Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[101]

Nr. 7.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.
Roman von W. Heimburg.
(6. Fortsetzung.)


Maiberg hatte um eine Lampe gebeten und wollte schreiben, aber er rührte die Feder nicht an. In tiefe Gedanken versunken lehnte er in einem Winkel des Sofas und rauchte eine Cigarre. Bei Tische war es mehr als ungemüthlich gewesen; Antje hatte wiederum nur Ja! und Nein! geantwortet, Leo war aufgeregt und zerstreut, hatte öfter nach der Uhr gesehen,


Das Rheineis bei Bacharach.
Nach einer Momentphotographie von Th. Schafgans jun. in Bonn.

[102] als gerade schicklich, und war schließlich eine halbe Stunde früher gefahren, als er anfänglich bestimmt hatte. Von den Zurückbleibenden hatte er kurz Abschied genommen mit den Worten: „Langweilt Euch nicht zu sehr!“ – Antje hatte dann noch eine Tasse Mokka am Nebentisch bereitet, war pflichtschuldig neben dem Gaste sitzen geblieben, bis er sie geleert, und hatte kein Wort gesprochen, bis auf „Gesegnete Mahlzeit!“, als sie sich trennten.

Den Kopf in die Hand gestützt, grübelte er nach; auf welcher Seite lag hier die Schuld? Wer von den beiden wehrte dem Glück, diese Schwelle zu betreten? – Es war so still um ihn her, das ganze Haus schien wie ausgestorben. Was mochte die junge Frau jetzt beginnen? fragte er sich. Ob sie wohl wieder vor dem Bettchen des Kindes saß? Ob sie weinte, weil die Mutter sie so rasch verlassen hatte im Unfrieden mit Leo? Er gähnte plötzlich wahrhaftig, es kam ihm gespensterhaft langweilig vor in diesem Sibyllenburg. Endlich nahm er ein Buch in die Hand, es war „Der Hungerpastor“ von Raabe. Er kannte es wohl und liebte es sehr. Ja, ja, Hunger thut weh; es giebt Leute mit viel Hunger und solche mit wenig Hunger, und Leo hatte viel, Antje dagegen schien keinen zu kennen. Daß so zwei zusammenkommen mußten! Und Maiberg wußte, wonach Leo hungerte: nach Ruhm, nach Anerkennung, nach einer befriedigenden Thätigkeit, nach einem Herzen, das mit ihm strebte, mit ihm ehrgeizig war, und das er in seiner Frau nicht finden zu können glaubte. Freilich, sie hungerte wohl auch, sie hungerte nach seinem Vertrauen, nach seiner Liebe, sie hungerten beide nach gegenseitigem Verständniß. –

Ob der Herr Doktor eine Tasse Thee bei der gnädigen Frau nehmen wolle, fragte ein Diener.

Er erklärte sich sogleich bereit und folgte dem Manne durch Leos Atelier und ein kleines Vorzimmer in das „Boudoir der gnädigen Frau“, wie es der Diener bezeichnete. Maiberg schüttelte den Kopf; es war ein grenzenlos kokettes Zimmerchen, in dem er stand. Wände, Sessel und Taburetts mit großblumigem Seidendamast bezogen; die schweren Vorhänge über einem Ruhebette hielt ein reizend modellirter lächelnder Amor aus Bronze zurück. Die Möbel mit Metallverzierungen zeigten anmuthige, aber sehr verschnörkelte Formen. Kostbare Gruppen von altem Meißner Porzellan, meistens Scenen aus der griechischen Götterwelt, standen auf Konsolen, Etageren und vor den Spiegeln. Hier lag ein echter Rokokofächer nachlässig auf einem Tischchen, als hätte ihn eben noch eine schöne Hand gebraucht; dort, auf dem Pult eines prächtig erhaltenen alten Spinetts, stand das Notenbuch aufgeschlagen; Maiberg sah, daß es ein französisches Liebeslied aus der Zeit der Pompadour war; und in dem Bücherschränkchen paradirte in verblichenen rosa und blauen Sammeteinbänden eine ganze Reihe von Erzeugnissen jener Memoirenlitteratur, in der die schönen Seelen von „Anno dazumal“ sich selbst belogen.

Es war ein reizender Maskenscherz, dieses ganze Zimmer, aber undenkbar für den täglichen Gebrauch einer Frau wie Antje.

Sie trat eben ein; ihr graues Cheviotkleid mit dem Besatz aus dunkeln Litzen nahm sich seltsam aus in dieser koketten Pracht.

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir Gesellschaft leisten zu wollen,“ sprach sie zu Maiberg, „der Thee soll gleich hier sein.“

„Ist dies Ihr Zimmer, Ihr Wohnzimmer?“ fragte er, aus seinem Erstaunen erwachend.

