Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[325]

Lenz und Liebe.

Wie flüssig Gold rinnt warmes Sonnenlicht
Ins junge Gras durch zartbelaubte Aeste,
Aus kleinen Kehlen künstlerisch und schlicht
Tio! Tio! ertönt's vom neuen Neste.

Der Westwind huscht verstohlen zu dem Teich,
Um seinen Spiegel schelmisch leicht zu kräuseln,
Es ist, als hörte man im Waldbereich
Das Frühlingslied der ew’gen Sehnsucht säuseln.

Ein Menschenstrom ergießt sich in die Au,
Zur Luft, zum Licht hin fluthet es in Scharen
Und blüthenduftig wandelt unterm Blau
Das lenzgeborne Glück von Liebespaaren.

O Lust des Lebens! Nicht ein eng Verließ,
Drin wir gefangen, ist dies Weltgetriebe,
Hier auf der Erde giebt's ein Paradies,
So lang noch Blüthen bringen Lenz und Liebe.

Max Hoffmann.
[326]

Der Klosterjäger.

Ein Hochlandsroman aus dem 14. Jahrhundert von Ludwig Ganghofer.
(3. Fortsetzung.)


11.

Als um die Mittagsstunde vom Klosterthurm der Hall der Glocken über Thal und Berge schwebte, hatte Gittli schon die Almen erreicht. Ihre Kräfte waren fast erschöpft, und doch lag vor ihr noch ein weiter, weiter Weg. Ueber das offene Almfeld, von welchem aus sie den Kreuzwald schon erblicken konnte, eilte sie noch in vollem Lauf hinweg. Doch als sie einen steilen, brüchigen Hang erreichte, auf welchem die Regenstürze des Frühjahrs jede Spur eines Pfades vertilgt hatten, da ging ihr der Athem aus und die Glieder versagten. Zu Tod erschöpft sank sie auf einen Rasenfleck; schluchzen konnte sie nicht, nur stöhnen. Mit der Brust auf der Erde liegend, drückte sie das glühende Gesicht in das kühle Gras und krampfte die Hände in den morschen Grund. Sie meinte zu sterben, zu ersticken. Und dennoch fühlte sie nicht die eigenen Schmerzen, sie dachte nicht an sich selbst, immer nur an ihn, an ihn! Jetzt lag sie hier, ein Häuflein Elend und Schwäche . . . und er lag hilflos dort oben, verblutend, sterbend. Sie richtete sich halb empor und schrie mit gellender Stimme hinaus in die lautlose Stille der Berge: „Hoidoooh! . . . Leut’! Leut’!“

Aber niemand gab Antwort; nur das Echo ihrer Stimme klang hohl zurück von Wald und Wänden.

Weshalb nur hatte sie zu seiner Hilfe die Leute nicht gerufen, wo Leute waren? Drunten im Thal, im Dorf? Hatte sie an den Schwur gedacht, bei dem sie die Hand auf das erkaltete Herz des Kindes gelegt? – „Ach du mein Gott, das Kindl, das Kindl!“ Nun konnte sie wieder schluchzen. – Oder hatte sie gemeint, daß sie allein ihm helfen, allein ihn retten und heilen könnte wie durch ein Wunder? Nein, nein! An gar nichts hatte sie gedacht, weder an das eine, noch an das andere – sie war nur gerannt und gerannt, blind und taub, ohne zu denken, ganz von Sinnen. Und jetzt lag sie hier . . . so weit von ihm, und noch weiter von den Menschen im Thal . . . und wenn er verbluten mußte, verschmachten in Schmerz und Noth, dann war es nur ihre Schuld, ihre Schuld ganz allein!

Sie mußte zu ihm, sie mußte, mußte, und wenn ihr die Füße brechen und alle Glieder vom Leibe fallen sollten! „Haymo! Haymoli! Schau, ich komm’ ja schon!“ Mühsam raffte sie sich auf, keuchend überwand sie den steilen Hang; droben im dunklen Hochwald, der sie empfing, lehnte sie sich für kurze Weile an einen Baum, bis sie Athem fand, dann wankte sie weiter. Die sachte Neigung des Waldes und ein ausgetretener Pfad erleichterten ihr den Weg.

Plötzlich blieb sie lauschend stehen; hinter einer Biegung des Steiges hörte sie Steine kollern und tappende Schritte, als käme einer schwer auftretend mit nackten Füßen gegangen. Heiß fuhr ihr die Freude zum Herzen: das war Hilfe, die ihr der liebe Gott gesandt! Sie wollte rufen, aber der Laut erstarb ihr in der Kehle . . .

Um die Biegung des Pfades kam ein mächtiger Bär getrottet, die Nase des dicken Kopfes spürend zur Erde gesenkt. Ohne recht zu wissen, was sie that, raffte Gittli einen Stein auf und erhob den Arm zum Wurfe; doch als der Bär nun den Kopf emporrichtete, machte der Schreck sie erstarren. Sie rührte wohl die Lippen; aber nicht in Worten, nur in Gedanken sprach sie den Bärensegen:

„Großvater Zottefell,
Süßfuß, Waldgesell,
Rühr’ mich nit an,
Birg’ Deinen Zahn,

Hüt’ Deine Tatz’,
Weiche vom Platz,
Krumm, krumm,
Um mich herum!“

Regungslos standen der Bär und das Mädchen sich gegenüber: Gittli mit erhobenem Arm, vom Entsetzen fast versteinert, der Bär betroffen, beinahe selbst erschreckt von der unerwarteten Erscheinung. Eine Weile schaute er mit schiefgehaltenem Kopf das Mädchen an, dann schüttelte er den Pelz, wandte sich seitwärts in den Wald und trollte gemächlich zwischen den Bäumen dahin. Der Stein fiel aus Gittlis Hand, der Bann ihrer Glieder löste sich, und von peinigender Furcht getrieben, stürzte sie davon. Doch nicht für ihr eigenes Leben fürchtete sie . . . das Abenteuer war ja überstanden . . . aber der Bär war von dort gekommen, wohin ihr Weg ging! Die Angst stellte ihr ein Bild vor die Seele, das sie schaudern machte bis ins innerste Mark. Sie rannte und rannte, alle Erschöpfung war von ihr gewichen. Entsetzen, Jammer und Sorge hatten ihre erlöschenden Kräfte neu belebt.

Jetzt erreichte sie das offene Steinthal und sah auf der Höhe schon das Kreuz in die Lüfte ragen, umflimmert vom Schein der Sonne. Nun stieg sie über den letzten Hang empor – immer wieder mußte sie stehen bleiben – nicht die Ermüdung, sondern die herzbrechende Angst vor dem Anblick, der ihrer wartete, benahm ihr den Athem und fesselte ihre Glieder. Alle Pein, die sie erfüllte, sprach aus dem trostlosen Blick ihrer Augen.

Wankend erreichte sie die Höhe. „Haymo, Haymo!“ schluchzte sie . . . aber der Platz vor dem Kreuze war leer. Nur eine halb vertrocknete Blutlache bezeichnete die Stelle, an welcher die That geschehen war . . . und versprengtes Blut klebte auch an dem Kreuz und seinem Bilde. „Du! Du bist dabeigewesen . . . und hast es geschehen lassen.“ Und dann wieder schrie sie: „Haymo! Haymo!“ Aber keine Antwort kam. Da gewahrte Gittli, daß eine blutige Fährte hinwegführte auf dem Pfade gegen die Jagdhütte. Ein Schimmer freudiger Hoffnung erwachte in ihr: Haymo mußte noch leben, er hatte noch die Kraft besessen, sich aufzurichten, sich heimzuschleppen. Schluchzend und immer wieder den Namen des Jägers rufend, folgte sie der Spur, die er gezeichnet mit seinem Herzblut . . . und jeder neue Tropfen, den sie fand und der sie leitete, war ihr ein neuer brennender Schmerz.

Immer näher kam sie der Hütte, und immer wollte ihr jammernder Ruf noch keine Antwort finden. An der Hütte, die sie mit einem Steinwurf schon hätte erreichen können, sah sie die Thür geschlossen. Diese Wahrnehmung jagte ihr neue Angst in die Seele.

Jetzt lenkte der Pfad aus den dichten Büschen der Krüppelföhren auf eine Rodung – und da lag er vor ihr, mitten auf dem Steige, mit eingebrochenen Knien, leblos, mit Blut besudelt, das Haupt versunken in Moos und welkem Krautwerk, mit seitwärts geschlagenen Armen, während die Finger noch den Bergstock und die Armbrust umklammert hielten.

„Haymoli! Haymoli!“ rang es sich in Schmerz und dennoch auch in Freude von ihren Lippen, während sie niederstürzte an seiner Seite. Sie faßte seine Hände, rüttelte seine Arme, hob sein Haupt empor – aber kein Zeichen des Lebens rührte sich in seinen Zügen, kein fühlbarer Hauch entströmte seinem halb geöffneten Munde, fahle Blässe lag auf den eingefallenen Wangen, und bläulich schimmerten die Lippen und die geschlossenen Lider. Dennoch erlosch die Höffnung nicht in ihrem Herzen; sie konnte das Schlimmste nicht fürchten, an seinen Tod nicht glauben . . . das Undenkbare denkt man nicht . . . und sie hielt ihn ja in ihren Armen, fühlte ja die Wärme seines Körpers! Und zum Jammer blieb ihr keine Zeit ... sie mußte helfen, helfen, helfen!

In einer tiefen Felsschrunde gewahrte sie einen Klumpen Schnee; sie eilte hin, warf sich auf die Erde, griff mit beiden Armen hinunter und faßte, was ihre Hände nur fassen konnten. Mit dem Schnee begann sie sein Gesicht zu reiben . . . wohl färbte eine matte Röthe seine Wangen, aber das schlummernde Leben wollte nicht erwachen. Was thun? Was thun? Da schoß ihr die Erinnerung an jenes Sprüchlein durch die Sinne:

„Zwei Tropfen machen roth . . .“

Eine Nieswurz! Mit brennenden Augen spähte sie umher. Auf hundert Schritte fast, einem hohen Fels zu Füßen, meinte sie eine Staude zu erkennen; sie sprang empor und rannte hin; und sie hatte sich nicht getäuscht: rings um das Stöcklein hingen noch die verblühten Schneerosen an den welken Stengeln. Mit ihren Fingern grub sie die Wurzel aus der Erde, und während sie zurücklief, säuberte sie Wurzel und Hände an ihrem Röcklein.

Nun lag sie wieder neben Haymo auf den Knien, brach die Wurzel in zwei Stücke, hielt sie über seine Lippen und drückte und preßte, bis aus dem Mark der Wurzelstücke zwei große Tropfen auf Haymos Lippen fielen. Mit heißpochendem Herzen wartete sie, keinen Blick von seinem Munde verwendend. Aber seine Lippen wollten sich nicht rühren, und nicht die leiseste Bewegung zeigte sich an seiner Kehle.

Sie rüttelte seine Schultern und schluchzte dicht an seinem Ohr. „Haymoli, geh’, so thu’ doch schlucken, ich bitt’ Dich um Tausendgottswillen, thu’ doch schlucken!“ Dann wieder wartete sie – vergebens. „O Gott, o Gott, was thu’ ich denn?“

[327] Sie faßte einen Ballen Schnee, brachte ihn durch die Wärme ihrer Hände zum Schmelzen und ließ das Wasser über Haymos Lippen träufeln. Seine Mundhöhle füllte sich . . . nun plötzlich lief ein Zucken über seinen Körper, ein heftig stoßender Athemzug, ein Gurgeln und Röcheln . . . dann wieder lag er still, aber seine Lippen bewegten sich – er hatte geschluckt, und gleichmäßig strömte jetzt sein Athem.

Schluchzend und lachend in stürmischer Freude, schlang Gittli die Arme um sein Haupt und hob es empor an ihre Brust. Sie spürte an dem Hauch seiner Lippen, wie sein Athem sich kräftigte, sie sah, wie seinen Wangen allmählich, wenn auch nur matt, die Farbe des Lebens wiederkehrte, seine Arme bewegten sich, er rührte den Kopf, . . . langsam öffneten sich seine Augen; lange, lange schaute er das Mädchen an mit verlorenem Blick . . . „Kennst mich, Haymo, kennst mich?“ stammelte sie und beugte den Kopf zurück, damit ihm nicht ihre rinnenden Thränen in das Antlitz fielen. „Kennst mich? Schau ich bin’s ja, ich, die Gittli!“ . . . und nun erkannte er sie. Ein tiefer Athemzug hob seine Brust, seine Augen schimmerten und ein seliges Lächeln spielte um seine Lippen. Er wollte sprechen, aber seine Zunge konnte nur lallen.

„Geh’, geh’, thu’ Dich nicht plagen, mußt nicht reden,“ stammelte sie, während sie einen Arm unter seine Schultern legte, um ihn emporzurichten. „Komm’, thu’ Dich nur anhalten an mir . . . so . . . halt’ nur recht fest . . . schau, es geht ja schon, es geht schon!“ Ihr ganzer Körper schwankte und erzitterte unter der Last, mit welcher der Entkräftete an ihrem Halse hing, aber sie brachte ihn auf die Füße. „So, und jetzt mach’ ein Schrittl . . . und jetzt noch eins . . . so, so!“ Er wandte halb den Kopf und tastete mit dem freien Arm gegen die Erde. Sie verstand ihn: er wollte sich von seiner Waffe nicht trennen, sie war ja ein Stück seines Lebens; als er vor dem Kreuz aus tiefer Ohnmacht erwachte, hatte sein erster Blick der Armbrust gegolten und bevor er sich von der Stelle schleppte, hatte er das Weidmesser, noch roth und naß von seinem eigenen Blut, in der Scheide verwahrt. Gittli ließ sich halb in die Knie sinken und es gelang ihr, die Armbrust zu erfassen. „Schau, Haymo, schau, ich hab’s ja schon! Jetzt aber komm’ nur, komm’ . . . weißt, wir müssen schauen, daß ich Dich heimbring’. Das Griesbeil[1] hol’ ich Dir später, jetzt muß ich’s liegen lassen . . . schan ich brauch’ ja meine Händ’ für Dich!“ Sie hatte das Schießzeug über die Schulter gehängt und umschlang den Wankenden wieder mit beiden Armen; und so schleppte sie ihn vorwärts, Schrittlein um Schrittlein, jeden Fußbreit Weges, den er mit taumelnden Knien gewann, als ein heiß erkämpftes Gut begrüßend, jeden zitternden Ruck seiner Füße mit zärtlichen Worten preisend wie eine Heldenthat. Einmal zuckte er stöhnend zusammen.

„Haymoli!“ flog es in heißer Angst von ihren Lippen.

Der süße Klang seines Namens schien ihm neue Kraft zu geben; er ballte die Fäuste, wie um den Schmerz zu bezwingen, hob das Gesicht zu ihr und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen. „Es thut nicht weh!“

Wieder ging es weiter, Schritt um Schritt. Endlich erreichten sie die Hütte; nur mühsam gelang es dem Mädchen noch, Haymo zum Lager zu bringen; sie ließ ihn auf das Wolfsfell sinken und schob das Polster unter seinen Kopf. Dann wankte sie selbst vor Erschöpfung, ein Schwindel befiel sie, und schwer athmend, zitternd an Händen und Knien, saß sie eine Weile mit taumelnden Sinnen auf der Bank. Als sie sich erholte, gewahrte sie, daß Haymo das Bewußtsein wieder verloren hatte. Sie stürzte zu ihm; doch als sie den ruhigen Gang seines Athems spürte und den wohl matten, aber gleichmäßigen Schlag seines Herzens, da war sie wieder getröstet. Sie richtete sich auf und nahm den Kopf in beide Hände: was mußte, was konnte sie thun? Hier in dieser Oede, auf sich allein gestellt? Sie jammerte und klagte nicht mehr . . . jetzt dachte sie, und dann ging sie ans Werk, in fliegender Hast und dennoch ruhig und besonnen. Wohl faßte und ermaß sie nicht ganz die Schwere des Ernstes, der aus ihre jungen Schultern gelegt war. Doch aus dem Kinde war ein Weib geworden, das freilich die jäh erwachte Sprache seines Herzens noch nicht hörte und verstand, ihrem zwingenden Geheiß aber unbewußt gehorchte wie das in Lüften treibende Blatt der Gewalt des Sturmes. Tapfer und siegesfreudig kämpfte sie für diesen todwunden, hilflosen Mann, ohne daß auch nur ein leiser Gedanke ihr sagte, daß sie kämpfe um das köstlichste Gut ihres Daseins, um das Leben des Geliebten . . .

„Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief . . .“

Was Gittli empfand, es verhüllte sich vor ihr in dem kindlichen Gedanken, daß sie mit Leib und Seele diesem Manne dienen und an ihm sühnen müsse, was die mörderische Hand ihres Bruders verschuldet hatte.

Bei der Armuth des Lebens, das sie unter dem Dach des Sudmanns geführt, hatte Gittli von Kind auf gelernt, so mancher Fährlichkeit mit eigener Hand zu wehren, ohne fremde Hilfe. Das kam ihr nun zu statten. Bei einer Musterung der Stube fand sie das Nöthigste: Feuerstein und Zunder, gesalzenes Fleisch, das eine kräftige Suppe gab, Hirschtalg zur Bereitung einer Wundsalbe und Linnen zum Verband; mit dem letzteren war es wohl gar spärlich bestellt, aber da war gleich geholfen . . . sie riß sich die weißen, bauschigen Aermel von den Schultern.

Rasch und sicher ging ihr alles, was sie that, von den kleinen, flinken Händen. Und bei allem, was sie begann, flog immer wieder ein Blick hinüber zu dem stillen Mann. Durch Thür und Fenster leuchtete die Sonne, und würzig strömte die Frühlingsluft der Berge in den kleinen Raum, in dem das Schicksal zweier Menschen auf der Wage schwebte.

Gittli hatte Feuer gemacht und das sorgsam ausgewaschene Fleisch zum Sieden gesetzt. Nun eilte sie ins Freie, um eine frische Nieswurz auszugraben und Harz von den Fichten zu sammeln, welche die Hütte umstanden. Am Feuer läuterte sie einen Theil des Harzes, vermischte es mit geronnenem Hirschtalg und stellte die fertige Salbe an einen schattigen Ort, damit sie abkühle. Im Fleischtopf brodelte schon die werdende Suppe. Ach wenn es doch Sommer wäre! dachte Gittli; sie kannte alle heilsamen und kräftigenden Bergkräuter – welch ein würziges Süpplein hätte sie bereiten können! Aber noch sproßte auf den Berghalden kein Kraut und blühte keine Blume. Ein Glück nur, meinte sie, daß der liebe Gott die Schneerosen erschaffen hatte!

Sie holte frisches Wasser und trug in einer Pfanne allen Schnee zusammen, den sie in den Felsschrunden rings um die Hütte fand. Und nun mußte geschehen, was ihr am schwersten wurde; mit zitternden Händen, scheu und beklommen, begann sie das Werk. In der Tischlade hatte sie ein Messer gefunden. Mit ihm trennte sie auf der Seite, auf welcher Haymo die Wunde trug, den Aermel von seinem Wams und löste über der Schulter die Nähte bis zum Hals. Ein Zittern befiel sie, und die Thränen stürzten aus ihren Augen, als sie die bloßgelegte Wunde erblickte, welche mit blutigen Rändern klaffte wie ein Mund mit rothen Lippen. Die Blutung schien gestillt, doch rings um die Wunde zog sich eine breite, heiß brennende Schwellung.

Gittli hatte die Hände vor die Augen geschlagen; rasch aber fand sie wieder den in Schmerz und Pein verlorenen Muth. Sie wusch die Wunde, kühlte mit Schnee die glühende Schwellung und erneuerte immer wieder den schmelzenden Schnee, bis die Röthe der Haut zu schwinden, die Schwellung sich zu senken begann. Jetzt vertheilte sie die Salbe auf einen Leinwandlappen, legte ihn über die Wunde und verklebte seinen Rand mit Harz.

Nun war es gethan! „Ach Gott!“ seufzte sie auf aus erleichtertem Herzen, trocknete die Thränen von ihren Wangen und beugte sich über Haymo. Still und regungslos hatte er alles mit sich geschehen lassen; seine Ohnmacht hatte sich, ohne daß er aus ihr erwachte, verwandelt in den tiefen Schlummer der Schwäche.

Um die bösen Geister von ihm zu treiben, welche Gewalt haben über Schlafende, machte sie auf seine Stirn und Brust das Zeichen des Kreuzes, flocht aus einem langen Heuhalm, den sie aus dem Lager zog, einen Drudenfuß und legte ihn zu Häupten des Bettes auf die Erde. Dann eilte sie zum Herd zurück. Die Suppe war kräftig und wohlschmeckend gerathen; das Fleisch schnitt Gittli in kleine Stückchen und zerrieb sie auf einer reinlichen Felsplatte mit einem Kieselstein zu Brei, den sie der Suppe beimengte; dann setzte sie noch einen Tropfen vom Saft der Nieswurz zu – er machte das Herz frischer schlagen und das Blut lebendiger strömen – und die Suppe war fertig.

In der einen Hand den hölzernen Löffel, in der anderen den Napf mit der Suppe, setzte sie sich auf den Rand des Bettes.

„Haymo!“

Er rührte sich nicht.

[328]

Ochsenrennen in Tirol.
Nach einer Zeichnung von Oscar Gräf.

[329] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [330] Sie neigte sich zu seinem Ohr. „Haymoli!“

Da streckte er sich mit langem Athemzug und schlug die Augen auf. Sie nickte ihm lächelnd zu. „Da schau, was ich Dir gekocht hab’ ... Du, das ist gut!“ Und als hätte sie ein Kind vor sich, führte sie den Löffel an ihre Lippen und that, als ob sie koste. „Aaah! Du, das ist was Feines! Magst es essen, ja? Gelt, ja?“ Er versuchte sich aufzurichten, doch kraftlos fiel ihm das Haupt zurück auf das Polster. „Aber geh’, bleib’ doch . . . thu’ Dich nur gar nicht plagen . . . schau, es geht ja!“ Sie rückte näher, hielt den Löffel an seinen Mund, und während er nahm und mühsam schluckte, zu ihr aufblickeud mit feuchten Augen, redete sie mit ihm, wie sie zu hundertmalen mit ihrem kleinen, süßen „Mimmidatzi“ geredet hatte. Ein Kind der Sorge war ihr an diesem Tag genommen worden – ein Kind der Sorge wieder gegeben.

Während sie ihm Löffel um Löffel reichte, merkte sie, daß auch in ihr der Hunger brannte – seit dem vergangenen Abend hatte sie keinen Bissen genossen. Aber im Kasten lag ja ein Laib Schwarzbrot . . . das war gut genug für sie. Alles andere mußte sie für Haymo bewahren. Verlassen durfte sie ihn nicht, und es konnten Tage vergehen, bis ein Mensch zur Hütte kam. Drunten wußte ja niemand um Haymos Schicksal – außer dem einen, der auch nicht reden würde auf der Folter! Ein Schauer rann ihr durchs Herz, als sie an Wolfrat dachte, als sie ihn wieder drohen sah mit erhobenem Beil – der Bruder wider die Schwester! Sie hatte ein Empfinden, als stünde sie vor einem bodenlosen Abgrund, so breit, daß keine Brücke hinüberreichte – und drüben stünde er. Und seltsam . . . es kam ihr vor, als wär’ es immer so gewesen! Als kleines Dinglein schon hatte sie ihn gefürchtet, dann aber war sie der Sepha von Herzen gut geworden und hatte deren Kinder geliebt, als wäre sie ihnen Schwester und Mütterlein zugleich.

Wie ein flüchtiger Schatten zog dieser Gedanke durch ihr Herz; er wich jedoch der hellen Freude darüber, daß Haymo die Suppe genossen hatte bis auf das letzte Tröpfchen. Nun lag er wieder stille, mit geschlossenen Augen.

Sie stellte den Napf auf den Herd zurück, schnitt sich ein Stück Schwarzbrot, trug einen hölzernen Block vor Haymos Lager und ließ sich darauf nieder. Nun durfte sie ruhen. Was sie zu thun vermochte, hatte sie gethan – alles Uebrige mußte der liebe Herrgott leisten unb Haymos junge kräftige Natur.

Während Gittli ihr Brot verzehrte, stiegen wieder all die finsteren, schmerzvollen und blutigen Bilder dieses Tages vor ihr auf, von der nächtigen Stunde an, da Sephas angstvoller Ruf sie aus dem Schlummer geweckt hatte. „Ach das Kindl, das Kindl!“ Solch ein liebes, süßes, unschuldsvolles Dinglein! Wie kann das nur geschehen? Gestern hielt man es noch in seinen Armen – man hat es geherzt und geküßt, hat sich die Seele warm gefreut an seinem holden Leben, hat mit dem Herzen sich hineingetrunken in die blaue, lautere Tiefe seiner Augen . . . und wo ist es heut’? Weg, fort, irgendwo . . . wohin keine Arme greifen und keine Sehnsucht reicht!

„Ach, und die Seph’! Mein Gott, mein Gott, die arme Seph’!“ Es legte sich auf Gittlis Herz wie ein schwerer Stein; sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte leise . . .

Da klang die lallende Stimme Haymps an ihr Ohr: „Gittli?“

Hastig fuhr sie sich über die Augen. „Ja, Haymoli, schau, ich bin ja schon bei Dir! Willst was?“

Er tastete mit kraftlosem Arm nach ihr, und als sie seine Hand mit beiden Händen umschloß, lallte er: „Gittli . . . vergelt’s Gott!“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn an. Sie hatte ja nur gethan, was sie mußte. Seine Hand ließ sie nicht wieder los. Und während sie nun so saß, Stunde um Stunde, bald in heißer Sorge zu ihm aufblickend, bald wieder verloren in finster unb sonnig durcheinanderschwimmende Gedanken, kam auch in ihr die Natur zu Recht und Geltung. Die Erschöpfung löste ihre Glieder, ihr Haupt sank auf den Rand des Lagers, und als sich draußen der Tag zum Abend wandelte, da schlief sie schon und athmete in langen Zügen.

Vor der Hütte gurgelte die rinnende Quelle, und leise rauschte der Bergwald in der Ferne.




12.

Am Morgen des Ostermontags trug Wolfrat Polzer sein entschlafenes Kind zur ewigen Ruhe. Da gab es keine Klagleute – Sepha lag fiebernd zu Bett, Lippele zählte nicht mit, Gittli fehlte, und von den Nachbarsleuten kümmerte sich keine Seele um den Tod, der im Hause des Sudmanns eingekehrt war. Wolfrat Polzer und auf seiner Schulter das stille Kind – das war der ganze Leichenzug; das starre Körperchen war in ein Leintuch gewickelt und lag auf einem Brett, welches Wolfrat mit eigener Hand zugeschnitten. Der Sudmann hatte schon schwerer getragen in seinem Leben, aber keine Last noch hatte ihn so tief gebeugt. Die Leute, denen er auf dem Weg zur Kirche begegnete, zogen die Kappen und schlugen ein Kreuz. Im Friedhof erwartete ihn der Totengräber beim ausgeworfenen Grab – in einem Winkel, nahe der Mauer.

„Ich will den Pater holen,“ sagte der Mann, „kannst das Kindl derweil hinunterlegen.“

Wolfrat blieb allein; er löste den Strick, mit dem der kleine Leichnam auf das Brett gebunden war, nahm das Kind auf seine Arme und stieg in die Grube; ein Stück Rasen gab er der kleinen Schläferin als Polster; zwei Steinplatten, die der Totengräber aus dem Boden geworfen hatte, stellte er wie ein Dach über das KÖpfchen des Kindes, damit ihm die fallende Erde nicht das Gesichtlein drücke. Nun sah er den Pater mit dem Bruder Meßner kommen und stieg aus der Grube.

Ein lateinisches Gebet, zwei sich kreuzende Striche mit dem tropfenden Weihwedel, und Pater und Meßner gingen wieder davon. Eine Armeleutleich’ ist immer schnell abgethan. Der Totengräber stieß die Schaufel in die Erde. „Kann ich anfangen?“

Wolfrat nickte. Doch als der Mann die ersten Schollen schwer in die Grube fallen ließ, faßte Wolfrat den Stiel der Schaufel. „So thu’ doch nicht so grob!“

„Ich muß mich tummeln, in einer Stund’ kommt schon wieder ein anderer. Jetzt sterben ja die Leut’ wie narrisch.“

„So laß mir die Schaufel!“

„Meinetwegen! Hast die drei Heller?“

Wolfrat griff in die Tasche und zog eine Hand voll blinkender Münzen hervor. „Da schau her,“ sagte er mit heiserem Lachen. „Geld hab’ ich wie Heu!“ Und statt der drei Heller, die der Mann nach dem klösterlichen Weisthum zu fordern hatte, bezahlte Wolfrat einen halben Schilling. „Nimm nur! Ein bißl was muß das Kindl doch auch davon haben . . .“ Wieder lachte Wolfrat; doch sein Gesicht verzerrte sich und seine Hände zitterten.

Kopfschüttelnd ging der Totengräber davon. „Ist das aber einer! Der kann lachen, wenn er sein Kindl eingrabt!“

Wolfrat faßte die Schaufel und legte Scholle um Scholle in das kleine Grab, sanft und achtsam. Bei der ersten Scholle sagte er: „Von der Mutter!“ ... bei der zweiten: „Vom Vater!“ ... bei der dritten: „Vom Lippele!" Dann schaufelte er schweigend weiter. Weshalb vermied er es, auch in Gittlis Namen dem Kinde eine Scholle als letzten Gruß zu spenden? Es sollen nach altem Brauch in ein sich schließendes Grab doch alle eine Scholle legen, die eines Stammes sind? War die Schwester für ihn tot, seit er in finsterer Stunde erfahren mußte, daß ihrem Herzen das Schicksal eines Fremden näher stand als Wohl und Weh ihres leiblichen Bruders? . . .

