Der Blinde und seine gesunden Sinne

Textdaten
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Autor: Anna Pötsch
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Titel: Der Blinde und seine gesunden Sinne
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 48–51
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Blinde und seine gesunden Sinne.

Von Anna Pötsch in der Blindenanstalt zu Leipzig.

Wie verschiedenartig auch die Ansichten sein mögen, die unter dem großen Publikum über Blinde, über deren Fühlen, Können und Wissen verbreitet sind, und wie schwer es gelingen mag, dieselben völlig zu klären, so pflegt doch eine Thatsache von allen leicht begriffen und verstanden zu werden: daß das Gehör des Nichtsehenden sich durch ungewöhnliche Schärfe auszeichnet. Durch das Auge nehmen andere eine Anzahl von Eindrücken und Bildern in sich auf, die uns Blinden nur durch das Gehör oder den Tastsinn zugänglich werden können. Während die Empfindung des Sehenden häufig auf Auge und Ohr zugleich sich stützt, so zwingt uns Blinde die Nothwendigkeit, zunächst das Gehör als den Schlüssel zu benutzen, der uns zum großen Theil die Außenwelt öffnet, als den Untergrund, auf dem sich der Inhalt unserer Erfahrungswelt aufbaut. Was wir nicht durch die Thätigkeit des Ohres wahrzunehmen vermögen, das muß uns in vielen Fällen gänzlich verschlossen bleiben; kein Wunder daher, daß wir durch unausgesetzte Uebung die Leistungsfähigkeit desselben zu erhöhen und nach Kräften auszubeuten bemüht sind!

Wir Blinde vernehmen das Prasseln der Flammen, den singenden Ton des Gaslichts, das Brausen des Gewässers, können uns also vor Beschädigungen hüten, ohne von Fremden erst gewarnt werden zu müssen. Wenn ein Gegenstand unserer Hand entgleitet und auf harten Untergrund aufschlägt, so werden wir ihn weit leichter wieder finden, als wenn er auf einen weichen Teppich fällt, weil wir im ersten Falle durch Vermittlung des Gehörs ungefähr die Stelle errathen, wo das Vermißte liegen muß.

Der nichtsehende Lehrer, dem es vergönnt ist, seine Schicksalsgenossen zu unterrichten, ist zur Erfüllung dieser schönen aber schweren Aufgabe vielfach ebenfalls auf die Zuverlässigkeit seiner Gehörwerkzeuge angewiesen. Durch sie kann er kleine Eigenheiten seiner Schüler entdecken und bekämpfen; so wird er z. B. unruhiges Sitzen, Drehungen des Kopfes, die von manchen kleinen Blinden mit großer Vorliebe fort und fort ausgeführt werden, an dem veränderten bewegteren Klange der Stimme wahrnehmen. Auf gleiche Weise pflegt es ihm nicht zu entgehen, wenn ein Kind, dem noch ein Theil seiner Sehkraft verblieben ist, beim Arbeiten diese statt des Tastsinns in Anwendung bringt und sie dadurch unnöthig schwächt; denn das angestrengte Niederbeugen zum Sehen giebt der Stimme eine gedämpfte Färbung. Sogar Achtsamkeit oder Unaufmerksamkeit wird der blinde Lehrer bei seinen Schülern aus den veränderten Schattierungen des Tones herauslesen können.