„Es ist mein Zimmer, Herr Doktor, Leo hat es für mich eingerichtet.“

„Und gefällt es Ihnen?“

Sie ward verlegen. „Zum Wohnen ist es mir ein wenig zu ungemüthlich, ich habe neben der Kinderstube ein anderes, das ist –“

„Dann, bitte, lassen Sie uns in diesem andern Thee trinken,“ bat er, sie unterbrechend.

Sie lächelte. „Mir ist es recht, Herr Doktor, aber Sie müssen vorlieb nehmen; Leo sagt, sie sei schrecklich, die Stube.“

„Ich begreife Leo nicht, gnädige Frau! Wie kann man darauf versessen sein, sogenannte stilvolle Gemächer zu bewohnen? Das Zimmer soll den Charakter seines Bewohners zeigen, behaglich, heimlich sein; dieses hier ist lediglich eine Zusammenstellung von Requisiten für die Bühnendekoration eines altfranzösischen Lustspiels! Sie sind doch keine Rokokoschäferin!“ Er sprach ganz ärgerlich, während er ihr über den Gang folgte. „Ich verstehe überhaupt nicht,“ fuhr er fort, „wie Leo jemals ein Bild malen kann in seinem Atelier. Das strotzt ja von Farben und muß verwirren, zerstreuen. Wissen Sie, was Goethe sagt, Frau Jussnitz? Er sagt, eine Umgebung von geschmackvollen, bequemen Möbeln hebe sein Denken auf; prachtvolle Zimmer mit elegantem Hausgeräth seien etwas für Leute, die keine Gedanken haben oder keine haben mögen.“

Sie hatte die Hand eben auf den Drücker einer Thür gelegt, nun wandte sie sich um. „Es ist möglich, daß Goethe recht hat,“ antwortete sie ruhig, „ich meine sogar, dichten kann man auch, wenn man blind ist – ein Maler aber dichtet mit den Augen.“

Er blickte sie überrascht an, sie aber trat still über die Schwelle eines kleinen Zimmers und sagte mit einer anmuthig einladenden Gebärde: „Nun suchen Sie sich einen recht gemüthlichen Platz, Herr Doktor; wenn Sie erlauben, nehme ich mir eine Handarbeit.“

Ja, so hatte er sich ihre Umgebung gedacht. „Hier ist es traut,“ sprach er halblaut und sah umher in dem kleinen Raum mit seiner einfachen und doch so anmuthigen Einrichtung. Dort das Nähtischchen am Fenster unter einer Gruppe Blattpflanzen; der Schreibtisch, das bequeme Sofa, über dem die Bilder eines Herrn und einer Dame hingen, vermuthlich der Eltern der Bewohnerin. Die Aquarellskizze darunter stellte sicher das heimische Nest vor, in dem Antje ihre Jugend verlebt hatte. Allerlei lieber, mädchenhafter Tand hing und stand umher. Da lag die angefangene Arbeit auf dem Tischchen, daneben ein Buch. Maiberg sah, es war ein Kochbuch, „Nürnberger Lebküchlein auf altdeutsche Art“ las er. Aber er konnte nicht lächeln, es überkamen ihn längst vergessene Kindererinnerungen, wie er als kleiner Knirps neben der stattlichen Mama gestanden und das Mäulchen aufgesperrt hatte, damit sie ihn kosten lasse von dem süßen Weihnachtskuchenteig. Und als er näher zum Schreibtisch trat, um über demselben die Inschrift eines sogenannten Haussegens zu lesen, drangen ihm die wunderbaren Worte des Neuen Testamentes in die Seele: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ – Und „die Liebe ist langmüthig und freundlich, sie eifert nicht, sie suchet nicht das Ihre.“

Er wandte sich um und sah sie an, als sähe er sie jetzt zum ersten Male. Sie war am Tische beschäftigt mit dem Thee; wie geräuschlos, wie anmuthig waltete sie! Die kleine roth gestickte Schürze kleidete sie so gut und der Lampenschein lag so friedlich auf dem schlichten goldenen Scheitel; die Uhr tickte und die Maiglöckchen auf dem Blumentisch sandten einen süßen Duft durch den Raum. Von nebenan klang die Stimme des Kindes herüber, das mit seinem Spielzeug plapperte. Eine Welt voll heimlichen, unbeschreiblichen Reizes!