Der Hügel über dem Grab war vollendet. Wolfrat stieß die Schaufel in die Erde, und nun stand er lange, lange, den Kopf auf die Brust gesenkt, mit umflorten Augen, zwischen den zuckenden Fingern die Kappe drehend. Beten konnte er nicht. Er that noch einen schweren Athemzug und bedeckte das Haupt.

„Mußt nicht lang warten, Katzl! Paß nur auf . . . es kommt schon eins ums ander’ ... die Mutter, und ich, und . . .“ Nein, den Namen seines Buben brachte er nicht über die Lippen.

Als er sich nun vom Hügel wandte und das leere Brett unter den Arm nahm, kollerten ihm zwei schwere Thränen in den Bart. – Er wollte nicht über den Marktplatz gehen; dort waren ihm zu viele Leute. Auf einem Umweg suchte er das Haus des Taferlmalers. Er fand den Meister daheim. „Schreib’ mir den Namen auf das Brett,“ sagte er zu ihm.

„Geh’ – ist bei Dir eins gestorben?“

„Ein Kindl. Mariele hat’s geheißen! Mach’s nur recht schön . . . roth und blau! und mal’ auch ein Kreuz darunter. Ich zahl’s. In einer Stund’ komm’ ich wieder und hol’ das Brett.“

Von hier begab sich Wolfrat in das Kloster, um das Lehent zu entrichten. Er fand Herrn Schluttemann in Montagslaune ... das war von allen Launen des Vogtes die schlimmste. Denn am Sonntag, dazu noch an einem hohen Feiertag, pflegte Herr Schluttemann länger als gewöhnlich im Kellerstüblein des Klosters [331] zu verweilen; um so schärfer war dann aber auch am folgenden Morgen Frau Cäcilias Zünglein geschliffen; und da das größere Feuer die größere Hitze macht, war es begreiflich, daß Herr Schluttemann an solch einem Montagmorgen in seiner Amtsstube umherfuhr wie ein Wetterstrahl, der aus den Wolken keinen Ausweg findet, immer blitzt und donnert, ohne sich ganz entladen zu können.

Als Wolfrat über die Schwelle trat, fiel Herr Schluttemann mit einem Schwall von scheltenden Worten über ihn her wie ein Wildbach mit seinen Wassern über den geduldigen Felsblock; denn Wolfrat stand ruhig und schweigend; eine Weile ließ er das Ungewitter über sich ergehen, dann aber, als Herr Schluttemann eiumal Athem schöpfte, sagte er: „Was plagt Ihr Euch so mit Schreien, Herr Vogt? Ich hör’ auch, wenn Ihr den Blasbalg minder anzieht!“

Die Verblüffung über diese kecke Rede schien Herrn Schluttemann beinahe in Stein zu verwandeln; dann wurde sein rothes Gesicht noch röther, er warf die Fäuste in die Höhe, durchmaß im Sturmschritt die Stube und donnerte: „Hat man so was schon erlebt in der ganzen Christenheit? Wie dieser Mensch sich mit mir zu reden getraut! Solch ein Schwertmaul! O! Ah! Hoho! Ich, der Vogt, ich soll wohl höfische Reden führen . . . mit solch einem Salzpantscher? Belieben, geruhen, befehlen Euer Gnaden? Soll wohl gar noch katzebuckeln vor solch einem Kerl, der das Lehent nicht bezahlen kann?“

Aus Wolfrats Augen schoß ein finsterer Blick. „Wer sagt Euch das, Herr Vogt? Ich bring’ das Lehent.“

Herr Schluttemann drohte die Fassung zu verlieren. „Er bringt das Lehent . . . bringt es . . . bringt es?“ Blasend stemmte er die Fäuste in die Hüften und kam auf Wolfrat losgeschossen, als wollte er ihn übern Haufen rennen wie der Sturmbock die Mauer. „Wer hat Dich geheißen, das Lehent zu bringen? Wenn Seine hochwürdigsten Gnaden, unser Herr Propst, die Güte und himmlische Milde haben zu sagen: man sehe zu, ob dieser Wolfratus ein Spieler und Säufer ist ... und das bist Du nicht, und ein tüchtiger Schaffer bist Du auch, da beißt die Maus keinen Faden ab, Gott straf’ mich! . . . und wenn es wahr ist, sagen Seine Gestrengen, Herr Heinrich von Inzing, mein allergnädigster Herr Propst, so soll diesem Wolfratus für heuer das Lehent erlassen sein!“ Herrn Schluttemann ging der Athem aus.

„Das Lehent . . . erlassen sein?“ stammelte Wolfrat. Er war bis in die Lippen erbleicht und wankte, als hätte ihn ein Schwindel befallen.

„Und jetzt bringt er das Lehent . . . bringt es . . . bringt es!“ Herr Schluttemann rang über diese Thatsache die Hände, als hätte er den Untergang von Jerusalem zu bejammern. Und wieder zu Wolfrat sich wendend, schrie er ihn an: „Ja woher hast Du denn das Geld?“

„Ich hab’s geschafft, weil es her mußte!“ erwiderte Wolfrat, starr aufgerichtet, mit heiserer Stimme. „Woher ich es hab’, braucht Euch nicht zu kümmern . . . Ihr müßt es ja nicht heimzahlen. Aber wenn Euch schon die Neugier plagt: der Eggebauer hat mir’s geliehen!“

„Der Eggebauer? Geliehen?“

„Ja, weil ich ihm in der Samstagnacht seinen hölzernen Herrgott hinaufgetragen hab’ auf seine Alm in der Röth’.“ Laut und langsam sprach Wolfrat diese Worte.

„Den schweren Herrgott? In der Nacht? Und deshalb hat er Dir das Geld geliehen?“

„Ja, und weil er vielleicht gemeint hat, Ihr könntet ihm noch einen schlechteren Nachbar auf das Genick setzen, wenn ich vom Lehen gejagt würde.“

„Der Teufel jagt Dich vom Leheu, aber ich nicht!“ donnerte Herr Schluttemann. „Bin ich denn ein Wurm, der Feuer speit und Steine frißt? Auf der Stelle machst Du jetzt, daß Du heimkommst zu Weib und Kind. Und diesem Schmersack giebst Du sein Geld zurück ... bei Heller und Pfennig! Pack Dich!“

Herr Schluttemann machte einen Versuch, Wolfrat am Kragen zu nehmen, um ihn zur Thür hinauszudrehen. Der Sudmann aber faßte mit eisernem Griff den Arm des Vogtes. „Jetzt hab’ ich das Geld . . . jetzt will ich auch bezahlen! Ich will von keinem was geschenkt . . . und vom Kloster am allerletzten.“ Er ging auf den Tisch zu und zählte die acht Schillinge der Reihe nach auf die Platte, und jedem gab er mit dem Daumen einen Druck, daß es klang und klirrte.

„Ja, Himmelwetter noch einmal, soll ich denn in meiner Stube nimmer Herr sein?“ schrie Herr Schluttemann, dessen rothe Nase vor Zorn blau anlief wie Stahl im Feuer. „Wirst Du gleich thun, was ich sage! Wirst Du gleich das Geld wieder einpacken! Wirst Du machen daß Du weiterkommst!“ Und bei jedem „wirst Du“ schlug er die Faust auf die Tischplatte, daß die Silberstücke sprangen und hopften wie die Dirnen beim Ostertanz. „Und wenn der Eggebauer schon sein Geld zum Fenster hinausschmeißen will, so behalt’ es selber und laß’ es Deinem kranken Kind zu gut kommen ... das Kloster braucht es nicht!“

„Und mein Kindl auch nimmer!“

„Dein Kind ist also wieder gesund?“

„Wohl, wohl . . . dem thut kein Faserl nimmer weh. Der schwarze Bader hat ihm geholfen der Armeleut’bader . . . und umsonst, Herr Vogt, ganz umsonst! Der hat allweil Zeit und hat keinen Schlaf in der Nacht, wenn eins um ihn schreit! Und wenn Ihr auch gerad einmal Zeit habt, Herr Vogt, nachher nehmt das Leut’buch aus dem Kasten und machet einen dicken Strich, wo meinem Kindl sein’ Nam’ steht . . . Polzer Mariele.“ Wolfrat wandte sich ohne Gruß zur Thür.

„Polzer! Um Herrgottswillen . . .“ stotterte Herr Schluttemann. „Polzer! He! Polzer!“

Aber Wolfrat hatte die Stube schon verlassen. Vor dem Klosterthor stand er still und drückte die Fäuste vor die Stirn. „Das auch umsonst, das auch! Und niemaud anders hat mir das eingebrockt als die Dirn’!“ Er streckte die rechte Hand vor sich hin und sprach sie an mit verbissenem Lachen: „Du hast es nothwendig gehabt, daß Dich so getummelt hast . . . selbigs mal!“ Er richtete sich auf und ein zorniger Blick seiner heißen Augen suchte die fernen Höhen der Berge. „Aber wart nur, Du Kramp . . . komm mir nur wieder unter die Hand!“

Nun ging er, das Totenbrett seines Kindes zu holen.

Als er sein Lehen erreichte und in den Hausflur treten wollte, hörte er vom Hag her einen leisen Pfiff. Dort drüben stand der Eggebauer. Wolfrat spähte zuerst nach allen Seiten, dann lehnte er das Totenbrett an die Wand und ging zum Hag.

„Warst bei ihm?“ fragte der Eggebauer mit flüsternder Stimme.

Wolfrat nickte und starrte vor sich nieder.

„Was nottelst[2] denn allweil vor Dich hin? So red’ doch!“ stotterte der Bauer, dem die heillose Angst, die ihn erfüllte, aus jedem Blick und jeder Miene sprach.

„Reden! Was ist denn viel zu reden! Heut hater noch allweil nichts wissen können. Und ich selber hab’ geredet, wie’s ausgemacht war. Halt’ nur Du fest bei der Stang’, wenn die Frag’ einmal an Dich kommt!“

Der Eggebauer machte zwei Fäuste mit eingezogenen Daumen.

„Wie steht’s denn mit Deinem Weib?“ fragte Wolfrat. „Hast es ihr schon gegeben?“ Er meinte das Herzkreuzl des Steinbocks.

Der Eggebauer schüttelte trübselig den Kopf. „Das Weib treibt’s ärger mit jeder Stund’. Was Füß’ hat im Haus, Mensch und Hund und Katz’ . . . alles wird von dem Weib umeinander getrieben, daß einem der Schnaufer vergehen möcht’! Und wenn ihr der Wehdam ankomntt, nachher hält’s schon gar kein Mensch nimmer aus mit ihr. Und doch, und doch ... ich trau’ mich nicht, daß ich ihr’s gieb! Wenn das Weib gesunden thät’, sie könnt’ das Maulwerk nicht halten – und alles müßt’ aufkommen.“

Es zuckte seltsam in Wolfrats Zügen. „Und am End’ willst es ihr gar nimmer geben, aus lauter Angst, es könnt’ ihr helfen?“

Der Bauer nickte. „Und daß mich die Versuchung nicht ankommt, wenn mich das Weib g’rad wieder einmal plagt bis auf die Haut . . . drum hab’ ich das ganze Teufelszeug’ mitsammt dem Büchsl hinterm Haus vergraben!“

Jetzt lachte Wolfrat hell hinaus.

„Geh’, Du Narrenteufel, was hast denn?“ brummte der Eggebauer, dem gar nicht lustig zu Muth wurde bei diesem Gelächter. „Mir scheint, Du kommst aus der Wirthsstub’ . . . aber nicht vom Friedhof.“

„Aber geh, Bauer, so lach’ doch mit! Denn jetzt paßt alles zu einander . . . mein Kindl hat nichts davon haben sollen als wie den halben [332] Schilling für die ewige Liegerstatt und um fünf Heller Farb’ auf dem Brettl, und Dein Weib soll nichts haben davon, und es hätt’ auch nicht sein müssen ums Lehent! Nur grad, daß ich die rothen Händ’ davon hab’! Alles umsonst, alles, alles! Aber gelt ja, Bauer? Es wird halt so sein müssen! Warum? Da kannst lang drum fragen!“

„So red’ doch nicht daher wie ein Unsinniger! In meinem Kopf schaut es eh’ schon aus wie in einem Grillenhäusl.“

Da klang vom Hause her Zenzas scharfe Stimme: „Vater!“

„Ja, ja, ich komm’ schon!“ rief der Eggebauer zurück und wandte sich wieder zu Wolfrat. „Mir graust, weil ich nur wieder hinein muß ins Haus! Ich sag’ Dir’s, Polzer, mir graust vor einer jedweden Stund’! Und wenn eins anfangt, kommt gleich alles ubereinander. Ich mein’, ich hätt’ schon genug an dem Weib, und jetzt fangt das Mädel auch noch an und dreht den Daum’ auf, weint in einem fort oder schreit und haut alles kurz und klein, was ihr in die Händ’ kommt, als wär’ seit gestern eine Hex’ in sie hineingefahren. Ich sag’ Dir’s, Polzer, jedes Stückl Vieh in meinem Stall hat’s besser als ich, der Bauer. Umeinander steh’ ich wie eine Sulz, an der alles zittert, wenn einer mit dem Finger dran hinrührt. Mir schmeckt kein Bissen mehr und kein Trunk! Da schau her!“ Und der Eggebauer stieß die Faust hinter seinen ledernen Gurt. „Da schau her ... zwischen Gurt und Bauch fahrt mir schon bald ein Wagen durch! Polzer, Polzer! Es wird halt doch wahr sein ... man soll die Händ’ von allem lassen, was nicht richtig ist. Was hast davon? Nichts, nichts, nichts ... als daß Dir’s den Schlaf vertreibt und den Magen bäht!“

„Gelt? Kommst auch schon drauf?“

Und während Wolfrat lachte mit bleichen Lippen, kugelten dem Eggebauer zwei dicke Zähren über die schwammigen Backen. Der Bauer fuhr sich mit dem Aermel uber die Nase. „Was ist denn ... ist die Dirn’ schon wieder heimgekommen?“

„Ich weiß nicht.“

„Gelt ja, wenn Du was hörst, wie’s droben ausschaut, so komm’ und sag’ mir’s!“

Wolfrat nickte; dann gingen sie auseinander.

Als der Sudmann in seinem Haus die Stube betrat, sprang ihm Lippele jubelnd entgegen; der Bub’ hatte dem Vater eine große, große Neuigkeit zu melden: in der Scheune begännen zwei „wutzikleine Vogerln“ ihr Nest zu bauen.

„So, so?“ sagte Wolfrat und strich mit zitternder Hand über den Kopf seines Buben. „Nachher geh’ nur, Lippele, und schau ihnen zu und paß recht auf ... weißt, nachher kannst Dir auch einmal ein Nest bauen!“ Er schob den Knaben zur Thür hinaus.

Kaum war der Bub’ verschwunden, da richtete sich Sepha im Bette hastig auf. Alle Angst ihres Herzens zitterte in ihrer Stimme. „Polzer? Hat Dich schon einer drum angeredet?“

Er schüttelte den Kopf. „Es kann ja noch keiner drum wissen.“ Als wären ihm alle Glieder gebrochen, so schlaff ließ er sich auf den Rand des Bettes nieder. Sie faßten sich bei den Händen und sahen sich stumm in die Augen. Wolfrat ließ den Kopf auf die Brust sinken, und Sepha weinte leise vor sich hin.

Nach einer Weile fragte sie: „Wo liegt’s denn?“

„Bei der Mauer im Eck!“

Und wieder nach einer Weile: „Hast das Brettl mit heim gebracht?“

Er nickte.

„Geh’, laß mich’s doch anschauen!“

„Wozu denn? Schau, Seph’, was hast denn davon? Nur daß Dich kümmern mußt!“

„Ich möcht’s aber sehen! Mehr hab’ ich ja eh’ nimmer von ihm als wie das Brettl.“

Er ging und holte das Totenbrett. „Gelt, schön hat er’s gemacht?“

Sie wischte sich die Thränen aus den Augen, um besser sehen zu können. Schweigend hielt sie das Brettlein vor sich hin, um seinen Rand war ein Kränzlein gemalt, welches blühende Schneerosen vorstellen sollte; in der Mitte stand, blau und roth, der Name; und darunter ein schwarzes Kreuz. Mit brennenden Augen starrte Sepha die Zeichen all, die sie nicht lesen konnte, von denen sie nur wußte, was sie bedeuten sollten ... „Mariele! Mariele!“ Aufschluchzend bedeckte sie das Gesicht mit beiden Händen.

Abermals verging eine lange, stumme Weile. Dann fragte Wolfrat: „Wie nimmt’s denn der Bub’ auf? Hat er schon einmal gefragt nach ihr?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mein Gott. ... ein Kind! Ich glaube, er spürt’s gar nicht, daß eins fehlt im Haus.“

„Könnt’ eins doch allweil ein Kind bleiben! Da ist jeder Tag wie ein ganz’ Leben; nachher schlafst und fangst wieder ein neu’s an!“ Wolfrat erhob sich und stieß die Kammerthür auf, und als er den Raum leer fand, fuhr ihm ein Fluch über die Lippen.

„Polzer, Polzer!“ stammelte Seph’. „So sei doch froh, daß die Dirn’ noch allweil nicht daheim ist. Ich mein’, das wär’ ein gutes Zeichen! Sie wird ihn lebig gefunden haben. Polzer, Polzer! Wenn das wahr sein könnt’ wenn er davonkäm’! Wär’ das ein Glück!“ Schluchzend hob sie die Hände gegen den Himmel. „O du grundgütiger Herrgott, schau, nur grad das Einzige thu’ uns ...“

„Ja, ja, nur grad das Einzige thu’ uns!“ fiel Wolfrat mit heiserem Lachen ein. „Ja, schau doch, daß er wieder aufkommt, daß er herstehen kann vor mich und den Arm ausstrecken und sagen: ‚Der da war’s! Wär’ das ein Glück! Geh’, Seph’, geh’, brauchst Dich ja nimmer sorgen, es wird schon so kommen! Die Dirn’ wird schon helfen dazu . . . und wenn sie ihn lebig gefunden hat, wird sie ihn hascheln und bappeln und wird reden für ihn und wird’s halten mit ihm gegen uns!“

„Polzer! Wie kannst denn so von Deiner Schwester reden!“

„Schwester! Schwester!“ lachte Wolfrat zornig auf. „Ich hätt’ wohl gemeint, sie wär’ angewachsen an uns. Aber Blut ist Blut! Ja, ja ... sie will halt hoch hinaus! Hat sich aber doch vergriffen! Wenn er auch, gleich ein Federl auf der Kappen tragt und ein Schießzeug führt wie ein Herrischer ... er ist halt doch nur ein Knecht!“ Wieder lachte er. „Sie soll ihn haben! Und wenn sie drinsitzt in seiner Keuschen ... nachher sag’ ich ihr’s!“

Sepha schaute ihn mit großen Augen an; sie verstand nicht, was er redete. „Was, Polzer, was willst ihr sagen?“

Er wandte sich ab und that, als hätte er ihre Frage nicht gehört.

„Polzer?“

„Laß mich in Fried’ mit der Dirn’! Sie hat mein Brot gegessen ... und schickt mir zum Vergeltsgott den Freimann über den Hals!“

„Jefus!“ schrie Sepha auf, griff mit beiden Händen zum Herzen und fiel erblassend in die Kissen zurück.

Er stürzte erschrocken zu ihr. „Seph’, um Gottswillen, was hast denn?“

„Völlig ungut ist mir ’worden!“ sagte sie mit matter Stimme und umklammerte seine Hand.

„Schau, Seph’! thu’ mir’s zulieb, nimm mir doch grad die Sorg’ um Deinetwegen von der Seel’ ... schau, der Krank in Dir wird ja ärger mit jeder Stund’ ... schau, wenn Dich überwinden könnt’st und thät’st die Schweißbluh’ nehmen.“

„Und wenn’s um mein ewiges Leben wär’, Polzer .... ich thu’s nicht! Lieber soll’s mit mir ein End’ haben mit dem nächsten Schnaufer!“

Er athmete tief und erhob sich.

„Schau nach der Zeit, Polzer,“ sagte sie, „Du mußt ins Sudhaus. Und das Brettl mußt auch noch aufstellen.“

Er nahm das Totenbrett, suchte einen Hammer hervor und wollte die Stube verlassen. Unter der Thür wandte er sich wieder, löste einen hölzernen Pflock aus der Lehmwand und zog den Lederbeutel mit der Schweißbluh’ aus der Vertiefung hervor.

„Was willst denn damit?“ fragte Sepha ängstlich.

„Wegschaffen muß ich’s! Ich kann’s doch nicht in der Mauer drin faulen lassen.“

Nun ging er. Vor der Hausthür blieb er stehen. „Miez, Miez!“ rief er. Aus der Scheune kam eine graue Katze herbeigesprungen. Ihr warf er den Inhalt des Beutels vor. „Für die Katz’! Alles für die Katz’!“

Er stand und schaute dem Thiere zu, wie es gierig über die Brocken herfiel; aber je hastiger es fraß, je besser ihm das Gericht zu munden schien, desto finsterer wurden Wolfrats Blicke, desto mehr machte ihm ein heiß aufsteigender Zorn die Adern an den Schläfen schwellen. Und als die Katze das letzte Bröslein aus dem Sande leckte, schwang Wolfrat jählings den Hammer: „Sollst du allein was haben davon?“ Er warf den Hammer ...

[333]

Die Enthüllung des Radetzky-Denkmals in Wien.
Nach einer Zeichnung von T. Rybkowsky.

[334] klagend machte das getroffene Thier einen verzweifelten Sprung und lag verendet auf der Erde.

Da kam Lippele um die Ecke gesprungen. Hastig griff Wolfrat zu und verbarg die tote Katze unter seiner Jacke; er hätte sie gerne wieder lebendig gemacht; das Thier war seines Buben Liebling und Spielkamerad gewesen. Mit raschen Schritten ging er dem Hag zu und trat auf die Straße. Scheu blickte er sich um und warf die Katze in den vorbeirauschenden Seebach.

Dann schlug er neben der Zaunthür das Totenbrett seines Kindes, die bemalte Seite gegen die Straße gewendet, mit dem Hammer aufrecht in die Erde.[3] Es sollte jedem vorüberwandernden Menschen sagen: „Bet’ ein Vaterunser, hier ist der Tod gewesen und hat sich wieder auf den Weg gemacht nach einem anderen Haus ... bet’, bet’, vielleicht bist Du der nächste!“

Als Wolfrat den letzten Hammerschlag gethan hatte, ging Zenza auf der Straße vorüber. Sie sah weder den Sudmann noch das Brett, mit finsteren Augen schaute sie nur immer vor sich hin auf die Erde.

„Bet’, bet’,“ sagte das Totenbrett, „vielleicht bist Du die nächste!“

Wolfrat warf den Hammer über den Hag und wollte sich auf den Weg nach dem Sudhaus machen. Die Pfannen mußten vorgeheizt werden, wenn der Sud mit dem kommenden Werktag wieder in vollem Gang sein sollte. Da gewahrte er, daß er auf der Seite, auf welcher er die erschlagene Katze getragen hatte, von der Brust bis zum Knie mit Blut betropft war. „Mensch oder Katz’ ... es bleibt halt allweil was hängen an einem!“ murmelte er und stieg zum Ufer der Albe hinunter, um sich zu reinigen. Er schöpfte ein paar Hände voll Wasser, und die Flecken waren getilgt. „Ob’s wohl für das andere auch ein Wasser giebt?“

Als er wieder hinaufstieg zur Straße, hörte er Hufschlag. Er wollte dem Zug, der sich näherte, nicht begegnen und sprang hinter ein Gebüsch. Mit lautem Geplauder zogen sie vorüber: voran Herr Heinrich von Anzing, der Propst des Klosters, und Herr Schluttemann, beide zu Pferde; hinter ihnen Frater Severin zu Fuß, mit geschürzter Kutte, den Bergstock führend; an seiner Seite Walti mit vollgepfropftem Rucksack; dann noch vier Klosterknechte mit schwer beladenen Kraxen.

„Der Haymo wird Augen machen, wann er uns kommen sieht!“ sagte Frater Severin, als er an dem Gebüsch vorüberschritt, hinter welchem Wolfrat stand. „Ich freu’ mich schon auf ihn! Weißt, Bub’, ein Gärtner hat allweil die Sonne gern’ ... sie scheint so lieb und warm in Haymos Augen!“

„Möcht’ wissen, warum er gestern gefehlt hat beim Ostertanz!“ sagte Walti. „Ich hab’ ihm eine Botschaft sagen wollen und hab’ gewartet ...“

Das Rauschen der Albe verschlang die Worte des Weiterschreitenden. Wolfrat kam hinter dem Gebüsch hervor und blickte den Verschwindenden nach.

„Jetzt hebt sich der Hammer auf über der Katz’!“ murmelte er und griff mit beiden Händen nach seinem Kopf.




13.

Herr Heinrich von Inzing fuhr zu Berge, um den falzenden Auerhahn zu jagen. Er hatte das Kleid des Priesters gegen ein ritterliches Jagdgewand vertauscht, trug um die Hüfte das Weidgehenk und die Armbrust auf dem Rücken. In gleicher Weise war Herr Schluttemann bewaffnet; aus seinen rollenden Augen aber blickte kein Schimmer froher Jägerlaune; Frau Cäcilia, die ihn nothgezwungen für eine Woche aus ihrem Zaum entlassen mußte, hatte ihm einen Abschied bereitet, der auf eine für acht Tage voll ausreichende Wirkung bemessen war.

Eine Probe dieser Wirkung bekamen an der Seelände die beiden Fischknechte zu spüren, welche mit einem weitbauchig gezimmerten Kahn auf den Propst und sein Gefolge warteten. Sie hatten nach der Meinung des Vogtes den Boden des Schiffes nicht genügend gesäubert, Und so fuhr unter Herrn Schluttemanns Schnauzbart hervor ein Donnerwetter auf sie nieder, daß sie die Köpfe duckten wie Hirschkälber, wenn ihnen der erste Schnee auf die „Luser“ fällt.

Walti und die vier Knechte wurden beordert, den Weg nach der Röth’ über die Almen zu nehmen. Frater Severin wollte sich ihnen anschließen. „Die Leut’ tragen kostbare Sachen auf dem Buckel,“ meinte er, „es muß einer dabei sein, der ein Aug’ auf sie hat!“

„Nein, Bruder, komm’ nur mit uns!“ lächelte Herr Heinrich. „Die Leute gehen zu langsam für Dich. Du mußt wacker ausschreiten, damit Du Fett verlierst, sonst fällt Dir im Garten das Bücken schwer!

Frater Severin seufzte und ergab sich in sein schweißtreibendes Schicksal. Das Boot stieß in den See, dessen schimmernden Spiegel kein Lufthauch trübte. Die Tropfen, welche von den plätschernden Rudern fielen, glitzerten in der Sonne wie Edelsteine; alle Berge waren von Duft umwoben; über die grauen, hochgethürmten Felswände und durch den immergrünen Bergwald zogen sich die schäumenden Sturzbäche hernieder gleich silbernen Adern.

„Sagt, Herr Vogt,“ und mit genießenden Augen blickte Herr Heinrich umher, „wo in der Welt steht ein Kloster, dessen Fürst sich eines Münsters rühmen kann, wie ich es besitze: die Säulen und Wände für die Ewigkeit gebaut, die Fliesen ein einziger Smaragd, und als Dach der Himmel mit Gottes leuchtendem Auge!“

Herr Schluttemann ließ ein Gebrumm vernehmen, welches seine Zustimmung kundgeben sollte. Im Hintertheil des Schiffes aber seufzte Frater Severin. „Gottes Auge hat einen heißen Blick ... ‚Gottes Güte‘ wäre kühler.“ Er tauchte die Hand in das kalte Wasser und benetzte seine Stirne.

Die Fischknechte wollten die Richtung mitten durch den See nach der Fischunkel[4] halten, von welcher aus der kürzeste Weg in die Röth^ emporführte. Herr Heinrich aber befahl ihnen: „Zur Seeklause, wir nehmen den Aufstieg von dort!“

„Reverendissime,“ wandte Herr Schluttemann ein, „das ist aber ein teuflischer Umweg!“

„Den Umweg kenn’ ich, doch ist mir der Teufel noch nie auf ihm begegnet!“ Lächelnd blickte Herr Heinrich zu Frater Severin zurück. „Wir gehen den minder steilen Weg ... Dir zu liebe. Du sollst sänftiglich vom Fleische fallen.“

Seufzend legte der Frater die Hände über sein Bäuchlein.

Knirschend fuhr das Boot in sandig verlaufendes Ufer, welches durchbrochen war vom Bett eines schäumenden Baches. Herr Heinrich, der Vogt und Frater Severin gingen ans Land, und die Fischknechte stießen den Kahn in den See zurück, um die Heimfahrt anzutreten.

„Steiget nur immer voran und wartet meiner auf der Höhe,“ sagte Herr Heinrich.

Der Vogt und Frater Severin überschritten auf schwankendem Stege den Wildbach und verschwanden auf dem jenseitigen Ufer im sanft ansteigenden Bergwald. Herr Heinrich ging den Wildbach entlang, bis er eine aus Steinen erbaute, an eine hohe Felswand angelehnte Klause erreichte. Er öffnete die Thür, aber die Klause war leer.

