubius mit dem Lorbeer schmückt.
Eine Donaureise vom Ursprung des Stromes bis zu dessen Mündung ist eine Fahrt durch halb Europa. Sie bringt den Wanderer aus den romantischen Thälern des Schwarzwaldes bis vor die Thore von Konstantinopel. Von der Gesammtlänge des Stromes mit 2860 Kilometern entfallen 954 Kilometer auf die deutsche und österreichische Strecke, 940 auf die ungarische, 966 auf die rumänisch-bulgarische. Nimmt man die durchschnittliche Geschwindigkeit des Wasserlaufes mit 1 Meter in der Sekunde an, was der Wahrheit ziemlich nahe kommt, so benöthigt ein Wassertheilchen, das im Strome treibt, 33 Tage, um die ganze Strecke von Donau-Eschingen bis Sulina zurückzulegen.
Wenn Geschehnisse, welche in außergewöhnlichem Maße die Einbildungskraft beschäftigen, geeignet sind, einem Landschaftsbild zur besonderen Folie zu dienen, darf unser Strom in diesem Sinne als besonders bevorzugt gelten. Es wird hier nicht etwa auf das Thun der Menschen angespielt, das ganz und gar zurücktritt vor dem Walten stärkerer Gewalten. Weder Sesostris und seine Schlachtwagen, noch der blondlockige Jason, der das Schilfmeer im Delta des Istros rauschen gehört, beschäftigen unsere Gedanken. Das sind Gestalten von gestern gegenüber den Erscheinungen, welche mit der Entstehungsgeschichte unseres Stromes zusammenhängen.
Wir greifen um ungezählte Jahrtausende zurück und schauen über die blaue Spiegelfläche eines Meeres. Dieses Meer ist das große Oceanische Wasserbecken, das von Osten her bis zu den Alpen gereicht und das ganze ungarische Tiefland bedeckt hat. Die Kleinen Karpathen und der Bakonyer-Wald sind Inseln in diesem weitläufigen Binnenmeere, in die Alpen hinein erstrecken sich lange, schlangenartig gewundene Fjorde. An die Sandsteinwände und Klippen aus Nummulitenkalk schlägt die salzige Fluth. Das Rauschen der Brandung dringt zu immergrünen Uferwäldern herauf; durch Lauben von Myrthen und Palmen, Feigen- und Seifenbäumen glänzt der Meeresschaum, der um Korallenriffe wirbelt. In den Schilfdickichten wimmelt es von tapirartigen Paläotherien, die Feigenwälder sind von Affen belebt, in den Wassern tummeln sich allerlei wunderliche Thiere.
Das war die „Morgenröthe“ eines neuen Schöpfungstages – das „Eocän“, die erste Periode der Tertiärzeit. Wie lange an den Ufern jenes Meeres die Bambusen rauschten, die Mimosen über Nymphäen und Viktorien ihre Schatten breiteten, die zahlreichen Flederthiere in den Felsschluchten hausten, ist nicht festzustellen. Angenommen wird, daß mit der nächsten Erdperiode – der Neogenzeit – das tropische Klima in ein gemäßigteres überging. Die Umwälzung war nicht ohne gewaltige Erschütterungen vor sich gegangen. Die jungtertiäre Umwälzung hatte auch die [8] Wasserfläche aus ihrem Zusammenhang gebracht. Aus dem „pannonischen“ Meeresgolfe wurde ein brackischer, d. h. schwach salziger Binnensee, alsdann – gegen Ende der Neogenperiode – ein Süßwasserbecken, das vom Kahlenberg bei Wien bis in die Gegend von Basiasch unterhalb Belgrad reichte. Zuletzt wichen hier die Felsen auseinander, der Binnensee floß ab, und auf dem ungeheueren Schlammgrunde, den heute das ungarische Tiefland einnimmt, blieb ein Netzwerk von Flußläufen zurück, mit der Donau als Hauptstrom.
Der Schlund aber, durch welchen sich die Wasser Bahn gebrochen haben, sind jene romantischen Engen in der südwestlichen Ecke Ungarns, welche gemeinhin „das Eiserne Thor“ genannt werden. Die Sache verhält sich aber genauer so: das eigentliche Eiserne Thor ist eine ungeheuere Felsbank, ein Klippengewirre, das bereits außerhalb jener Engen liegt, mit sehr unansehnlichen Ufern und von einer Gestaltung, welche lebhaft an die sogenannten „Nilkatarakte“ erinnert. Es ist ein mächtiges Schäumen der Wasser zwischen Riffen und Blöcken in einsamer Gegend. Zwischen dieser Kataraktenstelle im Osten – der „Prigrada-Bank“ – und dem westlichen Eingange in die Donau-Enge entrollt sich ein Strombild von urwüchsiger Schönheit, umrankt von den Arabesken der Sage und von der Erinnerung an die Thaten großer Männer, die mit eisernem Schritte durch die Welt gegangen sind. Hier, wo die Steinadler über der grünen Schlange des Stromes kreisen und in der Abendbeleuchtung die hohen Felsen wie Natriumfackeln aufleuchten, ruderten einst Jason und seine Begleiter dem Unbekannten entgegen. Die Phantasie, welche das Spiel der Gegensätze liebt, sieht neben der schwarzhaarigen Medea das braune Zigeunermädchen stehen, das vor einem geflickten Zelte lagert, die Hand über die Augen legt und in das gleißende Licht hinaufschaut. Durch die Schluchten wimmert der Ostwind und giebt den symphonischen Grundton zu dem eindrucksvollen Bilde.
Gleich am Eingang zu den Engen steht ein hoher Fels mitten im Wasser – der „Babakaj“. Wenn ihn der Oststurm umwirbelt, klingt es in seinen Fugen wie dort am heiligen Nil um die Säule des Memnon. Die Einbildungskraft des Volkes hat hierzu eine Ballade geschaffen. Ein eifersüchtiger Türke soll seine Gattin an den Felsen geschmiedet und sie dem Hungertod preisgegeben haben. Von ihren Jammerrufen hallten die nahen Felsen wieder; daher „Babakaj“, was so viel heißt wie das „schreiende Weib“. In nächster Nähe erhebt sich die malerische Ruine „Golubac“, einst von Fehde umklirrt, jetzt ein runzeliges Gemäuer, an dessen felsigen Fuß die Wellen anschlagen. Hier erschienen einst am Ende des 14. Jahrhunderts die ersten Türken, welche von der Uferhöhe in das jenseitige Land, das ihre Nachkommen erobern sollten, hineinschauten. Es waren die Janitscharen Bajesids I. Sie setzten den Halbmond auf die Stromburg, in welcher später Brankowitsch mit seinen Kumpanen zechte und die Spielleute Romanzen aus dem serbischen Heroenzeitalter zum besten gaben.
Weniger romantisch ist die „Golubacer-Fliege“; diese Mücke überwintert in ungeheuren Schwärmen in der nahen Golubacer-Höhle, die am österreichischen Ufer, hart an der Straße, sich öffnet, und überfällt mit Eintritt der wärmeren Jahreszeit das Weidevieh. In Bezug auf die Verheerungen, welche diese kleine Bestie anrichtet, ist sie ein würdiger Geschlechtsgenosse der afrikanischen Tsetsefliege. Alle Versuche, sie unschädlich zu machen sind bisher gescheitert. Dem Menschen ist sie ungefährlich, dem Vieh aber bringt ihr Stich sicheren Tod.
Bald hinter diesen Oertlichkeiten beginnt sich das Strombett einzuengen. Die sogenannte „Kataraktenstrecke“ nimmt ihren Anfang. Es sind Felsriffe und Bänke, welche das Strombett durchsetzen und der Schiffahrt schwere Hindernisse bereiten. Das erste dieser Riffe führt den Namen „Stenka“. Weitaus die meisten drängen sich aber auf der kurzen Strecke von Drenkowa bis über Milanowac hinaus zusammen. Da ist zunächst die „Kozla“, alsdann die Bank „Dojke“, die Klippen, welche die Bezeichnung „die Büffel“ führen, die Felsrippen „Islaz“, „Tachtalia“ und „Greben“ und die Stromschnelle von „Jucz“.
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Weiterhin ist der Strom wieder frei von Hindernissen und im ferneren Verlaufe nimmt er eine Gestaltung an, die ein völlig verändertes Bild abgiebt. Dieser Abschnitt des Stromes ist der „Kazan“ (Kessel). Ungeheure Felswände engen das Donaubett hier ein und geben ihm die riesige Tiefe von 74 Metern, wohl die größte Stromtiefe, die in Europa gemessen wurde. Würde die Donau stromauf und stromab trocken liegen, im Kazan bliebe ein See zurück, der noch immer eine durchschnittliche Tiefe von 40 Metern besäße. In diesem großartigen Engpaß sind bemerkenswerth die prachtvolle Széchényi-Straße mit ihren Galerien und Ausmauerungen; die „Veteranihöhle“, welche als Vertheidigungsstütze der Oesterreicher in den Türkenkriegen zweimal eine Rolle gespielt hat; die Spuren des „Trajansweges“ auf dem serbischen Ufer mit der noch erhaltenen „Trajanstafel“.
Um das Jahr 100 n. Chr. hauste in dem mauerumgürteten Sarmizigethusa (im siebenbürgischen Streblthal unweit des heutigen Hatszeg) der thatkräftige Dakerkönig Dekebalus. Mehr als einmal hatten die Römer in Mösien die kriegslustigen Nachbarn unangenehm zu fühlen bekommen und vergeblich waren ihre Versuche, sie auf die Dauer zu bändigen. Da gelangte Trajan zur Herrschaft und alsbald führte er seine Legionen in jene unwirthlichen Engen, um in das transsylvanische Hochland einzubrechen. Den thurmhohen, zum Theil überhängenden Felsen wurde der Raum für eine Heerstraße abgerungen. Wer die herrliche Széchényi-Straße hinabfährt, sieht die Spuren dieses Weges am jenseitigen (rechten) Donauufer. Dermalen ist er ein in den Felsen gehauener Steig, doch war seine Bahn einst viel breiter, denn man gewahrt oberhalb der Hochwasserlinie zwei Reihen von Löchern im Gestein, von denen die größeren zur Aufnahme der Tragbalken, die kleineren zur Befestigung der Stützbalken dienten, so daß die Straßenkrone zur Hälfte über dem Strome schwebte.