Die angeführten Beispiele, die sich verzehnfachen ließen, zeigen genugsam, daß das Gehör die Lichtlosen vor mancherlei Gefahren schützt, ihnen eine gewisse Selbständigkeit verleiht und häufig ihre berufliche Thätigkeit erleichtert. Allein damit ist die große Wichtigkeit, welche dieser Sinn für uns hat, noch bei weitem nicht erschöpft. Wie nämlich der Mangel des Gehörs den Tauben so häufig unzufrieden, mürrisch und mißtrauisch macht, so versöhnt der Besitz desselben den Nichtsehenden in der Regel mit seinem Schicksale und verschönert ihm seine Lichtlosigkeit. Der Gesang der Vögel läßt uns vergessen, daß unser Auge das liebliche Grün des Frühlings nicht erblickt; wenn im milden Sonnenschein, dessen Wärme wir fühlen, die Schwalbe zwitschert, dann zieht lichte Lenzstimmung ein auch in unser Herz. Ein Gelehrter hat einmal mir gegenüber die Aeußerung gethan, es gewähre ihm besonderen Genuß, an schönen Sommerabenden im Freien geschlossenen Auges die Laute der Natur und das allmählich verstummende ferne Treiben der Menschen auf sich wirken zu lassen. Und wirklich, eine sommerliche Abendlandschaft mag dem Sehenden vielleicht mannigfaltiger aber kaum poetischer erscheinen als dem Blinden! Im Gegentheil: dieser wird das wesentlichste Merkmal derselben, den von ihr ausgehenden [50] majestätischen Frieden, voller und reiner empfinden, weil der Anblick seiner Umgebung ihn nicht zerstreut, weil entfernte Laute, obgleich er sie deutlicher als andere vernimmt, ihm so klein und ohnmächtig erscheinen gegenüber dem erhabenen unnennbaren Etwas in der Natur, das seine Seele mit heiligem Schauer berührt. – Aber, so dürfte hier mancher einwenden, was sind jene poetischen Schwärmereien, die vielleicht nur von einzelnen Blinden empfunden werden, im Vergleich zu dem überwältigenden Schauspiele, das sich beim Auf- und Niedergang der Sonne dem Auge des Sehenden als schöne Wirklichkeit darbietet, während jener Abendfriede doch immer etwas Gedachtes, Ungreifbares bleiben wird? Dem antworten wir: wohl ist es wahr, daß der des Augenlichtes Beraubte vieles entbehrt, aber ebenso wahr ist es, daß er dafür alles, was die Natur hör- oder fühlbar zu ihm spricht, mit doppelter Wärme umfaßt und daß er selbst ihre herrlichsten Erscheinungen nicht schmerzlich vermißt, weil Dichterwort und eine reichere Phantasie sie ihm aufs glänzendste zu schildern vermögen.

Ueberhaupt läßt das lebhafte Vorstellungsvermögen, mit welchem die meisten Lichtlosen begabt sind, sie manches erreichen, was ihr Gebrechen ihnen ganz vorzuenthalten scheint. So dürfte es keineswegs allgemein bekannt sein, daß vielen und zwar sogar frühzeitig Erblindeten die Vorstellungen von Licht und Farbe nicht völlig verschlossen sind, da sie sich beide theils in Tönen theils in Formen, also durch Vorstellungen aus ihrer Welt des Hörens und Tastens verkörpert denken. Mir z. B. erscheint, obwohl ich schon im dritten Lebensjahre das Augenlicht und daher auch jede Erinnerung an das wirkliche Aussehen der Farben verloren habe, doch jeder Gegenstand gefärbt, sobald ich ihn betaste. In ähnlicher Weise kann ich nicht umhin, jedem Menschen, je nach dem Klang seiner Stimme, helles oder dunkles, krauses oder schlichtes Haar, blaue oder schwarze Augen anzudichten. Freilich geschieht es nicht selten, daß meine Vorstellungen irrig sind, und es wird mir dann, besonders bei Menschen, niemals leicht, ja hin und wider ganz unmöglich, den Erklärungen Sehender mich unterzuordnen und von meinen Phantasiegebilden zu lassen. Während ich nun für gewöhnlich, wenn ich mir Farben vorstelle, sie zu hören, zu fühlen oder dann und wann auch zu riechen glaube, so kommt es mir merkwürdigerweise im Traume häufig vor, daß ich sie sehe. Es ist dann, als ob sich die kleine, mir noch gebliebene Lichtempfänglichkeit vervielfältigte; sie zeigt mir Bäume, Sträucher, Wiesen – Menschen dagegen nur selten und in verschwommenen Umrissen. Die genannten Dinge erscheinen mir manchmal in milder Färbung, öfter aber von einem grellen blitzähnlichen Feuerstrahl übergossen – zu meinem Entsetzen bin ich nämlich noch imstande, den Blitz wahrzunehmen.