„Dietwald!“ rief er mit lauter Stimme; doch niemand zeigte sich. „Sollte er hinausgefahren sein zum Fischfang?“ Doch nein, der Einbaum lag ja an das Ufer gezogen. Herr Heinrich folgte einem schmalen Fußpfad. Immer dichter trat die ragende Felswand an den Wildbach heran, von der anderen Seite näherte sich der Bergwald, so daß eine enge Schlucht gebildet wurde, auf deren Grund die schäumenden Wasser in tief zerrissenem Bett mit ohrbetäubendem Lärm hinwegrauschten über mächtige Steinklötze und zerschmetterte Baumstämme. Wo die Schlucht ein Ende nahm, stürzte der Bach aus schwindelnder Höhe hernieder in ein von siedendem Schaum erfülltes Becken, welches der in die Luft zersprühende Wasserstaub, von einem verlorenen Sonnenstrahl durchleuchtet, mit buntfarbigem Schimmer überwob. Neben dem Wasserfall zeigte sich an der Felswand der Eingang einer Höhle, vor welcher ein hohes steinernes Kreuz errichtet war, schon grau verwittert und halb überzogen von gelblichem Moos.

Dem Kreuz zu Füßen, auf einem Felsblock, saß Pater Desertus, der Fischmeister des Klosters. Er hielt den einen Arm auf das Knie gestützt und das Haupt auf die Hand geneigt; mit der anderen Hand nahm er von dem dürren Astwerk, das der Wildbach an das Ufer geschwemmt hatte, immer wieder einen Zweig und warf ihn zurück in das wirbelnde Wasser; mit starren Augen, verloren in Gedanken, schaute er zu, wie der Strudel den Zweig verschlang, wie ihn die Wellen mit sich [335] fortrissen. Dann nickte er finster vor sich hin ... und warf einen anderen Zweig.

Er hörte vor dem Rauschen des Wassers die nahenden Schritte nicht und blickte betroffen auf, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. „Herr Heinrich!“ Grüßend neigte er das Haupt und erhob sich.

„Was treibst Du hier?“ fragte lächelnd der Propst.

„Das Spiel meiner Tage.“

Herr Heinrich betrachtete den Pater mit ernsten Augen und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: „Komm, laß uns zur Klause gehen, hier hört man ja kaum den Klang des eigenen Wortes.“ Er wanderte den Pfad zurück und Pater Desertus folgte. Vor der Klause ließen sie sich auf die Steinbank nieder. Warm schien die Sonne über ihnen; das gemilderte Rauschen des Wildbachs tönte wie Musik, draußen lag der glatte See, wie grüne Seide schimmernd, und über die steilen Wände, die ihn umzogen, hoben der Watzmann und die sieben Watzmannkinder ihre weißen Zinken in das reine Blau des Himmels.

„Ein schönes Plätzchen!“ sagte Herr Heinrich. „Hier bist Du wohl gerne?“

„Ja, denn ich lebe und störe doch die Freude keines anderen Menschen. Aber sagt, was führt Euch zu mir?“

„Muß ich nicht zu Dir kommen, da Du mich zu meiden scheinst?“

„Ich thu’ es um Euretwillen. Mein Blick verjagt das Lächeln und Ihr lächelt gerne.“

„Ja, Dietwald, seit ich erkennen lernte, daß Weinen zwecklos ist. Doch lassen wir das. Ich bringe Dir einen Gruß!“

Langsam hob Pater Desertus das Haupt. „So lebt noch ein Meusch, der Ursache hätte, meiner zu denken?“

„Der Kaiser!“

Ueber das bleiche Antlitz des Paters flog eine heiße Röthe, und es zuckte durch seine Glieder, als stünde ein Roß vor ihm, das es zu besteigen gälte, als hinge ein Schwert in der Luft, das er fassen müßte. Doch rasch ging diese Regung vorüber; er legte die Hand auf das Kreuz an seiner Brust und sagte mit versinkender Stimme: „Ich danke für den Gruß ... grüßet Herrn Ludwig wieder!“

„Er hat mir einen Brief geschrieben, ach, von Sorgen schwer! Der Papst setzt ihm bitter zu und schürt ihm Zwietracht an allen Ecken und Enden. Hätt’ unser Herr Kriegsmannen so viel wie Sorgen, er hätt’ ein Heer, wie es kein Kaiser noch gesammelt! Und sieh, Dietwald, in allen Sorgen denkt er Dein und läßt Dich grüßen und fragt nach Deinem Wohlergehen und hofft, daß Dein Kummer sich gemildert hätte. Er hat Dir den Tag von Ampfing nicht vergessen! Du hast ihm sein Reich erfechten helfen!“

„Und habe um jenes Tages willen mein eigen Reich verloren!“ brach es in wildem Schmerze von des Paters Lippen. „All meiner Güter bestes! Allen Werth und alle Sonne meines jungen Lebens, all mein Glück, all meine Seligkeit!“

„Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich mit ernstem Worte, „darf ein Priester so sprechen?“

Pater Desertus hörte nicht; es loderte aus ihm hervor wie entfesseltes Feuer.

„Ach, wie war ich so stolz an jenem Tag, als ich vor Ludwig stand, ein Sieger unter Siegern, mit stumpfgeschlagenem Schwert, der Glanz meiner Rüstung erloschen im Blut der Feinde! Wie ein Falk flog meine Seele, und mein Herz wie eine sehnende Taube nach ihrem Nest ... heimwärts, heimwärts! Neun Tage noch hält mich die Pflicht, und jetzt ... jetzt geht es nach Hause, wie im Sturm, Tag und Nacht im Sattel. Das Roß bricht unter mir ... schon im Sturze greif’ ich nach einem anderen! Heim, heim, zu Weib und Kind! So hell und freudig hat mein Schlachtruf nie geklungen wie dieser Jubelschrei meines Herzens. Bei grauendem Morgen erreich’ ich den Bannwald meiner Burg. Jeder Baum, der an mir vorüberfliegt, ist mir ein Weiser zu meinem Glück! Nun ist ja Friede, nun darf ich ruhen ... ich sehe schon die heimliche Stube mit dem sonnigen Erker, ich sehe mich sitzen, mir zur Seite mein junges, holdseliges Weib, das von dunklem Gelock umfluthete Köpfchen an meine Schulter lehnend, zu mir aufblickend mit leuchtenden Augen ... und hier, auf meinem Knie, da schaukelt mein Knabe, macht große Augen und lauscht, denn ich erzähle vom Kaiser, von Fehde und Sieg ... und in der Wiege schlummert mein süßes Mägdlein und träumt in sein werdendes Leben hinein wie eine Knospe in den sonnigen Tag! Heim, heim, heim! Dort ist schon die Höhe im Wald, von der ich den Giebel meiner Burg erblicken muß. Jetzt hab’ ich sie erreicht ... ich spähe, spähe und spähe ... und sehe nichts! Hat sich mein Haus verrückt? Hat sich der Wald verwachsen? Ein zitterndes Ahnen befällt mich, ich peitsche mein Roß, ich reite, reite, reite ... dort ist der Saum des Waldes ... jetzt hab’ ich ihn! Ich hebe mich auf im Sattel ... mein Blick fliegt über das Thal ... und ich sehe ... sehe ...“

Schaudernd schlug er die Hände vor das Antlitz, und seine Stimme erlosch in dumpfem Stöhnen.

„Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich tiefbewegt, „kannst Du Deinem Herzen nicht gebieten, so gebiete Deiner Zunge. Sie soll nicht nennen, was hinter Dir liegt, seit Du den Scheitel beugtest, um Gottes Knecht zu werden.“

Pater Desertus hörte nicht. Er ließ die Arme sinken und starrte mit brennenden Augen ins Leere. Und dann, als stünde geisterhaft ein Bild vor ihm, deutete er vor sich hin. „Das? Das ist mein Glück? Ein Haufen Trümmer, glühende Steine und rauchendes Gebälk? Das war mein Haus? Ja, ja ... es steht das Thor noch mit dem Wappen darüber: der weiße Islandfalk im blauen Feld! Und das? Sind das die Tauben, die im Thurm genistet? Tauben, die wie Raben krächzen, wie hungernde Geier schreien? Sie wittern das Futter schon ... wie die Aepfel um den Baum, so liegen die Leichen ... der dort mit dem grauen Kopf und der gespaltenen Stirn, das ist Reinold, mein Pförtner! Er hat immer gern geschlafen! So wach’ doch auf, Alter! Rede doch! Wo ist mein Weib, wo sind meine Kinder? Soll ich Dir eine Handvoll Asche zeigen? Sieh doch her! Ist das mein süßes Weib? Oder das? Und hier, der verkohlte Knochen? Das ist wohl mein schöner Knabe? Oder gar Dein Hund? Und dort, sieh’ nur, im Schutt, dort glimmt es noch! Das ist die Wiege? Ja?“

„Dietwald! Erwache!“ rief Herr Heinrich und rüttelte ihn am Arm.

Er schaute auf mit verlorenem Blick. „Erwache! ... das war das erste Wort, das ich hörte! ... Einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag ... wie ein Bergmann nach Gold, so wühlte ich nach verkohlten Gebeinen ... und schrie nur immer: wer hat mir das gethan? Ich hatte doch keinen Nachbar, der mir grollte, ich hatte keinen Feind! In meinem Jammer wußt’ ich keinen Weg ... die Augen blind vom Weinen, bin ich gegangen und gegangen ... und an der Pforte des Klosters fiel ich nieder. Sie trugen mich in eine Zelle und riefen: ‚Erwache! Erwache!‘ Und ich blieb ... und ließ geschehen, was geschah!“

„Mit Schmerzen, Dietwald, hab’ ich es lang’ erkennen müssen: es war für Dich der rechte Weg nicht! Hättest Du doch Trost gesucht in Kampf und That, auf dem Schlachtfeld ... nicht in der Zelle!“

„Ich hoffte, ihn zu finden! Durch Tage und Nächte, Wochen und Jahre lag ich in brünstigem Gebet und schrie zu Gott aus tiefster Seele: laß mich vergessen! ... Ich schlug mit der Geißel meinen Rücken blutig, um durch die Schmerzen meines Leibes die Qual des Herzeus zu betäuben – – es half nicht, half nicht! Ich konnte nicht vergessen, konnte nicht hoffen! Wenn ich kämpfte um das Heil meiner Seele, so träumte ich den Kuß meines Weibes ... wenn ich den Himmel suchte, fand ich ihn in meiner Kinder Augen, die mir entgegenblickten aus der Luft meiner Zelle, aus jedem Blatt des heiligen Buches, aus jedem Bildwerk in der Kirche, aus jedem Abbild des Erlösers!“

„Und fandest Du nicht Trost bei Deinen Brüdern von denen mancher eine Welt von Schmerzen überwand, da er sich Gott ergab?“

„Meine Brüder? Sagt Ihr das im Ernste, Herr Heinrich? Ich meine doch, Ihr kennet Eure Chorherren!“

„Verdamme die Schwachen nicht! Kleine Seelen haben kleine Wünsche. Sieh diesen Berg an – es treibt das edle Wild nach seiner Höhe – die zufriedenen Hasen nisten hier unten im niederen Gebüsch. Und sie beide sind doch Geschöpfe aus eines Schöpfers Hand!“

„Meine Brüder? Hätt’ ich unter ihnen nur einen gefunden, der gewesen wäre, wie Ihr seid! Meine Brüder! Sie freuten sich der Wälder und Felder, die ich dem Kloster brachte ... und hatten für mich nur Worte: Gott hat es gegeben, Gott hat es genommen! Gott! Gott! Gott!“

[336] „Wie sprichst Du dieses Wort! Dietwald!“ Und Herr Heinrich erhob sich. „Du glaubst nicht an Gott – ein Priester!“

Mit tiefernsten Augen schaute Pater Desertus zu ihm auf. „Ich glaube an Gott! Wer hätte diesen Stein zu meinen Füßen erschaffen ... wenn er nicht? Wer hätte diese ewigen Felsen erbaut und über schwindelnd tiefe Gründe diesen schönen See ergossen ... wenn er nicht? Wer die Luft bevölkert, das Wasser und den Wald ... wenn er nicht? Wer hätte diesem Baum die nährende Wurzel gegeben, die treibende Kraft des Markes und den Wohlverstand, mit dem er seine Zweige nach der Sonne breitet ... wenn er nicht? Aus wessen Hand wohl wäre der Liebreiz geflossen, der mein Weib umschimmerte ... die süße Unschuld in den Augen meiner Kinder ... wenn nicht aus seiner Hand? Wer hätte mich selbst erschaffen und mein Herz erfüllt mit jauchzender Freude und seligem Glück ... wenn er es nicht gethan? Doch wer vernichtete mein Glück? Wer riß mir die Freude aus dem Herzen und füllte meine Brust mit Qual und Pein? Wer ließ mein Weib verbrennen und meiner Kinder holdes Leben erlöschen in Gluth und Rauch? Wer schickt den Blitzstrahl über diesen Baum, wer in sein Mark die Fäulniß? Wer schlägt mit Schmerzen und Tod alles, was athmet in Wasser, Luft und Wald? Wer stürzt die Felsen vernichtend über Thal und Hütten, und wer empört den See, daß er die Ufer überschäumt und alles ringsumher verwüstet, was doch nur Werk ist aus Gottes eigener Hand? Wer? Wer? Wer? ... Und warum?“

In Herrn Heinrichs Augen leuchtete ein herzlicher Blick. „Wer thäte das alles ... wenn er nicht? Aber ... warum? Ja, mein Sohn, da bin ich überfragt!“ Lächelnd legte er die Hand auf des Paters Schulter. „Sieh, Dietwald ... ich könnte sagen: was Uebles kommt, ist eine Strafe oder eine Prüfung. Aber das sag’ ich nicht ... zu Dir nicht! Gott prüft nicht ... er weiß doch, wie schwach die Menschen sind! Und wer wie Gott so groß ist in der Liebe, ist im Zorne nicht so klein – so kleinlich, wie Du bist mit Deinem thörichten Warum! Ja, ja, Dietwald!“ Er setzte sich an des Paters Seite und faßte seine Hand. „Du Kind von zweiundvierzig Jahren! Im Schmerze kannst Du fragen: warum?“

„Herr Heinrich!“ stammelte Pater Desertus.

„Hast Du aber auch gefragt in der Freude, im Glück? Gelt, da hast Du genommen und genossen! Da war Dir um den Grund nicht bange, warum Dir gegeben wurde. Das Gute leuchtet Dir ein, da glaubst Du an Gott ... nur im Schmerze willst Du nicht fassen und begreifen und Gott nicht finden. Das ist nun freilich schwer, und noch keiner, der lebte, hat es ganz zuwege gebracht. Sogar Christus der Herr hat am Kreuze gefragt: ‚Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‘ Das sprach der Mensch in ihm! Sag’ mir, Dietwald wäre er denn Gott, wenn wir Menschen ihn so leicht verstünden? Und wenn Du fragst. warum? ... weißt Du denn auch, ob er nicht Antwort giebt? Er spricht vielleicht zu Dir im Wehen dieser Frühlingsluft, im Rauschen dieser Wellen. Nur ist Dein Ohr zu klein für alle Größe seiner Stimme!“

„Nein, nein, ich hör’ ihn!“ flüsterte Pater Desertus.

„Nicht wahr, Du hörst den Donner der Lawine, wenn Du über die Berge steigst im Frühling, Du weißt, weshalb sie fallen muß, und stumm bewundernd stehst Du vor dem herrlichen Schauspiel der Gottnatur, erhoben in Deinem Herzen. Hört ihren Donner aber auch die Fliege, die in einer Ritze der Felswand klebt? Nein, ihre Sinne sind zu kurz ... sie klebt ... und wird verschüttet und erstickt. Soll sie auch fragen. warum? Soll der Lauf der Zeiten slch Halt gebieten, soll ewiger Schnee die Halden drücken und keine Blume keimen lassen, nur damit die Fliege nicht gekränkt wird? Nicht wahr, das geht nicht an ... Du liebst ja die Blumen, Du sagst mit Deinem Verstande: der Schnee muß fallen. Die Fliege aber will es nicht begreifen! Von der Fliege zu Dir ist ein weiter, weiter Weg, doch nimm ihn millionenfach, und Du füllst die Strecke nicht aus von Dir zu ihm! In schwindelnder Höhe geht er seinen Weg, ein Schritt, und er ist über alle Berge, ein Schritt, und Meere liegen hinter ihm ... und jeder Schritt bringt Werden und Vergehen. Er kennt den Urgrund aller Dinge, er sieht das Ziel vor Augen, er denkt der Blumen seiner Ewigkeit ... doch wir, tief unter ihm, wir, Dietwald, sind die Fliegen unter der Lawine.“

Pater Desertus schlang die Arme um Herrn Heinrichs Hals und drückte das Gesicht an seine Brust.

„Ja, ruh’ Dich aus ... Du bist müde vom Leben. Und wenn Dir die Kräfte wieder kommen, dann beginne neu den Weg und blicke auf zu ihm! Du siehst ja von seinem Antlitz einen Zug auf jeden Fels geschrieben, ein Abglanz seiner Augen leuchtet Dich an aus jeder schimmernden Welle im See, und einen Hauch seines Athems hörst Du im Rauschen des Waldes. Und da Du, ein Mensch, ihn nun einmal nicht fassen kannst in seiner Größe, so halt’ ihn fest in seiner Liebe. Ich meine doch, Du hättest sie empfunden. Und was Du besessen ... hast Du es denn wirklich verloren? Nur weil Du es nimmer halten kannst mit Händen? Blicke doch in die Tiefe Deines Herzens! Liegt dort nicht alles, was an Glück und Wonne Dein eigen war, rein und heilig behütet, ein köstlicher Reichthum an dauerndem Erinnern! Dietwald! Dietwald! Du willst klagen? Weißt Du denn auch, um wieviel reicher Du bist als ich?“

Pater Desertus hob mit fragendem Blick die Augen.

„Alle holde Freude des Lebens hast Du genossen, bis Dein Glück sich wandelte in einen Schmerz wie ein schöner Frühlingstag in eine Nacht mit kaltem Reif. Mein Leben aber war ein Leidensgang von Schritt zu Schritt, eine reine Freude hat mir nie geblüht, und jede Frucht, nach der ich griff, trug den Wurm oder die Fäulniß in ihrem Kerne. Ich habe mehr gelitten als Du, da ich nur Schmerzen gewann, ohne Freuden zu verlieren. Ich hatte einen Bruder, der mich haßte, weil ich der Aeltere war; hatte eine Mutter, die nur ihren Tand und ihre Falken liebte; hatte einen Vater, der mich verstieß, weil ich nicht schmeicheln konnte; das Weib, das mich ohne Liebe nahm, brach mir die Treue; mein Freund, der einzige, an den ich glaubte, war ihr Verführer; ich diente redlich meinem Fürsten, wurde des Verraths beschuldigt und in Ketten geworfen. Aus dem Kerker floh ich ins Kloster. Ich haßte die Menschen ... und konnte Gott nur fürchten. Nicht mit Inbrunst ... in Zittern hab’ ich gebetet unb den Grimm meines Herzens zu ertöten gesucht in schwerer Büßung. Doch Haß und Furcht hingen fest an mir! Wenn ich aus dem Kloster niederstieg ins Thal, sah ich die Noth nur und der Menschen Pein; wenn ich emporstieg auf die Berge, sah ich nur die Schrecken der Natur, Verwüstung und Zerstorung – den Gott in seinem Grimme! Mit schaudernder Seele floh ich wieder heim in meine Zelle, sang und betete und schwang die Geißel.“

„Und wie kam Euch die Erlosung?“

„Es war an einem Tage spät im Herbst. Ich lag auf meinem Bett, entkräftet, blutend aus den Wunden, welche die Geißel gerissen, die brennenden Augen auf die kahle Wand geheftet. Die häßlichen Bilder meines kalten, nutzlosen Lebens zogen vor meinem taumelnden Geist vorüber, und jeder Gedanke war ein Schrei zu Gott: töte mich, töte mich, weshalb noch soll ich leben! Da sah ich an der Mauer einen Falter hängen; er hielt die Flügel geschlossen und rührte sich nicht. Ich griff nach ihm, und er ließ sich fassen. Seine Füße waren starr, die Schwingen gelähmt ... er war erfroren in meiner kalten Zelle. ‚Dein Schicksal ist das meine!‘ sagte ich und ließ ihn zu Boden fallen. Da stieg die Sonne über die Berge, und durch das offene Fenster meiner Zelle fiel ein warmer goldiger Strahl gerade auf die Stelle hin, auf welcher der Falter lag. Es währte nicht lange, da begann er, auf der Seite liegend, die Füßchen zu rühren. So zappelte er ein Weilchen, aber es gelang ihm nicht, sich aufzurichten. Ich hielt ihm den Griff meiner Geißel hill, er klammerte sich an das Holz und stellte die Schwingen auf; lange saß er ruhig, dann plötzlich legte er die Flügel auseinander, schloß sie wieder, kroch vom Holz der Geißel auf die Erde, und weiter und weiter, immer der Sonne nach, und an der Mauer empor auf das Gesims des Fensters. Hier saß er noch ein Weilchen, als müßte er rasten ... und immer spielte er mit den Schwingen ... und dann mit einmal begann er zu flattern, erst schwer und mühsam – doch immer leichter wurde sein Flug, und so schwebte er hinaus zum Fenster und gaukelte in den blauen Himmel.“

(Fortsetzung folgt.)




[337]


Ems und das Lahnthal.
Von Hans Wachenhusen.
Mit Zeichnungen von O. Günther-Naumburg.

Zwischen laubgrünen, villenbesäten Abhängen, eingeengt durch die bis an die Ufer der Lahn sich senkenden Felshöhen der Bäderlei und des Winterberges, zieht sich lang und schmal, den sanften Krümmungen des Flusses folgend, eins der reizendsten Thäler Westdeutschlands dahin. Blankes Silber bergen die Hügel, drüber aber strahlt die goldne Sonne, und sie ruft alle diejenigen herbei, die in dem unruhigen Getriebe der Geschäftswelt, im staubigen Dunstkreis der großen Städte, im Lüsterqualm des ermüdenden Gesellschaftslebens ihre Athmungswerkzeuge geschädigt haben und hilfsbedürftig nach den wunderthätigen Quellen schmachten - nicht zu sprechen von denen, die in dem schönen Lahnthal eben nur die sommerliche Erfrischung suchen.

Die Rheinbahn, die großen Dampfer schiffen die Mehrzahl der Reisenden in Oberlahnstein aus, um sie angesichts der prachtvollen Burg Stolzenfels und des Schlosses Lahneck der Lahnbahn zu übergeben. Diese führt sie durch das romantische Flußthal mit seinen Kapellen, Schlössern und Kirchen, seinen Hüttenwerken, vorüber an dem Dorfe Frücht, der Ruhestätte des Ministers von Stein, schließlich einen Blick gewährend auf die Bäderlei, den Konkordienthurm, den von einem Pavillon gekrönten Malberg, durch das Dorf Ems; und von der herrlichen Thalluft erquickt, erreicht der Reisende den Bahnhof, die mit Gästen gefüllten Promenaden, die über die Lahn führende Brücke, das Herz von Ems: die eigentliche von großen Gast- und Badehäusern bezeichnete Quellenstätte, das Kurhaus, den Kursaal mit seiner Kolonnade und seinem durch die enge Thallage zwischen Straße und Lahnufer allerdings im Vergleich zu Homburg und Wiesbaden sehr beschränkten Kurgarten.

Ems ist alt, und wie dies bei fast allen bemerkenswerthen Ortschaften des Taunus der Fall ist, erzählt seine Geschichte und nicht weniger der Pfahlgraben wie das Auffinden von alten Grundmauern und Badeleitungen, daß die Römer in ihrer Liebhaberei für warme Quellen sich auch diese schon zu Nutze gemacht haben; und wenn auch die schriftliche Ueberlieferung der Alten jede Mittheilung über eine römische Niederlassung vermissen läßt, so dürfte Tacitus in seinen „Annalen“, in welchen er berichtet, daß Curtius Rufus im Lande der Mattiaker nach Silber habe graben lassen, doch diese Gegend des Lahnkreises gemeint haben.

Eine sprungweise Erwähnung geschichtlicher Daten gestattet hier eben nur die Andeutung, daß urkundlich von den Emser Silberwerken zuerst im Jahre 1158 die Rede ist, um welche Zeit Kaiser Friedrich I. deren Ausbeutung einem Bischof von Trier übergab. Der warmen Bäder geschieht erst in einer Urkunde des Erzbischofs Wilhelm von Köln 1355 Erwähnung, danach 1383 eines „Thurms auf dem Bade“, dessen Reste man noch jetzt in den Fundamenten im Kurhof erkennen will. In welchem anspruchslosen Zustand sich die damaligen Badeeinrichtungen befunden haben, geht aus einer Urkunde der Grafen von Katzenelnbogen und Nassau vom Jahre 1438 hervor, in der es sich nur um einige Baderäumlichkeiten handelte. Im Jahre 1583 errichtete Landgraf Wilhelm von Hessen ein Bade- und Wohnhaus, das wahrscheinlich den Mittelbau des heutigen Kurhauses bildet, damals aber nur zu eigner fürstlicher Bequemlichkeit und der von hohen Gästen diente. Von da ab scheint sich um die „Heilquellen“ von Ems eine vornehmere Gesellschaft gesammelt zu haben, die bei dem Mangel an Unterkunft in Zelten wohnte und in diesen ein vergnügtes, zu mancherlei Badescherzen geneigtes Leben geführt haben mag.

Erst im 17. und 18. Jahrhundert ward den Badeanstalten größere Sorgfalt gewidmet, Häuser wurdest errichtet, das Kurhaus wurde ausgebaut, ein großer Gesellschaftssaal hergestellt; und je mehr sich der Ruf der Quellen verbreitete und festigte, desto mehr wuchs sich Ems zur Stadt aus. Die Anlage der jetzigen Bäder wurde jedoch erst im Jahre 1811 begonnen und seitdem ausgestalte; Altes und Unmodernes wurde abgebrochen, die Eisenbahn entstand und um den Bahnhof am linken Ufer, am „Spieß“, ein ganz neues Bauviertel; vier eiserne Brücken wurden hergestellt, und so ward Ems eins der modernsten und schönsten Badestädtchen. Kaiser und Könige sah es als seine alljährlichen Gäste, Kaiser Wilhelm I., den Kaiser von Rußland, viele andere Fürstlichkeiten, Touristen aller Welttheile, mit einem Wort: eine Gesellschaft, wie sie so glänzend kaum ein anderer Kurort beherbergte. Zur Geschichte der Stadt, die sonst nicht viel Merkwürdiges aufzuweisen hat, bildet bis jetzt den Schlußstein jenes schroffe Auftreten des französischen Botschafters Benedetti gegen König Wilhelm bei Gelegenheit der spanischen Kronkandidatur des Prinzen von Hohenzollern. Eine Steinplatte im Kurgarten verewigt das Andenken an jene bedeutungsvollen Ereignisse, deren zum Theil legendenhafte Züge freilich vor der aktenmäßigen Geschichte nicht alle Stand halten konnten. Ein [338] Denkstein ist aber diese Platte jedenfalls für eine, die ich hier vor Jahren in kaltem Frühlingswetter, in grauem Mantel, Hut und Schleier, gebückt, den Stab in der einen, das Brunnenglas in der anderen Hand, des Morgens einsam, einen Gegenstand der Neugier, wandeln sah – für Eugenie, die ehemalige graziöse Kaiserin von Frankreich. Denn sie war es bekanntlich, die im frivolsten Uebermuth ihre „petite guerre“, ihr „Kriegchen^, haben wollte, die den kranken Napoleon III. zur Kriegserklärung, sich selbst und ihn in die Verbannung trieb. Wie das Thränenkrüglein der Witwe erschien mir damals das Brunnenglas der Vereinsamten, um Thron und Sohn Trauernden! Ich hatte sie auf der Höhe ihres Glanzes in Paris so unzählige Male als mächtige Beherrscherin der Mode im Bois de Boulogne, dann bei der Einweihung des Suezkanals neben dem Khedive kokett auf einem Eselein daherziehen sehen, hatte sie in Schwalbach beobachtet, wie sie leicht geschürzt mit großem Stocke über die waldigen Höhen tänzelte – und gerade hierher, nach Ems, hatte sie wandern müssen, um Frist für ein mit Reue heladenes Dasein zu suchen!

Jetzt wird übrigens Ems auch sein stattliches Kaiser-Wilhelm-Denkmal erhalten, zu dessen Aufschrift Ernst von Wildenbruch das schöne Distichon verfaßt hat:

„Hier, wo Du oft von Thaten geruht, um zu Thaten zu schreiten,
Hält das dankbare Ems liebend für immer Dich fest.“

Straße am Kursaal.