Fünfzehn deutsche Meilen war dieser Weg lang, und an ihm lagen überall dort, wo das Ufer sich weitete und eine Verbindung mit dem Hinterland gegeben war, befestigte Militärposten. Nach Fertigstellung des Weges rückte Trajan in zwei Kolonnen bis Sarmizigethusa vor, wo Dekebalus aufs Haupt geschlagen wurde. Damit schien die Sache abgethan. Der gedemüthigte Dakerkönig aber wurde rückfällig, und Trajan sah sich zu einem zweiten Feldzuge gezwungen. Diesmal ließ Trajan von dem berühmten Baumeister Apollodorus von Damaskus gleich unterhalb des „Eisernen Thores“ eine Pfeilerbrücke mit hölzernen Spannungen herstellen, ein Werk, zu dessen Nachahmung sich bisher nicht einmal die moderne Technik aufschwingen konnte. Die meisten Pfeiler sind noch in schier unverwüstlichen Resten vorhanden und ragen bei außergewöhnlich niedrigem Wasserstand über die Wasserlinie hervor.
Das Ergebniß dieses zweiten Dakerkrieges war die endgültige Vernichtung der Herrschaft des Dekebalus. Dieser hatte sich schon vor der Katastrophe in sein Schwert gestürzt.
An die Triumphe römischer Straßenbaukunst erinnert die schon erwähnte Tafel. Früher benutzten Hirten vielfach die Felsennische zur Unterkunft, und die von ihnen angezündeten Lagerfeuer schwärzten mit [10] ihrem Rauche das Denkmal. Jetzt ist der Zugang durch Mauervorbauten abgewehrt. Auf der Tafel selbst sind bloß die Titel des Kaisers deutlich erhalten. Der verstümmelte Schluß läßt nur errathen, daß der Kaiser sagen will, er habe sich mit diesem Bau durch eine schwierige Bergwelt Bahn gebrochen.
Bevor die Schienenverbindung mit Orsowa, der Örtlichkeit jenseit der Strom-Engen, hergestellt war, haben Orientreisende nur zu oft die Annehmlichkeiten der Kataraktenstraße durchgekostet. Bei Niederwasser war an den Verkehr der großen Dampfer nicht zu denken. Landesübliche Fuhrwerke und kleine Dampfschiffe sorgten für die Weiterbeförderung der Passagiere. Erst in der rumänischen Station Turn-Severin konnten wieder die prachtvollen großen Eildampfer bestiegen werden. Nach jahrzehntelangen Bemühungen ist endlich das internationale Abkommen, welches die Beseitigung der Schiffahrtshindernisse zum Ziele hat, zustande gekommen. Seit einiger Zeit arbeiten da und dort, an der großen Prigrada-Bank am „Eisernen Thore“ sowohl als an den Bänken und Riffen zwischen Drenkowa und Milanowac, Felsenstampfer und Bohrflöße, Sprengschiffe und Baggermaschinen, es donnern die Minen, die Wasser stürmen gegen die ihnen unwillkommenen Dämme, dumpf rollen die Steinschüttungen in den unersättlichen Abgrund.
Gewiß ist, daß die Schienennetze welche auf der einen Seite die Balkanhalbinsel, auf der andern Seite Ungarn und Rumänien durchziehen, auch in Zukunft dem Reisen auf dem großen Strome gewaltigen Abbruch thun werden. Ebenso gewiß aber werden sich immer Naturfreunde finden, auf welche die großartigen Stromlandschaften der Donau ihren vollen Reiz ausüben. Grau und mächtig wie die Felsen, die über den Wassern ragen, wirken die verblaßten Geschehnisse aus vergessenen Zeiten auf die Einbildungskraft ein. Hier die leuchtenden Schleier über den finsteren Forsten und vergoldeten Schrofen – ein Tummelplatz der Luftelfen – dort als Staffage ein schmuckes Serbenmädchen in Tressen und flimmerndem Tand; oder ein blinder Sänger, um den sich ein andächtig den alten Heldenliedern horchendes Häuflein drängt; oder die wilde Jagd berittener Marktleute – malerisch in Erscheinung, Farben und Gehaben, eine Mahnung an den nahen Orient. Da ist auch das Inselchen „Ada-Kaleh“, dicht bei Orsowa, ein Stück Morgenland an der großen Strompforte, mit finsteren Winkeln und Kasematten. In der Sonne glänzt der türkische Friedhof, und die wandernden Wasser eilen vorüber – ein Sinnbild des Bleibenden im Wandel der Dinge.
Wie alt die kulturgeschichtliche Bedeutung der Donau ist, das wird durch nichts nachdrücklicher bewiesen als durch jenen sagenhaften Zug der Argonauten den „Istros“ aufwärts bis zu seinen „schattenverhüllten“ Quellen. Selbstverständlich darf man dabei nicht an die Quellen im Schwarzwald denken. Man muß zur Erklärung die Save zu Hilfe nehmen, die bei jener scharfen Biegung der Donau in der Nähe von Belgrad einmündet und in den Anfängen einer geographischen Kenntniß dieser Lande recht wohl für den Hauptstrom gehalten werden konnte.
Da nun der Argonautensage unbestreitbar ein uralter Handelszug zu Grunde liegt, darf von der Donau behauptet werden, daß, der Nil ausgenommen, kein anderer Strom der Erde in Bezug auf die Betriebsamkeit der Menschen soweit in den Ueberlieferungen zurückreicht. Kein Wunder also, daß dieser herrliche Strom, welcher vom unwirthlichen kimmerischen Bereich bis in das Herz unseres Erdtheiles eindringt, durch Jahrtausende die Aufmerksamkeit der Völker erregt hat. Handel und Krieg bewegten sich auf dieser Wasserflur von Osten nach Westen. Ihr folgte zum Theile die Richtung jener gewaltigen Völkerstürme, welche den Erdtheil wiederholt umgestaltet hatten – von den Wogen der Völkerwanderung bis zu den Heeren der türkischen Sultane. Zugleich hat dieser Strom die Schiffe fast aller Völker und Zeiten des näheren Orients getragen, vom plumpen „Kolchisfahrer“ bis zur modernen serbischen „Tschaike“, vom phönikischen Ruderschiff bis zum heutigen Salondampfer.
Wie die Donau und der Nil in mancher Beziehung zu Vergleichungen Anlaß geben, so fügt es sich auch, daß die Natur beiden Strömen äußerlich ein gemeinsames Kennzeichen aufgedrückt hat: die Riffe und Bänke, welche sich der Schiffahrt als schweres Hinderniß entgegenstellen.
Wie alles am Nil im Vergleich zur Donau ungleich großartiger ist, so sind es auch diese Hindernisse. Umsomehr muß es überraschen, daß ein solcher Zustand der Dinge bei der Donau, inmitten des reichen Kulturlebens unserer Zeit, sich erhalten konnte, denn die Bestrebungen, die Donau in ausreichendem Maße dem Völkerverkehr zu erschließen, sind verhältnißmäßig sehr jungen Ursprunges.
Am 4. September 1830 trugen die Wellen des Stromes den ersten Dampfer von Wien nach Budapest. Mit diesem Ereigniß ist der Name des Grafen Stephan Széchényi für [11] immer unzertrennlich verknüpft. Er war es, der in einem einfachen Sina’schen Holzschiff zu Beginn des Jahres 1830 die Donau bis zu ihrer Mündung befuhr und von hier die Reise mittels eines Segelschiffes bis Konstantinopel fortsetzte. Auf Grund der hieran sich knüpfenden Anregungen Széchényis trat die Donau- Dampfschiffahrtsgesellschaft ins Leben, welche eine wenn auch nur vorübergehende Periode des Glanzes erlebte.
Der Entwicklung der Schiffahrt stellten sich die mehrfach
erwähnten Hindernisse auf der unteren Donau derart störend
entgegen, daß schon Széchényi an deren Beseitigung dachte.
Er erreichte dieses Ziel auf mittelbarem Wege, indem er
jene prachtvolle Kunststraße schuf, die seinen Namen trägt und
welche im Jahre 1837 dem Verkehr übergeben wurde. Einige mit
großem Eifer, aber unzulänglichen Mitteln unternommene
Regulierungsarbeiten im Strome selbst hatten keinen Erfolg.
Széchényi beschäftigte sich noch bis zum Jahre 1847 mit zahlreichen, die
Erschließung des „Eisernen Thores“ und der „Kataraktenstrecke“
betreffenden Arbeiten. Da brachen die Stürme des Jahres 1848
herein, und mit den unermüdlichen Bestrebungen dieses „zweiten
Trajan“ war es zu Ende.
Ganz eingeschlummert sind indes die Arbeiten und Studien niemals. Die ersten greifbaren Formen erhielten dieselben durch den seitens Oesterreich-Ungarns mit der Pforte am 19. Juni 1873 abgeschlossenen Vertrag, dessen Ausführung unmittelbar bevorstand, als (1877) an der unteren Donau abermals kriegerische Zwischenfälle eintraten. Der Artikel 57 des Berliner Vertrages vom Jahre 1878 aber legte die Angelegenheit der Stromregulierung von neuem in die Hände Oesterreich-Ungarns. Nach langen fachmännischen Vorarbeiten und nach Ueberwindung mannigfacher finanzieller Schwierigkeiten wurde das gewaltige Werk endlich am 2. September des Jahres 1889 in Angriff genommen.
Die Arbeiten bestehen in der Anlage von genügend tiefen, in die Riffe und Bänke eingesprengten Schiffahrtskanälen, was mittels Spreng-, Stampf- und Bohrschiffen geschieht. Beim eigentlichen „Eisernen Thore“ (der Prigrada-Bank) werden überdies parallele Dämme aufgeführt. Außergewöhnlich schwierig gestalteten sich die Arbeiten am Felsen „Greben“, wo die zu der Festigung der Dammbauten erforderlichen „Steinwürfe“ von der Gewalt des Wassers immer wieder fortgerissen wurden. Erst als man eine größere Zahl von sogenannten „Tschaiken“ (serbischen Segelschiffen) mit Bruchsteinen befrachtete und sie versenkte, wurde ein fester Grund zum Weiterbauen gewonnen.
Ueber kurz oder lang wird dieses großartige Unternehmen zu Ende geführt, die Donau ihrer Schiffahrtshindernisse entkleidet, der Strom dem unbeschränkten Verkehr übergeben sein. Ueber diesem großen civilisatorischen Werke aber waltet der Geist Széchényis, dessen Thatkraft vor Jahrzehnten sich an eine Riesenarbeit heranwagte, deren Lösung einer späteren, von größerem Unternehmungsgeist getragenen und durch reichere maschinelle Hilfsmittel unterstützten Zeit vorbehalten blieb.
[13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[14]Auf Geben und Nehmen.