Maiberg hatte sie schon einmal erlebt, diese Stunde, aber wo? aber wann? Oder war es das Ideal seiner Zukunftsträume, das er sich – wie oft schon! – ausgemalt hatte? Er nahm stumm die Tasse aus der Hand der jungen Frau und setzte sich ihr gegenüber, sie aber schraubte die Flamme unter dem Kessel herunter und griff zu ihrer Arbeit; es war ein Kinderschürzchen. Und nun bat sie: „Erzählen Sie mir ein wenig, Herr Doktor, von Leo, als er noch fröhlich und ungebunden mit Ihnen in der Welt umherlief. Es war seine glücklichste Zeit, behauptet er immer. – Nicht wahr,“ setzte sie hinzu, „er war ganz anders früher?“

Er schwieg und rührte in der Tasse umher und sah nicht auf. Erst als er bemerkte, wie sie die Arbeit in den Schoß sinken ließ, begann er, ohne auf ihre letzte Frage einzugehen: „Ja, ja, das waren die Brausejahre, ein jeder muß sie durchmachen. Aber so etwas erscheint in der Erinnerung doppelt schön, weil man das Widrige dabei vergessen hat.“ Er wußte nichts Besseres vorzubringen als diesen Gemeinplatz und sann auf ein anderes Thema.

Da hörte er sie sprechen: „Glauben Sie nicht auch, daß Leo furchtbar unter der mangelnden Anerkennung seines Talentes leidet?“

„Leo ist noch jung, gnädige Frau, und eigentlich fängt er wohl jetzt erst an, ernstlich zu arbeiten.“

Sie stach sich eben in den Finger; ihre Hand, welche die Nadel führte, hatte gezittert. Mit einem ganz veränderten Gesichtsausdruck sah sie an dem jungen Arzt vorüber. Da war es wieder, das erstickende beklemmende Gefühl, das seit gestern von Zeit zu [103] Zeit über sie kam. Ein schönes dunkles Frauenantlitz schwebte ihr in unbestimmten Formen vor den Augen, die spanische Mantille über dem Kopf, mit hohem Kamme aufgesteckt, die Granatblüthe hinter dem Ohr, und sie hörte die helle Stimme der Baronin: „Sind Sie nicht eifersüchtig, Frau Jussnitz, gar nicht?“

Dann schüttelte sie den Kopf, als verjage sie ein widriges Insekt, und seufzte auf. Nein, das war undenkbar, wohin verirrte sie sich. Und laut sagte sie: „Wenn ihm doch das neue Bild gelänge, wenn er Anerkennung fände! Ich glaube, daß es einen großen Einfluß hätte auf seine Stimmung. Meinen Sie nicht auch, Herr Doktor?“

„Ganz sicher!“ erwiderte dieser.

„Ich hätte eine Bitte an Sie,“ begann sie nach einer Pause, und ihr Gesicht leuchtete wie das eines Menschen, dem plötzlich ein guter Gedanke gekommen ist.

„Befehlen Sie über mich, gnädige Frau!“

„Sie sollen mir helfen, Leo gesund machen.“

„Mit Vergnügen!“

Sie faltete die Hände über ihrer Arbeit und sah ihn ernsthaft an mit den schimmernden Augen. „Darf ich auf Ihr Schweigen rechnen?“ fragte sie.

„Sicher, Frau Jussnitz.“

„Sie sind genau in Berlin bekannt. Haben Sie noch Beziehungen daselbst?“

„Gewiß!“

In einer Kunsthandlung dort steht ein Bild von Leo zum Verkauf – ich möchte es erwerben. Verstehen Sie, er darf es nie erfahren, es muß von irgend einem Engländer erstanden sein – Sie können das gewiß leicht vermitteln? – Bitte, Herr Doktor, sagen Sie nicht ‚Nein!‘ sprach sie angstvoll weiter, als er schwieg, „Sie glauben nicht, wie viel mir an dem Gelingen meines Planes liegt.“

„Und wenn Leo das jemals erführe?“

„Er darf es nicht erfahren,“ drängte sie, „und wenn – dann trifft mich allein die Schuld. Ich bitte Sie –“

„Ich werde es thun, wenn Sie es für gut halten.“

„Ich danke Ihnen!“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie leise. „Ich weiß, Leo wird erstarken an diesem Bewußtsein.“

Dann stand sie auf, ging zu dem Schreibtisch und entnahm ihm eine kleine silberne Sparbüchse. Sie erglühte wie eine Rose, als sie, wie sie glaubte, ungesehen, dieselbe um eine ganze Anzahl Goldstücke erleichterte. „Leo ist nicht allzubillig,“ sagte sie zurückkehrend mit verlegenem und doch glücklichem Lächeln. Und sie schob die blinkenden Münzen in eine kleine grünseidene Börse von Häkelarbeit und überreichte sie Maiberg, der sie mit abgewandtem Gesichte empfing. Er wußte, sie hatte die Sparbüchse der Kleinen geplündert, denn er hatte Leo gestern abend, als er verlor, zu seiner Frau sagen hören: „Hast Du noch Kasse?“ Und als sie den Kopf schüttelte, hatte Leo nur das eine Wort gesprochen: „Mutter!“ Dann war Antje gegangen und mit dem Gelde wiedergekommen.