Eine andere stadtgeschichtliche, aber nicht ganz erfreuliche Zeit begann für Ems, als aus den Erdgeschossen des Palais Royal in Paris 1839 die Spielhalter vertrieben wurden, die darauf nach Deutschland zogen und sich in den rheinischen Bädern ein Privilegium für die Errichtung öffentlicher Spielbanken zu verschaffen wußten. Baden-Baden, Homburg, Wiesbaden, Nauheim, Ems übten durch ihre Spieltische bedeutende Anziehungskraft aus, aber ihr Fremdenpublikum gewann dadurch nicht an sittlichem Werthe. In Menge zogen die Waghalsigen, die Gewinnsüchtigen, Hochstapler, Abenteurer herbei, von Paris kamen die „Damen von Breda“ mit ihrem sauberen Gefolge; Benazet, der Spielpächter von Baden-Baden, verstand gerade diese Gesellschaft zu ködern, er hielt die französische Boulevardpresse förmlich in seinem Solde. Die Berichterstatter der einflußreichsten Boulevardblätter waren seine Gäste; er stellte ihnen Equipagen zu Diensten und legte ihnen zum beliebigen Spielverbrauch Tausend -Francs-Röllchen auf ihren Nachttisch. Blanc in Homburg verstand das Geschäft nicht minder – er hat sich bekanntlich als Rückzugspunkt Monte-Carlo gesichert, als die öffentliche Meinung sich immer stürmischer gegen die rheinischen Spielhöllen erhob. Wiesbaden und Ems hatten eine gemeinsame Spielgesellschaft, was seine besonderen Vortheile bot; denn wenn in Ems ein Glücklicher mit einem Gewinn davonging, fiel er in Wiesbaden hinein, oder umgekehrt. Selbst die sogenannte bessere und beste Gesellschaft der Kursaison pflegte sich gern und mit einer erstaunlichen Vorurtheilslosigkeit gegen des Nachbars Ellenbogen an den Spieltischen zu sammeln. Millionen waren es, welche die Banken alljährlich einheimsten; unberechenbar aber war das Elend, das sie in den Familien anrichteten, bis endlich im Jahre 1866 ein preußischer Lieutenant an der Spitze eines Zuges von Landwehrleuten erschien und im Namen des Gesetzes des Eroberers die Spielbank für geschlossen erklärte.

Augusta- und Viktoria-Quelle.

Kursaal

In Rücksicht auf die mannigfachen äußeren Vortheile, durch welche die betreffenden Kurorte mit den Banken verknüpft waren, gestattete Preußen in den annektierten Ländern allerdings noch die Fortsetzung des Spiels bis 1872, dann aber war ich selbst Zeuge, wie der letzte „Halunkenzug“ alle bis zum Schlusse gebliebenen Schakale davontrug, die sich seit Anbeginn um die Banken gesammelt hatten.

Diese Banken, wie unselig und verdammlich auch ihr Treiben, waren für die Gemeinden der rheinischen Kurorte erklärlicherweise ein reicher Quell der Wohlfahrt gewesen. Nicht nur für die Wirthe, für die Besitzer von Spielaktien, welche riesige Dividenden abwarfen – ihre Gerechtsame hatten sie auch zu großen Abgaben für das Gemeinwohl und für Stiftung eines Ku-, Theater- und Verschönerungsfonds gezwungen – die schönsten Anlagen verdankten die Städte eben ihnen und natürlich auch den ganzen äußeren Flor; daß derselbe mit dem Ruine so vieler Familien bezahlt worden ist, davon haben die inzwischen verflossenen zwanzig Jahre allmählich die Erinnerung verwischt.

Und es ist gut so. Das psychologisch Merkwürdige aber bleibt, daß gerade in diesen Orten, von denen man erwartet, daß die Leidenschaft für das Spiel wie Mauerschwamm fortwuchern [339] werde, der Dämon Hazard vollständig verschwunden ist. Hatten dieselben bis dahin ihren Vortheil von dem Bestehen des Spiels, so haben sie ihn seitdem von dem Verbot desselben; denn während früher eine ehrsame, wohlhabende Familie nur mit großer Unerschrockenheit wagte, ihren Wohnsitz in einem Spielbadeort aufzuschlagen, hob sich der Zuzug beispielsweise nach Wiesbaden in überraschendem Maße, als kaum das „faites le jeu!“ in den Sälen des Kurhauses verstummt war.

Aehnlich erging es auch den anderen Orten. Allerdings ist die große schöne Zeit vorüber, in welcher ein allgemein verehrtes gekröntes Haupt, Kaiser Wilhelm I.[5], wenn er alljährlich in Ems erschien, alles herbeizog, aber es ist noch immer des Flors genug trotz des allgemeinen Herabgehens der Geldverhältnisse, der Schmälerung großer Einkünfte, die sonst zur Entfaltung äußerer Herrlichkeit Aufforderung gaben, und Ems besitzt in seinen Thermen eine hoffentlich unversiegbare Quelle des Gedeihens, in seiner städtischen Anlage, in seiner herrlichen Umgebung eine ebenso unerschöpfliche Anziehungskraft.

Nur ein flüchtiger Blick auf diese! Den schönsten gewährt uns die Zeit, wo Ems aus seinem Winterschlaf erwacht und die Fluren, die Bergesrücken sich in neues Grün kleiden. Das Thal ist eng, dem Fuße der Felsen ist sogar gewaltsam der Raum für die Villen und Badehäuser abgewonnen, während auf dem linken Ufer neuere herrliche Ansiedlungen, schloßähnliche Landhäuser sich bequemer auf dem Abhang des Malbergs ausbreiten; alles ist modern, denn Ems schreibt seine Glanzzeit erst von da her, wo die Eisenbahn das poetische Lahnthal dem größeren Zuzug erschloß.

Das eigentliche Badeleben drängt sich zusammen um den Kurhof und den Kurgarten, um den neuen Kursaal und das alte Kurhaus, die schattige Lahnterrasse und die Wandelbahnen. Hierher ruft schon am frühen Morgen vom 1. Mai ab die Kurkapelle die Gäste. Knapp nur ist der Raum, auf welchem sich bei günstigem Wetter die Gesellschaft mit ihrem Trankglas in der Hand bewegt, und in buntem Gewirr der mehr oder minder anspruchsvollen Morgentoiletten und Landestrachten, sich in allen Sprachen der Welt unterhaltend, quirlt hier das Kurpublikum bei den Klängen des Orchesters durcheinander. Die Kolonnaden sind dicht gefüllt von auf und ab Wandelnden, ganz besonders, wenn unfreundliches Wetter sie hierher und in die Bogengänge des Kurhauses zusammentreibt. Man braucht die Sonne, den klaren Himmel in Ems mehr als in anderen Kurorten, eben weil sonst das Kurhausrestaurant, die Säle überfüllt sind, weil die verabredeten Partien hinaus in die schöne Umgebung, die Wasserfahrten etc. zur Unmöglichkeit werden und man auf die Zimmer angewiesen ist. Mehr noch und dichter füllt sich der Kurgarten beim Nachmittagskonzert, wenn die Bahn die Passanten, die Vergnügungszügler nach Ems führt, und endlich an den Abenden, an welchen Vorstellungen auf dem kleinen Kursaaltheater, Bälle, Künstlerkonzerte stattfinden, wie das ja in allen hervorragenden Kurorten geschieht.

Wandelbahn.

Es fehlt hier der Raum, auf alle zum Theil großartigen Bauten einen Blick zu werfen, die vorzugsweise für die Aufnahme von Gästen bestimmt sind, wie z. B. in unmittelbarer Nähe des Kurhauses und gegenüber dem Kursaal die Gasthöfe ersten Rangs „Vier Jahreszeaen“, „Europäischer Hof“ und „Nassauer Hof“, hinter welchem die Grotte der „König Wilhelms-Felsenquelle“ liegt, der Brücke gegenüber der „Darmstädter Hof“, flußabwärts am Ende der Anlagen die „Vier Thürme“, „Englischer Hof“ und „Fürstenhof“, „Schloß Langenau“, eine viel besuchte Pension; auf dem linken Ufer die Villa Bella Riva, das Schloß Balmoral u. a. Was die Quellen betrifft, so erscheint es zweifellos, daß dieselben sämmtlich in Verbindung miteinander stehen und ihre Temperatur sich je nach ihrer Mächtigkeit richtet. Ihre Dienste leisten sie namentlich gegen Kehlkopf- und Bronchialkatarrhe, gegen Katarrhe des Magens und Darmkanals, gegen gewisse Leberkrankheiten u.s.w. Das doppeltkohlensaure Natron bildet in allen mehr oder minder den Hauptbestandtheil, Chlornatrium enthalten sie sämmtlich, daneben doppeltkohlensaures Lithion, schwefelsaures Natron, Jodnatraium, Bromnatrium, phosphorsaures Natron, schwefelsaures Kali; besondere Eigenschaften hat die Eisenquelle, dem Schwalbacher Weinbrunnen ähnlich. Die bedeutendsten Trinkquellen sind die alten, dem Fiskus gehörigen „Krähnchen“-, „Fürsten“- und „Kesselbrunnen“ im Kurhaus und die erst später erschlossenen, im Privatbesitz befindlichen „Viktoria“-(gleichwertig mit Krähnchen), „Augusta“-, „Wilhelms“- und „Eisenquelle“. Zahllos sind die Krüge namentlich des Krähnchen- und Viktoriawassers, welche von den betreffenden Verwaltungen alljährlich in alle Welttheile hinausgesandt werden, zahllos die Schachteln des Emser Quellsalzes und der aus diesem hergestellten allbekannten „Emser Pastillen“.

Von hohem Reize sind die romantische Umgebung von Ems, die Promenaden des Marien- und Henriettenweges, die Partie auf den Malberg. Ehedem war man gezwungen, wenn man den letzteren besuchen wollte und doch das Bergsteigen nicht liebte, sich dem Rücken eines launenhaften Esels anzuvertrauen, heute fährt die Drahtseilbahn zur Höhe hinauf, die durch ein Sanatorium zum Luftkurort geworden ist. Der Blick von hier oben über das Lahnthal und die Höhen des Westerwaldes ist ein außerordentlich fesselnder. Dankbar sind die Partien zum Winterberg, der Schiefer-Felsenpfad zur Bäderlei, zur Mooshütte, zum Konkordienthurm und der „Schönen Aussicht“, nicht minder ein Gang nach Dorf Ems, von da nach der Nieverner Eisenhütte, zur Silberau und Silberschmelze, der Ausflug zum Lahnsteiner Forsthaus, nach dem bereits erwähnten Dorfe Frücht. Dort befindet sich in einer gothischen Kapelle die Gruft der Familie von Stein, seit 1831 die Grabstätte jenes großen, unvergeßlichen Mannes, „des gebeugten Vaterlandes ungebeugten Sohnes“, dessen Grabschrift an einem Reliefbild von Schwanthaler uns sagt:

„Sein Nein war Nein gerechtig, sein Ja war Ja vollmächtig,
Seines Ja war er gedächtig, sein Mund, sein Grund einträchtig,
 Sein Wort das war ein Siegel.“

Wer Künstler ist, der wallfahrtet gern zu dem an der Mündung des Unter- und Oberbacherthals so romantisch gelegenen mittelalterlichen Dorfe Dausenau, das sein Entstehen den Römern und zwar Drusus verdanken soll. Hier saß im 17. Jahrhundert ein hochnothpeinliches Hals- und Hexengericht, und von dem schiefen, mit Unrecht den Römern zugeschriebenen Thurme geht die auch unwahrscheinliche Sage, daß in demselben einst Karls [340] des Großen Geheimschreiber Eginhard mit des Kaisers schöner Tochter Emma gefangen gehalten worden sei.

Ein interessanter Nachbar dieses Städtchens ist Nassau in seinem blühenden Thale, mit den Burgen Nassau und Stein, letztere mit der 1872 feierlich enthüllten kolossalen Marmorstatue des großen Mannes geschmückt, dessen Name auch dem Städtchen seine Weihe giebt. Denn hierher, nach dem Stammsitz seiner Familie seit dem 16. Jahrhundert, zog Stein sich in sein Geburtshaus zurück, um während seiner letzten Jahre der Ruhe und den Wissenschaften zu leben. „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ lautet die Inschrift des Wappens über der Thür des alten Familienhauses, das an sich von keiner architektonischen Bedeutung ist; neben ihm erhebt sich ein gothischer Thurm, den Stein selbst zur Erinnerung an die Freiheitskriege hat errichten lassen. Die Burg Nassau, schon im 12. Jahrhundert vorhanden, die Stammburg der nassauischen Familie, aus der einst Kaiser Adolf hervorging, ist längst Ruine, nur die Umfassungsmauern, ein Spitzbogenthor und die Grenzmarken des Burgfriedens sind noch vorhanden.

Krähnchenbrunnen. Kesselbrunnen.

Einen der herrlichsten Punkte an der Lahn bilden die Bnrg Langenau und ihr gegenüber auf der Berghöhe das Klosterschloß Arnstein, einst der Sitz der Gaugrafen dieses Namens, deren letzter Sproß die Burg in eine Prämonstratenserabtei umwandelte. Der Sage nach soll der fromme Graf Ludwig, der ohne Leibeserben war, mit sechs seiner Ritter den Harnisch und das Schwert abgelegt, die Mönchskutte angethan und auch seine Gemahlin Guda dazu vermocht haben, in einer Zelle ihr Leben zu beschließen. Graf Ludwig starb im Geruch der Heiligkeit; vier seiner Ritter trugen seine Leiche in der Klosterkirche zu Grabe.

Als letzte Schaustücke seien hier noch, nach einem Blicke im Vorübergehen auf Kloster Brunnenburg und die Ruine Laurenburg (auch eine alte Burg der Nassauer), die Ruine Balduinstein, so genannt nach ihrem Erbauer, dem streitbaren Erzbischof von Trier, und endlich die Zierde des Lahnthals, die Schaumburg, angeführt. Das alte Schloß der Isenburger und Westerburger Grafen, heute im Besitz der fürstlich Waldeckschen Familie, war bis 1812 Eigenthum des nun ausgestorbenen Hauses Anhalt-Bernburg-Schaumburg, dann von 1848 bis 1866 die Residenz des Erzherzogs Stephan von Oesterreich, der sich hierher zurückzog; noch heute steht dieser als ein Wohlthäter der ganzen Umgebung im wärmsten Andenken; während der fast zwanzig Jahre seines Aufenthalts war er beharrlich für den Ausbau und die Verschönerung des Schlosses thätig. Was er hier an Schätzen der Wissenschaft gesammelt, hat sich nach seinem Tode zerstreut, nur die Erinnerung an ihn ist so unvergänglich wie die monumentalen Zeugen, die von der Unermüdlichkeit reden, mit welcher der einstige Paladin von Ungarn den alten Stammsitz der Isenburger in eins der schönsten Schlösser umwandelte.




Onkel Christians sieben Lieben.

Erzählung von M. v. Dorsner.
(Schluß.)


Wir schwiegen beide, erst nach einer geraumen Weile fuhr Onkel Christian in ruhigerem Tone fort:

„Die Sorge um Pias alten Vater, der sein Alles mit dieser Tochter zu Grabe trug, half mir über den ersten Jammer weg. Und dann verklärte mir die Erinnerung an sie meinen Schmerz. So treu lebte die Freundin in meinem Gedächtniß, daß sie mir nicht gestorben schien! Nun aber kam eine unbezwingliche Sehnsucht nach dem eigenen Herd über mich, nach dem Heim, wie ich es mit Pia in den ersten glücklichen Tagen unserer Liebe geplant hatte. Was ich noch vor kurzem für unmöglich gehalten hätte – das Soldatenhandwerk ward mir mit einem Male entsetzlich widerlich. Ich wollte nur meine Beförderung zum Major abwarten, um den Dienst zu verlassen und Landwirth zu werden. Meine Schwester Elisabeth, so hoffte ich, werde sich entschließen, bis auf weiteres als meine ‚Schloßfrau‘ zu walten.

Es sollte sich nicht erfüllen. Ehe die Beförderung kam, hatte Elisabeth Euren Vater geheirathet; meine arme Mutter starb. Als ich auf dem Gute die Einrichtung vollendet hatte, die ich für Pia begonnen, da stand ich ganz allein. Endlich, im Spätherbst 1865, kam die langersehnte Ernennung, und als ich nach Wien ging, mich zu bedanken, lernte ich Ella kennen.“

„Ella? Wer ist Ella?“

„‚Fall sechs‘, würde Philipp sagen.“

„Ach, lassen wir Philipp!“ rief ich. „Es ist zu ernst geworden für seine Scherze. Sage, Onkel, wie, wo lerntest Du Ella kennen?“

„Das Kennenlernen war spaßhaft genug. Du kennst Wien? Nun, eines Tages kam ich in voller Paradeuniform aus der Burg und schritt meinem Wagen zu, der auf dem Michaelerplatz wartete. Vor der Demelschen Konditorei hatte sich schreiend und gestikulierend ein Knäuel Menschen gesammelt, dem sich alsbald ein Schusterjunge echtesten Wiener Schlages entwand, um, verfolgt von einer Megäre, schleunigst in der Herrengasse zu verschwinden. In der Mitte der Gruppe aber stand ein junges Mädchen, weinend über die Trümmer eines Päckchens gebeugt, das übel mitgenommen auf den noch regenfeuchten Steinen lag. Die Leute lachten und witzelten in grausamer Mitleidlosigkeit. Aergerlich hieß ich sie ihrer Wege gehen und trat zu dem niedlichen jungen Ding, dem ich gern aus seinem Jammer geholfen hätte.

‚Ist der Schaden nicht gut zu machen?‘ fragte ich.

‚Ach Gott,‘ schluchzte die Kleine, ‚Mama wird so böse sein! Sehen Sie nur, mein neues Kleid! Ich kann gar nicht nach Hause gehen. Und die schöne Torte, eine Geburtstagstorte!‘

Ihre Thränen flossen unaufhaltsam. Das Kleid war allerdings übel zugerichtet, herabgerissen und arg beschmutzt. ‚Aber die Torte – bei Demel dürfte wohl eine zweite Geburtstagstorte zu finden sein,‘ meinte ich.

‚Das schon, allein ich habe kein Geld,‘ war die verzagte Antwort.

‚Nun, das könnte ich allenfalls vorstrecken, wenn Sie erlaubten.‘

Das hübsche Mädchen blickte dankbar auf. ‚Wie sollte ich Ihnen aber das Geld wieder zurückstellen? Ich kenne Sie ja nicht,‘ sagte sie zögernd.

‚Wie wär’s, wenn Sie mir die Adresse Ihrer Mama geben würden, damit ich mir’s holen kann? Oder, noch besser,‘ rief ich, da der Kutscher, der mich erblickt hatte, eben vorfuhr, ‚noch besser, ich führe Sie in meinem Wagen nach Hause, da Sie in dem zerrissenen Kleide nicht gut zu Fuß –‘

‚Und die Sali?‘ warf sie ein.

‚Die Sali? Wer ist die Sali?‘

[341] Inzwischen war die Megäre, die ich vorhin hinter dem Schusterbuben dreinlaufen gesehen hatte, an uns herangetreten und gab sich als Sali zu erkennen. Sie stimmte sofort meinem Antrag zu und hatte ihn auch so rasch ausgeführt, daß ich mit ihr, ihrem Einkaufkorb, dem jungen Mädchen und der neuen Torte der Alservorstadt zurollte, ehe ich mich hatte besinnen können.

Die Sali ließ nicht ab, zu jammern und das ‚Eltscherl‘ ob all der Unfälle zu beklagen.

‚Heißen Sie wirklich Eltscherl?‘ fragte ich die Kleine, worauf sie so hell und lustig lachte, daß ich unwillkürlich mitthun mußte.

‚Gabriele heiße ich, aber man nennt mich Ella,‘ belehrte sie mich mit wichtiger Miene.

Als ich mich ihrer Mutter vorstellte, machte ich die erfreuliche Entdeckung, daß wir sozusagen alte Bekannte waren – das heißt, der gute Stabsarzt, dessen Witwe sie war, hatte mich seinerzeit in Italien bei einem Fieberanfall behandelt. Diese flüchtige Beziehung schwoll mir unter den Händen zu fabelhafter Innigkeit an und war zu einem Kastor und Pollux-Verhältniß der rührendsten Art gediehen, als ich endlich Abschied nahm. Nichts natürlicher, als daß man einen so nahen Freund des Dahingeschiedenen dringend aufforderte, wiederzukommen, und daß dieser sich beeilte, der Aufforderung Folge zu leisten!

Ja, ich kam wieder, kam Tag für Tag, verschob meine Abreise, um wieder und wieder zu kommen. Ich hatte mich sterblich verliebt in das niedliche Püppchen mit den großen erstaunten Kinderaugen, mit den allerliebsten Grübchen in Kinn und Wangen und dem beständigen, frohen Lachen auf den Lippen. Ella war unwiderstehlich herzig in ihrer holden Kindlichkeit, in ihrer schalkhaften Munterkeit – und ich alter Narr, der ich war ...“

„Alt? Mit dreißig und etlichen Jahren? Fürwahr, Onkel ...“

Das Kurhaus zu Ems.

„Alt gegenüber diesen siebzehn Jahren! Leonore, wahrlich ich schäme mich noch heute, nicht weil ich mich verliebte – die frische Schönheit Ellas hätte wohl auch einem Weiseren den Kopf verdreht – sondern weil ich mir einreden konnte, dies Kind sei die Gefährtin, die Pia für mich gewünscht hatte. Und vor allem, daß ich mir über die Neigung des Kindes Illusionen gemacht habe, siehst Du, das kann ich heute noch nicht verwinden, es war zu thöricht.“

„Du hast also um Ella geworben, Onkel? Und sie?“

„Und sie – sie war bezaubernd in der unbefangenen Lust und Kindlichkeit der ersten Tage und nachher in der scheuen Erwartung meiner Erklärung. Sobald Mama uns allein ließ – und wenn ich es recht bedenke, geschah dies des öfteren – da wurde Ella gluthroth und saß schweigend, mit gesenktem Köpfchen, mir gegenüber. Und ich – ich hielt diese Befangenheit für Neigung, besann mich nicht lang und warb um sie. Arme kleine kindische Braut! Als ich ihr den Verlobungsring an den Finger steckte, tanzte sie wie toll um den Tisch, umarmte mich, die Mutter, die Sali, schließlich Schränke und Stühle! Und das hielt ich für Liebe, Leonore!“

„Sie war noch jung und kindisch – es konnte doch wohl Liebe sein,“ meinte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Als wir uns verlobten, Ella und ich,“ so fuhr er fort, „sah es schon unheimlich düster aus am politischen Horizont, und das ließ für den Soldaten weder Abschied noch Heirath zu. Es blieb nichts übrig, als mich zu gedulden, mich von dem süßen Kinde zu trennen und mir während langer qualvoller Monate an ihren Briefen genügen zu lassen – den lieben schüchternen so schülerhaften Briefen!

Vor meiner Abreise hatten wir vereinbart, daß Ellas Bild für mich gemalt werden sollte. Ich selbst wählte den Maler, einen damals noch unbekannten, sehr begabten jungen Künstler, dessen Familie ich kannte und an dessen Arbeiten ich lebhaften Antheil nahm. Als ich den hageren ungelenken jungen Mann meiner Braut und der künftigen Schwiegermutter vorstellte, kam mir nur ein Bedenken – ob die beiden Frauen Brunos linkisches Wesen nicht mit Entsetzen aufnehmen würden. Ich großer Menschenkenner, ich! –

Endlich, im Herbste 1866, konnte ich nach Wien eilen. Es war früh am Morgen, als ich auf dem Südbahnhof eintraf, zu früh für einen Besuch, selbst bei der Verlobten. Um meine Ungeduld zu bemeistern und die Zeit zu verbringen, wanderte ich zu Fuß und mit Umwegen der Stadt zu. Ganz unerwartet stand ich mit einem Male an dem Hause, in dem Brunos Atelier sich befand. Die Fenster waren weit geöffnet, und ich eilte hinauf, um mich einstweilen an dem Anblick ihres Bildes zu erfreuen, bis ich das liebe Mädchen selbst sehen sollte. Man hieß mich eintreten, der Künstler sei schon an der Arbeit.

Mein erster Blick, als ich den Thürvorhang zurückschlug, traf das Bild, welches auf einer Staffelei am Fenster stand, unvollendet zwar in Kleinigkeiten, aber außerordentlich ähnlich. ‚Ella wie sie leibt und lebt,‘ murmelte ich. Näher tretend gewahrte ich auch Bruno, vor der Staffelei sitzend, den Kopf in die Hand gestützt. Er schien in tiefe Gedanken versunken, meine Schritte, allerdings durch einen Teppich gedämpft, störten ihn nicht auf. Mir war’s lieb so. Ich wollte den Anblick von Ellas Bild einige Minuten allein genießen. Es war Ella – und doch, es war nicht die Ella, die ich kannte. Die Züge waren dieselben, der Ausdruck verändert. Je länger ich sie betrachtete, desto fremder sahen mich diese großen dunklen Augen an, so sehnsüchtig und innig, wie sie nie auf mir geruht hatten. Und um den Mund, der nur gewohnt war, zu lächeln, um den rosigen Kindermund lag ein Zug von Wehmuth und Verzicht – was war das? Ich fuhr mit der Hand über die Augen, dann forschte ich von neuem in den geliebten Zügen. Eine unerklärliche Angst erfaßte mich. Meine Hand berührte Brunos Schulter, und als er sich umwandte, fiel [342] mir sein abgehärmtes Antlitz auf. Ich hatte nur wenige Worte mit ihm gewechselt und schon wußte ich alles. Liebe, tiefe glühende leidenschaftliche Liebe sprach aus jedem Worte, aus seinem ganzen Wesen!

Ich sank vernichtet in einen Stuhl und hielt die Hände vor die Augen. Bruno selbst war tief erschüttert. ‚Ich würde mein Leben hingeben, wenn ich Ihnen und ihr diesen Schmerz erspart hätte. Sie will mich ja nicht hören, will ihrem Worte nicht untreu werden. Sie ist Ihnen so gut ...‘

Mich trieb es fort – ins Freie.

Wie Du Dir denken kannst, Leonore – es fiel mir nicht ein, die jungen Leute zur Rechenschaft zu ziehen. Alles schien mir jetzt so selbstverständlich, unausbleiblich. Meine Wuth, meine Verzweiflung kehrte sich gegen mich selbst. Ich Thor, der ich glaubte, einem Kinde Liebe einzuflößen, der ich es an mich ketten wollte! Beschämung, Reue, das unerträgliche Gefühl, mich lächerlich gemacht zu haben, gesellten sich zu meinem Schmerze, zu dem tiefen Mitleid mit dem armen Mädchen, das durch meine Verblendung gelitten hatte.

Als ich ruhiger geworden, schrieb ich an Ella, an ihre Mutter, an Bruno. Die Mama war schwer zu versöhnen – arme Ella, sie mag unerquickliche Tage verlebt haben, bis Brunos Freunde es endlich erreichten, dem außerordentlich begabten jungen Künstler eine Stellung mit bestimmtem, wenn auch mäßigem Gehalte zu sichern. Erst nach Jahresfrist konnten die beiden ein Paar werden.“

„Hast Du Ella seither wiedergesehen?“

„Nein! Anfangs wünschte ich es nicht; später – später nahmen mich andere Dinge in Anspruch. Bald nachher starb auch Euer Vater. Die Entwirrung der etwas zerrütteten Verhältnisse auf dem Rüdenhof gab mir alle Hände voll zu thun, und seither, Du weißt es ja, Lore – seither bin ich bei Euch mehr zu Hause als in Hartenberg. Es bleibt mir weder Zeit noch Lust, mich nach alten Lieben umzusehen. Ihr seid jetzt meine Familie, meine Welt.“

„Und wir wissen Dir Dank dafür, Onkel Christian! Was wäre aus dem Rüdenhof, was aus uns geworden ohne Dich!“

Er wehrte meinen Erguß ab und seufzte tief. Die Erinnerung hatte ihn trübe gestimmt. Doch – ich wollte gar so gerne noch mehr hören.

„Onkel,“ begann ich zögernd, „ich habe erst sechs Lieben gezählt; die siebente steht noch aus.“

„Du bist unersättlich, Leonore,“ lachte er, „ich alter Mann ...“

„Weißt Du auch, Onkel,“ fiel ich ihm ins Wort, „es ist eine Koketterie, stets sein Alter im Munde zu führen, wenn man so aussieht wie Du – rüstig, stramm, kein graues Haar! Wir haben es neulich besprochen. Es fängt an, komisch zu sein, wenn wir Alten Dich ‚Onkel‘ nennen. August und Philipp haben Dich im Aussehen nahezu eingeholt ...“

Wieder klang sein Lachen eigenthümlich gezwungen, als er sagte. „Also nach Deiner Ansicht, Leonore, ist die siebente Liebe weder unmöglich, noch lächerlich?“

„Ganz natürlich ist sie nach meiner Ansicht, und ich bin erschrecklich neugierig, zu wissen, wer der Gegenstand ist. Wenn meine Rechnung stimmt, fällt dieser ‚Fall‘, um mit Philipp zu sprechen, in die Zeit Deines Aufenthaltes in Hartenberg und auf dem Rüdenhof; da sollte ich sie doch kennen, meine ich.“

„Vielleicht,“ entgegnete er lächelnd, und sein Blick ruhte wie fragend, schier verwundert auf mir. Ich besann mich, den Kopf in die Hand gestützt.