Hinter dem jungen Manne, der sinnend in einem zierlich getakelten, rasch dahinfliegenden Vergnügungskutter saß, ragten die Thürme der Stadt, die Masten und Rahen des Hafens aus dem verschwimmenden Goldduft der untergehenden Sonne. Traumhaft stand zu beiden Seiten der Bucht der Buchenwald an den sanften Höhenzügen; dazwischen senkten sich die Kornfelder und Wiesen zum weißsandigen Ufer.
Lag das Glück dort in der Ferne, wo das Meer sich endlos vor seinen Augen dehnte, wohin sein sehnsuchtsvoller Blick aus dem Boot über die sich weitende Bucht drang?
Ach nein, dort in der Ferne lag es nicht! Mehr als einmal war er an dem Leuchtthurm vorbei ins Unendliche gesteuert, wo der Wind heulend die brausenden Wogen übereinander warf; wohl hatte des Südens heißere Sonne mit ihren Wundern ihm gelacht, allein die Insel, auf der das Glück ihn an die Brust geschlossen hätte, die hatte er nicht gefunden.
Wenn er hier in der Heimath weilte, zog es ihn hinaus; schweifte er in der Ferne, so trieb es ihn zurück.
Aber noch war er jung; noch durfte er suchen, was er vielleicht nirgends erreichte, was ihm vielleicht nur das Bewußtsein eintrug, daß die Zeit des Suchens die schönste auf Erden gewesen sei! –
Das Boot, an dessen Spiegel der Name „Bachstelze“ prangte, hatte beim Winde der jenseits liegenden nördlichen Buchtseite zugestrebt. Jetzt raffte sich der junge Mann aus seiner grübelnden Haltung auf, rückte die Uniformmütze noch ein wenig weiter in den Nacken und befahl seinem Burschen, der mit breitem Rücken an der kleinen Kajüte lehnte, sich zum Wenden fertig zu halten. Darauf legte er langsam das Ruder seitwärts.
Willig gehorchte die „Bachstelze“, um bald wieder hurtig unter geschwelltem schimmernden Segel mit leisem Rauschen die wenig bewegte Fluth zu durchschneiden, die in der Strandnähe wie Smaragd, in der Ferne blau und dort, wo der Sonnenglanz auf ihr lag, violett und purpurn leuchtete. Hier und da trieb glatter Tang vorbei, ein Krautbündel mit einem Taschenkrebslein darauf, oder, rhythmisch sich ausdehnend und zusammenziehend, eine glockengestaltete weißliche Molluske. Flatternd berührten Möven die Fluth, um sich dann wieder gleich Silberpunkten durch die Bläue des von rosigen Wölkchen gesäumten Abendhimmels zu schwingen.
Während sich nun das Boot einer kleinen Einbiegung des Ufers näherte, hinter der aus Getreidekoppeln und sattem Busch- und Baumgrün die Ziegeldächer und Strohfirste eines Stranddorfes hervorlugten, trat bei den zwei Insassen des Fahrzeugs wieder eine beschauliche Pause ein. Der Matrose, ein Hüne an Gestalt, spielte gedankenvoll mit dem eben ausgeklopften schwarzen Thonstummel, an dem er mit Kabelgarn kunstvoll ein kleines Mundstück angebracht hatte. Sein Herr aber nahm die Bernsteinspitze seines ebenfalls recht geschwärzten Holzpfeifchens aus dem Mund und fragte den Untergebenen: „Woran denken Sie, Frettwurst?“
Der Bursche schnellte in eine militärische Haltung empor; während er die treuen blauen Augen auf den Fragenden richtete, verzogen sich seine Lippeu zu einem aufwärts gekrümmten Halbmond. Dann sagte er unendlich vertrauensvoll: „An Ihr, Herr Lieutenant!“
„Haben Sie ‚Ihr‘ auch schon wieder geschrieben?“
„Noch nich, Herr Lieutenant!“
Dieser machte eine mißbilligende Miene. „Das dürfen Sie nicht auf die lange Bank schieben, Frettwurst! Wenn man eine wirkliche Braut besitzt, hat man auch Pflichten gegen sie.“
Frettwurst schaute verlegen auf die Zehen seiner nackten Füße hinunter. „Ach, Herr Lieutenant, sie weiß auch so, daß ich ihr nich vergessen thu’.“
„Das glaub’ ich schon; aber deshalb müssen Sie doch ihre Briefe beantworten. Das bloße Denken an Ihre Treue macht Ihre Braut nicht glücklich, sie will’s auch schwarz auf weiß haben.“
Frettwurst seufzte. Sein Lieutenant hatte gut reden, für den war Schreiben gar nichts, für ihn aber bedeutete es ein schweres Stück Arbeit – und dann guckten die Tischkameraden ihm immer über die Schultern und machten ihre Witze. Doch sein Gesicht verklärte sich wieder, als Lieutenant Gebhardt bemerkte:
„Ist Ihr Tabak alle?“
„Zu Befehl, Herr Lieutenant.“
„Da!“
Seelenvergnügt nahm der Matrose den Kautschukbeutel mit dem duftenden türkischen Tabak in Empfang und stopfte sich mit seinen dicken Theerfingern zierlich den Thonstummel, worauf er den Beutel mit respektvoller Vorsicht zurückgab.
„Haben Sie Lust, mit auf den ‚Falken‘ zu gehen, Frettwurst, wenn ich meinen Dienst dort antrete?“
„O, wenn das anginge, Herr Lieutenant!“
„Ich will versuchen, Sie mitzubekommen. Der ‚Falke‘ wird einen Monat in Radegast zur Verfügung der Familie des Prinzen August stationiert werden. Dann können Sie vielleicht auch Urlaub erhalten und Ihre Braut zu sehen kriegen. Damit sind Sie doch einverstanden, he?“
„Das is tausendmal besser als schreiben, Herr Lieutenant!“ rief Frettwurst in gehobener Stimmung. „Und wenn ich nur bei Ihnen bleiben thu’, will ich überhaupt nix mehr!“
Der Offizier lächelte gerührt; die Anhänglichkeit des offenherzigen Burschen that ihm wohl. „Aber einmal müssen wir doch scheiden, Frettwurst,“ gab er zur Antwort, „und bei Ihrer künftigen Frau wird’s Ihnen dann doch besser gefallen als bei mir.“
Der Matrose fuhr sich verlegen in das weißblonde kurzgeschorene Haar, „Wenn ich doch meine Frau haben und dabei Ihr Bursche bleiben könnte, Herr Lieutenant!“
„Ja, das geht leider nicht. Sie sehen, Frettwurst, daß es im Leben nichts Vollkommenes giebt. Man muß eben mit den Aussichten, die man hat, zufrieden sein!“
Frettwurst besaß ein dumpfes Gefühl für die Richtigkeit solcher Philosophie. Er nickte daher ebenso aus Gehorsam wie aus Ueberzeugung. Neben diesem dumpfen Gefühl machte sich aber ein sehr klares über die persönliche Stimmung seines Herrn geltend. Auf den vielen gemeinsamen Fahrten, die sie beide auf der „Bachstelze“ ausgeführt, hatte er seinem Lieutenant alles erzählt, was sein Herz bewegte, und dieser hatte freundlich alles mit angehört und ihn so gut ermahnt und berathen, nicht anders wie sein eigener Vater, als der noch lebte. Ja, wie sein Herr über seine Braut zu ihm sprach, so hatte überhaupt noch niemand zu ihm gesprochen! Der Herr Lieutenant wußte ganz genau, wie es so einer in der Ferne zu Muthe sein mußte, und er besaß doch selbst keine! Aber daß er sich eine wünschte, das hatte ihm Frettwurst schon lange angemerkt. Und verdienen würde er sie! Na und wie! Solch einen Lieutenant wie den Herrn Lieutenant Herbert Gebhardt gab es nicht wieder!
Frettwurst setzte verschiedenemal zum Reden an und stockte wieder. Endlich faßte er sich ein Herz. „Herr Lieutenant sollten auch mit eine gehen, mit eine würkliche, mein’ ich. Herr Lieutenant können so schön darüber sprechen und würden dann gewiß zufriedener sein als jetzt. Dieses hab’ ich an mich selbst gemerkt, Herr Lieutenant!“
„Sie sind“ – „ein Esel“ wollte Herbert sagen, aber Frettwurst sah ihn so treuherzig an, daß er den Zusatz unterdrückte und ganz ernsthaft fortfuhr: „Das verstehen Sie nicht, Frettwurst, obgleich Ihr Rath so uneben nicht ist. Wenn mir so ‚eine‘ vor den Bug kommt, die zu einer ‚wirklichen‘ paßt, werde ich mir’s vielleicht ’mal überlegen. – Jetzt aber klar beim Geitau! Und passen Sie auf den Klüverbaum – wir wollen dort an die Brücke gehen!“
Die „Bachstelze“ hatte das Ufer erreicht. Mit eingeschnürtem Großsegel glitt sie sanft an die Seite des Holzsteges, der hier in das durchsichtige grüne Wasser hinausgebaut war. Frettwurst gab acht, daß der lange Klüverbaum nicht mit einem der Pfähle in zu harte Berührung käme, sprang dann heraus und legte das Fahrzeug fest.
[15] Das Pdeidchen im Munde, de Hände in den Taschen des Jacketts und die Mütze gewohnheitsmäßig zurückgeschoben, schlenderte Herbert durch Wiese und Busch auf die Waldhöhe zu, um sich dort oben, wie er es liebte, ins Grün zu strecken. Irgend welche Befehle an Frettwurst wurden nicht ertheilt; der wußte ohnedies, daß er im Boote zu warten hatte, bis sein Herr zurückkam.
Am Rande eines Getreidefeldes schritt Herbert aufwärts. Er dachte an Frettwursts scharfsinnige Beobachtung und mußte lachen. Wer den Burschen für dumm hielt, irrte sich doch gewaltig!
Er pflückte eine Kornblume und steckte sie ins Knopfloch. Wie oft hatte er sich unter der Tropensonne nach der schlichten Schönheit der Heimath, nach ihren Wäldern, nach dem wogenden Roggen und dieser blauen Blume gesehnt. Jetzt besaß er dies alles, es ergötzte ihn – und dennoch war er nicht zufrieden!
Das Pfeifchen war ausgeraucht. Herbert steckte es in die Brusttasche; dann raufte er einen Roggenhalm aus und begann im Weiterschreiten die nahezu reifen Körner mechanisch zu verzehren. Plötzlich stutzte er.