Maiberg empfahl sich rasch unter dem Vorwande, sogleich einen Brief in dieser Angelegenheit absenden zu wollen. Ein trauriges Lächeln auf den Lippen, trat er in sein Zimmer, und dieser Ausdruck verschwand erst, als er die Feder eintauchte, um einem alten Freunde zu schreiben, der den Kauf des Bildes vermitteln sollte. Er wäre am liebsten hundert Meilen von hier gewesen. Sie wollte ihren Gatten die Kränkung vergessen machen, sie wollte ihn sich retten, sich und dem Kinde, und da meinte sie, es auf diese Weise zu können. Was mochte sie schon alles versucht haben, ihn herüber zu ziehen zu sich! Er haßte Leo in diesem Augenblick.

Und da drüben in der bunten Kinderstube herzte die junge Frau das Kind und sprach mit ihm. „Du bekommst etwas Besseres dafür, Maus, Du bekammst einen guten lustigen Papa, sei Deinem Mütterchen nicht böse. Sieh, wir haben ja kein Glück ohne den Papa, nicht wahr, Maus?“ Und sie faltete der Kleinen die Händchen zwischen den ihren und ließ sie beten, daß dem Papa sein neues Bild gelingen möge, daß es sehr schön werde und allen gefalle, und daß er – sie wurde glühend roth, während sie das sprach, und schaute an dem Kinde vorüber – daß er recht bald damit fertig werde.




Es war am Heiligen Abend. Durch die Straßen Dresdens tobte ein wahrer Orkan, der duftige Flimmer des Schnees war von den Dächern, Statuen und Baumästen geschüttelt, und einzelne schwere Regentropfen fuhren, vor dem Winde hergetrieben, durch die Luft; die Wege überzog ein breiiger Schmutz, der bis auf die Dächer der Equipagen und auf die Hüte der Menschen spritzte. Es sei ein schlechtes Weihnachtswetter, meinten die Leute. Die großen Regentropfen schlugen auch klatschend gegen die Scheiben des Jussnitzschen Ateliers in der stillen Vorstadtstraße, aber es war darum nur behaglicher in dem großen gut durchwärmten Raum, der dem Nichtkenner sehr einfach erscheinen mochte. Die mit blaßgelber billiger Papiertapete bekleideten Wände waren hie und da mit Nachahmungen irgend eines berühmten alten Gobelins geziert; dazwischen standen riesig große Chinavasen und hingen einzelne Waffen. Den Fußboden bedeckte ein täuschend nachgemachter alter orientalischer Teppich, in dem selbst Flecken und Löcher nicht fehltet. Die Möblirung war sparsam; ein mit einer Smyrnadecke belegtes Ruhebette, einige sehr tiefe behagliche Fauteuils, mit Kameeltasche bezogen, ein Tischchen vor dem Ofen, das war alles! An diesem Tischchen, das noch die Reste eines Frühstücks trug, saß Tante Polly auf einem echten Renaissancestuhl, bedächtig eine Kaviarsemmel verzehrend, während ihre Augen unausgesetzt die Nichte oder Herrn Jussnitz beobachteten.

Hilde stand seitwärts von der Staffelei in einem Kostüm aus gelbem Brokat mit schwarzen Spitzen; vom Hinterkopf fiel die Mantille herunter über den schönen Nacken, die rechte Hand hielt den Fächer, die linke hatte in die schweren Falten des Röckchens gegriffen und zerdrückte das Gewebe; sie stand da, als sei sie der Sache überdrüssig und habe die größte Lust, fortzulaufen.

„Weiß der Himmel,“ rief Jussnitz, das Mädchen betrachtend. „Sie bringen es fertig, jeden Tag anders auszusehen! Heute machen Sie ein Paar Augen, daß ich Ihnen statt des Fächers lieber einen Dolch in die Hand geben möchte. Trinken Sie ein Glas Sherry, Hilde, es fröstelt Sie, und seien Sie nicht so schrecklich ungeduldig, Ihre Qualen sind ja bald vorüber.“

Hildegard von Zweidorf lachte ganz kurz und hart auf. „O ja,“ sagte sie, „es wird Zeit, und Tante dankt auch Gott, wenn sie erlöst wird – nicht wahr, Tante?“ Sie drehte den Kopf so heftig herum, daß die großen goldenen Ohrringe mit den beweglichen Sternchen daran blitzten, und sah die kleine Dame finster an, indem sie ihr einen aufmunternden Blick zuwarf, der deutlich sprach: „Wirst Du gleich Ja sagen!“

„Ja,“ sagte Tante Polly, „meine Wirthschaft wird besser dabei wegkommen, wenn ich wieder mehr zu Hause bleiben kann.“

„Und ich,“ setzte Hilde mit zuckenden Lippen hinzu, „ich gehe wahrscheinlich auf einige Zeit nach Hause.“

Leo hatte an dem Haar gemalt, und zwar so eifrig, daß er diese Erklärung überhörte.

„Ich gehe wahrscheinlich nach Hause auf einige Wochen,“ wiederholte sie und schlug den Fächer auf und zu.