„Wohl erinnere ich mich einer Zeit,“ unterbrach ich nach einer Weile das Schweigen, „es mag ein paar Jahre nach Mamas Tod gewesen sein, zur Zeit, da Edwin einrücken mußte – da fiel uns Dein zerstreutes Wesen auf, wenn Du von Hartenberg zu uns herüber kamst. Sogar Miß Wood hatte es bemerkt. ‚Der Arme, er ist so einsam,‘ seufzte sie. ‚Paßt auf, er geht auf Freiersfüßen,‘ sagte Jette, die damals ein schrecklicher Naseweis war und nichts als Romane im Kopfe hatte. War es so, Onkel?“

„Miß Wood hatte recht; ich war einsam und litt darunter. In Hartenberg mehr denn anderswo, weil ich dort in allem und jedem auf die Gefährtin, die ich heimzuführen gehofft, Bedacht genommen hatte und die Erinnerungen mich nun wie bleiche Gespenster überall verfolgten. Doch Eure Angelegenheiten, die Sorgen auf dem Rüdenhof, die mich so häufig von meinem Gute fernhielten, wurden mir damals zum Segen. Es ergab sich eine Fülle von Beschäftigung und Anregung, auch manche Genugtuung, wenn ich den Samen aufgehen sah, den ich gestreut hatte. Allein die Einsamkeit in Hartenberg wurde mir dadurch auf die Dauer dennoch nicht erträglicher, im Gegentheil! Allmählich hatte sich den Geistern der Vergangenheit noch ein anderes Gefolge zugesellt – Kobolde, die aus jeder Ecke hervorhuschten, mich umgaukelnd, von Wünschen und Hoffnungen raunend ...“

„Also doch – doch auf Freiersfüßen!“

Er schüttelte verneinend das Haupt. „Ich fand den Muth nicht zum Werben und Freien, und mehr und mehr überzeuge ich mich – meine Feigheit war berechtigt. Was ich aber dabei eingesetzt habe an Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, das kann ich Dir nicht sagen, Leonore, und Du würdest es auch nicht verstehen. Unter meinen Augen, an meiner Seite sah ich sie erblühen, heranreifen, sich zur edelsten Weiblichkeit entfalten – und sie glich Maria Pia, wodurch sie mir noch lieber, nach begehrenswerther erschien. Nicht nur Aehnlichkeiten der äußeren Erscheinung, auch innere Züge gemahnten mich an die Verstorbene: die Selbstlosigkeit, die Klugheit, der scharf ausgeprägte Sinn für Gerechtigkeit, und – was der Kranken gefehlt hatte – diese Eigenschaften waren gepaart mit rühriger Thatkraft, mit frischem lebensvollen Jugendmuth! So sah ich sie schalten und walten als guten Geist ihres Hauses, ihrer Anmuth und Schönheit ebensowenig sich bewußt wie der Pflichttreue, der rührenden Hingebung, mit welcher sie eine Riesenaufgabe bewältigte. Mein Gott, ist es da nicht selbstverständlich, daß ich sie lieben mußte, daß der Augenblick kam, wo der glühende Wunsch mich beseelte, diese herrliche Blume für mich zu pflücken, den guten Geist an mein Herz, mein Haus zu fesseln!“

„Und weshalb ...“ begann ich; doch wie er mir jetzt langsam das Gesicht zukehrte, stockte ich über dem merkwürdigen Ausdruck in seinen Zügen, über dem Leuchten in seinem Auge, und wie dieser leuchtende Blick dem meinen begegnete, sich darein versenkte, da durchzuckte es mich mit jähem Schrecke und jauchzender Freude. War es möglich – ich selbst! Dieser Mann, den ich höher stellte als alle, alle Menschen dieser Erde – er liebte mich! Wie geblendet mußte ich die Augen schließen, während er leise fortfuhr:

„Weshalb ich nicht um sie warb, meinst Du, Leonore? Weil mich nichts berechtigte, Erwiderung meiner Liebe zu hoffen. Die gleichmäßige Herzlichkeit in ihrem Verkehr mit mir ließ eben nur auf gute Freundschaft schließen. Diese aber war mir werth, war auch zu kostbar für unsere gemeinsame Arbeit, ich durfte sie nicht gefährden durch ein unbedachtes Wort. Ueberdies – ich sah sie erfüllt von einer schönen Aufgabe, fröhlichen Muthes und mit heiterer Sicherheit ihrem Ziele zustreben; wäre es nicht unrecht, ja frevelhaft gewesen, die Ruhe ihres Gemüthes durch meine eigennützigen Wünsche zu trüben?

So drängte ich es denn gewaltsam zurück – das Wort, das wiederholt auf meinen Lippen schwebte. Die Erinnerung an Ella half mir dabei. Wie hätte ich auch mit dieser Erfahrung, mit diesem Stachel im Herzen ein zweites Mal um ein viel jüngeres Mädchen freien mögen!“

„Onkel!“ stammelte ich, „sie war kein Kind, keine Ella – wenn sie hätte ahnen können ...“

„Sie hätte es ahnen können, Leonore – oft, oft, wenn ich starker Mann furchtsam und scheu an ihrer Seite stand; sie hätte es ahnen müssen – damals, als wir einer gemeinsamen Gefahr entgingen. Sie führte die Zügel des Wagens, über einem Schusse im nahen Walde scheuten die Pferde, in rasendem Laufe flogen sie feldeinwärts! Indem ich in die Zügel fiel, umfing ich sie mit den Armen, damit sie nicht hinausgeschleudert werde bei dem tollen Tanze über die Schollen ... Endlich gelang es, die Pferde zum Stehen zu bringen ..."

„Am Flusse,“ hauchte ich.

„Weißt Du es noch, Leonore? Und damals hast Du nicht geahnt, nicht gefühlt, daß es eines fast übermenschlichen Entschlusses bedurfte, meine Arme von der bebenden Gestalt zu lösen? Leonore – Du hast den Kampf nicht gesehen, als ich Deine Hand freigab in jener Mondnacht am Weiher?“

„Nach Hildas Verlobung ...“

„ ... als einer aus dem Quartett, das Lothar aus der Stadt mitgebracht hatte, jenes herrliche Lied von Schumann sang?“

„‚Ich sende einen Gruß ...‘“

„O, Du weißt es noch, Leonore?“

Wohl wußte ich es – und gern hätte ich sagen mögen, daß [343] es mir damals weh gethan habe, als er meine Hand so plötzlich fahren ließ; doch in meinem Innern wogte und jubelte es, mein Herz pochte zum Zerspringen – und stumm saß ich an seiner Seite.

„Leonore!“ sprach er feierlich, meine beiden Hände ergreifend, „meine Liebe zu Dir hat eine längere und härtere Probe bestanden als die des biblischen Jakob – willst Du sie, willst Du Dich selbst prüfen? Wenn Du sie Deiner würdig hieltest, Dich entschließen könntest – jetzt, wo Deine Aufgabe erfüllt ist den Geschwistern gegenüber – Deine Jugend und Schönheit einem alten Manne zu opfern, seinen Lebensabend zu erhellen –“

„Sprich nicht so zu mir, Onkel Christian,“ rief ich erregt, „ich kann es nicht hören. Siehst Du denn nicht? Daß ich früher Deine Neigung nicht ahnte, nicht erkannte – mein Gott, ich habe ja nie an so großes Glück glauben können!“

„Leonore! – weißt Du auch, was Du sagst?“

„Daß ich glücklich bin und stolz! Ja, stolz, Onkel Christian! Deine Liebe ist das größte Glück, das mir werden konnte. Was gilt mir Schönheit und Jugend gegen Deine Liebe! Wenn ich noch einen Rest von jenen besitze, mir ist er nur werth, wenn er Dich erfreut! Du nanntest mich vorhin selbstlos – wahrlich, heute bin ich es nicht, wenn ich die Hand ergreife, die Du mir bietest!“

„So willst Du mein sein, Lore, mein geliebtes Weib? – All ihr guten Geister, die wir beschworen – und ihr bösen auch – seht euer Werk! Ihr habt mir dies warme, lebensvolle Herz erst zu eigen gegeben – habt Dank, ihr alten Lieben! Und Du, Leonore, wie will ich es Dir danken ...“

*      *      *

So ist es gekommen, daß ich Onkel Christians Frau geworden bin, seine siebente und letzte Liebe.




Adam Riese.

Von Moritz Lilie.

Gelten die nachstehenden Zeilen auch keinem gewaltigen Helden des Schwertes, keinem bahnbrechenden Erfinder oder hochgelahrten Manne der Wissenschaft, so ist sein Name doch in aller Munde, soweit die deutsche Zunge klingt. Wer hätte das geflügelte Wort: „Nach Adam Riese“ nicht schon gebraucht, wenn es sich um die Bekräftigung irgend einer für unumstößlich richtig geltenden Rechnung handelte! Und für so untrüglich gilt die mathematische Beweisführung des großen Rechenmeisters, daß die Berufung auf ihn jeden Zweifel ausschließt. Vier Jahrhunderte haben nicht vermocht, den Ruhm des in seiner Art einzigen Mannes zu verwischen, und je mehr seine Wissenschaft alle Schichten des Volkes durchdrang, desto rückhaltloser wurden seine Verdienste gewürdigt.

Adam Riese, wie die jetzt gebräuchliche Schreibweise lautet, während er selbst in handschriftlichen Ueberlieferungen sich auch Ries, Ris und Ryse nennt, war im Jahre 1492 zu Staffelstein bei Bamberg geboren. Der Umstand, daß er sich zuweilen „Riese von Staffelstein“ unterschrieb, hat zu dem Irrthum geführt, er entstamme einem fränkischen Adelsgeschlecht, während er wahrscheinlich einer Bauern- oder Handwerkerfamilie angehörte, denn der Name ist noch jetzt in den Dörfern der Umgebung Staffelsteins ziemlich häufig anzutreffen. Etwas Genaues darüber ist nicht zu ermitteln gewesen, wie die Jugendzeit des berühmten Rechenmeisters überhaupt in undurchdringliches Dunkel gehüllt ist. Erst 1522, als er bereits im dreißigsten Lebensjahre stand, wird sein Name das erste Mal öffentlich genannt, als zu Erfurt sein kleines Rechenbuch unter dem Titel: „Rechenung auff der Linien vnd Federn“ erschien.

Drei Jahre später finden wir ihn in der sächsischen Bergstadt Annaberg im Erzgebirge, wo er eine Anstellung als Bergbeamter gefunden hatte. Auf welche Weise er dorthin gelangte, ob durch Berufung oder aus eigenem Antrieb, ist ebenfalls nicht festzustellen, jedenfalls aber gab ihm seine Thätigkeit als Receßschreiber die Anregung, sich eingehender mit der Rechenkunst zu beschäftigen und als Lehrer derselben aufzutreten. Richters „Chronik von Annaberg“ berichtet: „Außer der Schule hatten auch andere gelehrte Schulmänner zu Annaberg Schulen in ihren Häusern“, und mit besonderem Nachdruck wird „Adam Rieße, der berühmte und vortreffliche Rechenmeister, welcher eine sehr große und beruffene Schule hatte“, hervorgehoben.

Die zweite Auflage des gedachten Rechenbuches erschien 1525, aber erst elf Jahre später gelangte eine zweite Schrift von Riese zur Ausgabe, eine Anleitung, den Preis des Brotes nach der Höhe des Getreidepreises zu berechnen. Der Chronist Jenisius erwähnt diese Arbeit mit folgenden Worten: „Man hat auch den Bäcken im Brodkauf gewisses Gebot und Maaß gegeben. Derhalben auch die Brodordnung, wie schwer dasselbe nach Gelegenheit des Getraidekaufs sein sollte, von Adam Risen, Rechenmeistern, 1536 in offenen Druck gegeben ist.“

Nun tritt abermals eine längere Pause in der schriftstellerischen Thätigkeit des vielbeschäftigten Mannes ein, dessen Zeit offenbar von seiner amtlichen Stellung und seinem Lehrberuf fast ganz in Ansprnch genommen war. Gerade seine Lehrthätigkeit aber ließ ihn immer mehr erkennen, wie kläglich es um die litterarischen Hilfmittel seiner Kunst bestellt war und wie schwer infolgedessen ein geordneter Unterricht wurde. Sein kleines Rechenbuch genügte ihm nicht mehr, und er schrieb daher seine „Practica“, ein Werk, das auch die höheren Stufen des Rechnens ins Auge faßte. Dieses Buch soll schon im Jahre 1525 fertig gewesen sein, erschien aber erst 1550 in Leipzig. „Den Schlüssel zu dieser späten Herausgabe“ – sagt Bruno Berlet in einer sehr fleißig gearbeiteten Untersuchung, welche in einem Jahresbericht über die Realschule zu Annaberg enthalten ist – „liefert uns Riese selbst in der ehrfurchtsvollen Widmung des Buches an Kurfürst Moritz, indem er darin offen gesteht, daß er ‚zur edirunge solchs buchs die gnedigst vorstreckung durch Euer Chur-Fürstlichen Gnaden gnedigst gefordert.‘“ Es fehlte Riese also an Geld, um die zu jener Zeit allerdings nicht geringen Kosten für den Druck seiner Schriften aus eigenen Mitteln bestreiten zu können. Darum ist wohl auch sein drittes Werk, die „Coss“ (von dem italienischen regola de la cosa, Algebra) betitelt, nicht gedruckt worden. Die interessante, 534 Seiten umfassende Handschrift befindet sich in der Kirchen- und Schulbibliothek zu Marienberg im Erzgebirge. Einige andere Handschriften des berühmten Rechenmeisters enthält die Königliche öffentliche Bibliothek zu Dresden.

Ganz unbemittelt kann Adam Riese übrigens nicht gewesen sein, denn nach dem Gerichtsbuch für Wiesa bei Annaberg erwarb er einen nicht unbedeutenden Grundbesitz, wie aus dem verhältnißmäßig hohen Kaufpreis ersichtlich ist. Der betreffende Eintrag lautet: „Im Jahre 1539 kaufte Adam Riesen, Gegenschreiber auf St. Annaberg, als Schwager von Anna, der nachgelassenen Wittfrau des Seligen Endressen von der strassen, das Gut mit Behausung, Aeckern, Wisen, Hölzern und Teichen für 1200 fl. Rheinischer Landeswerung und so, daß er zu Michaelis 100 fl. und dann alle halbe Jahre 30 fl. bezahlen soll, bis die ganze Kaufsumme entrichtet.“ Dieses Gut erhielt vom Volksmund die Bezeichnung „Riesenburg“, und noch heute führt die Besitzung diesen Namen. Freilich haben die Gebäude mancherlei Veränderungen erfahren, denn nach Richters Chronik wurden sie schon im Jahre 1641 durch die Schweden zerstört und die nach dem Dreißigjährigen Kriege wieder aufgebauten Wohn- und Wirthschaftsräume 1861 durch Blitzschlag in Brand gesteckt, aber der Name ist dem Vorwerk erhalten geblieben.

Riese muß eine zahlreiche Familie besessen haben. In der Vorrede zu einem seiner Werke führt er nicht weniger als fünf Söhne mit Namen auf, von denen Abraham, der zweite, den Scharfsinn des Vaters geerbt hat; denn auch er war, wie es in der Chronik heißt, „in der edlen Rechenkunst wohl erfahren“, so daß er als Rechenmeister zu Annaberg der Nachfolger seines Vaters wurde. Ein anderer, Isaak, erhielt eine Beamtenstelle in Leipzig, wo er auch starb.

Am 30. März 1559 verschied der große Mathematiker, seine Grabstätte aber ist unbekannt geblieben, denn eigenthümlicherweise findet sich weder in den Kirchenbüchern von Annaberg noch in denen von Schönbrunn, wohin die Riesenburg damals eingepfarrt war, der geringste Vermerk über seinen Tod.

Das nicht hoch genug zu schätzende Verdienst Rieses besteht darin, die Rechenkunst, ohne welche Handel und Industrie, Haus und Staat nicht zu bestehen vermögen, in ein bestimmtes System gebracht, ihr feste Grundlagen geschaffen und sie in einer Weise vereinfacht zu haben, daß sie nicht mehr bloß die Sonderwissenschaft weniger Fachgelehrten bildet, sondern Gemeingut aller Bevölkerungsklassen geworden ist.

Dieses Ziel erreicht er nach der Darstellung Berlets dadurch, daß er in seinen Rechenbüchern „dogmatisch“ verfuhr, d. h., er beginnt jede Rechnungsart mit der bei ihr zu beobachtenden Regel und läßt dann zahlreiche Aufgaben folgen, um dem Schüler die Handhabung der Regel geläufig zu machen. Von Begründung und Ableitung der Regel ist niemals die Rede; der Meister sagt: „So wird es gemacht!“ und diesem Gebot hat der Schüler ohne weiteres zu folgen. Warum der Schüler so und nicht anders zu rechnen hat, das erfährt er nicht; genug, daß er auf die gestellte Frage die zugehörige Antwort erhält. Und sollte jemand die Richtigkeit der letzteren bezweifeln, so wird die Aufgabe umgekehrt und das gefundene Ergebniß durch die Probe erhärtet. Ist es nun auch nicht zu bezweifeln, daß der Schüler bei diesem Verfahren innerhalb der gegebenen Regeln eine schätzenswerthe Sicherheit und Gewandtheit erlangen kann, so ist doch dagegen zu bemerken, daß seine Rechenkunst meist zu Ende sein wird, wenn er eine Aufgabe bekommt, die sich nach keiner ihm bekannten Regel lösen läßt. Es wird dabei die eigene Denkthätigkeit des Schülers so sehr zurückgedrängt, daß sein Rechnen einer mechanischen Beschäftigung fast gleichkommt. Aus diesem Grunde haben die Schulen in neuerer Zeit beim Rechenunterricht statt der dogmatischen Methode die „genetische“, die entwickelnde, eingeführt, bei welcher der Schüler stets Bescheid über den von ihm eingeschlagenen Weg geben kann. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten aber wurde ausschließlich die von Riese eingeführte Lehrweise angewandt.

Die Vervollkommnung des Einmaleins, auf dessen Erlernung der Annaberger Rechenmeister mit Recht großen Werth legte, soll ebenfalls [344] sein Verdienst sein; seinem Scharfblick konnte es nicht entgehen, daß dasselbe eine der wichtigsten Grundlagen seiner Kunst bildete. In der Benennung und Aufeinanderfolge der einzelnen Rechnungsgattungen ist das System Rieses noch heute maßgebend: er beginnt mit dem Numerieren, läßt darauf die „vier Spezies“ in ganzen und gebrochenen Zahlen folgen und schließt daran die Regeldetri (Ansatzrechnung), Gewinn- und Verlustrechnung, Gold- und Silber- sowie endlich die Gesellschaftsrechnung.

Das alles aber wäre nicht möglich gewesen, wenn er sich nicht zu einer That aufgerafft hätte, die ihm erst ermöglichte, auf dem von ihm angebauten Gebiet so Hervorragendes zu leisten. Zu Rieses Zeit waren fast ausschließlich römische Zahlen im Gebrauch, welche bekanntlich durch Buchstaben des großen lateinischen Alphabets dargestellt werden, und nur die Jahreszahlen wurden mit unseren jetzigen deutschen oder richtiger arabischen Ziffern geschrieben. Die Schwerfälligkeit der römischen Zahlen aber veranlaßte Riese, mit dem alten Herkommen zu brechen und sich ausschließlich der arabischen Ziffern zu bedienen, unbekümmert um das Zetern derjenigen Kreise, welche darin einen unerhörten Eingriff in geheiligte pädagogische Rechte erblickten. Und bald erkannte man auch die Richtigkeit seines Vorgehens; schon im Jahre 1553 wurde eine Bergrechnung der Stadt Buchholz bei Annaberg mit den neuen Ziffern ausgestellt. Man versuche einmal, sich auszudenken, daß auf einmal wieder mit lauter römischen Zahlzeichen gerechnet werden müßte, und man wird ermessen, welche Bedeutung dem kühnen Schritte des Annaberger Rechenmeisters zukommt.

Rieses Verdienste sind denn auch nicht vergessen worden. Schon im Jahre 1875 hat man am Rathhaus zu Staffelstein ihm zu Ehren eine Gedenktafel angebracht, und in Annaberg rüstet man sich, in diesem Jahre die vierhundertjährige Wiederkehr seines Geburtstags würdig zu begehen. In diesem Jahre! Denn wie die Umschrift des in unsere Anfangsvignette verwobenen gleichzeitigen Porträtmedaillons bezeugt, stand der Mann Anno 1550 „seins Alters im achtundfünfzigsten“, also ist er geboren 1492 – „nach Adam Riese“!




Der Kommissionsrath.

Novelle von Rudolph Lindau.


Auf dem Marktplatz der kleinen norddeutschen Stadt N. stand ein altes Haus, das Herr Konstantin Stevenhagen seit fünfundfünfzig Jahren, das heißt seit dem Tage seiner Geburt, bewohnte. Das lange einstöckige Gebäude war durch einen breiten, niedrigen Thorweg in zwei gleiche Theile getheilt. Auf der einen Seite hauste Herr Stevenhagen mit seiner Ehegenossin, einer kleinen behäbigen, würdigen Frau, die nur um wenige Jahre jünger war als er, den andern Theil des Wohnhauses nahm ein offener Laden ein; außerdem befanden sich dort das Comptoir und das Lager des alten Geschäfts „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“. Der einzige Inhaber dieser achtungswerthen Firma war Herr Konstantin, Enkel des alten Samuel Stevenhagen, der das heute noch fast unverändert fortbestehende Geschäft ausgangs des vorigen Jahrhunderts gegründet hatte.

Herr Konstantin Stevenhagen war ein untersetzter, breitschulteriger Mann mit kahlem Kopfe und glattrasiertem, rundem Gesicht, in dem ein Paar klarer, blauer Augen vertrauenerweckend, mit freundlicher, sicherer Würde in die Welt hinausblickte. Er stand in wohlverdientem hohen Ansehen bei seinen Mitbürgern und hatte seine innige Freude an der geachteten Stellung, die er einnahm, denn er gab mehr, als er es wohl selbst wußte, auf äußeren Schein. Er war in streng konservativen Gesinnungen erzogen worden, und seine Achtung vor der „hohen Obrigkeit“ und vor allem, was von nah oder fern damit in Verbindung stand, war ihm eine zweite Religion, die niemals durch einen Zweifel erschüttert worden war. Im Znsammenhang damit hegte er eine tiefe Verehrung für Titel, Orden und überhaupt für alle Auszeichnungen, welche von der Regierung verliehen werden. Als ein fester Freund des Althergebrachten betrachtete er Neuerungen mit Mißtrauen und beglückwünschte sich oftmals, einen Ort zu bewohnen, den Eisenbahnen und Gasanlagen bisher noch verschont hatten. Die Telegraphenstation der kleinen Stadt hatte für ihn etwas Unheimliches, aber da sie unter der Leitung eines königlichen Beamten, des Herrn Postmeisters, stand, so kam nie ein Wort des Tadels gegen diese Einrichtung über seine Lippen.

Herr Konstantin Stevenhagen handelte mit Zeugstoffen und ähnlichem; „Tuch-, Wolle- und Wirkwaren-Geschäft“ stand auf dem alten gelben Schilde über dem Thorweg. Vor dem Ladentisch erschienen die Frauen des Städtchens und kauften, was sie an Stoffen zu den Anzügen für sich selbst und für die Ihrigen gebrauchten, ohne viel zu feilschen, da Herrn Stevenhagens „Solidität“ über jeden Zweifel erhaben ware und hinter dem Ladentisch stand, wenn Frau Mathilde ihn nicht ablöste, was aber nur selten vorkam, Herr Konstantin Stevenhagen in eigener Person, mit würdevollem Lächeln und zuvorkommender Freundlichkeit, die oftgebrauchte Feder hinter dem Ohre – denn er borgte der ganzen Stadt – die Elle in der Hand und mit Engelsgeduld den endlosen Auseinandersetzungen folgend, die in den meisten Fällen einem jeden, selbst dem unbedeutendsten Einkauf vorangingen. Er war deswegen auch bei den Frauen des Ortes besonders beliebt und seine Kundschaft eine so treue und verhältnißmäßig ausgebreitete, daß er das hübsche Vermögen, das er von seinem Großvater und Vater ererbt, noch recht erheblich vermehrt hatte, so daß er in seiner Heimath für einen sehr reichen Mann galt und auch an einem größeren Orte mit Recht hätte für wohlhabend gehalten werden dürfen.

Herrn Konstantin Stevenhagens einziges Kind, seine Tochter Agathe, hatte sich vor zehn Jahren mit dem Bäckermeister Mertens, ebenfalls einem angesehenen und wohlhabenden Manne, verheirathet. In dieser Ehe waren zwei Kinder geboren worden, die auf Wunsch des Großvaters die schönen Namen Anastasius und Thusnelda erhalten hatten. Es waren ein paar blonde, helläugige, dralle Kinder – „Borsdorfer Aepfelchen" nannte sie der alte Doktor Nehring, dessen Lieblinge sie waren, obgleich sie ihm nie etwas zu thun gegeben hatten. Sie waren die Freude und der Stolz des Großvaters. Anastasius war seit seiner Geburt dazu bestimmt, das Geschäft „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ zu erben; über Thusneldas Zukunft hatte man noch keine Bestimmung getroffen.

Die Familie Stevenhagen stand in stetem und ganz regelmäßigem Verkehr mit der Familie Mertens. Die Eltern speisten einmal in der Woche bei dem Bäckermeister und seiner Frau, und diese sowie die beiden „Borsdorfer Aepfelchen“ waren jeden Sonntag bei Herrn Stevenhagen zu Tisch eingeladen. Aber auch für die übrigbleibenden fünf freien Abende in der Woche war in regelmäßiger Weise gesorgt; es gab einen Kegelabend, ferner einen l’Hombreabend, die Herrn Stevenhagen gewöhnlich von seinem Hause entfernten, während Frau Mathilde dann zu ihrer Tochter oder in ein Kränzchen ging; zwei Abende waren der Buchführung und Handelskorrespondenz gewidmet, denn am Tage fand Herr Konstantin nur selten Zeit, ruhig schreiben zu können; den letzten, einzig unbesetzten Abend verbrachte er in Gesellschaft seiner guten Frau, mit der er seit dreißig Jahren in der glücklichsten Ehe lebte und die in Liebe und Verehrung zu „ihrem Konstantin“ emporblickte.

An diesen der Häuslichkeit gewidmeten Abenden pflegte Herr Stevenhagen oftmals zu sagen: „Weißt Du, liebe Thilde, die Abende, die ich mit Dir allein verbringe, so daß ich eine vernünftige Unterhaltung über die Kinder und das Geschäft mit Dir haben kann, die sind mir doch die liebsten.“ Aber wenn zufälligerweise einmal die Partie Kegel oder l’Hombre ausfiel, dann wurde es Herrn Konstantin doch augenscheinlich schwer, über die Zeit, die er nun dem Zusammensein mit seiner Frau hätte widmen können, hinwegzukommen, und nicht selten legte er sich an solchen Tagen eine Stunde früher als gewöhnlich, nämlich um neun Uhr, zu Bett.

Die Eintheilung der Wochen und Sonntage war in dem Stevenhagenschen Hause eine so regelmäßige, daß man eine Uhr danach hätte stellen können: genau zur selben Minute wurde jeden Tag der Laden geöffnet oder geschlossen, und mit gleicher Pünktlichkeit wurden die Mahlzeiten eingehalten und der Sonntag durch regelmäßigen Kirchenbesuch geheiligt.

Der Herr Pastor und der Herr Doktor gehörten zu den guten Freunden des Herrn Konstantin und zu seiner „Partie". Er hatte für beide als für studierte Männer große Hochachtung und eignete sich ihre Meinungen über Tagesfragen wie Glaubensartikel an, die er gegebenenfalls hartnäckig zu vertheidigen wußte; doch erblickte er in ihnen – Kindern des Städtchens, mit denen er die Klippschule besucht hatte und sich duzte – Gleichgestellte, in deren Gesellschaft er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte. Auch der Postmeister, der vierte Genosse am lHombretisch

[345]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Desdemona.
Nach einem Gemälde von Ph. H. Calderon.

[346] und in der Kegelbahn, war nicht imstande, ihn einzuschüchtern, wennschon er sich auf seine amtliche Stellung als Vorgesetzter eines Postsekretärs wohl etwas zu gute thun konnte. – Aber erdrückend wirkte auf den würdigen Inhaber der Firma „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ die Person des Herrn Landraths, obwohl dieser ein sehr jovialer Herr war, der sich, wenn die Gelegenheit es mit sich brachte, mit großem Vergnügen an der Partie betheiligte und es ganz in der Ordnung gefunden haben würde, wenn Herr Konstantin etwas von den ehrfurchtsvollen Förmlichkeiten hätte aufgeben wollen, mit denen er dem Landrath, wo immer er mit ihm zusammentraf, entgegentrat.

Der Landrath war aus einer altadeligen Familie; sein Name und die Thaten seiner Vorfahren spielten eine gewisse Rolle in der Geschichte des Städtchens, und außerdem war er ein hoher Beamter, dem es schon verschiedene Male im Leben vergönnt gewesen war, sich der Person des „Allerhöchsten Herrn“, des Königs, nähern zu dürfen. Ein solcher Mann durfte Konstantin Stevenhagen nach Gefallen freundlich oder zurückhaltend behandeln, des letzteren Pflicht aber blieb es unter allen Umständen, niemals die Achtung aus den Augen zu verlieren, die er dem Herrn Landrath als dem Nachkommen eines alten Geschlechts und dem höchsten ihm bekannten Vertreter der Regierung und der Person des Königs schuldete.

Mit den anderen Honoratioren des Ortes verkehrte Herr Stevenhagen nur sehr wenig und mit keinem auf vertraulichem Fuße. Einige von ihnen waren „Zugezogene“, die für ihn Fremde geblieben waren, obgleich sie schon seit zwanzig oder mehr Jahren im Städtchen wohnen mochten; andere gefielen ihm nicht wegen politischer oder religiöser Freisinnigkeit oder weil sie sich hie und da nicht abgeneigt gezeigt hatten, mit Herrn Stevenhagen scherzen zu wollen, wofür er durchaus kein Verständniß hatte. Ihm genügte der kleine Kreis guter Menschen, in dem er lebte, und eine Vergrößerung desselben würde ihn sicherlich eher in Verlegenheit gesetzt als erfreut haben.