Ferner vermag unsere Phantasie Bildern, die uns von anderen beschrieben werden, vor unserem seelischen Auge feste Gestaltung zu verleihen. Manchem hat es schon ein Lächeln abgenöthigt, wenn er hörte, daß ich mich trotz meiner Blindheit für Malerei interessiere, denn auf den ersten Blick erscheint die Anwesenheit Blinder in kunstgeschichtlichen Vorträgen ebenso widersinnig und nutzlos, als wenn ein vollständig Tauber Musikstücke anhören und bewundern wollte, und man hat mich deshalb vielleicht da und dort jenen Blinden beigezählt, die in falscher Scham über ihr Gebrechen bemüht sind, sich anderen gegenüber sehend zu stellen. Allein wenn ich den Schilderungen von Gemälden oder Bauten mit Aufmerksamkeit folge, so thue ich dies nicht nur, um so Gebieten näher zu treten, die mir sonst ganz verschlossen bleiben würden, sondern auch, um für meine Phantasie neue Anregung zu erhalten. Mit wenigen Blicken überschaut der Sehende ein ihm vorher beschriebenes und dann zur Betrachtung dargereichtes Bild; während es also ihm ein Leichtes ist, sich in die gegebenen Gedanken des Künstlers zu versenken, muß meine Phantasie unablässig selbstschöpferisch thätig sein. Aber sie thut das so gern und zuweilen mit solcher Lebhaftigkeit, daß ich schon öfter den Wunsch hegte, zeichnen zu können, um zu erfahren, ob meine Vorstellungen der Beschaffenheit ihrer Vorbilder entsprachen oder wenigstens nahe kamen.

Unstreitig jedoch bringt der Gehörsinn für den Blinden die schönsten Früchte, wenn in Tönen und Melodien zu seiner Seele gesprochen wird; denn wenn auch die Musik auf alle fühlenden Menschenherzen einen großen Einfluß ausübt, so darf dies doch ganz besonders von dem Blinden gesagt werden, der in ihrem Reiche Trost sucht und findet für anderes, was das karge Leben ihm versagt; er ist wahr – jener Satz: „Allen Blinden ist die Musik viel, vielen ist sie alles.“ Wie sehr zuweilen die Tonkunst das Seelenleben Nichtsehender beherrscht und wie leicht diese geneigt sind, die so empfangenen Eindrücke mit der Wirklichkeit zu vermengen, das möge ein Beispiel beweisen aus dem Leben einer meiner Freundinnen, für die auch die Musik alles war. Diese Freundin hatte ihr schwärmerisches Herz einer Künstlerin zugewendet, durch deren herrlichen Gesang sie zur höchsten Bewunderung hingerissen worden war, die sie aber nicht persönlich kannte. In guter Absicht waren nun Bekannte grausam genug, der Armen den Glauben an die sittliche Tüchtigkeit jener Sängerin, den ihr die musikalische Begeisterung eingegeben hatte, zu zerstören, indem sie ihr deren Leben wahrheitsgemäß schilderten. Unvergeßlich wird mir der Ton bleiben, in dem das junge Mädchen nach jenen Eröffnungen ausrief: „Nun, wenn diese Stimme lügen konnte, dann ist alles Lüge!“

Sollte dieser schmerzliche Aufschrei nur der Ausdruck gewesen sein für eine Enttäuschung, wie sie übertriebener Schwärmerei nicht erspart werden kann? Ich glaube nicht – es handelte sich hier vielmehr um eine tiefgehende Verwechslung von Künstlerin und Kunst, von Person und Stimme, wie sie bei Sehenden nicht vorzukommen pflegt. Einmal war meiner Freundin der Gesang das Höchste, Schönste, was sie auf Erden kannte, und dann hielt auch sie wie alle Blinden die Menschenstimme für ein aufgeschlagenes Buch, in welchem über Menschencharakter und Menschenwerth offen zu lesen ist. So mußte die Enttäuschung sie aufs tiefste treffen.

Bedeutsam ist auch der Abschluß, den das Leben dieses Mädchens fand; in dem Bestreben, Sängerin zu werden, zog sie sich durch allzu eifrige Studien, denen ihr schwacher Körper nicht gewachsen war, ein Lungenleiden zu, an dem sie in jungen Jahren starb. Ihr Ende veranlaßt mich, darauf hinzuweisen, wie viel Mühe musikalisch begabte Blinde daran setzen, um ihr Talent praktisch zu verwerthen. Wer dem einen oder andern zur Erreichung dieses schönen Zieles seine Hilfe leihen kann, der möge es doch ja thun; er wird einem dunklen Menschenleben jenes Licht reiner innerer Befriedigung entzünden, das uns höher steht als das des Auges. So können z. B. Organistenstellen sehr wohl von Nichtsehenden ausgefüllt werden, und es wäre mir zu wünschen, daß diese Ansicht Verbreitung finden möchte. Die große Bedeutung des musikalischen Berufes für die Blinden richtig erkennend, hat der jüngst in England verstorbene blinde Dr. Armitage in edler Fürsorge zu Norwood bei London eine Musikhochschule für seine Schicksalsgenossen ins Leben gerufen. Die treffliche Anstalt, in welcher schon zahlreiche Zöglinge zu tüchtigen Musikern und Klavierstimmern ausgebildet wurden, steht gegenwärtig unter Leitung des blinden Direktors Cambel.