„So?“ fragte er nun, „wie kommt das? Für Ihre Studien wird es nicht gerade vortheilhaft sein.“

Sie sah mit eigenthümlichen Augen zu ihm hinüber, Augen, in denen es von unterdruckten Thränen flimmerte. Aber sie lachte wieder. „Nun, ich frage Sie ja auch nicht, weshalb Sie über Weihnachten auf das Land gehen!“

Er antwortete wieder nicht; er war zurückgetreten und schaute das Bild an. „Kommen Sie einmal her, Hilde, sehen Sie sich das Gesicht hier an, und dann betrachten Sie das Ihre in dem Spiegel! Sind beide noch dasselbe?“

„Nein!“ erwiderte sie kurz, ohne sich zu rühren.

„Ich möchte wirklich wissen,“ fuhr er fort und blickte sie jetzt mit einem Zug von Besorgniß in seinem hübschen kecken Gesicht an, „was es mit Ihnen ist. Sie sollten einen Arzt fragen, Hilde; ich fürchte fast, ich muß mir Vorwürfe machen, daß ich –“

„Sie?“ unterbrach sie ihn mit einem schrillen gezwungenen Ton der Verachtung. „Nein, da beruhigen Sie sich, bitte – mir fehlt nichts, gar nichts!“

„Sie sind heute schlechter Laune, Hilde, und verderben mir die Stimmung mit,“ rief er und stellte den Malstock in die Ecke, „ich kann die paar Kleinigkeiten auch ändern ohne Ihre Gegenwart; das Kleid werde ich der Puppe anziehen. Hoffentlich sind Sie in der nächsten und letzten Sitzung etwas gnädiger gestimmt.“

[104] „So bin ich entlassen für heute?“ fragte sie mit einem Lächeln, das nur sehr schlecht ihren Schmerz verbarg.

„Welch ein Ausdruck! Ich merke, daß es Ihnen schwer wird, und will Sie nicht quälen.“

Hilde wandte sich um und ging durch eine Tapetenthür in das Nebenzimmer, wo sie sich umzukleiden pflegte. Leo hatte sich indeß der Tante Polly genähert, die eben ihr Strickzeug zusammenwickelte.

„Wollen Sie heute abend Fräulein Hilde dieses Päckchen unter den Weihnachtsbaum legen?“ bat er, ihr einen kleinen wohlverpackten Gegenstand einhändigend.

„Kann ich ja thun,“ meinte Frau Polly, „ein Bäumchen putzen wir auch, ’s ist zwar eigentlich ein Vergnügen für Kinder, doch man will nun einmal seine Freude haben. Die Hilde wird sich freuen, denn wer sollte ihr etwas schenken, ausgenommen ich? Das sind dann aber Sachen, wissen Sie, die man so wie so haben muß.“ Sie steckte das Kästchen in ihren Pompadour unter den grauen Wollstrumpf und erhob sich, um den Mantel anzuziehen.

Jussnitz vergaß, ihr zu helfen; er war wieder zur Staffelei gegangen und schaute das Bild an.

Nach einigen Augenblicken erschien das junge Mädchen. Sie kam festen Schrittes herüber zu ihm. „Adieu!“ sagte sie kurz und reichte ihm die Rechte, ohne ihn dabei anzusehen.

„Adieu, Hilde!“ erwiderte er und behielt die kleine, heiße Hand fest in der seinen, „Adieu, Hilde, auf Wiedersehen, und glückliche Feiertage!“ Er fühlte, wie sie zitterte; heftig riß sie ihre Hand aus der seinen, so daß der ohnehin etwas weite baumwollene Handschuh zwischen seinen Fingern blieb.

„Danke schön, Hilde!“ rief er mit Lachen. Es klang ebenso gezwungen wie das ihrige vorhin. Er steckte den auf so sonderbare Weise erbeuteten Handschuh in die Tasche seines Sammetjacketts.

Sie zuckte nur stumm die Schultern und ging der Tante voran aus der Thür. Frau Polly rannte mit fliegenden Hutbändern hinterdrein. „Aber so warte doch ums Himmelswillen, ich bin ja noch nicht fertig!“ rief sie fast außer Athem.

Hilde stand schon unten in der Hausthür. Der Wind fuhr sausend an ihr vorüber, er klapperte an den geschlossenen Fensterladen und schlug die Zweige der hohen Bäume zusammen; es war ein weiches, lenzgemahnendes Duften in der Luft. Und das Mädchen starrte mit seinen sehnsüchtigen Augen in die Wolken hinauf, die am Himmel dahinjagten; sie hatte die Lippen geöffnet, als sei sie durstig, und es war ihr, als müßte sie hinausschreien in den Sturm, die Seele damit zu befreien von einer furchtbaren Angst. Die Regentropfen fielen auf ihr blasses Gesicht, das sie nach oben gerichtet hielt, der Wind schob ihr den Hut zurück und zauste ihr dunkles Haar über der niederen Stirn, das traurige junge Antlitz war in diesem Augenblick rührend schön.