Dort auf der Bank unter der weitverzweigten prächtigen Buche, die vor ihm an der Ecke des Waldes stand, bemerkte er eine weibliche Gestalt, offenbar eine Schlafende, denn sein Nahen rief keinerlei Bewegung bei derselben hervor, was seiner Erfahrung nach bei dem Verhältniß, welches zwischen jungen Damen und Uniform nun einmal besteht, sonst gänzlich unmöglich gewesen wäre.
Und in der That, sein Scharfblick hatte ihn nicht getäuscht. Was sich ihm bot, war ein so rührendes und entzückendes Bild, daß er jedes dürre Zweiglein, jeden Stein auf dem Pfade vermied, um den Zauber nicht zu zerstören; mehr einem Uebelthäter als Frettwursts väterlichem Berather ähnlich, schlich er immer näher. Nun stand er lächelnd, thatendurstig den Schnurrbart zwirbelnd, vor der Schlummernden, ein wenig seitwärts von der Bank, in die sich die Unbekannte mit zierlich gekreuzten Füßchen und in den Schoß gelegten Händen zurückgelehnt hatte. Neben ihr lag ein Kornblumenstrauß, am Boden ein offenes auf die innere Seite gestürztes Buch.
Ein junges schlankes Mädchen war’s, mit feingescheiteltem Haar, das um die Stirn sich in anmuthigen Löckchen ringelte, mit einem zierlichen Näschen und langen Wimpern; die von Sonne und Seeluft etwas gebräunten Wangen waren von Gesundheit und Schlaf wie Pfirsiche geröthet. Was auf Herbert aber die unwiderstehlichste Anziehungskraft ausübte, das war der reizende leicht geöffnete Mund, ein Mund frisch wie Kirschen nach einem Gewitterregen!
So schlummerte die Ahnungslose im Rahmen der tiefhängenden laubigen Buchenäste, der dunkelnden Tiefe des Waldes. Herbert schien sie ein liebliches Geheimniß zu sein, das ihm eine wohlgesinnte Fee plötzlich entschleiert hatte, ein Dornröschen, das auf den Prinzen wartete, der es genau so wecken mußte, wie es im Märchen geschah. Er schaute um sich. Kein Mensch war zu erblicken. Durchs Gezweig hüpfte – dem Himmel sei Dank, geräuschlos – ein Fink, der jedenfalls mit dazu gehörte. Still lag der Spiegel des Hafens da, auf dem die Flaggen der ankernden Kriegsschiffe mit Sonnenuntergang verschwunden waren; nur vom Strande herauf tönte – dem Himmel sei Dank, auch pianissimo – die berühmte Melodie vom „Lieben Augustin“, durch welche Frettwurst sich die weltschmerzliche Philosophie seines Herrn fortpfiff.
Herberts Herz klopfte. Vorsichtig hob er das Buch auf. Es war die Frithjofssage. Vorn stand in durchaus wohlgezogener Schrift: „Hilde Jaspersen“.
Hilde! Hieß dieses kleine Strand- und Waldwunder selbst so, oder trug diesen Namen nur irgend eine alte Tante, welche der Nichte zur Hebung von deren Bildung die Dichtung überantwortet hatte? Pah! Wozu brauchte ein solches Geschöpf überhaupt Bildung! Aber nein, das war nicht möglich – „Hilde“ klang allerliebst, zweifellos hatte er die Trägerin des Namens selbst vor sich! Gegen den Zunamen „Jaspersen“ hatte er nichts einzuwenden, obschon dies das erste Waldmärchen sein mochte, das den schmucklosen Titel „Fräulein Jaspersen“ führte.
Leise legte Herbert das Buch wieder so hin, wie er es gefunden hatte, und schaute dann das Mädchen von neuem an. Lieber Gott, welchen dämonischen Einfluß so ein Paar Lippen mit tadellos weißen Zähnen dahinter ausüben konnte!
Er schlich sich seitwärts näher und näher, bis er hart hinter dem Mädchen stand. Nun war er ihr so bedenklich nahe, daß er ihren leisen Athem hörte. Ihr Köpfchen lag ein wenig über die Lehne zurück. Wie von magnetischer Gewalt gezogen, beugte er sich vor, erst nur ein klein wenig, dann tiefer und tiefer. Und jetzt ein rascher Entschluß – einen Augenblick lang, einen Augenblick, flüchtig wie ein Gedanke, aber süß wie das Paradies, lagen seine Lippen auf den ihrigen! In der nächsten Sekunde fuhr das Mädchen empor, er ebenso blitzschnell zurück; mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn entsetzt an, ein Ruf des Schreckens – und wie ein geängstetes Wild eilte sie mit fluchtigen Füßen dem Kornfeld zu in dem sie verschwand. –
Herbert bedurfte geraumer Zeit, um zu bemerken, daß er mit herunterhängenden Armen und vermuthlich mit einer von geistiger Ueberlegenheit freien Miene noch immer in die Richtung blickte, in welcher sich das Waldwunder unter Zurücklassung seiner Kornblumen und seiner Frithjofssage so überraschend schnell rückwärts konzentriert hatte.
Was hatte er angerichtet! War das ritterlich, ja war das eine That, die vor dem Richterstuhl der Moral je gesühnt werden konnte, den Schlaf einer jungen Dame so frevelhaft zu stören? Hatte er nicht ihre Ehre gekränkt, ihre innere Ruhe ernstlich erschüttert? Und wenn nun Fräulein Hilde Jaspersen zu der vermuthlich auch in der Nähe existierenden Mama Jaspersen ging und weinend klagte: „Mama, ein frecher Mensch, ein Offizier hat mich im Walde geküßt, als ich ahnungslos schlief“, wie sollte er sich dann gegen die gekränkte Familie Jaspersen vertheidigen? Aber warum hatte das kleine Geschöpf auch so hinreißend lieblich ausgesehen! Was konnte er, der noch fünf Minuten vorher auf der Höhe menschlicher Moral gestanden hatte, für diesen verführerischen Reiz!
Er preßte halb in Demuth, halb im Trotz einen Kuß auf die Schriftzüge „Hilde Jaspersen“, schrieb das Wort „Verzeihung!“ auf ein ausgerissenes Blatt seines Notizbuches und hatte eben das Blatt nebst der Kornblume aus seinem Knopfloch in das Buch gelegt, als seine Hand zufällig über seine Kravatte streifte. Das fehlte gerade noch! Seine Kravattennadel, ein gekrönter, mit den Buchstaben H. G. geschmückter goldner Anker, das Geschenk eines alten Kameraden, war verschwunden! Bestimmt hatte er sie im Boote noch gehabt. Es war nicht anders möglich, als daß sie vorhin bei dem heftigen Zurückprallen fortgeschleudert worden war. Er begann zu suchen – bei der immer tiefer werdenden Dämmerung allerdings ein ziemlich hoffnungsloses Bemühen. Endlich gab er das fruchtlose Unterfangen auf und machte sich auf den Rückweg. „Kommen wir also morgen wieder,“ murmelte er, „denn wenn das verrätherische Ding hier entdeckt würde, das wäre ja recht niedlich!“
Unten pfiff Frettwurst noch mit hellem schönen Ton sein: „Ach du lieber Augustin, alles ist hin!“
„Du ahnst gar nicht, gute Seele, wie recht du wieder hast,“ dachte Herbert. „Aber selbst wenn wir weder Mädchen noch Nadel wiederfänden – schön war’s doch!“
Am nächsten Nachmittag hieß es an Bord des Wachtschiffes „Preußen“: „Frettwurst, die ‚Bachstelze‘ auftakeln! Da die Nadel nicht im Kutter war, müssen wir sie auf der Strandhöhe suchen.“
„Es is aber nich für ’n Hosenknopf Wind, Herr Lieutenant.“
„Kratzen Sie nur tüchtig am Klüverbaum, dann wird er schon kommen. Fahren müssen wir auf jeden Fall.“
Frettwurst kratzte gehorsam, denn er hielt felsenfest an dem alten Seemannsaberglauben, und richtig, es half! Nach einer halben Stunde tänzelte die „Bachstelze“ vor dem Winde auf die weiße Höhe zu, hinter der das Stranddorf sich barg.
Herbert hatte heute Civilkleider angelegt; daß dies seines schlechten Gewissens halber geschah, würde er freilich nicht zugegeben haben. Nach langem Schweigen fragte er unvermittelt: „Was würden Sie thun, Frettwurst, wenn Sie einmal im Walde ein hübsches Bauernmädchen fänden, das auf einer Bank sitzt und eingeschlafen ist?“
Der Bursche grinste vergnügt. „Das kümmt gor nich vor, Herr Lieutenant.“
„Aber wenn es nun doch vorkäme.“
[16] „Dann würde ich ihr vielleicht wecken.“
„Soo? Und natürlich durch einen Kuß!“
Frettwurst schüttelte sehr entschieden den Kopf. „Herr Lieutenant spaßen! Ich bim ja versprochen, und denn würd’ ich doch nich so’n ausverschämten Kerl sein gegen ’ne kleine Deern, die mir nich kennt.“
Herbert zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nasenspitze. Da hatte er also sein Urtheil weg! Schweigend vollendeten die beiden ihre Fahrt.
Die „Bachstelze“ wurde wie gestern an die Brücke gelegt. Herr und Diener begaben sich auf die Suche nach der Nadel. Vergebens – diese blieb verschwunden, und Herbert fragte sich ärgerlich, ob am Ende Hilde gestern abend oder heute früh beim Holen ihres Buches, von dem er nichts mehr entdecken konnte, den Anker als willkommenes corpus delicti an sich genommen habe.
Betrübt, als ob er selbst den Verlust zu tragen hätte, übernahm Frettwurst endlich wieder die Bootswache. Da es noch viel früher als gestern war, beschäftigte er sich damit, allerlei kleine Schäden des Kutters auszubessern, während Herbert, die Sportmütze tief sich ins Gesicht drückend, durch das Roggenfeld auf das Dorf zuschritt. Das Verschwinden des Andenkens that ihm sehr leid und verursachte ihm einige Sorge wegen des Verlaufs, den sein Abenteuer auf diese Weise nehmen konnte; auch hatte ihn der unbewußte Richterspruch Frettwursts getroffen. Dennoch erfüllten sein Herz hauptsächlich Gedanken sehr freundlicher und sehr unternehmender Art. Das Bild des Mädchens hatte sich ihm tief eingeprägt und ließ ihm keine Ruhe. Auf die Gefahr hin, erkannt und entlarvt zu werden, wollte er nachforschen, ob die junge Schöne im Dorfe wohne und wer sie sei.