Neben das Gehör, das, wie wir gesehen haben, den größten Einfluß auf den Blinden ausübt, sowohl auf sein Thun als auf sein Gemüthsleben, tritt in zweiter Linie der Tastsinn. Nicht ohne Berechtigung hat man die Fingerspitzen der Lichtlosen ihre Augen genannt; auf dem Tastsinn baut sich wesentlich der Unterricht der Blinden im Lesen und Schreiben auf. Die Möglichkeit des Lesens und Schreibens ist für die Nichtsehenden erst eröffnet worden, als es gelungen war, tastbare Schriftsysteme für sie zu erfinden. Die eigentliche Anregung zum Unterricht der Blinden ist von Frankreich ausgegangen, wo 1784 durch Valentin Hauy das erste Blindeninstitut der Welt in Paris gegründet wurde; die ältesten Blindenschulen Deutschlands sind die zu Berlin und Dresden, welche in den Jahren 1806 und 1809 entstanden, ebenfalls auf Hauys Veranlassung hin. Erst allmählich jedoch kam man auf Schriftsysteme, die auch den Blinden zugänglich waren. In erster Linie sei die Braillesche Punktschrift erwähnt, so benannt nach ihrem blinden Erfinder Louis Braille (geboren 1809, gestorben 1852). Die Buchstaben werden dabei durch 1 bis 6 fühlbare Punkte von wechselnder Stellung wiedergegeben und beim Schreiben mittels eines spitzen Griffels meist auf metallenen Rillentafeln dem Papier eingedrückt. Dieses Schriftsystem, mit welchem Braille 1829 an die Oeffentlichkeit trat, wurde erst fünfzig Jahre später auf dem Blindenlehrerkongreß zu Berlin für die deutsche Sprache eingerichtet. Bis dahin bediente man sich in Blindenschulen hauptsächlich der erhabenen großen lateinischen Buchstaben, in denen die ganze Bibel für Blinde gedruckt ist und die von den letzteren [51] auch in sogenannter Flachschrift geschrieben werden können. Doch ist diese Schreibart für den Nichtsehenden schwieriger zu erlernen als die des Punktsystems und hat außerdem noch den Nachtheil für ihn, daß er das auf solche Weise Geschriebene nicht selbst zu lesen vermag. Aehnlich wie beim Schreiben und Lesen wendet sich die Blindenschule auch im Geographieunterricht vorwiegend an den Tastsinn der Schüler; Städte, Flüsse, Gebirge etc. werden hier auf besonders angefertigten Landkarten durch fühlbare Punkte und Linien veranschaulicht.

Das Tastvermögen befähigt ferner den Nichtsehenden zu Handarbeiten, sogar zu solchen feinerer Art, zu tüchtigen Leistungen besonders auf dem Gebiete der Korbmacherei, Seilerei, Stuhlflechterei und Bürstenbinderei. Doch ragt die Bedeutung dieses Sinnes für ihn weit über das Feld des bloß Nützlichen hinaus.