„Ist Herr Jussnitz zu Hause?“ fragte plötzlich eine Stimme. Vor ihr, nur um die drei Stufen des Eingangs niedriger, standen ein Herr und eine Dame. Die letztere hatte gefragt; eine sanfte kinderhelle Stimme war es, und aus dem pfaublauen Kapotthütchen, das sie trug, blickte ein liebliches Gesicht.

„Ja!“ sagte Hilde, und indem sie mit beiden Händen nach ihrem Hut griff, um ihn zurecht zu rücken, trat sie zur Seite.

Die Dame kam die Stufen herauf. Ihre Augen sahen groß unter dem Halbschleier hervor in die Hildes. Zögernd trennten sich die Blicke beider von einander, und als Hilde sich umwandte, der jungen Frau nachzusehen, da hatte auch diese ihren Kopf gedreht, und wieder trafen sich die fragenden Blicke. Der stattliche blonde Herr stand noch, den Hut über dem Scheitel haltend, außerhalb der Thür, aus welcher jetzt Tante Polly, knixend und um Entschuldigung bittend, die Nichte hinaus drängte. Dann verschwand auch er im Innern der Villa.

„Wer die wohl sind?“ fragte Tante Polly.

„So komm doch!“ antwortete Hilde ungeduldig. Aber sie dachte das Gleiche, nur leidenschaftlicher, ungestümer.

Vor dem Gartenthor fuhr eine elegante Equipage langsam hin und her.

„Das wird schon denen ihr Wagen sein,“ seufzte Tante Polly und betrachtete den schmutzigen Weg.

„Möglich!“ gab Hilde zu. Und sie wanderten weiter. Tante Polly sprach nicht mehr; Hildegard hatte einmal wieder ihren „übelnehmerischen Tag“, und da half nichts weiter, als daß man sie ruhig austrotzen ließ, wollte man sich nicht ärgern. Und Tante Polly wollte sich nicht ärgern. Erstens bekam ihr das schlecht, und dann – wegen der Zukunft! – „Wenn es nur endlich mal soweit wäre,“ sagte sie sich, „Weihnachten ist doch eigentlich so eine schöne Gelegenheit zu dergleichen; niemals stehen soviele Verlobungsanzeigen in den ‚Nachrichten‘ wie in den Weihnachtsfeiertagen.“

Als die beiden die Pferdebahn erreichten, spendirte Tante Polly das Fahrgeld, weil es doch Heiliger Abend und weil das Wetter gar so gräulich sei. An irgend einem Halteplatz fuhr die Equipage, die sie vorhin bemerkt hatten, rasch an ihnen vorüber. Hilde erkannte durch die Scheiben des Wagens Jussnitz auf dem Rücksitz.

„Das waren ja die Sibyllenburger,“ sagte ein junges Mädchen, welches der Sealskinkragen und die Hutform, sowie das lange schmale Gesicht als Engländerin kennzeichneten, zu einer sehr deutsch aussehenden alten Dame in brochirtem seidenen Mantel, durch deren Fülle Hildes schlanke Gestalt fast verdeckt wurde.

„Kennst Du sie, Maud?“

Yes – nicht eigentlich, ich kenne die Rappen, sie sind sehr schön.“

„Also nach Sibyllenburg geht er!“ sagte sich Hilde; für ihr Leben gern hätte sie gewußt, wo dieses Sibyllenburg liegt. Sie nahm sich vor, die Büdchenbesitzerin zu fragen, nöthigenfalls könnte sie sich eine Karte von Dresden und Umgegend kaufen.

Kaufen – ja kaufen! Hilde verfügte nicht über ein paar Pfennig mehr. Sie hatte nichts gearbeitet; das kleine Taschengeld, das sie sich immer durch Bemalen von Portemonnaies und Fächern verdient hatte, war seit ihrer Uebersiedelung nach Dresden ausgefallen. Sie hatte keinen Pinselstrich gethan, sie war gemalt worden, und an den Nachmittagen, die sie für sich hätte benutzen können, hatte sie träumend am Fenster gesessen, zum Schein eine Arbeit vor sich; oder sie war in folternder Unruhe umher gegangen in den Straßen, weiter, immer weiter, bis sie zum Tode erschöpft heimkam.

(Fortsetzung folgt.)




Erinnerungen an Schliemann.
Von Rudolf Virchow.


II.