Eines Tages, als der Herr Landrath bei dem Doktor speiste, mit dem er zusammen studiert hatte und der sein guter Freund geblieben und sein Hausarzt geworden war, sagte Nehring beim Nachtisch zu seinem Gaste:

„Da fällt mir ein, daß wir im nächsten Monat Stevenhagen gratulieren müssen.“

„Gratulieren? Wozu.“

„Er begeht dann die hundertjährige Feier des Bestehens seines Handelshauses, das ist eine große Sache für den Mann, denn er blickt mit Stolz auf die durch ein Jahrhundert bewährte Rechtschaffenheit seiner Familie zurück.“

„Da hat der Mann ganz recht, und natürlich müssen wir ihm gratulieren. Aber könnte man ihm nicht sonst noch etwas Angenehmes bieten?“

Dem Doktor kam die Frage nicht überraschend; er hatte sich im Gegentheil sorgfältig darauf vorbereitet, wie er dies zu thun pflegte, wenn es galt, anderen eine Freude zu machen.

„Ja,“ antwortete er auf die Frage des Landraths, „ich habe mir das schon überlegt und wollte Dir zur Erwägung geben, ob man nicht für unseren Stevenhagen irgend eine königliche Auszeichnung erwirken könnte. Er hat es verdient durch seine anständigen Gesinnungen, durch seinen untadelhaften Lebenswandel, und es würde einen guten Eindruck in der Stadt machen, wo er allgemein beliebt ist.“

„Du meinst einen Orden?“

„Ja, einen Orden oder irgend einen Titel.“

„Ein Orden ginge wohl schon; aber welchen Titel könnte man ihm geben? Zum ‚Kommerzienrath‘ ist er doch zu klein, und etwas anderes wüßte ich nicht für ihn.“

„Verschaffe ihm den ‚Kommissionsrath‘, wenn Du ihn glücklich machen willst.“

„Den ‚Kommissionsrath‘?“ fragte der Landrath gedehnt. „Giebt es wirklich noch Menschen, denen das Freude macht?“

„Nun natürlich giebt es solche Leute, und ich stehe Dir dafür – Stevenhagen ist einer von ihnen.“

„Hm,“ meinte der Landrath, „ich will mir die Sache überlegen.“

Das genügte dem Doktor. Er kannte seinen Landrath als einen Mann aus demselben guten Stoffe, aus dem er selbst gemacht war, und wußte bestimmt, sein Freund werde nichts Eiligeres zu thun haben, als einen Bericht aufzusetzen, um die Ernennung Herrn Konstantin Stevenhagens zum Kommissionsrath aufs wärmste zu befürworten.

„Du darfst natürlich nicht von der Sache sprechen, bis sie fix und fertig ist,“ sagte der Landrath, „denn ich kann nicht wissen, wie man bei der Regierung mein Gesuch aufnehmen wird.“

„Ich spreche mit niemand von der Sache, bevor Du mir nicht sagen kannst, daß sie zum guten Ende geführt worden ist; und selbst dann noch nicht, damit Du für Deine Bemühungen die Freude haben kannst, Stevenhagen durch seine Ernennung zu überraschen.“ – –

Einige Wochen später konnte man an dem Thorweg des Stevenhagenschen Hauses auf einem großen Papierbogen in der schönen runden Schrift des Besitzers lesen: „Dieser Laden bleibt morgen wegen einer besonderen Feier geschlossen“; und am nächsten Tage meldeten sich, von früher Stunde an, zahlreiche Einwohner des Städtchens bei Herrn Stevenhagen, um ihm zu dem hundertjährigen Bestehen seines Geschäftes zu gratulieren und ihm zu wünschen, er selbst möge demselben noch während vieler Jahre in ungetrübter Gesundheit und Frische vorstehen.

Die Glückwünschenden – die ersten nach Frau Mathilde waren die „Borsdofer Aepfelchen“ gewesen, die ein vom Herrn Pastor verfaßtes schönes Gedicht hergesagt hatten, durch das der Jubilar bis zu Thränen gerührt worden war – wurden von dem festlich gekleideten Hausherrn und seiner Ehehälfte in der „guten Stube“ empfangen, wo Wein und Kuchen – letzterer von Frau Bäckermeister Mertens mit besonderer Liebe hergerichtet – aufgestellt waren. Als die Mittagstunde nahte, war das Zimmer mit einigen zwanzig Gästen, darunter dem Pastor, dem Doktor und dem Postmeister, gefüllt.

Da hielt ein von zwei kräftigen Pferden gezogener herrschaftlicher Wagen vor der Thür: der Wagen des Herrn Landraths. Jedes Kind im Städtchen kannte ihn, und sogleich erscholl im Zimmer von verschiedenen Seiten der Ruf: „Herr von Salwitz! Der Herr Landrath!“

Herrn Konstantin Stevenhagen stieg das Blut ins Gesicht vor freudiger Erregung, und er eilte der Thür zu, um dem hohen Gaste seinen Willkomm zu bieten.

Landrath von Salwitz, ein rüstiger, lebhafter Mann, war bereits aus dem Wagen gesprungen und kam dem Jubilar auf der Thürschwelle entgegen.

„Nun, lieber Stevenhagen,“ sagte er, „ich darf heute natürlich nicht bei Ihnen fehlen: meine allerherzlichsten Glückwünsche!“ und er ergriff Stevenhagens Hand und schüttelte sie kräftig.

„Der Herr Landrath sind in der That zu gütig.“

„Aber durchaus nicht. Es macht mir selbst die größte Freude. – Auch Ihnen, liebe Frau Stevenhagen, meine besten Gratulationen! Möchten Sie und Ihr Mann noch recht lange Jahre in Frieden, Gesundheit und Ehren leben und an Ihren Kindern und Kindeskindern nur Gutes und Freudiges erfahren!“

Darauf trat der Landrath in die Mitte des Zimmers, wohin ihm Herr und Frau Stevenhagen mit tiefen Verbeugungen, dankbar lächelnd, folgten, und dort blieb er stehen und räusperte sich vernehmbar, so daß jedermann erkennen konnte, er habe noch etwas Besonderes zu sagen und würde das nun thun.

„Lieber Herr Stevenhagen,“ begann er, „ich habe es für meine Pflicht als Landrath gehalten, an die Regierung zu berichten, daß einer der angesehensten Bürger unserer guten Stadt heute das seltene Fest der hundertjährigen Feier des Bestehens seines Geschäftes begeht. Ich habe mit Vergnügen diese Gelegenheit wahrgenommen, um meine gute Meinung über Sie als über einen loyalen Unterthanen, einen treuen Patrioten, einen ehrenfesten, angesehenen Bürger und Familienvater unverhohlen auszusprechen. Es ist darüber Seiner Majestät dem König Vortrag gehalten worden, Allerhöchstwelcher darauf zu verfügen geruht hat, daß Ihnen an diesem Ehrentag auch ein Beweis seiner Huld zu theil werden solle. Und so ist mir der ehrenvolle und erfreuliche Auftrag geworden, Ihnen einen Allerhöchsten Gnadenbeweis zu überbringen."

Er zog ein großes Couvert hervor, das er bis dahin unter dem zugeknöpften Rock verborgen gehalten hatte, und überreichte es dem Jubilar mit den Worten: „Herr Kommissionsrath Stevenhagen, empfangen Sie von mir als dem ersten herzliche Glückwünsche zu Ihrer Ernennung!“

Ein Murmeln der Ueberraschung ging durch die kleine Versammlung. [347] Außer dem Pastor, dem Doktor. und dem Postmeister, die in das Geheimniß eingeweiht waren, hatte noch niemand so recht verstanden, worum es sich handelte, am wenigsten Konstantin Stevenhagen. Mit zitternden Händen ergriff er den Umschlag, öffnete ihn, entfaltete einen großen Bogen und las die wenigen Zeilen, die ihm seine Ernennung zum „Königlichen Kommissionsrath“ mittheilten.

Es war zu viel, zu unerwartetes Glück für den kleinen bescheidenen Mann; es flimmerte ihm vor den Augen und er taumelte einen Schritt zurück. Ein Glas Wasser, das der Doktor ihm reichte, brachte ihn jedoch sogleich wieder zu sich, und nun suchte er stammelnd und erröthend nach Worten, um dem Herrn Landrath seine Freude, seinen tiefgefühlten Dank für die ihm erwiesene „unverdiente Gnade“ auszusprechen.

Der gute Landrath aber wollte davon nichts hören, sondern antwortete immer nur: „Sie schulden mir keinen Dank; Sie haben nur erhalten, was Sie verdienen; ich gratuliere, Herr Kommissionsrath, ich gratuliere!“

Nun drängten sich auch die anderen Anwesenden herbei, um den neuernannten Würdenträger zu beglückwünschen. Frau Mathilde und Frau Agathe umarmten den Glücklichen unter Thränen; auch der Doktor und der Landrath konnten ihre Rührung ob der innigen und harmlosen Freude, deren Urheber sie waren, kaum verbergen, und jeder suchte durch Worte und Mienen seine herzliche Theilnahme an dem frohen Ereigniß kundzugeben. – Es war ein schöner, großer Augenblick in Herrn Stevenhagens ruhigem Leben!

Während des ganzen Tages blieb das Festhaus mit Glückwünschenden gefüllt. Viele von denjenigen, die schon am Morgen erschienen waren, hielten es für ihre Pflicht, sich ein zweites Mal zu zeigen, um ihre Freude über die hohe Auszeichnung auszusprechen, die Herrn Stevenhagen zu theil geworden war; andere, entferntere Bekannte des Jubilars, die unter gewöhnlichen Umständen kaum daran gedacht haben würden, sich einzustellen, glaubten nicht unterlassen zu dürfen, dem neuernannten Herrn Kommissionsrath ihre Glückwünsche darzubringen; und erst in später Nachmittagstunde jenes ereignißvollen Tages befand sich Herr Konstantin Stevenhagen mit seiner treuen Mathilde allein. Er ließ sich tief aufathmend in den altmodischen großen Sorgenstuhl des Wohnzimmers fallen, legte die Hände ineinander, blickte ernst und nachdenklich vor sich hin und wiederholte mehrere Male leise: „Ja, ja – wer hätte das geglaubt!“ – Die Größe des Ereignisses hatte ihn nahezu überwältigt.

Frau Mathilde nahm die Sache erheblich ruhiger auf, aber auch sie war in hohem Maße erfreut; nicht nur wegen der großen Befriedigung, die ihr lieber Konstantin empfand, sondern weil sie selbst nicht wenig stolz darauf war, in Zukunft den Titel „Frau Rath“ führen zu dürfen.

„Was hat ein Kommissionsrath eigentlich zu thun, Alterchen?“ fragte sie.

„Das weiß ich selbst noch nicht,“ antwortete Konstantin; „aber der Doktor und der Pastor werden es mir gewiß sagen können; das sind studierte Leute, die müssen es wissen.“

„Wirst Du eine Uniform tragen?“

„Das weiß ich auch noch nicht. – Laß nur, Kind, laß nur – störe mich nicht – ich habe den Kopf so voll, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll zu denken, und ich bin den ganzen Tag über noch nicht einen Augenblick zu mir selbst gekommen. – Weißt Du was, liebe Mathilde, ich möchte ein Viertelstündchen auf dem Wall spazieren gehen und frische Luft schöpfen, dann kehre ich zurück, und wir wollen noch einen Imbiß einnehmen, obgleich es gar nicht an der Zeit ist. Aber heute mittag bin ich kaum dazu gekommen, einen Bissen zu essen.“

„Das ist mir ganz recht,“ sagte Frau Mathilde, „geh’ nur! Unterdessen mache ich hier auch ein wenig Ordnung; es steht ja alles die Kreuz und Quer! Die Menge Leute! Ich habe ihrer so viele nicht ’mal an unserem Hochzeitstag in unserem Hause gesehen. Du kannst eine halbe Stunde bleiben und dann sollst Du einen gedeckten Tisch finden.“

Herr Stevenhagen nahm Hut und Stock, trat sinnend auf die Straße und machte sich auf den beabsichtigten Spazierweg. Eine volle Stunde später erst kam er wieder zurück, so daß Frau Mathilde ihn besorgt fragte, ob ihm etwas zugestoßen, daß er so lange ausgeblieben sei. Herr Stevenhagen antwortete zerstreut, er sei nur auf dem Wall auf und ab gegangen und habe nicht gewußt, daß es so spät geworden wäre.

Eine Fülle von Gedanken und Empfindungen hatte in seinem kleinen, an die größte Regelmäßigkeit gewöhnten Kopfe eine wahre Verwirrung angerichtet. Er war nun Beamter, königlicher Beamter – ein Rath, der einzige im Städtchen außer dem Herrn Landrath. Es war unglaublich, und doch war es so! Er konnte die ganze Sache noch nicht fassen und er mußte sich mit dem Pastor und dem Doktor aussprechen. Das sollte morgea geschehen; dann würde er wissen, was er zu thun hätte. Einstweilen schwelgte er in dem geradezu beklemmenden Gefühl, daß ihm ein großes unerwartetes Glück zugefallen sei, und daß er dieses Glück verdient haben solle – denn das hatte ihm ja der Herr Landrath wohl zwanzigmal wiederholt. Er, Konstantin Stevenhagen, mußte doch wirklich ein bedeutenderer Mann sein, als er bis dahin in seiner unbegründeten Bescheidenheit geglaubt hatte.

Er konnte bei Tische nur wenig essen und abends zum ersten Male in seinem Leben vor Aufregung nicht einschlafen. Erst gegen Morgen fand er Ruhe, und – was seit seiner Verheirathung noch nicht vorgekommen war – Frau Mathilde mußte ihn wecken, um zu sagen, es sei Zeit für ihn, sich anzuziehen; der Laden werde in einer halben Stunde geöffnet.

Der Laden? – War es denkbar, daß er, der Herr Rath, nach wie vor mit der Elle in der Hand hinter dem Ladentisch stehen sollte, um jeden, der dort eintrat, zu bedienen und dankend einige Groschen für eine halbe Elle Kattun oder Band einzukassieren?

„Ich will zunächst zu Nehring und zum Pastor gehen und mit ihnen sprechen. Paß Du nur auf den Laden auf; sonst kann es ja auch Fritz thun!“

Fritz war ein kleiner Mann von etwa vierzig Jahren, der als Buchhalter, Korrespondent und häufig auch als Verkäufer Herrn Stevenhagen seit zwanzig Jahren zur Seite stand und sich durch seine am vorhergehenden Tage erfolgte Ernennung zum Prokuristen des alten Hauses, dem er diente, ebensosehr gehoben fühlte wie sein hoher Chef durch die Verleihung des Titels eines Kommissionsraths. Fritz Mätzkow stammte aus einer Bauernfamilie; er war als ein kränkliches Kind im Städtchen erzogen und wegen „allgemeiner Körperschwäche“ vom Militärdienst befreit worden. Er besaß alle Eigenschaften, die Herr Stevenhagen von seinem Arbeitsgehilfen wünschen konnte, war still, bescheiden, grundehrlich und betrachtete das Geschäft, in dem er arbeitete, als etwas ungemein Bedeutendes und dessen Chef, Herrn Konstantin Stevenhagen, als einen hochstehenden angesehenen Mann, dem er Verehrung schuldete und bereitwilligst zollte.

„Jawohl,“ sagte Frau Mathilde, „Fritz und ich werden im Laden schon alles besorgen, geh’ nur etwas spazieren oder mache einige Besuche; das wird Dich zerstreuen.“

„Ich brauche keine Zerstreuung, liebes Kind,“ antwortete Stevenhagen würdevoll. „Ich will nur zum Doktor und Pastor gehen, um Auskunft über meine neue Stellung einzuholen.“

„Recht so – hole Dir nur Auskunft, lieber Alter!“ sagte Frau Mathilde, und Herr Stevenhagen machte sich auf den Weg, nachdem er sich angekleidet und den Morgenkaffee eine gute Stunde später als gewöhnlich eingenommen hatte; aber seit gestern ging soviel Außergewöhnliches im Hause vor, daß diese Unregelmäßigkeit, die Frau Mathilde unter anderen Umständen in Erstaunen versetzt haben würde, kaum von ihr bemerkt wurde.

Der Herr Pastor war nicht zu Hause; er war nach einem benachbarten Dorfe gefahren, um einen Amtsbruder zu besuchen. Darauf ging Herr Stevenhagen zum Doktor, der ihm im Schlafrock, eine Zeitung in der Hand, die Pfeife im Munde, entgegentrat.

Nehring war im ersten Augenblick beunruhigt, Stevenhagen zu einer Stunde zu sehen, welche dieser für gewöhnlich der geschäftlichen Thätigkeit im Verkaufsladen widmete; aber seine Besorgniß, die Aufregungen des letzten Tages möchten seinen alten Freund vielleicht krank gemacht haben, legte sich bald, als dieser ohne Umschweife sagte, er sei gekommen, um sich zu erkundigen, welcher Art die Auszeichnung eigentlich sei, die ihm gestern durch seine Ernennung zum Kommissionsrath zu theil geworden.

Der Doktor lächelte vor sich hin, aber es war ein vollständig harmloses Lächeln und es konnte Herrn Stevenhagen auch nicht von ferne der Gedanke kommen, es sei ein ironisches, und Nehring mache sich über ihn lustig. Das war auch keineswegs der Fall. Der Doktor erkannte an der Wichtigkeit, die Herr Stevenhagen dem Titel beilegte, daß er sein Ziel, dem guten Manne eine Freude zu bereiten, vollauf erreicht habe; und das gereichte ihm [348] zu inniger Befriedigung. Es gelang ihm auch, Stevenhagen, für den das Beamtenwesen ein Buch mit sieben Siegeln war, in einer längeren Rede, die keinen Anspruch auf besondere Klarheit machen konnte, auseinanderzusetzen, daß es verschiedene Klassen von Beamten im Staate gebe: aktive, zur Disposition gestellte, pensionierte, entlassene u. s. w. ... und endlich solche, denen als besondere Auszeichnung ein „Charakter“ beigelegt worden sei, ohne daß damit eigentliche amtliche Verpflichtungen verbunden wären.

„Das sind die glücklichsten von sämmtlichen Beamten,“ erklärte der Doktor, „denn sie haben alle Ehren und Vorrechte der wirklich Angestellten und keine der Lasten: weder Vorgesetzte noch Arbeiten. Und zu dieser glücklichen Klasse von Beamten gehörst auch Du!“

Stevenhagen fühlte sich immer mehr in seiner eigenen Achtung steigen.

Die Frage, welchen Rang ein Kommissionsrath auf der Stufenleiter der Beamten einnehme, wußte der Doktor, in dessen Absicht es durchaus nicht lag, Stevenhagens Meinung von der ihm verliehenen Würde zu verkleinern, dadurch zu umgehen, daß er sagte, diejenigen, denen „der Charakter“ einer Stellung verliehen worden sei, könnten nicht wie die Unteroffiziere, Lieutenants und Hauptleute genau klassifiziert werden. „Du mußt Dir genügen lassen,“ fuhr er fort, „daß Du nächst dem Landrath der einzige Rath hier bist, also gewissermaßen der Höchstgestellte nach diesem.“

„Und wie verhält es sich mit der Uniform?“ fragte Stevenhagen weiter, Mathilde erkundigte sich danach bei mir; ich konnte ihr keine Antwort geben. Habe ich das Recht, eine solche zu tragen, und wenn ‚ja‘, bei welchen Gelegenheiten würde ich sie anlegen müssen?“

Es wurde dem Doktor recht schwer, auch bei dieser Frage ernst zu bleiben. – „Uniformen werden von Civilbeamten nur bei Gelegenheiten getragen, die sich bei uns kaum darbieten können. Ja, wenn der König uns einmal besuchen würde, dann müßtest Du in zweifarbigem Tuche erscheinen. Aber bis dahin könnte der bunte Rock längst von den Motten zerfressen sein. Laß Dir vorläufig keine Uniform machen; dazu wird sich immer noch Zeit finden.“

„Habe ich einen Dankbesuch bei dem Herrn Landrath, Antrittsvisiten bei den anderen Beamten hier zu machen?“ war Stevenhagens nächste Frage.

„Selbstverständlich,“ antwortete der Doktor. „Und da ich dies voraussah, so habe ich hier noch ein unbedeutendes Geschenk für Dich, das ich Dir eigentlich heute bringen wollte, das Du aber nun gleich mitnehmen kannst.“

Er stand auf und nahm vom Schreibtisch ein kleines Paket, das er seinem Freunde überreichte und das dieser sofort öffnete, während Nehring ihn mit wohlwollender Aufmerksamkeit beobachtete. Es enthielt hundert Visitenkarten „Konstantin Stevenhagen, Königlicher Kommissionsrath.“

Die Karten waren in der Buchdruckerei des Städtchens angefertigt worden und zwar „mit Liebe“. Sie waren aus schönem Karton, Primaqualität, mit Goldschnitt und goldener Einfassung; und Name und Titel des Herrn Stevenhagen erschienen nicht etwa in den üblichen ordinären schwarzen Buchstaben, sondern in röthlich goldenen Lettern.

Der Buchdrucker hatte sich gedacht, daß man für einen Kommissionsrath etwas Außerordentliches thun müsse, und es war ihm auch gelungen, etwas ganz Außergewöhnliches zu Tage zu fördern. Karten von ähnlicher Schönheit hätte man nicht in der ganzen Provinz, ja selbst nicht in der Hauptstadt vorgefunden. Der Buchdrucker war mit Recht stolz auf das Kunstwerk und Herr Stevenhagen dadurch in hohem Grade erfreut. Der Doktor rieb sich schmunzelnd die Hände.

„Das muß ich sogleich Mathilden zeigen,“ sagte Stevenhagen, und er entfernte sich von seinem Freunde, nachdem er mit ihm verabredet hatte, daß man sich am Abend zur üblichen Stunde wieder in der Kegelbahn treffen werde.

Herr Stevenhagen erschien während des ganzen Tages nur für wenige Minuten im Laden; nothwendig war seine Anwesenheit daselbst überhaupt nicht. Fritz konnte alles besorgen. Bei Tische war er zerstreut und aß weniger als gewöhnlich; am Abend in der Kegelbahn schob er so schlecht, daß der Postmeister, der sein Partner war, ihm heftige Vorwürfe machte. Unter gewöhnlichen Umständen würde Herr Stevenhagen sich dadurch gekränkt gefühlt haben, heute hörte er es kaum.

(Fortsetzung folgt.)




Die „Reichsunmittelbaren“ in Preußen.

Von Dr. J. Jastrow.


Im Königreich Preußen ist kürzlich die Einkommensteuer durch ein Gesetz geregelt worden, welches die Heranziehung des vollen Einkommens aller Staatsbürger zum angesprochenen Zwecke hat. Dieses Gesetz ist bereits in Kraft getreten, und die im ganzen Königreich von den Bürgern eingeforderten Steuererklärungen bilden gegenwärtig das allgemeine Tagesgespräch. Nun wird von dem jetzigen Landtag ein ferneres Gesetz erwartet, durch welches auch die „Reichsunmittelbaren“ in Preußen zur Einkommensteuer herangezogen werden und für das Aufhören ihrer Steuerfreiheit eine Entschädigung erhalten sollen.

Manche unter unseren Lesern haben wohl bei dieser Gelegenheit zum ersten Male das Wort „Reichsunmittelbare“ gehört; andere, die sich erinnern, es schon früher vernommen zu haben, vermögen nicht zu sagen, was darunter verstanden wird. Giebt es Staatsbürger, welche zu dem Deutschen Reiche in einer mehr unmittelbaren Beziehung stehen als alle anderen? Und wenn dies der Fall ist, woher kommt es, daß auf diese unmittelbare Beziehung eine Steuerfreiheit sich gründet? Wie ist es möglich, daß ein Staatsangehöriger für die Verpflichtung, Steuern zü entrichten, noch erst entschädigt werden soll?

Um diese und andere ähnliche Fragen zu beantworten, muß man etwas weit in die Vergangenheit zurückgehen. Es handelt sich hierbei um Einrichtungen früherer Zeiten, deren letzte Ausläufer sich bis in die unserige herein erstrecken. Derartige Einrichtungen darf man nicht beurtheilen, bevor man versucht hat, sie geschichtlich zu verstehen. – –

Im alten Deutschen Reiche, wie es sich bis in die ersten Jahre unseres Jahrhunderts erhalten hat, stand der habsburgische Kaiser an der Spitze von etwa vierzig geistlichen Fürsten, siebzig weltlichen Fürsten und fünfzig Reichsstädten. Diese waren dem Reiche unterthan. Wenn das Reich für die Unterhaltung des Reichskammergerichts Geldbeiträge brauchte, so wurden dieselben von jenen einhundertundsechzig „Gliedern“ des Reiches eingefordert. Wenn eine Reichsarmee auf die Beine gebracht werden sollte, so wurden nach demselben Verzeichniß die Reichsaufgebote verlangt. Wie die einzelnen Reichsfürsten und Reichsstädte die Gelder aufbrachten, wie sie dieselben von den Einwohnern ihrer Lande erhoben, das war ihre eigene Angelegenheit. Denn diese Einwohner waren ihre Unterthanen und standen zu dem Reiche nur in „mittelbarer“ Beziehung, während die Beziehung der Fürsten zum Reiche eine direkte, eine „unmittelbare“ war.

Das ist der Unterschied zwischen mittelbaren und unmittelbaren Reichsangehörigen, wie ihn das alte Reichsrecht kannte.

Die Reichsunmittelbaren erfreuten sich der ausgedehntesten Privilegien. Ein jeder übte in seinem Lande das Recht der Gesetzgebung, der Rechtsprechung, der Steuerausschreibung, kurzum im weseutlichen das Recht der Staatshoheit. Die reichsunmittelbaren Fürsten und Städte zusammen bildeten die Versammlung des Reichstages, welcher im Laufe des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zu einem dauernden Senat neben dem Kaiser wurde und in der alten Reichsstadt Regensburg seinen ständigen Sitz hatte.

Innerhalb jedes einzelnen Landes wiederholte sich dasselbe Verhältniß im kleinen Maßstabe. Der Landesherr hatte „unmittelbar“ unter sich Prälaten, Ritter und städtische Magistrate. Die Hintersassen und die einzelnen Bürger dagegen standen zum Landesherrn wiederum nur in mittelbarer Beziehung. Auch im Landesstaat waren die „Landesunmittelbaren“ in reichem Maße bevorrechtet. Jeder Ritter und Prälat übte auf seinem Gute oder auf seiner Abtei wenigstens die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizei, wie in den Städten der patrizische Magistrat. Auch sie konnten die vom

[349]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag in München.
Konzert im Freien.
Nach einem Gemälde von H. Havenith.

[350] Landesherrn eingeforderten Steuern mit einer gewissen Freiheit unter ihre Hintersassen vertheilen. Dies schlug thatsächlich dazu aus, daß die Steuern. welche der Landesherr ausschrieb, von den Hintersassen getragen, von Rittern, Prälaten und Stadtmagistraten nur vermittelt wurden: die Landesunmittelbären waren thatsächlich in gewisser Beziehung steuerfrei; ihrem Grundbesitz war die Steuerfreiheit theilweise ausdrücklich gewährleistet. Wenn zu Zwecken der landesherrlichen Verwaltung persönliche Dienstleistungen verlangt wurden, Botendienste, Vorspanndienste, Wegebauten u. a. m., so stand dem Landesunmittelbaren vielfach eine Befreiung von diesen Dienstleistungen zu. Als Ganzes bildeten die Landesunmittelbaren einen Landtag neben dem Landesherrn wie die Reichsunmittelbaren einen Reichstag neben dem Kaiser. Wie jeder, der Sitz und Stimme im Reichstag zu Regensburg hatte, ein „Reichsstand^ genannt wurde, so war jeder, der zum Erscheinen im Landtag berechtigt war, ein „Landstand“.

Der Aufbau des Staatswesens glich einer großen Pyramide. Ueber der breiten Unterlage der Land- und Stadtbewohner erhob sich die engere Schicht der Prälaten, Ritter und Magistrate, über diesen die noch engere der Reichsfürsten und Reichsstädte, während an der gemeinsamen Spitze der Kaiser stand. Dieser Staatsaufbau stammte aus einer Zeit, in der er berechtigt war. In niederen Kulturstufen hat sich überall in Europa die Sammlung der Staatskräfte in kleinen Kreisen, und erst allmählich ihre Zusammenfassung in größere vollzogen. Während man aber überall sonst zu einer stärkeren Zusammenfassung der Staatskräfte vorgeschritten war, verharrte Deutschland in dem alten Zustand, der das viel beklagte Bild der Zersplitterung in Kleinstaaten gewährte. Den letzten Stoß versetzte diesem Staatswesen der Zusammenprall mit dem revolutionären Frankreich. In den Jahren 1802 bis 1815 sind in den verschiedensten Richtungen Staatsveränderungen in Deutschland unternommen worden. Sie gingen theils von Napoleon, theils von seinen Gegnern aus, stimmten aber alle darin überein, daß sie die unendliche Vielheit kleiner Staatssplitter zu beseitigen trachteten. Selbst die deutsche Bundesakte vom Jahre 1815, die nach Möglichkeit bestrebt war, alle fürstlichen Rechte in früherem Umfang wiederherzustellen, hat doch statt der einhundertundsechzig Souveräne, welche es vor der französischen Revolution in Deutschland gab, nur fünfunddreißig wieder zugelassen, welche seit damals den „Deutschen Bund“ bildeten. Der ganze Rest der kleinen Herzöge, Fürsten und Reichsgrafen wurde endgültig für einverleibt erklärt. Die ehemals reichsunmittelbaren kleinen Herren wurden von da ab Unterthanen des Souveräns, in dessen Gebiet sie saßen. sie wurden „mediatisiert“. Wenn man seit damals diese Häuser die „reichsunmittelbaren“ genannt hat, so meint man damit die ehemals reichsunmittelbaren. Die Oberhäupter dieser Familien werden auch „Standesherren“ genannt.