Schon manchmal konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren, wenn von Sehenden im Tone tiefsten Bedauerns die Behauptung ausgesprochen wurde, daß die armen Blinden doch unmöglich wissen könnten, was schön und häßlich sei. Hier tritt eben der Tastsinn ergänzend ein; ob eine menschliche Gestalt zierlich oder plump, ob eine Form ebenmäßig oder unharmonisch ist, darüber wird der Lichtlose seine fühlenden Finger befragen, und in vielen Fällen wird er ihrem Urtheil Glauben schenken dürfen. Daß der Formensinn bei vielen Blinden scharf ausgeprägt ist, das beweist ihre große Vorliebe für plastische Figuren, Köpfe etc., welch letztere von einzelnen sogar auf Geldstücken richtig erkannt werden. Freilich, soviel ist richtig, daß wir uns über menschliche Schönheit keinen klaren Begriff zu bilden vermögen, da die edlen Verhältnisse eines Antlitzes, der vielgerühmte Glanz der Augen, die Macht des menschlichen Blickes überhaupt außer dem Bereich unserer Wahrnehmung liegen. Doch bedingt das keineswegs, daß der Unterschied von schönen und häßlichen Menschen für uns gar nicht vorhanden ist. In die Klasse der ersteren werden wir vielmehr diejenigen rechnen, denen eine sympathische Stimme, eine zierliche Gestalt, schön geformte Hände, weiches Haar, ein leichter Gang eigen ist, oder die wenigstens einige dieser Merkmale besitzen. Dabei kann es natürlich geschehen, daß infolge der verschiedenartigen Ausgangspunkte unsere Schönheitsbegriffe mit denen Sehender in entschiedenem Widerspruche stehen. Dem Auge des Beschauers kann z. B. ein Stoff farblos und unscheinbar dünken, der vermöge seiner Weichheit das lebhafteste Wohlgefallen unserer tastenden Hand erregt, oder es kann eine melodische, seelenvolle Stimme uns mit größter Bestimmtheit den Glauben an Schönheit da einflößen, wo der Blick des Sehenden das gerade Gegentheil hiervon wahrnimmt. Im übrigen ist die Empfänglichkeit für das Schöne und damit die Freude daran dem Nichtsehenden in keinem geringeren Maße, wenn auch hin und wider auf eine etwas andere Weise verliehen als jedem anderen mit Schönheitssinn begabten Menschen. Das gilt schon von den tausend kleinen Aeußerlichkeiten, die das Menschenleben schmücken und verschönen, es gilt aber noch in weit höherem Grade von jener idealen innerlichen Schönheit, die nur durch das Auge des Geistes, das Fühlen der Seele empfunden werden kann. Denn nicht nur der Tastsinn der Blinden zeichnet sich durch besondere Feinheit und Schärfe aus, sondern überhaupt alles, was man unter dem Worte „Gefühl“ begreift. Den Beweis hierfür liefert ihr meist treffendes Urtheil über die Gesinnungen anderer, der feine Instinkt, mit welchem sie Freundschaft von Heuchelei, wahre Herzlichkeit von Künstelei zu unterscheiden wissen, selbst dann oft, wenn ihnen nur ein geringes Maß von Welterfahrung zur Seite steht. Und alles nun, was wahr, gut und in des Wortes edelster Bedeutung schön ist, wird häufig von ihrem reicheren Seelenleben mit größerer Wärme festgehalten, als von dem des Sehenden, der über dem Blick in die mannigfaltige bunte Außenwelt so leicht den in die stillere Innenwelt versäumt. Es ließe sich noch mancherlei über das Gefühlsleben Blinder bemerken, namentlich darüber, wie es mit seiner von vielen unverstandenen Wärme und Tiefe oft ein ernsteres Verhängniß für das Leben der Lichtlosen bildet als ihr Gebrechen an sich – allein das würde über den Rahmen unserer Aufgabe hinausführen. Diese verlangt vielmehr noch ein kurzes Eingehen auf die Stellung, welche Geschmack und Geruch unter den Sinnen des Blinden einnehmen.

In Bezug auf den Geschmack ist, da wesentliche Abweichungen nicht vorhanden sind, nur wenig zu sagen. Die Annehmlichkeiten, die der Geschmack bietet, werden dem Nichtsehenden durch sein Gebrechen in keinerlei Weise verkürzt, und er wird, wie jeder andre auch, je nach seiner Veranlagung größeren oder geringeren Werth auf sie legen. Manchmal mag der Blinde den zweifelhaften Vortheil haben, daß er eine Speise, die dem Sehenden unappetitlich vorkommt, in seiner Harmlosigkeit mit der größten Gemüthsruhe verzehrt. Aber einmal über einen derartigen Irrthum aufgeklärt, wird er ihn nicht so leicht ein zweites Mal begehen, ja für einzelne Naturen kann eine solche Entdeckung Grund zu bleibendem Argwohn werden. Uns fremde Speisenbestandtheile, besonders wenn sie durch zu große Weichheit oder Fettigkeit ein unangenehmes Gefühl im Munde erzeugen, erregen in uns eine fast allgemeine Abneigung. Daß blinde Kinder äußerst empfänglich sind für Freuden des Gaumens und daß bei ihnen die Frage „Was werden wir essen? was werden wir trinken?“ eine große Rolle spielt, bedarf kaum der Erwähnung, da es ja bei dem sehenden kleinen Volk ebenso zu sein pflegt; merkwürdig und belustigend wirkt nur die fabelhafte Gedächtnißtreue, welche die lichtlosen Kinder in dieser Hinsicht an den Tag legen.