Der Pfad neigte sich abwärts; nach wenigen Minuten betrat Herbert die Dorfstraße, an deren Ende das Wirthshaus lag. Hier ließ er sich ein Glas Bier geben und erkundigte sich so beiläufig, ob im Dorfe ein Herr Jaspersen wohne, der eine Tochter Namens Hilde habe. Die Auskunft, die er erhielt, befriedigte ihn vollauf: Hilde Jaspersen wohne allerdings hier, sie sei die Tochter des Herrn Lehrers.
Nach einer Weile stand Herbert auf; er durchwanderte umherspähend die einzige Gasse des Dorfes und machte dann vor einem kleinen flachsköpfigen Rangen Halt, der ihn verwundert und wie festgenagelt anstarrte.
„Wo wohnt hier der Schullehrer, mein Junge?“
„Dor!“ Nach dieser lakonischen Antwort steckte der Gefragte den als Wegweiser benutzten Zeigefinger wieder in den Mund, aus dem er ihn mit augenscheinlichem Widerstreben herausgezogen hatte.
„Dor!“ – Ein langgestrecktes, halb mit Stroh, halb mit Ziegeln gedecktes Haus lag vor ihm. Die mit Ziegeln gedeckte Hälfte sah neu und nüchtern aus. Reihen von leeren Bänken, die hinter den vorhanglosen offenstehenden Fenstern sichtbar wurden, zeigten die Stätte der Weisheit an; die andere Hälfte des Gebäudes dagegen war von wildem Wein umrankt und machte einen sehr anmuthigen Eindruck. Hier gab es blitzblanke Fenster nebst weißen Vorhängen und Topfblumen, ein Vorgärtchen, dessen Einfriedigung einen Reichthum von Rosen, Nelken und Lilien und anderem bunten sommerlichen Schmucke umschloß. An der Giebelseite erhob sich eine Linde mit einem gemüthlichen Sitzplätzchen darunter. Daneben standen Obstbäume und Fliederbüsche, zwischen denen eine stattliche Reihe Bienenkörbe hervorschaute.
Bekanntlich zieht es Verbrecher stets mit geheimnißvoller Gewalt zu den Opfern ihrer Uebelthaten. Aehnlich erging es Herbert. Obgleich er sich sagen mußte, daß sich ein Zusammentreffen mit dem beleidigten Mädchen oder den entrüsteten Mitgliedern der Familie Jaspersen für ihn recht unangenehm gestalten könne, trieb es ihn doch unwiderstehlich an den Gartenzaun, an den er sich wie ein harmloser, des Ausruhens bedürftiger Wanderer lehnte. Allein was er erwartete, wollte sich nicht zeigen. Nirgends war etwas von einem hellen Gewand, einer jugendlich zarten Gestalt zu bemerken. Statt dessen tauchte vielmehr jetzt aus den Fliederbüschen ein Mann in Hausschuhen hervor, mit einem Sammetkäppchen auf dem Haupte, in unverkennbar seelenzufriedener Stimmung aus langer Pfeife dampfend. Den Rücken dem Zaune zugekehrt, stellte er sich vor die Bienenstöcke und verfolgte aufmerksam das Treiben der fleißigen kleinen Honigsammler.
Vater Jaspersen! dachte Herbert. Ein recht gemüthlicher Schulmonarch, schade nur, daß er nicht wenigstens Pastor ist! Aber ärgerlich unterbrach er sich selbst. Schade? Warum? Was ging es sein kleines Abenteuer mit dem Töchterlein an, ob der Vater eine höhere oder niedrigere Lebensstellung einnahm!
Eine Weile verharrte Herbert noch in seiner beobachtenden Stellung; dann richtete er sich mit einem Ruck entschlossen auf.
„Giebt’s guten Honig diesen Sommer, Herr Jaspersen?“ tönte eine helle kräftige Stimme an das Ohr des Schulmeisters. Dieser kehrte sich um und erblickte am Zaune einen sportmäßig aussehenden jungen Mann, der so behaglich und breitbeinig dastand, als sei er sehr geneigt zu einer längeren freundnachbarlichen Unterhaltung.
Vielleicht durch diese Gemüthlichkeit bewogen, trat der Lehrer auf den Fremden zu. „Ich hoffe,“ sagte er dann, indem er sein Gegenüber ruhig aus freundlichen Augen musterte. „Ich habe da eine gute Bienenrasse, und sie finden jetzt viel Nahrung, besonders auf dem Stück Heide am Walde droben, das zu meiner Stelle gehört. Es ist Ihnen vielleicht auch aufgefallen, denn es ist das einzige beim Dorfe; überall sonst findet sich nur fruchtbarer Roggen- und Weizenboden. Früher haben die Bauern wohl gedacht: ‚O, für den Schulmeister ist das Heideland gut genug!‘, mir aber kommt es nun gerade für meine Bienenzucht zu paß.“
Häufig mit der Pfeifenspitze nach der erwähnten Richtung deutend, sprach der Lehrer dies in einem Hochdeutsch, das durch seine Anklänge an den Landesdialekt und durch die dunkle Tonfarbe etwas Breites und Plumpes erhielt. Dabei klangen aber die Worte so treuherzig und zutraulich, als ob er einen alten Bekannten vor sich habe. Die Anrede bei seinem Namen hatte ihn nicht in Verwunderung gesetzt, da er sich in der Gegend überall gekannt wußte.
Herbert vermochte vorläufig irgend eine äußere Aehnlichkeit zwischen dem zuthulichen alten Herrn und der leichtfüßigen Erscheinung der Tochter nicht herauszufinden, aber er fühlte sich angeheimelt. Lächelnd hörte er die kleine Rede des Schullehrers an und beschloß, ihn bei dem Gegenstand, der offenbar sein Lieblingsthema war, festzuhalten, und so erkundigte er sich angelegentlich nach der Zahl der Bienen in den vorhandenen Stöcken. „Ist diese Zahl annähernd zu schätzen, Herr Jaspersen?“
„Nun, einen ungefähren Anhalt hat man schon. Man rechnet auf den Stock außer der Hauptperson, der Königin, etwa sechshundert bis tausend Drohnen und zwischen zehn- und fünfundzwanzigtausend Arbeitsbienen. – Sie haben sich wohl noch nie mit der edlen Imkerei beschäftigt?“
„Leider nein! Aber ich habe mich stets ungemein für das Treiben dieser kleinen Staatsbürger interessiert. Kann man in den Stöcken dort sehen, wie sie arbeiten?“
„Gewiß! Wenn Sie nähertreten wollen, werde ich es Ihnen gern zeigen. Dort in dem Kasten rechts ist gerade ein frisch eingefangener Schwarm bei der ersten Einrichtung beschäftigt. Ja, ja, in den Städten lernt man die schönsten und wunderbarsten Dinge, die unser Herrgott geschaffen hat, gar nicht kennen. Kommen Sie nur!“
Herbert ließ die Aufforderung nicht zweimal an sich ergehen; er betrat den Garten in einer Eile, die mit seinem Interesse für die Bienenzucht nicht ganz zu erklären war. Mit kurzer Verbeugung lüftete er darauf seine Mütze und schloß sich, ohne seinen Namen zu nennen, dem freundlichen Bienenvater an. Dieser erwies sich als vorzüglicher Erklärer, so daß der Lieutenant vor dem Wissen des Mannes nicht wenig Respekt bekam; auf allen möglichen Gebieten der Naturwissenschaft schien Herr Jaspersen beschlagen zu sein.
„Nun müssen Sie aber doch auch das Erzeugniß meines Königreichs kosten, lieber Herr!“ schloß der Schullehrer seinen Vortrag. „Nein, Sie dürfen mir das Vergnügen nicht nehmen, wenn Ihre Zeit es irgend gestattet,“ fügte er dann hinzu, als der Fremde eine unsichere, auf Ablehnung deutende Höflichkeitsbewegung machte. „Es ist vorjähriger Honig von wirklich besonderer Güte. Meine Frau wird sich eine Ehre daraus machen, Sie damit zu bewirthen.“
Herbert widerstand nicht länger. Mit einem eigenthümlichen Gefühl halb freudiger, halb banger Erwartung folgte er dem alten Herrn zu dem Platz unter der gleichfalls von Bienen umschwärmten Linde.
(Fortsetzung folgt.)
[17]
Vom Struwwelpeter.
Sehr geehrter Herr!
Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen für Ihre „Gartenlaube“ die Entstehungsgeschichte meines Kinderbuches, des „Struwwelpeters“, und seiner Nachfolger niederschreiben möge.
Ich will diesem Gesuch entsprechen, doch muß ich gestehen, daß es mit einem gewissen Bedenken geschieht, und dies aus verschiedenen Gründen.
Zuvörderst widerstrebt es meiner Natur, von mir selbst zu reden, denn Ruhmredigkeit und Selbstüberschätzung sind nun einmal nicht meine Sache, und dann ist der Hergang schon zum Theil bekannt und besprochen, ja es steht sogar schon eine kurze Skizze in dem Buche selbst[1] auf Veranlassung der Verleger abgedruckt, und endlich hat der Hergang doch eigentlich wenig literarische Bedeutung.
Aber Sie wünschen es; nun so mag es geschehen!
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„Habent sua fata libelli!“ „Bücher haben ihre Schicksale!“ – und dies gilt in vollem Maße von dem kleinen bunten Hefte.
Es war im Jahre 1844, das Weihnachtsfest nahte; ich hatte damals zwei Kinder, einen Sohn von dreieinhalb Jahren und ein Töchterchen von ein paar Tagen. Nun suchte ich für jenen ein Bilderbuch, wie es für einen solchen kleinen Weltbürger sich schicken mochte; aber alles, was ich da zu sehen bekam, sagte mir wenig zu. Endlich kam ich heim und brachte ein Heft mit, welches ich meiner Frau mit den Worten überreichte: „Hier habe ich, was wir brauchen.“ Verwundert öffnete sie die Blätter und sagte: „Das ist ja ein leeres Schreibheft!“, worauf sie die Antwort erhielt: „Jawohl, aber da will ich dem Jungen schon selbst ein Bilderbuch herstellen!“
Ich hatte in den Buchläden allerlei Zeug gesehen, trefflich gezeichnet, glänzend bemalt, Märchen, Geschichten, Indianer- und Räuberscenen; als ich nun gar einen Folioband entdeckte mit den Abbildungen von Pferden, Hunden, Vögeln, von Tischen, Bänken, Töpfen und Kesseln, alle mit der Bemerkung 1/3, 1/8, 1/10 der Lebensgröße, da hatte ich genug. Was soll damit ein Kind, dem man einen Tisch und einen Stuhl abbildet? Was es in dem Bilde sieht, das ist ihm ein Stuhl und ein Tisch, größer oder kleiner, es ist ihm nun einmal ein Tisch, ob es daran oder darauf sitzen kann oder nicht, und von Original oder Kopie ist nicht die Rede, von größer oder kleiner vollends gar nicht.
Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es. Mit moralischen Vorschriften zumal weiß es gar nichts anzufangen. Die Mahnung: sei reinlich! sei vorsichtig mit dem Feuerzeug und laß es liegen! sei folgsam! – das alles sind leere Worte für das Kind. Aber das Abbild des Schmutzfinken, des brennenden Kleides, des verunglückenden Unvorsichtigen, das Anschauen allein erklärt sich selbst und belehrt. Nicht umsonst sagt das Sprichwort: „Gebrannter Finger scheut das Feuer.“
Ich machte mich nun in freien Stunden ohne viel Vorbereitung ans Werk, hatte aber leider nicht bedacht, daß die Arbeit viel Zeit und Mühe erforderte, und mehrmals verwünschte ich es, die Geschichte angefangen zu haben. Ich hatte zu den Versen und den Zeichnungen dieselbe Feder und dieselbe gewöhnliche Tinte benutzt; als ich nun an das Kolorieren ging, flossen die Konturen in die Farben. Nun, was that es! Es mußte fortgefahren werden. Damals hielt ich fest an dem Grundsatz: Begonnenes muß fertig gemacht werden! Ich hatte schon öfter im Leben unangenehme Folgen des Gegentheils an mir selbst erlebt. Die Bilder zeichnete ich leicht in flüchtiger Weise, und die kindlichen Verse fügten sich folgsam in kecken Reimen einer an den andren, und so ward das Ganze fertig.
So ganz aus der Luft gegriffen war übrigens die Geschichte doch nicht, ein und das andere war doch auf praktischem Boden aufgewachsen, so namentlich der Hauptheld. Ich bin Arzt und als solcher oft einem störenden Hinderniß bei der Behandlung kranker kleiner Kinder begegnet. Der Doktor und der Schornsteinfeger sind bei Müttern und Pflegerinnen zwei Popanze, um unfolgsame Sprößlinge zu schrecken und zu bändigen. „Wenn [18] Du zu viel ißest, so kommt der Doktor und giebt Dir bittere Arznei oder setzt Dir Blutegel an!“ Oder: „Wenn Du unartig bist, so kommt der schwarze Schlotfeger und nimmt Dich mit!“ Was folgt dann? Sowie der Doktor an das Bett des kleinen Patienten tritt – weint, schreit, brüllt dieser mörderlich. Wie soll man da die Temperatur prüfen, wie den Puls fühlen, wie den Leib betasten! Stundenlang dasitzen und abwarten, bis der Tumult sich gelegt hat und der Ermüdung gewichen ist, kann man auch nicht!
Da nahm ich rasch das Notizbuch aus der Tasche, ein Blatt wird herausgerissen, ein kleiner Bube mit dem Bleistift schnell hingezeichnet und nun erzählt, wie sich der Schlingel nicht die Haare, nicht die Nägel schneiden läßt; die Haare wachsen, die Nägel werden länger, aber immer läßt er sich dieselben nicht schneiden, und immer länger zeichne ich Haare und Nägel, bis zuletzt von der ganzen Figur nichts mehr zu sehen ist als Haarsträhne und Nägelklauen. Das frappiert den kleinen Desperaten derart, daß er schweigt, hinschaut, und mittlerweile weiß ich, wie es mit dem Pulse steht, wie seine Temperatur sich verhält, ob der Leib oder die Athmung schmerzhaft ist – und der Zweck ist erreicht.
Als mein Buch fertig war bis auf das letzte Blatt, da war aber auch mein Bilderschatz zu Ende. Was sollte ich nun auf dies letzte leere Blatt bringen? Ei nun, da setzen wir den Struwwelpeter hin! So geschah es, und deshalb stand dieser Bursche in der ersten Auflage des Buches auf der letzten Seite. Aber die Kinderwelt traf das Rechte und forderte das Buch einfach: „Ich will den Struwwelpeter!“ Nun rückte das Blatt auf den Ehrenplatz vorn, und der frühere Titel machte dem jetzigen Platz. Also hieß es auch hier: „Die Letzten sollen die Ersten werden!“
Das Originalexemplar kam auf den Weihnachtstisch, mein Söhnchen hatte seine helle Freude daran. Nach einigen Tagen fand die Taufe des Mädchens statt, und da bekamen auch die eingeladenen Familienglieder des Vaters Wunderwerk zu sehen. Nun hieß es hier: „Das mußt Du drucken lassen; das darf der Junge nicht, wie zu erwarten ist, in ein paar Tagen zerreißen!“
Ich aber lachte und frug, ob man denn von mir erwarten könne, daß ich ein Kinderbilderbuchfabrikant werde. Aehnliche Anforderungen kamen noch in den nächsten Tagen.
Nun blühte damals eine kleine literarische Gesellschaft, die ich mit meinem verstorbenen Freunde, dem Musiker Schnyder von Wartensee, zusammengebracht hatte (denn diese Art von Gründungen gehörte damals zu meinen Lieblingsbeschäftigungen). In einem kleinen Zimmer eines still in der Mitte der Stadt gelegenen Gasthofs versammelten wir uns einmal in der Woche; wir hatten sonderbare Satzungen und nannten unseren Verein „Die Bäder im Ganges“. Der Brahma war Vorsitzender und Wischnu der Schriftführer. Hier zeigte ich meine Kinderei vor – derselbe Beifall! Unter den Versammelten war auch der Buchhändler Dr. Löning, der mit seinem Freunde J. Rütten erst vor kurzem eine Buchhandlung unter der Firma „Literarische Anstalt“ gegründet hatte. Löning sagte sogleich, ich solle ihm das Buch geben, er wolle es drucken lassen. Nun, in heiterer Weinlaune vergaß ich die frühere Weigerung und erwiderte scherzend: „Meinetwegen! Geben Sie mir 80 Gulden und versuchen Sie Ihr Glück!“ Er nahm das Heft, und so war ich nachts 11 Uhr, fast ohne recht zu wissen, was ich gethan hatte, mit einem Male ein Jugendliterat geworden! Freilich hatte ich schon vorher in Versen, Gedichten und Liedern allerlei veröffentlicht, dessen ich hier nicht weiter gedenken will. Meinen kleinen Sohn daheim tröstete ich dann mit der Aussicht, daß er bald durch zwei neue Bücher, viel schönere als das weggegebene, entschädigt werden sollte.
Nun aber kam die Ausführung. Meine Freunde, die Verleger, waren in solchen Dingen eben noch nicht sehr erfahren, Die Bilder wurden lithographiert; ich mußte aber den Zeichner täglich überwachen, daß er meine Dilettantengestalten nicht etwa künstlerisch verbesserte und in das Ideale hinein gerieth, er mußte Strich für Strich genau kopieren, und ich revidierte jede Steinplatte. Dann gab ich den Herren noch einige praktische Rathschläge. Kinderbücher, sagte ich, müssen solid aussehen, aber nicht sein, sie sind nicht allein zum Betrachten und Lesen, sondern auch zum Zerreißen bestimmt. Das ist kindlicher Entwicklungsgang, und darin liegt ein Vortheil solcher Fabrikation, die Kinderbücher vererben sich nicht, sondern sie müssen neu angeschafft werden; dies zu fördern, gehören starke Pappdecken und schwache Rücken. Und dann muß das Buch billig sein, mehr als 59 Kreuzer darf es nicht kosten, dann heißt es: „Das kostet ja nicht einmal einen Gulden!“ Kostet es aber 60 Kreuzer, so sagt man: „Das Ding ist zu theuer; es kostet ja einen Gulden!“ Alles dies wurde beachtet und befolgt, und der Struwwelpeter betrat die Bühne der jugendlichen Welt. Es waren 1500 Exemplare hergestellt worden.
Nach etwa vier Wochen kam Löning zu mir mit der Mittheilung, daß wir einen glücklichen Gedanken gehabt hätten, die Exemplare seien alle fort, sie seien verschwunden wie ein Tropfen Wasser auf einem heißen Steine. Nun machten wir einen förmlichen Vertrag; ich war in meinen Ansprüchen bescheiden, um den Preis des Büchleins nicht zu erhöhen. Niemand war, das kann ich ehrlich versichern, über das blitzähnliche Einschlagen der bunten Geschichten mehr überrascht als ich; das hätte ich mir im Traume nicht eingebildet. Später hat man auch sogenannte „unzerreißbare“ Exemplare gefertigt; sie mögen wohl recht wetterhart sein, ich bezweifle aber, daß sie je die Dauer ägyptischer Papyrusrollen erreichen werden, denn Kinderbücher gehen ja „reißend“ ab. Der Absatz wuchs mit jedem Jahre und steht jetzt nach 47 Jahren auf einem jährlichen Verbrauch von etwa 30 000 Exemplaren der fünf Bilderbücher zusammen. Ja, ich kann mir mit Befriedigung sagen, der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen als ich; in ganz Europa sind sie heimisch geworden, ich habe gehört, daß man ihnen in Nord- und Südamerika, am Kap der Guten Hoffnung, in Indien und Australien begegnet ist. Sie haben allerlei Sprachen gelernt, die ich selbst nicht verstehe, denn ich habe eine russische, schwedische, dänische, holländische, französische (schlechte), italienische, spanische und aus der jüngsten Zeit noch eine portugiesische Uebersetzung in Händen; daß man sie in Nordamerika lustig nachdruckt, ist ganz selbstverständlich. Nun freilich, Reisen um die Welt sind heutzutage nichts Außerordentliches mehr, sogar nur Spazierfahrten.
Die Herstellung des Buches ist nunmehr auch eine wesentlich andere geworden, statt in Lithographie sind die Bilder in Holzschnitt übertragen und die Holzschnitte galvanisch in Kupferplatten, um sie zu schonen; das Kolorieren durch Schablonen besorgt eine Schar von Mädchen in einem Orte im Rheingau und das Einbinden in großen Haufen ein Buchbinder in der Nähe [19] meiner Vaterstadt. So ist eine Art Struwwelpeterfabrik entstanden, es lebt eine Anzahl fleißiger Menschen dadurch, und so ist aus dem Scherze doch auch wohlthätiger Ernst geworden.