Die Familien als solche verloren ihren fürstlichen Charakter nicht. Sie blieben den regierenden Fürstenfamilien Deutschlands und Europas ebenbürtig und bilden mit ihnen zusammen den „hohen Adel“, während alle übrigen, Grafen, Barone, Ritter etc., den „niederen Adel“ bilden.

Welche Stellung sollte nun diesen Familien innerhalb der einzelnen Staaten angewiesen werden? Es war selbstverständlich, daß man sie nicht schlechter stellen konnte als den niederen Adel daselbst. Wenn jeder Ritter zum Erscheinen im Landtag berechtigt war, so mußten um so mehr die Mediatisierten die jetzt in den Adel des Landes eintraten, zum erblichen Sitze im Landtag an der Spitze des gesammten Adels berechtigt sein. Wenn noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts jedem Ritter auf seinem Rittergut Gerichtsbarkeit und Polizei zustand, so mußten diese Rechte um so mehr den Mediatisierten auf ihren Domänen bewilligt werden. Wenn der gesammte Ritterstand eine weitgehende Befreiung von persönlichen Dienstleistungen genoß, wenn er sich nicht geringer Steuerprivilegien erfreute, so durfte man jene ehemals reichsunmittelbaren Familien zum mindesten nicht schlechter behandeln. Nach der deutschen Bundesakte „sind die Häupter dieser Häuser die ersten Standesherren in dem Staate, zu dem sie gehören; sie und ihre Familien bilden die privilegierteste Klasse in demselben, insbesondere in Ansehung der Besteuerung.“

Fügte sich so in den Jahren 1802 bis 1815 der hohe Adel in die feudale Verfassung ein, wie sie damals in den einzelnen Staaten vielfach noch bestand, so unterlag seine Stellung allen Aenderungen, denen in der Folgezeit die feudale Verfassung unterlag. Ueberall in Deutschland führte man eine einheitliche staatliche Gerichtsverfassung ein, Gerichte, welche durchweg im Namen des Landesfürsten Recht sprachen und nicht mehr im Namen des Grundherrn. Man setzte bis in die untersten Stufen hinab eine landesherrliche Polizei an Stelle der adligen. Es kamen neue persönliche Dienstleistungen für den Staat auf, welche von Anfang an mit dem Anspruch auftraten, daß sich ihnen niemand entziehen dürfe. Die Pflicht, als Geschworener oder als Schöffe zu dienen, die Pflicht, Aemter der bürgerlichen Selbstverwaltung zu übernehmen, machte nicht wie einst die Pflicht der Frohnden und Wegebauten vor den Thüren der Paläste Halt. Mit einer größeren Ausdehnung der indirekten Steuern war eine steigende Verallgemeinerung derselben verbunden; wenn eine gemeinsame Zolllinie zuerst den preußischen Staat, dann ganz Deutschland umschlang, so wurden an der Grenze die eingehenden Waren verzollt ohne Rücksicht darauf, für welche Klasse von Unterthanen sie bestimmt waren. Aber auch bei einer Neuregelung der direkten Steuern gingen die deutschen Staaten vielfach mit Beseitigung der vorhandenen Ausnahmerechte vor.

In Preußen entwickelte sich die Stellung der Mediatisierten unter beständigen Stößen und Gegenstößen. Die preußische Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 sprach die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und die Aufhebung aller Standesunterschiede aus. Kurz darauf, als eine gegentheilige Richtung im ganzen Staatsleben die Oberhand gewann, erfolgte auch hierin ein Rückschlag. Nicht nur daß man die bereits beseitigte Ausnahmestellung der Mediatisierten im Wege der Gesetzgebung wiederherzustellen unternahm, man ließ sich sogar dazu herbei, sie im Wege des Vertrags zwischen dem König von Preußen und seinen ehemals reichsunmittelbaren Unterthanen zu bewerkstelligen; ja, man kam auf den Gedanken, den letzteren für gewisse Verzichte eine Entschädigung anzubieten. Auch die neuere Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches hat sich zu den verschiedenen Rechten, welche die Mediatisierten für sich in Anspruch nahmen, verschieden gestellt. So ist die Befreiung von der Wehrpflicht durch das Reichsmilitärgesetz allen ehemals reichsunmittelbaren Familien ausdrücklich bestätigt worden, während die standesherrlichen Gerichte durch die Reichsgesetzgebung mit einem Federstrich vernichtet und auch die übrigen Privilegien der Standesherren in Justizsachen bis auf verschwindend geringe Ausnahmen beseitigt wurden.

*  *  *

Will man über die heutige Stellung des hohen Adels in Deutschland zu einem Urtheil gelangen, so muß man die verschiedenen Privilegien voneinander sondern. Das Recht der Ebenbürtigkeit, welches diese Familien für sich in Anspruch nehmen, ist wohl von allen das eigenartigste. Wenn etwa ein Prinz von Hohenlohe die Tochter des Fürsten Bismarck geheirathet hätte, so würde dies eine Mesalliance gewesen sein; die Kinder aus einer solchen Ehe wären nicht berechtigt, an dem standesherrlichen Familiennamen oder an dem standesherrlichen Vermögen der Hohenloheschen Familie theilzunehmen. Eine solche Konsequenz mag uns sonderbar anmuthen, aber sie ist doch nur eine Folge davon, daß die eigenthümlichen Hausordnungen des Privat-Fürstenrechts und damit auch dessen völkerrechtliche Seite in allen monarchischen Staaten als maßgebend anerkannt sind. Solange noch der Grundsatz zu Recht besteht, daß in regierenden Häusern nur die „ebenbürtige“ Ehe volles Erbrecht gewährt, haben wir in Deutschland gerade ein Interesse daran, daß der Kreis der Ebenbürtigkeit innerhalb Deutschlands sich nicht verengere: dieses Privileg der standesherrlichen Familien ist in Deutschland ein gewisser Schutzwall dagegen, daß unsere zweiundzwanzig regierenden Familien nicht allzuviel in auswärtige dynastische Interessen hineingezogen werden. Die sonstigen Ehrenrechte, welche den standesherrlichen Familien zukommen, wie das Recht, sich eine Ehrenwache mit bestimmter Uniform zu schaffen, das Recht auf gewisse Ehrentitel (die Gerichte dürfen in Prozessen eines Standesherrn nur von dem „Herrn“ Kläger oder dem „Herrn“ Beklagten reden) u. a. m. sind nicht von ernstlicher Bedeutung. Und das Recht auf Sitz und Stimme im preußischen Herrenhaus ist, solange dieses Haus in seiner heutigen Verfassung besteht, als gerechtfertigt allgemein zugegeben.

Von diesen Privilegien verschieden sind alle die, welche sich auf Staatshoheitsrechte und auf Unterthanenpflichten beziehen. [351] In diesen Fragen ist kein völkerrechtlicher Gesichtspunkt zulässig wie in denen des Privat-Fürstenrechts. Unser heutiges Deutsches Reich beruht auf dem Gedanken, daß für unsere staatlichen Angelegenheiten die völkerrechtlichen Verabredungen des Jahres 1815 keine bindende Schranke bilden. Zwischen den Hohenzollern und ihren Landeskindern hat ein völkerrechtlicher Vertrag keinen Platz. Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches und der Einzelstaaten hat hier die Verhältnisse frei und sachgemäß zu regeln. Es war der freie Wille der Reichsgesetzgebung, wenn sie die Standesherren von der Militärpflicht ausnahm. Und es ist ebenso der freie Wille des Gesetzgebers, wenn er ein anderes ihrer Privilegien aufheben will.

Ueber keines dieser Privilegien bestehen aber so irrthümliche Auffassungen wie gerade über die Befreiung von der Einkommensteuer, deren Aufhebung jetzt in Preußen auf der Tagesordnung steht.

Schon über die Frage, um welche Familien es sich dabei denn eigentlich handle, hört man die wunderlichsten Ansichten. Keineswegs haben alle standesherrlichen Familien einen Anspruch auf eine Sonderstellung, sondern nur die, welche in Preußen selbst auf reichsunmittelbaren Gütern sitzen. Ein württembergischer Standesherr z. B., der auf einem Rittergut wohnt, welches er sich in Preußen gekauft hat, genießt hier keinerlei Steuerprivileg. So führt die Matrikel des Herrenhauses den Präsidenten, den Herzog von Ratibor, nicht unter den „vormaligen deutschen reichsständischen Häusern“ auf, sondern unter den „übrigen Mitgliedern mit erblicher Berechtigung“. Denn Ratibor ist nicht reichsunmittelbares Lehen gewesen, schon aus dem einfachen Grunde, weil Schlesien damals nicht zum Deutschen Reiche gehörte. Reichsunmittelbar ist der Herzog von Ratibor nur in seiner Eigenschaft als Prinz zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, d. h. er ist württembergischer Standesherr, aber nicht preußischer. Die Zahl der preußischen standesherrlichen Familien ist also eine eng begrenzte. Es sind die Herzöge von Arenberg und von Croy, die Fürsten von Bentheim, Fürstenberg, Salm, Sayn, Thurn und Taxis, Isenburg, Wied und die Fürsten und Grafen Solms. Hierzu kommen die Grafen von Stolberg, welche zwar nicht bis zur Auflösung des Deutschent Reiches Reichsunmittelbare gewesen sind, in Preußen aber jenen anderen Familien gesetzlich gleichgestellt wurden.

Von diesen elf Häusern, welche einschließlich ihrer Zweige zwanzig Familien umfassen, geht jedoch gerade in Bezug auf das Steuerprivileg wiederum eine Anzahl ab. Zunächst bleiben die beiden Häuser Fürstenberg und Thurn und Taxis, welche nur wegen einiger Güter im Hohenzollernschen als preußische Reichsunmittelbare anzusehen sind, hier außer Betracht, weil die hohenzollernschen Lande ihre eigene Steuergesetzgebung haben, welche diese Privilegien ausschließt. Es scheiden ferner alle Familien aus, welche bloß in den Provinzen Hessen-Nassau und Hannover ihre Domänen haben, da in diesen beiden Provinzen im Diktaturjahr 1866/67 die Steuerprivilegien aufgehoben und durch kein neueres Gesetz wieder eingeführt worden sind. Außerdem aber hat in jenen obenerwähnten Verträgen eine Anzahl Familien auf das Steuerprivileg verzichtet. Nach dieser Durchsiebung bleiben im ganzen nur fünf Familienzweige übrig: Salm-Salm, Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Solms-Braunfels, Solms-Lich-Hohensolms, Wied, denen die drei gräflich Stolbergischen Familien (Stolberg-Stolberg, Stolberg-Wernigerode, Stolberg-Roßla) gleichgestellt sind. Ueber das Recht des Fürsten zu Bentheim-Steinfurt gehen die Ansichten auseinander.

Es sind heute also nur acht bis neun Familien, welche auf preußischem Boden ein Recht auf Freiheit von der Einkommensteuer haben. Wo hier und da eine andere Familie die Steuerfreiheit genossen hat, da ist es zu Unrecht geschehen, theilweise sogar aus bloßem Irrthum der Veranlagungsbehörden.

Wie über den Kreis der Privilegierten, so sind auch über den Inhalt des Privilegs irrige Ansichten verbreitet. Selbst nach der deutschen Bundesakte steht den standesherrlichen Familien nur das Recht zu, die „privilegierteste Klasse“ zu bildett, d. h., es darf in einem Staate keine Bevölkerungsklasse geben, welche günstiger gestellt wäre als die Standesherren. Da es in Preußeu nun eine in Steuersachen privilegierte Bevölkerungsklasse nicht mehr giebt, so ist die Wirksamkeit jener Bestimmung der deutschen Bundesakte von selbst auf Null zusammengeschrumpft. Am allerdeutlichsten würde dies zu Tage treten, wenn man das Vorbild des Königreichs Sachsen befolgte, in welchem das königliche Haus selbst auf die Steuerfreiheit verzichtet und sie nur für König und Königin beibehalten hat. Aber auch in Preußen, wo neben dem königlichen und fürstlichen Hause Hohenzollern auch den drei besiegten souveränen Häusern von Hannover, Hessen und Nassau die Steuerfreiheit bewilligt ist, wird man doch kaum im Ernste behaupten können, daß hiermit eine „Klasse“ der Bevölkerung geschaffen sei, der nun die Standesherren gleichgestellt werden müßten – ganz abgesehen davon, daß die deutsche Bundesakte für die Regelung dieser Verhältnisse im Jahre 1892 ebensowenig ein Hinderniß bilden kann, wie sie in den Jahren 1866 und 1870/71 für die Begründung des Deutschen Reiches ein Hinderniß bilden durfte. Wenn in Preußen die Steuerpflicht jener acht bis neun Familien erst beginnen soll, sobald eine Abfindungssumme für das Aufhören ihrer Steuerfreiheit durch Staatsgesetz festgesetzt ist, so mag dem die Rücksicht zu Grunde liegen, daß auch ein großer Theil der anderen Familien früher solche Abfindungssummen erhalten hat. Doch ist mit dieser „Entschädigung“ nicht gemeint, daß der Staat verpflichtet sein solle, diesen Familien einen Schaden zu ersetzen und ihnen ein so hohes Kapital zu geben, daß aus dessen Zinsen allein die Steuer alljährlich bestritten werden könne. Es kann sich vielmehr nur um kleinere Summen handeln, welche den Zweck haben, den Uebergang in die neuen Verhältnisse weniger plötzlich zu machen. Die Ansicht aber, als ob die Höhe dieser Summe durch Verhandlungen mit den Standesherren festgestellt werden müsse, ist eine irrthümliche. – –

Wer alte Einrichtungen am Maßstab alter Zeiten zu messen weiß, wird Standesprivilegien zu begreifen suchen nach den Zuständen, aus denen sie einstens hervorgegangen sind. Aber soll der historische Sinn, der jeder Zeit gerecht zu werden bestrebt ist, gerade vor der eigenen Zeit Halt machen? Auch unser Jahrhundert mit seiner Kultur und seinen Kulturbedürfnissen, mit seinen Verfassungen und seinen sozialen Anschauungen hat sein Recht und läßt es sich nicht nehmen. Es ist wahr, daß das ausgehende 19. Jahrhundert Steuerprivilegien duldet und sogar erfordert. Aber das sind Privilegien für die Armen und Unbemittelten. Diesen die Steuer zu erlassen oder zu erleichtern, ist das Bestreben der heutigen Gesetzgebung. Damit sind Privilegien für einige Familien, welche zu den reichsten im Lande gehören, mögen sie nun zusammen 70, 80 oder 100 Millionen Mark besitzen, nicht vereinbar. Ein Ueberrest aus alten Zeiten, steht dieses Privileg inmitten einer Umgebung, die den ehemaligen Sinn in seinen Gegensinn verkehrt. Und heute führt es außerdem den merkwürdigst „Rechtszustand“ herbei, daß die Familie der Kaiserin steuerpflichtig ist, die Familie Solms-Lich-Hohensolms aber dafür zu gut sein soll.

Und doch! Handelte es sich um die Frage, ob ein ganzer Stand, der ehemals für unsere Geschichte soviel bedeutete, den ihm gebliebenen Rest von Freiheit behalten oder verlieren soll – man könnte den zähen Vertheidigern des Alten das Mitgefühl nicht versagen, das dem wackeren Kämpfer für eine verlorene Sache so gern gezollt wird. Aber diese Frage ist längst entschieden. Die „Freiheit“ haben auch jene Standesherren bereits aufgegeben. Sie sind bereit, die Pflicht auf sich zu nehmen, sie haben nichts mehr dagegen, daß sie die „Steuererklärung“ ausfüllen, den Steuerzettel annehmen und sich wie jeder andere bei Strafe der Exekution die Zahlung befehlen lassen. Nur wollen die Letzten auf den Zinnen die so lange vertheidigte Festung nicht anders als gegen gute Bezahlung übergeben.

In der Geschichte der standesherrlichen Privilegien giebt es ein vortreffliches Beispiel, welches lehrt, unter welchen Umständen sich ein Privileg erhalten kann. Es ist die Befreiung von der Militärpflicht. Sie hat sich erhalten, weil die jungen Leute aus diesen Familien keinen Gebrauch von ihr machen. Ihr ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, dem Vaterland freiwillig denselben Dienst zu leisten, zu welchem andere gezwungen werden. Will der hohe Adel der Nation mehr gelten als der niedere, so muß auch er des Spruches eingedenk sein: „Noblesse oblige!“, „Adel verpflichtet!“




[352]
Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[6]
Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
6. Unsere Meistersänger.

Die Heimath der besten Singvogel der Welt ist vorzugsweise unser wald- und stromreiches deutsches Vaterland. Das Lied dieser Meister ist es, welches unseren Gärten, Fluren und Wäldern so hohen Reiz auch für das Ohr verleiht, welches der Natur, die uns entzückt, erst die rechte Seele giebt.

Unter allen Sängern mochten wir in der folgenden Schilderung drei herausheben, gewissermaßen je einen Vertreter des Parkes, des Waldes und des Feldes: die Nachtigall, die Singdrossel und die Feldlerche.

Die Nachtigall, die schon im Alterthum als die Königin der Singvogel verherrlicht wurde, nimmt unstreitig den ersten Rang ein, selbst vor dem ungarischen Sprosser, der ihr an Mannigfaltigkeit der Liedesstrophen und des Ausdrucks entschieden nachsteht. Freilich reden wir hier nicht voll mittelmäßigen oder geringeren Exemplaren, wie man ihnen oft an Plätzen begegnet, wo Paare in großer Anzahl nahe beieinander wohnen, sondern von besonders begabten Sängern, welche sich in der Einsamkeit zur höchsten Voltendung entwickelt haben. In dem Bestreben nämlich, sich gegenseitig zu überbieten bekommen die Thierchen eine Vorliebe dafür, besonders durchgreifende Schmettertouren häufig vorzubringen, und die Folge ist eine den Hörer ermüdende Einseitigkeit. Anders bei der guten, in der Einsamkeit aufgewachsenen Nachtigall. Was sie auszeichnet, ist gerade der Reichthum der Touren oder Strophen, die nicht selten die Zahl dreißig und darüber erreichen. Ferner ist das Austragen der Strophen in vollendeter Form hervorzuheben. Ein Zerhacken derselben zeugt von schlechter Entwicklung des Schlags. Je rascher die Touren aufeinanderfolgen, je feuriger, hingebender und ausgeführter sie ertönen, desto vorzüglicher ist der Vogel. Hiermit muß sich dann noch der Schmelz, das Crescendo und Diminuendo, mit einem Wort, das Seelenvolle im Ausdruck verbinden, ja der Ton an sich muß als etwas Angeborenes sympathische Eigentümlichkeit besitzen. Es ist dies beim Vogel überhaupt nicht anders wie beim Menschen, dessen Stimme ohne die Beigabe des natürlich Sympathischen trotz aller Kunst nicht zum Herzen spricht. Endlich liegt ein großer Reiz für das fein unterscheidende Ohr des Kenners in der interessanten Verbindung der Touren, in den Uebergängen und überraschenden Zugaben nach dem Aushalten von athemerschöpfenden Flötenpartien.

Uebrigens kann Ueberreizung zur Zeit der Minne auch bei vorzüglichen Sängern dem fließenden Gesang Eintrag thun. Außerdem scheint die Morgenfrühe zu einem mehr abgebrochenen Vortrag geneigt zu machen. Sollst kann als Regel aufgestellt werden, daß die abgebrochene Gesangsweise zu Ende der Singzeit, in ihrer zweiten Hälfte oder auch schon früher Platz greift, während unmittelbar nach der Ankunft in der Heimath der Gesang am raschesten, während des Brütens des Weibchens aber am vollsten, lautesten und beseeltesten ertönt.

Eine interessante Frage ist die nach der Vererbung des Nachtigallengesanges. Man glaubt gewöhnlich, die jungen Nachtigallen erlernten den Gesang des Vaters durch Anhören. Dies ist jedoch darum nicht der Fall, weil zur Zeit der Jungenpflege der Gesang zurücktritt und, wenn er wirklich noch dann und wann gehört wird, sehr unvollkommen und bruchstückweise erschallt. Die junge Nachtigall dagegen übt schon an schönen Augustmorgen ihren sehr stümperhaften Gesang ein und bildet ihn dann im Lenz des Südens zur Vollendung aus. Ausgeschlossen ist dort das Vorbild alter Männchen nicht, aber das Hauptsächlichste besteht nicht in der Nachahmung, sondern in der Ursprünglichkeit des Vermögens, in der Herausbildung des Gesanges aus der eignen Seele des Vogels. - -

Treten wir nun aus dem Parke, wo wir dem Sänger der Liebe gelauscht haben, in unseren Buchenwald mit seinen Laubhallen und seinen jungen Gehegen. Der junge Frühling bricht herein, die schlafenden Triebe erwachen, in tausend Formen und Gestalten offenbart sich die ewige schöpferische Kraft der Natur.

Und diesen herrlichen Frühlingswald durchschmettert der Liederschall aus den lenzfrohen Kehlen der gefiederten Welt.

„Waldnachtigal“ ist die schöne, treffende Bezeichnung Welkers für unsere urwüchsige Singdrossel. Mit den Stürmen der Nächte schwingt sie sich im Monat März in den heimatlichen Forst zurück. Noch ist ihr der Baum, der Ast, der Zweig genau bekannt, auf welchem sie im vorhergehenden Jahre den Lenz und die Liebe besungen. Wer den Schnepfenstrich kennt, weiß, welch einen Zauber die Frühlingsrufe dieses Waldsängers auf das Gemüth des Hörers ausüben. Es sind sprechende Rufe, die zum Ohre schallen und oft in Worte und Namen sich ausdeuten lassen. Das Volk hat viele derselben übersetzt, und diese Uebersetzungen bilden immer ein Stück frischer Waldpoesie. Unvergeßlich sind uns die Abende auf dem Schnepfenstrich, wo wir dem Konzert des Meistersängers unserer Wälder mit Hingebung lauschten, wo der Wettkampf der Männchen begann und sich immer feuriger entwickelte. Es ist, als wollten die Eifersüchtigen noch alle Kunst und Kraft aufbieten, um den Tag glanzvoll zu beschließen. Welch ein großer Abstand in Bezug aus Schönheit, Mannigfaltigkeit und Kunstfertigkeit des Vortrags herrscht aber auch unter den Sängern! Hier ein elender Stümper, welcher neben einem einförmigen Gezwitscher nichts andres hören läßt als ein paar grell hervorgestoßene Rufe dort eine mittelmäßige Leistung, die neben Rühmenswertem gewisse Unarten und Geschmacklosigkeiten aufweist über alle erhaben aber an einer dritten Stelle ein Virtuose, der berufen ist, mit der Nachtigall um den Vorrang zu streiten.

Was gehört nun zu einem solch hervorragenden Künstlerthum? Wir wollen die Haupterfordernisse im folgenden hervorheben: markig, voll, nicht schreiend, aber dennoch weithin schallend muß die Stimme sein, ausgestattet mit dem eigentümlichen Metallklang, der wohlthuend wirkt. Der Umfang der Stimme muß es ferner dem Vogel ermöglichen, den Tönen die nöthige Abwechslung in ihrer Lage zu geben, womit aufs engste die ansprechende Bildung der Strophen und deren Reichthum zusammenhängt. Sei an und für sich der Ruf, die Strophe noch so schön und wohlklingend - wenn sie zu oft wiederholt wird, dann ermüdet der Hörer bald und vermag auch das Schönste nicht mehr zu genießen. Andererseits dürfen die besten Theile des Gesanges und die interessantesten Wendungen nicht zu selten wiederkehren. Je deutlicher und sprechender, desto fesselnder und unterhaltender ist der Drosselgesang.

Jeder Bezirk oder wenigstens jeder größere Waldbestand hat seine charakteristischen Drosselrufe, die zwar immer als solche unverkennbar bleiben, aber doch auf die feinsten Unterschiede sich zuspitzen. Diese Thatsache nun ist vollauf nach dem Sprichwort zu erklären. Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen." Denn die jungen Drosseln hören nicht bloß im Neste, sondern auch nach ihrem Ausflug noch lange den Vater und prägen sich seine ganze Art und Weise genau ein; ihre Nachbildung des väterlichen Gesanges ist deshalb, einzelne untergeordnete Abweichungen abgerechnet, so getreu, daß sich das Charakteristische fortdauernd erhält. Nun ist es uns aber nicht selten vorgekommen, daß wir mitten unter diesen übereinstimmenden Individuen das eine oder andere entdeckten, welches auffallend abweichende Gesangsstrophen hören ließ und uns wie ein Fremdling auffiel. Diese Erscheinung können wir nur daraus zurückführen, daß einzelne Drosseln auf dem Zuge durch irgend welches Verhängniß aufgehalten oder aber vielleicht vom Wandertrieb weit über die Grenze ihrer früheren Heimath hinausgeführt worden sind. Sie erscheinen demnach als Einwanderer, was ja bei der in der Vogelwelt herrschenden Freizügigkeit nicht wunder nehmen darf. - -

Der Leser folge uns nun in die Flur, mitten in das junge Getreidefeld, um den Sänger des Feldes in seinen Gesangsleistungen kennenzulernen!

Der schone Vorsommertag neigt sich zu Ende. Still ist die [353] Luft. Wohltuende Abendkühle umhaucht uns und führt uns den würzigen Duft der Feldgewächse zu. Das Gezirp der Grillen stört nicht den Eindruck der Einsamkeit, und das Liedchen der Dorngrasmücke, die vom Blüthenschnee des Dornstrauchs mehrere Fuß hoch flatternd und zögernd und dann wieder in Zickzackwendungen emporsteigt, trägt zur Vollendung der Stimmung bei. Jetzt erhebt sich eine Lerche in schiefer Richtung aus dem Dunkel der Saat. Die Töne aus ihrer Kehle klingen unserem Ohre in der Nähe etwas scharf und schrill, aber wohlthuender berühren sie unser Ohr, sobald sich die Sängerin in bogenförmigen Windungen zu. Höhe gleichsam emporgeschraubt hat. Auffallend erscheint dem verfolgenden Auge der Umstand, daß die Schraubenwindungen des Aufflugs von der Rechten zur Linken gehen, während eine andere benachbarte Lerche umgekehrt verfährt, eine dritte mit diesen Windungen nach der einen und andern Richtung abwechselt.

Nachtigallen im Wettgesang.
Nach einer Zeichnung von Adolf Müller.

Ununterbrochen nimmt dabei der Gesang seinen Fortgang, und kaum hält man es für möglich, daß die Sängerin dabei den nöthigen Athem schöpfen kann. Aber man betrachte die der Lerche zu Gebote stehenden Werkzeuge: diese starke gewölbte Brust, diesen feinen, freien Hals, diese großen kräftigen Schwingen, die den Flug nach oben ungemein fördern. Man beobachte den stürmischen Drang der Vogelseele, sich zu erheben hinauf in den reinen Aether, zu den Wolken, das leicht erregbare Gemüth, das sich selbst im Gange, in der Haltung und in dem beweglichen Spiele der Kopffedern kundgiebt! Das alles erklärt die ungewöhnliche Kraftäußerung der kühnen Luftsteigerin. Das Lied der Lerche sprudelt mit wahrhaft elementarer Gewalt hervor. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß es eine in engen Grenzen sich haltende Melodie, eine ewig wiederkehrende, im Einerlei fortgesponnene Weise ist. Die Töne an sich sind schwirrende, trillernde und flötende. Doch fällt dem verständnißvollen Hörer nicht bloß bei dem Vergleich der einzelnen Exemplare, sondern auch bei dem der Bewohner der Ebene einerseits, der Gebirgsgegenden andererseits ein merklicher Unterschied auf. Wohl kommen auch in der Ebene vorzügliche Sänger vor, aber die besten haben wir doch immer im Gebirge gehört. Die Ebene birgt vorzugsweise solche Lerchen, die sich in schwirrendem und trillerndem Gesang ergehen, während das Gebirge viele aufweist, welche klangvollere Flötenpartien und interessantere Wendungen, größeren Tonumfang hauptsächlich in der Tiefe und reichere Abwechslung bekunden. Offenbar ist die Ursache darin zu suchen, daß im Gebirge, wo die Felder kleiner sind und in der Nähe der Wälder liegen, die Lerchen vieles von den Waldsängern annehmen und in ihr eigenes Lied verweben.

[354] In der That giebt es Sänger im Gebirge, die soviele melodische Tone hören lassen und ihren Gesang dadurch so reichhaltig gestalten, daß von Eintönigkeit nicht mehr die Rede sein kann.

Die junge Lerche besitzt die Nachahmungsgabe in nicht geringem Grade; davon überzeugt man sich bei flügge eingefangenen Jungen, die man im Käfig in die Umgebung guter Sänger anderer Art oder vor ein Fenster nahe einem Parke versetzt. Eine Menge Gesänge wird unter solchen Umständen von der Lerche erlernt und treu wiedergegeben. So nimmt auch die junge Lerche draußen im Freien von Sängern des Waldes wenigstens Strophen und einzelne melodisch klingende Töne auf, die aber nicht für sich vorgetragen, sondern geschickt in das Lerchenlied wie Schmuck in ein Gewebe eingewoben werden. In der Freiheit verleugnet die Lerche ihr eigenartiges Lied nicht; nur in der Gefangenschaft läßt sie, jung eingefangen, das Eigenthümliche des Lerchenliedes fast gänzlich fallen und wird zur Nachahmerin anderer Sänger.