Im Interesse der Blindenwelt sei hier noch auf eine gewisse Unsicherheit hingewiesen, mit welcher sich fast sämmtliche Blinden bei Tisch in großer fremder Gesellschaft bewegen. Schwer zu schneidenden Kuchen von einem feinen platten Glasteller mit einem Löffelchen zu essen, ist für den Nichtsehenden eine wahre Folter, wenn er nicht den Muth findet, sich von seinem Nachbar das Gebäck zerkleinern zu lassen. Wie viel die Sehenden durch freundliches Entgegenkommen zur Erleichterung einer solchen peinlichen Lage beitragen können, ist klar, und doch wird es bei allem Mitleid so vielfach vergessen oder unzart angefaßt.

Was endlich den Geruchsinn des Blinden betrifft, so ist er es vor allem, welcher unsere Freude an der Natur erweitert. Die Düfte der Rose, des Veilchens, des Flieders erregen ein Gefallen wohl in jedem Menschen, aber schwerlich werden sie sonst mit dem gleichen Entzücken begrüßt wie von den Blinden.

Unsere tastende Hand schon vermag ein saftig grünes Blatt von einem welken oder welkenden sehr wohl zu unterscheiden, in noch höherem Grade geschieht das durch den Geruchsinn; daher der bei Nichtsehenden gebräuchliche Ausdruck. „Es riecht grün.“ Wo es im Blindenleben gilt, das Wesen eines Dinges oder irgend einer Masse festzustellen, da kommt es nicht selten vor, daß der Geruch um sein Urtheil befragt wird. Blinde im Naturzustande, also besonders Kinder, pflegen darum eine Sache nicht nur zu befühlen, sondern auch, unbekümmert darum, ob das gerade angebracht ist oder nicht, in möglichst nahe Berührung mit der Nase zu bringen. Aus meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich der Thatsache, daß ich regelmäßig vor dem ersten Besuch in irgend einem Hause anderen und mir die Frage stellte: „Wie wird es dort wohl riechen?“ Um des lieben Anstandes willen muß der Lichtlose lernen, den Gebrauch seines Geruch– und selbst den seines Tastsinnes auf ein gewisses Maß zu beschränken. Da nun hierin ein Verzicht auf mancherlei Wahrnehmungen, also etwas der menschlichen Natur Widerstrebendes liegt, so fällt jener Zwang vielen nicht leicht. Der Sehende sollte indessen, anstatt in dem unzeitigen Umhertasten einzelner kurzweg eine üble Angewohnheit zu erblicken, rücksichtsvoll bedenken, daß wir nur auf diesem Wege uns zurechtzufinden vermögen. –

Damit bin ich am Ziele meiner Aufgabe angelangt, und ich möchte zum Schlusse nur noch einem Mißverständniß vorbeugen, das diese Zeilen da oder dort hervorrufen könnten. In dankbarer Freude über das, was ein gütiges Geschick uns gelassen hat, über den Ersatz, den es uns durch Schärfung unserer gesunden Sinne in mancher Beziehung gewährt, sind diese Schilderungen entstanden. Darüber darf der Leser aber nicht das eine vergessen, daß das Geschick zwar viel uns ließ, aber auch viel nahm, daß trotz der Schärfe unserer gesunden Sinne die Blindheit niemals aufhört, ein Unglück für uns zu sein. Der Mangel des Augenlichtes umgiebt uns mit tausend Schranken, erschwert unser Arbeiten und läßt uns die Abhängigkeit von anderen oft in recht schmerzlicher Weise empfinden. Was jene Schranken, wenn auch nicht aufheben, so doch weiter hinausrücken, jene Schwierigkeiten erleichtern, die Schmerzen mindern kann, das zu untersuchen und das Erprobte durchführen zu helfen, ist Sache jedes echten Menschenfreundes.