Von der deutschen Ausgabe ist bereits die 175. Auflage erschienen (die 100. hatten wir mit einem Jubelblatt zu feiern versucht), von der englischen die 40. und vom Nußknacker die 21. Ich habe später nämlich noch vier andere Büchlein der Art geschrieben und zu zeichnen mich erkühnt. Der „König Nußknacker“, der mir eigentlich das liebste ist und als das beste erscheint, ist von einer tiefer gehenden Betrachtung ausgehend entstanden. Die Freude der Kinder an Märchenwundern ist bekannt; nun meinte ich, es wäre doch noch geeigneter, wenn man, statt die jungen Gemüther in ein fremdes unbegreifliches Land der Feen, der Zauberer und der Ungeheuer zu führen, die Märchenwelt herunter in die Kinderstube zu bringen versuchte. Ich kaufte mir auf einer Reise nach Berchtesgaden und Salzburg allerhand Spielzeug in Nürnberg zu Originalmodellen zusammen, und an der österreichischen Grenze wurde unser Gepäck von dem Zollbeamten visitiert; auf die Frage, ob ich etwas zu verzollen bei mir führe, sagte ich:
„Möglicherweise, ich habe einen König im Koffer.“
„Wos, an König?“ frug mich der Untersuchende; als er ihn aber fand, lachte und bemerkte er: „Ja, die Majestät müssen wir holters doch zollfrei passieren lassen!“
Von den anderen, dem „Prinz Grünewald und Perlenfein mit ihrem lieben Eselein“, von dem „Im Himmel und auf der Erde“ und von „Bastian der Faulpelz“ will ich schweigen; das würde zu weit führen. Sogar in Musik hat man mit bekannten Melodien die Thaten und Leiden der kleinen Helden gesetzt.
Nur noch eines besonderen Vorfalls sei Erwähnung gethan. Wir hatten auch Nachdruckprozesse zu führen; bei einem derselben in der Nachbarschaft mußte ich selbst mitspielen; es war ein ganzes Coupé voll von Zeugen, Sachverständigen, Buchhändlern und Malern, die damals nach der Gerichtsstätte fuhren. Nun ereignete sich dort eine heitere Scene, die ich kurz erzählen will, ohne die Sache weiter breit zu schlagen. Ich sollte als Zeuge vernommen werden; der Gegenadvokat ließ mich nicht zu als einen Mitbetheiligten. Nun frug man mich unbeeidigt über dies und das und die kreuz und quer. Ich bemerkte, daß eine einfache Darstellung der Sache eher zum Ziele führen würde, und that dies ähnlich, wie ich es hier gethan habe. Es trat daraus der Umstand hervor, daß meine Bilder das Wichtigste und Ursprüngliche an den Geschichten seien, und daß, wer die Bilder nachdrucke, auch das Buch nachgedruckt habe (es handelte sich nämlich um eine Uebersetzung in eine fremde Sprache). Wir mußten abtreten und wurden in ein naheliegendes Gemach geführt, in dem große Schränke mit weiß angestrichenen Thüren standen; ich nahm nun einen Bleistift, zeichnete auf eine derselben einen Galgen, an dem der arme Struwwelpeter elendiglich hing, und schrieb nur die einfachen Worte daneben: „Ob? Ob nicht?“ Dann wurden wir einstweilen entlassen und begaben uns in eine nahegelegene Wirthschaft zum Mittagessen. Als wir zur festgesetzten Stunde wieder vor den Schranken erschienen, wurde uns mitgetheilt, das Gerichtspersonal habe die Hinrichtungsscene auf der Schrankthüre gesehen und herzlich gelacht.
„Gut!“ sagte ich zu meinen Leuten, „wenn das Gericht lacht, so haben wir unseren Prozeß gewonnen!“ Und so war es auch.
Noch wäre eine für mich weit wichtigere Episode aus dem Leben unseres Wildlings zu erzählen, nämlich wie er die Veranlassung wurde, daß ich mit dem verstorbenen Kaiser Wilhelm I. persönlich in Berührung kam, ihm selbst die Bücher zusenden durfte und dafür von dem trefflichen feinfühlenden Herrn als Gegengabe am folgenden Weihnachtsabend sein Bild mit seiner eigenhändigen Unterschrift erhielt. Dies aber zu erzählen, wird vielleicht erst später einmal an der Zeit sein.
Aber auch schmerzliche Erinnerungen ruft mir diese ferne Vergangenheit wach. Den Knaben, meinen ältesten Sohn, für den ich das Buch geschrieben hatte, habe ich als einen siebenundzwanzigjährigen jungen Mann durch den Tod verloren; er ist in Lima in Peru, wohin er als Kaufmann von London aus gegangen war, an der dort ausgebrochenen Epidemie des Gelben Fiebers gestorben; an seinem Geburtstag, den wir zu Hause in gewohnter Weise feierten, erkrankte er und nach vier Tagen schon war er entschlafen. Wir erhielten erst vier Wochen später die traurige Nachricht.
Schließlich muß ich nun doch sagen, daß ich ein recht glücklicher Vater bin, denn nicht allein meine braven wohlgerathenen Kinder und Enkel haben mir viele, viele Freunde gemacht, auch von den anderen mißrathenen bösen und leichtsinnigen, freilich nur papiernen, habe ich nur Gutes erfahren. Kann man mehr verlangen? Ich hoffe, daß es meinen wirklichen Kindern im Leben verdientermaßen gut gehen werde, ich hoffe aber auch, daß die anderen, die farbigen, noch eine gute Zeit zu leben fortfahren sollen.
Erwähnen muß ich aber noch, daß zu der Verbreitung der fünf kleinen Schriften wesentlich auch die Intelligenz und Rührigkeit der Verlagshandlung beigetragen hat, von der ich leider schon drei Inhaber, liebe Freunde von mir, habe aus dem Leben scheiden sehen, deren Verlust ich schmerzlich bedaure.
Am Ende ist es doch ein wohlthuendes Gefühl, so vielen Tausenden und vor allem der goldgelockten Kindheit fröhliche Stunden verschafft zu haben, ein Bewußtsein, welches für manches Unerreichte und Ungenügende im Leben trösten kann, und für diese Schickung werde ich der gütigen Vorsehung mit bescheidenem Sinne dankbar bleiben.
Was ist nun an der ganzen Geschichte Besonderes? Ich hatte seiner Zeit ganz zufällig ein unscheinbares Samenkorn gefunden, hatte es ganz arglos in den Boden gesteckt; da ist es mit der Zeit immer gewachsen, ein Baum geworden, nach dessen Blüthen und Früchten viele langen und unter dessen Schatten ich nun als ein alter Mann gemüthlich sitzen und ausruhen kann. –
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Geehrter Herr, meine Erzählung ist viel länger geworden, als ich erwartet hatte; aber wenn das Herz und das Tintenfaß voll sind, dann kommt man leicht in ein weitläufiges Plaudern, und so mag es denn genug sein, und Sie verzeihen es Ihrem hochachtungsvoll ergebenen
Frankfurt a. M., den 3. November 1892.
[20]
BLÄTTER UND BLÜTHEN.
Heimstätten für Genesende. Es ist ein schwerer, schier endlos scheinender Kampf, den die menschliche Barmherzigkeit gegen menschliches Elend ficht; aber die guten Geister, die auf dieser Wahlstatt gegen die düsteren Schemen Krankheit, Hunger, Noth und Schwäche ringen, sie lassen den Muth nicht sinken, ihr hochherziger Eifer erlahmt nicht, und mit immer neuen Waffen erscheinen sie auf dem Plane, dem Feinde den Sieg zu entreißen.
Solch eine neue Waffe sind die Heimstätten für Genesende. Zwar eine ganz neue Erscheinung sind sie auch bei uns in Deutschland nicht mehr. Schon vor mehr als dreißig Jahren hat der „Verein zur Unterstützung hilfsbedürftiger Rekonvaleszenten“ in München die erste Anstalt dieser Art ins Leben gerufen, eine andere in Frankfurt a. M. folgte, und das berühmte „Lovisa-Hospital“ in Ruprechtsau bei Straßburg, die Gründungen der Johanniter in Lichterfelde, Heinersdorf und Blankenburg, die Schwabesche Stiftung für Leipzig, das „Adelenstift“ in Bremen und ein Heim in Nürnberg erweiterten die Zahl in erfreulichster Weise. Aber immer noch sind das erst Anfänge, kühne, hochherzige Beispiele, deren Nacheiferung im weitesten Maße unsere Aufgabe und die der kommenden Geschlechter bleibt.
Denn in der That, es ist etwas Schönes und Gutes um diese Heime! Allüberall sorgen Krankenhäuser und Krankenkassen dafür, daß dem Kranken, auch dem bedürftigsten, ärztlicher Rath und sorgsame Pflege zu theil werde. Der Segen, der durch diese Einrichtungen gestiftet wird, liegt auf der Hand. Aber noch ist nicht alles erreicht. Das Krankenhaus muß den Pflegling entlassen, wenn das eigentliche Leiden gehoben, die Gefahr für das Leben beseitigt ist. Die völlige Wiederherstellung der Kräfte kann in seinen Mauern nicht abgewartet werden.
Aber auch nicht zu Hause. Denn wir wissen alle, daß gerade die Wohnungen der Bedürftigen zuletzt danach angethan sind, einem eben erst von schwerem Krankenlager Erstandenen die Bedingungen einer raschen und sicheren Erholung zu bieten.
Und da öffnen nun die Heimstätten für Genesende ihre Pforten. Sie bieten Licht und Luft, gesunde Kost und gesundes Leben – und bald wird der geschwächte Körper seine volle Kraft und Leistungsfähigkeit für den mühevollen Kampf ums Dasein wieder errungen haben.
Das ist die Aufgabe der Genesungsheime – sie sind die sinngemäße Ergänzung der Krankenhäuser.
Mit Freuden haben wir darum das Vorgehen der „Freien Vereinigung sächsischer Ortskrankenkassen“ begrüßt, welche es unternommen haben, solche Heime in größerer Zahl zu errichten. Ihre regelmäßigen Einkünfte reichen dazu freilich nicht aus. Aber gewiß verlassen sie sich nicht umsonst auf die Mildthätigkeit der Bewohner Sachsens, und auch wir unterstützen gerne ihre Bitte, Beiträge zu dem menschenfreundlichen Werke an irgend eine der sächsischen Ortskrankenkassen einzusenden, zugleich auch in der Hoffnung, daß die von diesen Kassen gegebene Anregung in weiteren Kreisen unseres Vaterlandes nicht ohne Nachfolge bleiben werde.