Blätter und Blüthen.



Großherzogin Alexandrine von Mecklenburg. (Mit Bildniß.) Am 23. Februar hat das letzte noch lebende Kind der unvergeßlichen Königin Luise, die Großherzogin Alexandrine von Mecklenburg-Schwerin, ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert – es sollte ihr letzter sein: am 21. April hat der Tod mit sanfter Hand diesem reichen Leben ein Ziel gesetzt.

Sie war allgemein verehrt von ihrem Volke, die liebenswürdige Schwester Kaiser Wilhelms I., und sie genoß eine unverbrüchliche Liebe von Seiten ihrer Angehörigen. Die verwandtschaftlichen Bande zwischen Mecklenburg und Preußen, die schon vorher herzliche waren – das Haus Mecklenburg-Strelitz schenkte ja Preußen seine Königin Luise – hat sie zu innigen gestaltet.

Zwischen König Friedrich Wilhelm III., der es nie vergaß, daß die Herrscher beider Mecklenburg zuerst von allen deutschen Fürsten im Befreiungskriege sich ihm angeschlossen hatten, und dem alternden Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, Friedrich Franz I., bestand eine enge Freundschaft, an der auch der Erbgroßherzog Ludwig Friedrich aufrichtigen Antheil nahm. Der letztere hatte den Aufschwung Preußens miterlebt und besaß wohl eine Ahnung von der großen Zukunft dieses Staates. Er schickte daher seinen ältesten Sohn Paul Friedrich nach Berlin, und dort machte derselbe im September 1818 die nähere Bekanntschaft der damals fünfzehnjährigen Prinzessin Alexandrine. Der junge Prinz ward von der lieblichen Erscheinung gefesselt; schon im Februar 1819 brachte er seine förmliche Werbung an, der am 13. Juni 1820, nachdem er seine Volljährigkeit erreicht hatte, die offizielle Verlobung folgte. Der Erbgroßherzog Ludwig Friedrich war inzwischen gestorben, nachdem er zu der Werbung des Sohnes von Herzen seine Zustimmung gegeben hatte. „Die Prinzeß,“ heißt es in einem seiner Briefe, „ist ein wahrer Engel. Meine Frau ist ganz glücklich über die künftige Schwiegertochter, die ihrerseits so zutrauensvoll und lieblich mit ihr ist, daß es uns innig freut.“

Am 25. Mai 1822 erfolgte zu Berlin die Vermählung des jungen Paares, das wenige Tage nachher seinen Einzug in das idyllische Ludwigslust hielt, wo der Großherzog Friedrich Franz meistens residierte. In stillem Glücke gingen für Alexandrine die Jahre hin, vollends seit sie am 28. Februar 1823 einem Sohne, dem späteren Großherzog Friedrich Franz II., das Leben gegeben hatte. Kanonendonner verkündigte die Geburt des Prinzen, Kanonendonner in gewaltigem Kriege sollte ihm einst in die Ohren tönen, denn er war mit berufen, unsere Truppen bei Orleans und Le Mans zum Siege zu führen.

Hochbetagt starb Friedrich Franz I. am 1. Februar 1837, und sein Enkel Paul Friedrich folgte ihm auf den Thron. Werke des Friedens und der Kunst füllten seine kurze Regierungszeit aus, mit feinem Sinne ging ihm dabei seine Gemahlin zur Hand. Namentlich dem Hoftheater zu Schwerin wandte sie ihr Interesse zu und verhalf dadurch dieser Bühne zu künstlerischer Entwicklung. Doch schon am 7. März 1842 riß der Tod den Gatten von ihrer Seite, und ein langes Witwenleben begann für sie. Der reiche Schatz ihres Herzens öffnete sich nun nur noch mehr als zuvor den Leidenden und Bedrängten, und sie spendete mit voller Hand. Ihre Freude war es vor allem, im stillen zu helfen, wo sie von Noth und Sorge erfuhr. Sie konnte mit den Leidenden fühlen, denn ihr selbst blieb das Leid nicht erspart; ihre drei Kinder sanken vor ihr dahin. Da mochte ihr die treue Liebe ein Trost sein, mit der ihr Bruder, Kaiser Wilhelm I., ihr verbunden blieb; namentlich in seinem höchsten Alter trat diese Zuneigung zur jüngeren Schwester immer rührender hervor. Und nun ist sie dem großen Bruder, dessen gütige Züge sie trug, nachgefolgt in den Tod.

Großherzogin Alexandrine von Mecklenburg-Schwerin †.
Nach einer Photographie von Jungmann und Schorn, Hofphotographen in Baden-Baden.

Ein bewegtes Leben, eine Zeit tiefgreifender Veränderungen hat die edle Fürstin durchlebt – fast wie aus einer vergangenen Welt ragte sie, die würdige Tochter der Königin Luise, herein in unsere Gegenwart – ihr Andenken wird ein gesegnetes sein. B.     


Zu Nutz und Frommen der Handarbeiten. Wie viel fleißige Hände im lieben Vaterland rühren sich fortwährend strickend, stickend und häkelnd für die verschiedenen Familienfeste! Denn, was auch die Spötter sagen mögen, eine selbst gearbeitete Gabe hat doppelten Werth, besonders wenn sie einen sonst brauchbaren und erfreulichen Gegenstand verschönert. Hierfür sorgen nun wohl unsere stets reichhaltiger werdenden Musterzeitungen, aber es gehört Erfahrung und Uebung dazu, ihre Anweisungen zu benutzen. Das wissen alle, die es zum ersten Mal unternehmen, selbst Wolle und Nadeln auszusuchen, um ein Schultertuch, ein Jäckchen, Kissen u. dergl. nach der angegebenen Vorschrift zu arbeiten. Viel Material wird mit Wiederauftrennen verdorben, bis der Anschlag die richtige Größe hat; dann kommt oft genug das gewünschte Verhältniß doch nicht heraus, weil Wolle und Nadeln zu stark oder zu fein waren, auch weil die Garn- und Wollesorten in Nord- und Süddeutschland verschiedenartig benannt und numeriert sind. Selbst die Farbenwahl nach dem schwarz gedruckten Muster ist für nicht ganz Geübte eine schwierige Sache. Man muß das gewünschte Gesammtbild sehr fest vor dem inneren Auge haben, um mit Sicherheit aus der Anzahl der Farben die harmonischen herauszufinden. Die Geschäfte der Großstädte bieten zwar durch angefangene Arbeiten einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten, aber selbst bei ihnen ist die Auswahl, besonders in Strick- und Häkelarbeiten, manchmal eine recht geringe, und auf dem Lande wohnende Damen haben nicht die Gewißheit, in den theuern Ansichtsendungen dann auch etwas Befriedigendes zu finden.

Um dieser bekannten Uebelstände willen weisen wir heute unsere Leserinnen auf ein Unternehmen hin, welches in praktischer Weise die größte Auswahl sowie die vollkommene Sicherheit des Gelingens mit Zeit- und Portoersparniß vereinigt und einen entschiedenen Fortschritt bedeutet.

Die Firma J. F. Quilling in Frankfurt a. M. hat einen Musterversand im großen eingerichtet, welcher allen Ansprüchen an Auswahl und Schönheit gerecht wird. Auf Anfrage nach Mustern erhält man eine Anzahl Mustertafeln, deren Rücksendung unterbleiben kann. Jede Tafel giebt eine anders geartete Abbildung und Beschreibung des gewünschten Gegenstandes, eine Reihe Farbenzusammenstellungen in Wolle und Seide nebst genauer Preisangabe. Hat man sich für eine davon entschieden, so verlangt und erhält man ein Kästchen, welches außer der genauen Anweisung zur angefangenen Arbeit das reichlich bemessene Material, die erforderlichen passenden Nadeln, sowie alles Zubehör zur Fertigstellung, Bänder, Quästchen, Bälle etc., enthält. Die Angaben sind zuverlässig und die außerordentlich handgerechte Art des Angefangenen ermöglicht ein ganz leichtes Fortarbeiten. Bn.     


Die Enthüllung des Radetzky-Denkmals in Wien. (Zu dem Bilde S. 333.) Es war im Jahre 1858, als Radetzky, der zweiundneunzigjährige Feldmarschall, starb. Ein Menschenalter ist dahingegangen seit seinem Tode, aber sein Ruhm ist in dieser für unser raschlebiges Geschlecht so langen Frist nicht verblaßt, in unerschütterlicher treuer Begeisterung schlagen ihm noch heute alle Herzen in Oesterreich entgegen. Das zeigte sich auch, als Sonntag den 24. April sein Denkmal zu Wien enthüllt wurde: es war ein Fest des Kaisers und der Armee – aber es war auch ein Fest des Volkes, dem „Vater Radetzky“ heute noch so nahe steht wie kaum irgend eine Persönlichkeit in der neueren österreichischen Geschichte. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist auch der Platz, auf dem das Denkmal errichtet wurde, der richtige. Dort „Am Hofe“ steht er mitten im Herzen Wiens, mitten im Treiben des Volkes, das ihn so sehr verehrt.

Unsere Zeichnung führt uns ein Bild aus der Enthüllungsfeierlichkeit [355] vor. Die Hüllen sind von dem hohen Stangengerüst gefallen, und der Kaiser Franz Joseph schickt sich an, von dem Künstler Professor von Zumbusch und von einem Mitglied des Denkmalkomites, Nikolaus Dumba, geleitet, das Denkmal zu umwandeln und in allen seinen Einzelheiten genau zu studieren. Auf fünf Meter hohem Postament steht der mächtige eherne Reiter, eherne Ruhe, eherne Zuversicht spricht aus ihm. Leicht ist das Haupt nach vorn gesenkt, der Blick folgt der Bewegung des vorgestreckten rechten Armes – als wiese er eben einem Adjutanten die Stelle des Schlachtfeldes, an die er einen entscheidenden Befehl zu tragen habe. Die linke Hand führt Zügel und Marschallstab.

Pferd und Reiter erreichen zusammen eine Höhe von fünfeinhalb Metern. Zwei große Relieftafeln schmücken die Langseiten des Sockels. Wir sehen Radetzky auf der einen von seinen Soldaten umjubelt, im Kriegsrath auf der anderen. Die Rückseite des Postaments verkündet Namen, Geburts- und Todestag des Helden, vorn aber trägt es über mächtigem bronzenen Doppeladler die Worte, mit denen einst Grillparzer den Sieger von Novara begrüßte: „In Deinem Lager ist Oesterreich!“

Radetzky-Bilder. Es war ein guter Gedanke des Oesterreichischen Museums in Wien, der Enthüllaug des Radetzky-Denkmals eine Ausstellung von Radetzky-Bildern und -Briefen vorausgehen zu lassen, die uns den „Vater Radetzky“ in den weit auseinander liegenden Zeiten der Befreiungskriege und der lombardischen Feldzüge von 1848 und 1849 zumeist im Verkehr mit anderen Heerführern und mit seinen Soldaten zeigen. Wir sehen da unter anderem auf einer Photographie den greisen Helden im Halbschlummer; Radetzkys Kopf, im Profil mit großer Schärfe abgebildet, erinnert jedermann unwillkürlich an die Totenmaske Moltkes. Der siegreiche österreichische Heerführer war ja auch nicht bloß ein Tapferer unter den Tapferen, nicht bloß ein von seinen Soldaten vergötterter Befehlshaber, sondern auch ein Schlachtendenker, der im Ringen mit dem Konig von Sardinien seine diplomatische Kunst mit militärischem Scharfblick zu vereinigen wußte und schon zu Anfang dieses Jahrhunderts Kriegspläne Napoleons I. zu durchkreuzen verstanden hatte. Und in einem der uns vorgelegten Briefe, in welchem er den Dank des Heeres für die rasche Vollendung der Eisenbahn von Verona nach Vicenza ausdrückt, offenbart er ein frühes und vollständiges Verständniß des Werthes der Eisenbahnen für Kriegsunternehmungen in neuerer Zeit.

Die Kriegsbilder aus Oberitalien und Ungarn, welche mit den Namen der beiden Adam, Straßgschwandtners, Swobodas, Pettenkofens, Kriehubers gezeichnet und uns übrigens zumeist durch Wiedergaben in Steindruck bekannt sind, die Bildnisse der Kriegsmeister in Radetzkys Jugendjahren, des Erzherzogs Karl von Oesterreich, Lascys, Laudons, Hadicks, des Herzogs Josias von Coburg, dann die Bilder, die uns Radetzkys Paladine, vor allem Feldmarschall Heß in Thätigkeit zeigen, „Radetzky vor Mailand“, „Radetzky mit König Victor Emanuel nach der Schlacht von Novara“, die Bilder der Belagerung von Malghera und Venedig; Darstellungen, wie der „Ueberfall einer Feldpost im Walde“ und einzelner Heldenthaten von Soldaten: alles dies, erhöht durch den Reiz treuer Darstellung von alten Waffen, Trachten und Uniformen bei „Rothmänteln“, italienischen Freischärlern, ungarischen Landwehrleuten, sardinischen Truppen, giebt ein Gesammtbild des alten Oesterreich „an Siegen und an Ehren reich“, das auf die Nachgeborenen nicht weniger stark wirkt als auf die noch lebenden Radetzky-Veteranen.

Ochsenrennen in Tirol. (Zu dem Bilde S. 328 und 329.) In Europa wird das liebe Rindvieh für gewöhnlich nicht als Reitthier benutzt, obschon es hierzu nicht ohne alles Talent ist, wie ja die Verwendung besonderer Reitochsen in ausgedehnten Landstrichen Afrikas genügend beweist. Man wird auch nicht leicht beobachten können, daß dem Rinde auch nur eine Traglast aufgebürdet wird. Ausnahmsweise kann man aber doch in Gegenden mit blühender Rindviehzucht bei Gelegenheit von Viehmärkten sehen, daß dem Menschen in seinem Uebermuth selbst der bedächtige Ochse nicht zu heilig dünkt, um ihn zu sportlichem Zweck zu benutzen. So kommt’s in Nordtirol, im Ziller- und Innthal, wohl manchmal vor, daß ein halb Dutzend übermüthiger Aelpler, wenn sie etwa ein Glas Terlaner über den Durst getrunken haben, ein Ochsenrennen veranstalten, wobei es natürlich keinen Sattel und Zaum, keinen Starter und Buchmacher giebt, dafür aber desto lauter hergeht. Daß das Rind geritten wird, ist ja nicht seine Naturbestimmung, aber es erscheint den Aelplern als ein Zeichen von Lebenskraft und gesunder Natur, wenn es in die Wette springt. Ein Rind, welches das ganze Jahr hindurch im Stalle steht, wird das nicht können, wohl aber jenes kräftigere Thiergeschlecht, das den Sommer über auf grüner Bergweide sich umhertreiben durfte. Ein solches Ochsenrennen hat auch unser Künstler zum Gegenstand seines Gemäldes gemacht. Es stellt den Augenblick dar, wo das siegende Thier unter dem tosenden Gejohle der Menge und dem luftdurchschneidenden Juchzer seines Reiters über das Seil springt, welches das Ziel des Rennens bildet. H.     

Ein Eisenstrauch für Bismarck. (Mit Abbildung.) Unter den Gaben, welche am 1. April dieses Jahres den Geburtstagstisch des Fürsten Bismarck zu Friedrichsruh zierten, befand sich auch ein riesiger, fast meterhoher, prächtiger Strauß. Nicht aus gewachseneu Blumen war er gefertigt, alle seine zahlreichen Blätter und Blüthen bestanden aus dem feinsten Eisenblech, so fein wie Schreibpapier, denn der Durchmesser betrug nur 1/10 Millimeter. In dem Puddel- und Martinsstahlwerk Bismarckhütte bei Schwientochlowitz in Oberschlesien war es gewalzt, in der Fabrik von Christine Jauch in Breslau zu Blumen und Blättern, Ranken und Früchten umgeformt worden. Keine unrichtige Linie stört das Auge, völlig naturwahr sind die Eichen- und Lorbeerzweige, die Rosen, Nelken, Kornblumen, der Flieder und die Schneeglöckchen, und selbst das zarte Heidekraut mit seiaen winzigen Blüthchen und zierlichen Nadelblättchen ist von überraschender Echtheit. Das Eisen ist durch keinerlei Färbemittel verändert, sondern einfach in seiner natürlichen Metallfarbe gelassen, und trotzdem tritt die Naturwahrheit auf den ersten Blick hervor. So bildet das Ganze ein kunstgewerbliches Meisterwerk, das unserer deutschen Industrie alle Ehre macht.

Ein eiserner Geburtstagsstrauß.

Nicht Zufall hat die Wahl der Blumen bestimmt, aus denen der Strauß zusammengesetzt ist; er steckt voll sinnreicher Anspielungen. Das Heidekraut z. B. ist des Fürsten Bismarck Lieblingsblume wie die Gartennelke die der Fürstin; Rosen in allen Formen und Gestalten hegt der Garten von Friedrichsruh; die Kornblume zieht den alten Kaiser Wilhelm I. in den Kreis, Eichenlaub und Lorbeer verkündigen Kampfmuth und Ruhm, Oelzweig und Palmblatt den Frieden, den Bismarck als Kanzler so lange gehütet. Und so ließe die Symbolik sich verfolgen bis ins einzelne hinein. Der Eisenstrauß steht in einer von Trelenberg in Breslau ebenfalls aus Blechen der Bismarckhütte in getriebener Arbeit verfertigten Vase, deren Zierate von matten Stahlstreifen gebildet werden. Eia leuchtendes Silberschild am oberen Ringe trägt die Widmung, mit welcher der Stifter dieser Vase, Wilhelm Kollmann, der Leiter der Bismarckhütte, seine Gabe dem Fürsten überreichte, zugleich mit einem begeisterten Begleitgedichte Ernst Scherenbergs, das in Golddruck auf einer Eisentafel stand. Diese Eisentafel hatte eine Stärke von nur 1/30 Millimeter – die feinste Walzung des Eisens, die man bisher erreicht hat.

Desdemona. (Zu dem Bilde S. 345.) Eines der lieblichsten Frauenbilder Shakespeares ist des Mohren Othello Geliebte und Gattin Desdemona, von der uns Ph. H. Calderon ein stimmungsvolles Bild vorführt. Es ist die Scene im vierten Akte des Dramas „Othello“, in welcher Desdemona mit ihrer Kammerfrau Emilia, der Frau des heimtückischen Jago, plaudert, ehe sie zu Bett geht. Othello war zuletzt zwar milder gegen sie gewesen, aber doch erfüllt die Furcht vor seiner oft maßlosen Leidenschaftlichkeit ihr Herz. Nicht rasch genug kann die Kammerfrau sie „losstecken“, ihr Tagesgewand beiseite bringen. Da fällt ihr das Lied ein, das schwermüthige Lied von der Weide, welches das unglückliche Bärbchen gesungen hat –

 „Das Lied heut’ nacht
Kommt mir nicht aus dem Sinn, ich hab’ zu schaffen,
Daß ich nicht auch den Kopf so häng’ und singe
Wie’s arme Bärbel. Bitt’ dich, mach’ geschwind.“

[356] Dann aber fragt sie, ob es wirklich Frauen giebt, die ihre Männer täuschen – und Emilia bestätigt dies nicht nur, sondern will als leichtfertige Venetianerin dies entschuldigen, wenn die Männer sich selbst der Treulosigkeit und des Leichtsinns schuldig machen. Doch Desdemona sagt:

„Gut’ Nacht! Und laß mich, Herr, in fremden Sünden
Nicht eig’ne Buße, laß mich Bess’rung finden.“

Die Stimmung dieser ganzen Scene hat der Maler in seinem Bilde wiedergespiegelt. Reizend ist das kindliche Köpfchen der still vor sich hinträumenden Desdemona, welche die blutigen Schrecken der kommenden Nacht nicht ahnt. Dabei trägt dies Köpfchen den echt italienischen Typus, und volles dunkles Haar fluthet ihr über den Rücken herab. Ueberlegen blickt die hohe Gestalt der Emilia auf das liebliche Kind herab. Die Thatkraft, welche sie im letzten Akt des „Othello“ bewährt, prägt sich in ihren Mienen aus, aber es fehlt ihr auch nicht ein leiser Schmerzenszug; denn ihre Ehe mit Jago gewährt ihr keine Befriedigung, und zu den Anklagen, welche sie gegen die Männer im allgemeinen richtet, hat jedenfalls der eigene Gatte ihr den Stoff gegeben. In das düster verhangene Boudoir bricht der volle Mondesschimmer und breitet ein ahnungsvolles Licht über die Todgeweihten; denn keinen weiten Lauf braucht das Gestirn am Himmel zu vollenden, bis die liebreizende Desdemona und die stolze Emilia durch die Mörderhand der eigenen Gatten gefallen sind. †     

Eine Hochschule der Musik für Blinde. Unsere Leser erinnern sich aus dem Artikel von Anna Pötsch über den „Blinden und seine gesunden Sinne“ in Halbheft 2 dieses Jahrgangs, welche Rolle die Musik im Leben der Blinden spielt. Das Reich der Töne ist es ja, aus dem der Nichtsehende in erster Linie Ersatz schöpfen darf für die ihm versagten Genüsse des Auges, in ihm findet er Trost und Erhebung des Gemüths, wenn die einsame Nacht seines Daseins ihn daniederdrücken will. In jenem Aufsatz erfuhren wir auch von einer Musikhochschule für Blinde, welche der blinde Dr. Armitage zu Norwood bei London ins Leben gerufen und welche schon so viele Schicksalsgenossen des edlen Gründers zu einem befriedigenden Beruf geführt hat. Mit lebhafter Freude verzeichnen wir daher hier die Nachricht, daß nunmehr auch in Deutschland eine ähnliche Anstalt erstehen soll. Im Nordosten unseres Vaterlandes, zu Königsberg i. Pr., ist eine Anzahl angesehener Männer zusammengetreten, welche es sich zur Aufgabe gemacht haben, auf die Errichtung einer Hochschule der Musik für Blinde hinzuwirken. Sie wenden sich an alle Menschenfreunde mit der Bitte um thatkräftige Unterstützung des schönen Werkes und bitten jeden, der gesonnen ist, der Durchführung ihres Planes seine Hilfe zu leihen, mit Herrn George Neumann, Königsberg i. Pr. (Oberhaberberg 93), darüber in Verbindung zu treten. Wir wünschen den wackeren Männern allen Erfolg und hoffen, daß in einer nicht allzufernen Zukunft auch in unserem Vaterland den Blinden eine Pforte sich öffne, durch welche sie zu einem gesicherten Lebensglück eingehen können.

Der Geschmack. (Zu unserer Kunstbeilage.) Mannigfach hat sich schon die Phantasie der Künstler ergangen in Verbildlichnng der menschlichen Sinne, und die dankbare Aufgabe hat schon manche schöne Lösung gefunden. Zu den schönsten dürfte die des Wiener Malers R. Rößler zählen, wie unsere Leser aus der in unserer heutigen Kunstbeilage gegebenen Probe ersehen werden. „Der Geschmack“ ist dargestellt durch eine ideale Frauengestalt, umgeben von einer Fülle köstlicher Früchte. Niedliche Putten träufeln ihr den Saft der Traube in die emporgehaltene Muschelschale oder laben sich selbst an den schwellenden Beeren, während die rebenumwachsene Herme eines Fauns unsere Gedanken auf die Kreise des fröhlichen Weingottes Dionysos oder Bacchus hinlenkt. Das Ganze ist von einer reizenden duftigen Zartheit in der Auffassung wie in der malerischen Durchführung, und der Künstler hat eo glücklich vermieden, das Derbe, Materielle, wie es gerade dem Geschmacksinn des Menschen anhaftet, in den Vordergrund treten zu lassen.



KLEINER BRIEFKASTEN.


(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Sch. in Mohrungen. Besten Dank für Ihre freundliche Mittheilung, die uns auch von andrer Seite bestätigt wird. Danach ist der Ankauf des Herderhauses in Mohrungen durch die Stadt Königsberg schließlich unterblieben, weil ein Urenkel Herders, der Rittergutsbesitzer Gottfried von Herder zu Niederforchheim in Sachsen, das Haus erworben und die weitere Erhaltung desselben übernommen hat.

E. H. U. in Syracuse. Die „Gartenlaube“ ist 1853 unter eben diesem Namen gegründet worden. Das Format des ersten Jahrgangs war um einiges kleiner als das, welches seit 1854 dauernd im Gebrauch ist.

Z. in H. Wir können nur wiederholen, was wir schon oft betont haben, daß wir auf medizinische Anfragen keine Auskunft ertheilen. Wenden Sie sich an einen Arzt!

N., Crossen a. O. Auskunft könnten Sie wohl durch die Kolonialabtheilung den Auswärtigen Amts in Berlin erhalten. Doch werden Sie kaum auf einen Erfolg rechnen dürfen, da in wiederholten Bekanntmachungen darauf hingewiesen worden ist, daß derzeit Anstellungen im ostafrikanischen Kolonialdienst nicht zu vergeben sind.




Auflösung der Dominopatience auf S. 324:


Äuflösung des Trennungsräthsels auf S. 324:
  Ein Blick, Einblick.


Auflösung des Scherzräthsels auf S. 324:
0 Scherben, Schwein, Scherz, Schwermuth, Schachtel, Schneider.


Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 324:
  Hebbel – Hebel.


Auflösung des Logogriphs auf S. 324:
  Schwarzwald, Schwarzwild.


Auflösung des Bilderräthsels auf S. 324:
  Kleine Scherereien.


Auflösung der Schachaufgabe Nr. 4 auf S. 324:

1. D a 1 – b 2 a 5 – a 4 ! Zwischenraum 1. .... K d 5 – c 6
2. D b 2 – b 4 c 5 – b 4; 2. D b 2 – b 6 † K c 6 – d 5
3. S d 7 – b 6 † K d 5 – c 5; 3. S e 4 – d 2 beliebig.
4. f 2 – f 4 matt. 4. D b 6 – b 7:, c 5; matt.
2. .... K d 5 – c 6; 2. .... K c 6 – d 7 :
3. D b 4 – a 4 : † K c 6 – d 5 3. D b 6 – c 7 † K d 7 – c 8
4. S e 4 – c 3 matt. 4. D c 7 – e 7 matt.
1. .... S b 7 – d 6 :
2. .... beliebig. 2. T c 4 – c 5: † K d 5 – e 4 :
3. S e 4 – c 3 † K d 5 – c 4 : 3. D b 2 – c 2 † K e 4 – d 4
4. S d 7 – b 8 matt. 4. D e 2 – e 3 matt.
1. .... K d 5 – c 4 : 1. .... S h 8 – g 6 oder beliebig
2. S d 7 – b 6 † K c 4 – d 3 2. T c 4 – d 4 † c 5 – d 4 :
3. D b 2 – d 2 † K d 3 – e 4 : 3. D b 2 – b 3 † beliebig.
4. D d 2 – e 3 matt. 4. f 2 – f 3, S d 7 – b 8 matt.



manicula 0 Hierzu Kunstbeilage VI: Der Geschmack. Von R. Rößler.


E. Marlitt’s Romane und Novellen.


Elegante Einzel-Ausgaben zu billigen Preisen.


Um auch die einzelnen Marlitt’schen Romane in den eleganten, nicht illustrierten, Salon-Ausgaben Jedermann zugänglich zu machen, hat sich die Verlagshandlung entschlossen, die bisherigen Preise dieser Einzel-Ausgaben bedeutend zu ermäßigen.

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Das Heideprinzeßchen. Elegant broschiert 0 M. 4,50. Elegant gebunden 0 M. 5,50.
Reichsgräfin Gisela. Elegant broschiert 0 M. 4,50. Elegant gebunden 0 M. 5,50.
Die zweite Frau. Elegant broschiert 0 M. 4,50. Elegant gebunden 0 M. 5,50.
Das Eulenhaus. Elegant broschiert 0 M. 4,50. Elegant gebunden 0 M. 5,50.
Das Geheimnis der alten Mamsell. Elegant brosch. 0 M. 4,50. Elegant geb. 0 M. 5,50.
Im Hause des Kommerzienrates. Elegant brosch. 0 M. 4,50. Elegant geb. 0 M. 5,50.
Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Elegant brosch. 0 M. 4,50. Elegant geb. 0 M. 5,50.
Im Schillingshof. Elegant broschiert 0 M. 4,50. Elegant gebunden 0 M. 5,50.
Goldelse. Elegant broschiert 0 M. 3,––. Elegant gebunden 0 M. 4,––.
Amtmanns Magd. Elegant broschiert 0 M. 3,––. Elegant gebunden 0 M. 4,––.
Thüringer Erzählungen. Elegant broschiert 0 M. 3,––. Elegant gebunden 0 M. 4,––.

Jeder dieser Romane (nicht illustriert) ist einzeln zu dem beigesetzten Preise in den meisten Buchhandlungen zu haben, und bietet sich allen Marlitt-Verehrern, welche noch nicht sämmtliche Romane der gefeierten Dichterin besitzen, die günstige Gelegenheit, sich das ihnen noch Fehlende auszuwählen und billig zu erwerben. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die

Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig, Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Bergstock.
  2. Nicken (bildlich) = grübeln.
  3. Das Setzen der Totenbretter hat sich in einzelnen Dörfern Bayerns als geheiligter Brauch bis in die Gegenwart erhalten.
  4. Name der am Ufer des Obersees gelegenen Alm, welche sich schon in Urkunden aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts erwähnt findet.
  5. Kaiser Wilhelm I. wohnte regelmäßig in dem Querflügel des Kurhauses, der auf unserer Abbildung Seite 341 sichtbar ist.
  6. Vergl. „Gartenlaube“ 1891, Halbheft 15.