Eine der wunderbarsten Erscheinungen an dem reich beanlagten Manne war sicherlich die ausgedehnte Beherrschung, ich möchte fast sagen: zahlloser Sprachen. Es gab kaum eine europäische Sprache, die Schliemann nicht sprechen, lesen und schreiben konnte. Als ich ihn genauer kennenlernte – er war damals in einem Alter von etwa 56 Jahren – verstand er von den germanischen Sprachen außer Deutsch Holländisch, Englisch, Dänisch und Schwedisch, von den romanischen Lateinisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch, von den slawischen Russisch und Polnisch, von den hellenischen Alt- und Neugriechisch, von den orientalischen Arabisch, Türkisch und Hebräisch, letztere beide allerdings nur unvollkommen. Nichts war gewöhnlicher, als daß er unmittelbar hintereinander mit 5 oder 6 Personen, die verschiedenen Nationalitäten angehörten, sich in ihrer Muttersprache unterhielt. Ich war mit ihm in Paris und London, in Griechenland, Kleinasien und Aegypten: überall war er bereit, ausgedehntere Vorträge in der Landessprache zu halten. Die Nothwendigkeit eines Dolmetschers trat, soweit meine Erfahrung reicht, nur im Verkehr mit Türken und Kopten hervor; sonst genügte er nicht bloß unserem Bedürfniß nach Verständigung mit den Eingeborenen, sondern er war in der Lage, auch allen den Fremden zu antworten, welche sich in großer Zahl an ihn herandrängten, angezogen durch den

[105]

Frisch vom Faß.
Nach einem Gemälde von R. Quittry.

[106] Ruhm seines Namens und gefesselt durch die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse und Erfahrungen, die er in die Unterhaltung brachte.

Sicherlich besaß er ein Talent für Sprachen, aber er selbst wollte nicht viel davon wissen. Ihm lag mehr daran, zu zeigen, wie er die vielen Sprachen gelernt habe, um aus seinem Beispiele abzuleiten, wie man überhaupt Sprachen lernen müsse. In der Selbstbiographie, die er seinem Werke „Ilios“ vorgesetzt hat, spricht er sich darüber ausführlich aus, und es dürfte gerade jetzt, wo die Frage der Reform des höheren Schulunterrichts in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit getreten ist, doppelt gerechtfertigt sein, auf seine Darstellung hinzuweisen. Ihm war es viel mehr darum zu thun, die Güte seiner Methode zu rühmen, als mit seinen Anlagen zu prunken. Es war dieselbe Stimmung, die ihn zu der These führte, daß sein Gedächtniß eigentlich schlecht gewesen sei, daß er es aber durch systematische Uebung zu der Sicherheit und dem Umfange entwickelt habe, wodurch er später alle Welt in Erstaunen setzte. Man darf wohl sagen, daß er seine Anlagen unterschätzte, aber man kann ihm zugestehen, daß er als Autodidakt durch Methode und eisernen Fleiß die verschiedensten Sprachen bemeisterte und sich einen Reichthum von stets bereiten Worten sammelte, der ihn befähigte, in allen Lagen des Lebens schnell und bequem sich zu verständigen.

Es ist bekannt, mit welcher Leichtigkeit Kinder schon in den ersten Jahren des Lebens zwei und mehrere Sprachen verstehen und gebrauchen lernen, ohne eigentliche Lehre, nur durch Uebung. Schliemann war als Kind nicht in der Lage, mehr zu lernen als ein wenig Lateinisch, und er behauptet, daß er dieses sehr bald vergessen habe, als die Entsetzung seines Vaters von dem Pastorat die Familie in große Noth gestürzt und ihn selbst gezwungen hatte, Kaufmannslehrling zu werden und auf jeden weiteren Fortschritt im Wissen zu verzichten. Darüber verging ein Jahr nach dem andern. Er war 19 Jahre alt, als er nach Holland kam und hier zuerst in den täglichen Gebrauch einer fremden Sprache eingeführt wurde. Das Holländische haftete darum so fest in seinem Gedächtniß, daß er noch bis in seine letzten Jahre immer nur in dieser Sprache zählte. Wenn auf Hissarlik die Stunde der Lohnzahlung kam und die griechischen und türkischen Arbeiter hereintraten, so zählte ihnen Schliemann auf Holländisch ihre Beträge vor.

Damals in Amsterdam begann Schliemann inmitten der niedersten Beschäftigungen, zuerst als Laufbursche, dann als Buchhalter, seine sprachenbemeisternde Laufbahn. Er lernte sehr bald Englisch, und dann in kaum 5 Jahren Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch und Russisch Wie er es machte, ist in dem genannten Werke „Ilios“ zu interessant von ihm beschrieben, als daß ich es mir versagen könnte, hier ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen. Als besonders zeitgemäß will ich erwähnen, daß er stets damit begann, ein gutes Buch auswendig zu lernen, und daß er dann sofort versuchte, kleinere Aufsätze in der fremden Sprache zu schreiben und aufzusagen. Von Grammatik wollte er, abgesehen von der Deklination und Konjugation, nicht viel wissen; er zog die Praxis vor und machte es unbewußt ebenso wie die kleinen Kinder. Dabei ist es für das Verständniß seines Vorgehens nicht unwichtig, zu wissen, in wie praktischer Weise er sich über die Erlernung der Vokabeln hinweghalf. So benutzte er den „Telemach“ von Fénelon, der ihm als Lesebuch für das Erlernen des Französischen gedient hatte, in einer russischen Uebersetzung für das Selbsterlernen der russischen Sprache. Seiner Erzählung nach ist es ihm sogar gelungen, durch zweimaliges, genauestes Durchlesen der neugriechischen Uebersetzung von „Paul und Virginie“, dessen französischen Text er Wort für Wort wußte, ohne Lexikon den Sinn der griechischen Worte herauszubringen und dabei Neugriechisch zu lernen. Das brachte er als 34 jähriger Mann zuwege.