Wie sagt doch Esajas Tegnér einmal in seiner Frithjofs-Sage? „Was edel ist und recht, das ist nothwendig!“
Der schüchterne Freier. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) So schwierig hat sich Herr Christoph Vollpfund das Geschäft einer Brautwerbung nicht vorgestellt! Nach mühsam erlangter Erlaubniß des Herrn Vaters, des reichen Großhändlers am Marktplatz, hatte er es eilig, sich in sein kostbarstes Wams zu stecken und die Kappe mit der wunderschönen Pfauenfeder aufzusetzen, dann strich er, so schnell er konnte, dem Witwenhaus zu, das die holde, einziggeliebte Ursula barg, um ihr den großen Schatz, welchen sie gewinnen sollte, in eigener Person vor Augen zu stellen.
Die Vorbereitungen zum bedeutungsvollen Vespermahl lassen erkennen, daß die Witwe Griesbeck den reichen Freier nach Gebühr zu schätzen weiß: das feinste Linnen grenzt die obere Tischhälfte von der unteren ab, wo die jüngeren Geschwister mit Milchschüssel und Brotlaib ihren Platz erhalten; ein gebratener Welscher prangt zwischen den Silberbechern, den Zeugen früherer besserer Tage, die Griesbeckin nöthigt wacker zum Zulangen und bemüht sich zwischendurch, den blöden Gast gesprächig zu machen, ihm sozusagen die Reden auf die Zunge zu legen. Aber umsonst! Nie hat sich Jungherr Christoph mehr auf den Mund geschlagen gefühlt als an diesem Tage! Das kalte Schweigen der schönen Ursula verschüchtert ihn ganz und gar, er stammelt und giebt verkehrte Antworten, darüber entwickelt sich eine verdächtige Heiterkeit am unteren Tischende, die ihm vollends die Fassung raubt. Die zwei Backfische, deren einer gerade die köstlichen Schmalzküchlein aufträgt, kichern über der Schüssel, das Nesthäkchen schaut ergötzt von seinem „Mordsstück“ Brot nach dem spaßhaften Stotterer hin, der kleine Mundschenk im samtenen Feiertagsgewand lacht ihm mit der ganzen Heiterkeit seines kindlichen Alters ins Gesicht, selbst um Ursulas strenge Mundwinkel zuckt ein verhaltenes Lachen . . . Ernst nimmt den unseligen Christoph nur einer von der Gesellschaft – der junge Werkführer, der seit Jahr und Tag Haus und Geschäft erhält. Der beargwöhnt ihn mit haßerfüllten Blicken und verwünscht auch im grimmigen Herzen die Alte, die so etwas hinter seinem Rücken angezettelt hat. – Nun, ein wenig Angst schadet dem künftigen Haustyrannen nicht – und über den Ausgang der Sache hat uns ja der Künstler glücklicherweise nicht im Zweifel gelassen!
Warum schweben die Wolken? Durch neuere Untersuchungen ist es zweifellos festgestellt worden, daß der Nebel nicht aus Bläschen, sondern aus Wasserkügelchen oder Tröpfchen gebildet wird. Man hat diese mikroskopisch beobachtet und gemessen. Der Engländer Dines fand, daß der dichte englische Nebel aus Tröpfchen von 0,016 bis 0,127 mm Durchmesser besteht, während der Deutsche Aßmus auf dem Brocken die Größe des Durchmessers auf 0,006 bis 0,035 mm bestimmte. Aus ähnlichen, bald kleineren, bald größeren Tröpfchen bestehen auch die Wolken, die über uns schweben. Der österreichische Meteorolog A. von Frank, der auf Märschen im Gebirg oft durch Wolken wanderte, erklärt, daß er diese Wassertröpfchen noch auf eine Entfernung von 20 cm mit bloßem Auge zu erkennen vermochte, und berechnet daraus die Größe ihres Durchmessers auf 0,028 mm. Das Gewicht eines solchen Wasserkügelchens beträgt nur etwas über ein zehnmilliontel Gramm! So winzig nun diese Kügelchen sind, so sind sie doch schwerer als die Luft. Warum fallen sie dann aber nicht beständig zur Erde, warum schweben sie so oft und so lange in der Luft, ja steigen mitunter empor? A. von Frank erklärt dies in der „Meteorologischen Zeitschrift“ dadurch, daß jedes dieser Wassertröpfchen mit einer Schicht Wasserdampf umgeben ist, und da der Wasserdampf leichter ist als die Luft, so hebt er den Tropfen und erhält ihn in der Schwebe. Scheint die Sonne auf die Wolken und erwärmt die Tröpfchen, so wird der Dampf vermehrt, der Ballast aber geringer: die Wolken steigen empor. Infolge der Abkühlung dagegen sinken sie, da sich dann der Wasserdampf vermindert und zu flüssigem Wasser verdichtet. Nach dieser Erklärung wären also die Wasserkügelchen winzige Luftballons und die Wolken Ansammlungen von solchen unendlich kleinen Luftschiffen, von denen in einem Kubikmeter Wolke Hunderttausende enthalten sind.
Wir erinnern uns dabei einer geschichtlichen Thatsache. Als die Gebrüder
Montgolfier vor mehr als hundert Jahren ein Luftschiff erfinden
wollten, suchten sie durch Raucherzeugung u. s. w. die Wolken nachzumachen
und erfanden – die Montgolfière, den ersten Luftballon; die
Natur der Wolken ist ihnen fremd geblieben. Wie seltsam, daß nach
hundert Jahren die Wissenschaft das Schweben der Wolken durch das
Vorhandensein zahlloser winziger Luftballons zu erklären sucht! *
Im Dschungl. (Zu dem Bilde S. 12 und 13.) Da steht er, der gewaltige Räuber, der Beherrscher des Dschungls, jener sumpfigen Rohrdickichte Indiens, der prachtvolle Königstiger; vor sich sein Opfer, die Antilope, die er aus sicherem Hinterhalte überfallen, mit einem Biß in die Kehle getötet und hierhergeschleppt hat in das hohe Schilfgras, um mit Ruhe sich an die blutige Mahlzeit zu machen. Aber noch soll es ihm nicht glücken: irgend ein verdächtiges Geräusch läßt ihn zusammenzucken. Mit aufgehobener linker Vorderpranke, mit niedergedrücktem Hinterleib und schwach erhobenem Kopfe „sichert“ er nach der Gegend, von der ihm die Störung gekommen; sein heißer Athem weht bei der kühlen Morgenluft in dichter Dunstwolke um seine bärtige Schnauze. Hat ihn ein Jäger erspäht, oder ist’s ein anderes Gethier, das, die Nähe des Furchtbaren witternd, in eiliger Flucht durch das Dickicht sich Bahn bricht? Der Künstler überläßt unserer Phantasie die Antwort auf diese Frage; ihm war das Bild des Räubers die Hauptsache, es vor uns hinzustellen – ganz Kraft, Schönheit, Blutdurst und Verschlagenheit.
Frühlingsblüthen. (Zu unserer farbigen Kunstbeilage.) Mit zartem Händchen greift das Kind, von der Mutter sicherem Arme gestützt, in des Lenzes üppige Blüthenfülle – ein liebliches Idyll, voll tiefer sinnbildlicher Bedeutung! Dem Kinde, das von treuer Mutterliebe behütet wird, ihm ist auch das Leben ein ewiger Lenz; wohin es das Aermchen ausstreckt, greift es in reinen Glückes lichte Blüthentrauben. Und es selber, das junge Menschenwesen, es ist nichts anderes als eine solche Frühlingsblüthe, die sich erschließt, Seligkeit ausströmend über das Mutterherz wie die tausend Knospen auf Flur und Feld über die Herzen der Menschen. Gewiß ein dankbarer Stoff für einen so zartsinnigen Künstler wie Rob. Beyschlag! Aber auch nur unter Zuhilfenahme der Farbe war es möglich, den duftigen Reiz dieses Bildes in der Vervielfältigung zu wahren. So eröffne denn dieses Blatt würdig den Reigen der Kunstbeilagen im neuen Jahrgang der „Gartenlaube“!
Kleiner Briefkasten.
E. G. B . . . t in Sebnitz. Besten Dank für Ihre freundliche Mittheilung! Die „Gartenlaube“ entbietet ihrem alten Freunde, der ihr durch die vierzig Jahre ihres Bestehens so wacker Treue gehalten hat, auch an dieser Stelle ihren herzlichsten Gruß. Möge er uns gestatten, daß wir diesen Gruß auch allen anderen widmen, die, wie er, ihr vierzigjähriges Jubiläum als „Gartenlaube“-Leser feiern!
Vier alte Abonnenten in Frankfurt a. M. Sie ereifern sich über das Copyright by etc. an der Spitze des im letzten Jahrgang erschienenen Heimburgischen Romans. Ohne erst mit Ihnen in eine Erörterung über die Gesetze der Höflichkeit einzutreten, bemerken wir, daß dieser englische Vermerk durch die im laufe des Jahres 1892 erlassene amerikanische Copyright-Bill bedingt ist. In der Ihnen so sehr anstößigen Formel liegt die einzige Möglichkeit, einen Roman im Gebiet der Vereinigten Staaten von Nordamerika vor Nachdruck zu schützen.
Inhalt: Freie Bahn! Roman von E. Werner. S. 1. – Loni. Bild. S. 1. – Der schüchterne Freier. Bild. S. 4 und 5. – Am „Eisernen Thor“. Von A. v. Schweiger-Lerchenfeld. S. 7. Mit Abbildungen S. 7, 8, 9, 10 und 11. – Im Dschungl. Bild. S. 12 und 13. – Auf Geben und Nehmen. Novelle von Johannes Wilda. S. 14. – Vom Struwwelpeter. Von Dr. H. Hoffmann-Donner. S. 17. Mit Abbildungen S. 17, 18 und 19. – Blätter und Blüthen: Heimstätte für Genesende. S. 20. – Der schüchterne Freier. S. 20. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) – Warum schweben die Wolken? S. 20. – Im Dschungl. S. 20. (Zu dem Bilde S. 12 und 13.) – Frühlingsblüthen. S. 20. (Zu unserer farbigen Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 20.
- ↑ Unsere älteren Leser erinnern sich vielleicht dieser Skizze, denn sie stand zuerst in der „Gartenlaube“, ehe sie dem „Struwwelpeter“ beigedruckt wurde. Wenn wir heute auf die Geschichte vom „Struwwelpeter“ zurückkommen, so leitete uns dabei die Absicht, von dem verehrten nunmehr dreiundachtzigjährigen Verfasser selbst die Schicksale seines weitberühmten Buches ausführlicher und bis zum heutigen Tage unseren Lesern erzählen zu lassen. Die Red.