Der Eifer, den er bei diesen doch immer nur vorbereitenden Arbeiten entwickelte, würde unverständlich sein, wenn man nicht in Betracht zöge, daß er stets genau vorbedachte, zu welchem Zwecke er die neue Sprache erlernen wollte. In Amsterdam, inmitten des großen Weltverkehrs, dessen Fäden auch in seinem Handlungshause für jeden der Angestellten bemerkbar waren, wurde er sich bewußt, daß die Beherrschung einer fremden Sprache ein starkes Hilfsmittel in dem Kampfe ums Dasein ist. Nicht ohne geheime Freude nahm er, wie er mir öfters erzählt hat, wahr, daß das große Haus B. H. Schröder, in dem er eine untergeordnete Stellung einnahm, umfangreiche Geschäfte, namentlich in Indigo, nach Rußland machte, daß aber kein einziger der Leiter oder Angestellten in Holland auch nur einen russischen Brief lesen konnte. Er schloß daraus, daß sein Prinzipal einen Beamten, der Russisch verstehe, zur Kontrolle der Agenten in Rußland und zur Einleitung direkter Geschäfte mit großem Vortheil werde verwenden können, und sofort machte er sich aus Werk. Seine Spekulation bewährte sich vollständig: als er seine Kenntniß des Russischen nachwies, erhielt er sofort eine bessere Anstellung und sehr bald eine Agentur in St. Petersburg. Aus dieser wußte er dann allmählich ein selbständiges Geschäft zu machen, was ihm um so leichter wurde, als das Vertrauen des Amsterdamer Hauses in seine Redlichkeit und Geschicklichkeit ihm erhalten blieb. Enge persönliche Beziehungen zu dem neuen Chef des Hauses, Baron Henry Schröder in London, haben, wie ich von diesem selbst weiß, bis zu dem Tode Schliemanns fortbestanden. So wurde die sprachliche Schulung die eigentliche Grundlage für die ganze äußere Lebensstellung des Mannes: sie brachte ihm Millionen und damit die Mittel für seine späteren Arbeiten auf ganz neuen Gebieten, Arbeiten von einem Umfange, wie sie kein Privatmann in neuerer Zeit ausgeführt hat, und ohne daß er jemals die materielle Unterstützung einer Regierung gesucht oder erhalten hat.

Vieles voll seinen Erzählungen über das Erlernen der Sprachen klingt uns geschulten Leuten, die wir nach einem neunjährigen gelehrten Kursus auf einem Gymnasium keine einzige fremde Sprache wirklich beherrschen, unglaublich, und doch wüßte ich keinen Grund, an der Wahrheit seiner Angaben zu zweifeln. Möge es mir gestattet sein, eilt Beispiel dafür anzuführen.

Als wir im Frühjahr 1888 gemeinschaftlich eine Nilreise machten, setzte er nicht nur mich, sondern noch weit mehr die Eingeborenen in Erstaunen durch seine Kenntniß des Arabischen. Es wird eine der anziehendsten Erinnerungen für mich bleibend mir die Abende zurückzurufen, die wir damals in Nubien verbrachten. Wir waren am 3. März in einem nubischen Dorfe des linken Nilufers angelangt, um die in der Nähe befindlichen gigantischen Felsentempel des großen Ramses genauer zu studieren. Es war gerade damals der Aufstand der Derwische ausgebrochen, der das ganze rechte Ufer des oberen Nils unsicher machte; unser Schiff war zwei Tage vorher von den Aufständischen beschossen worden, und nur das Zusammentreffen mehrerer glücklicher Umstände hatte uns wohlbehalten aus dem Bereiche der Angreifer entschlüpfen lassen. Die Schiffahrt auf dem Flusse hatte fast ganz aufgehört und wir waren eine Woche lang völlig abgeschnitten, da es eigentliche Landwege in jener Gegend nicht giebt. Die muselmännischen Bewohner von Ballanye - so heißt das Dorf - hatten uns freundlich aufgenommen und jeder Tag brachte uns in engere Beziehungen zu ihnen. Es war bald bekannt, daß ich ein Arzt sei, und meine Praxis mehrte sich schnell. Von Schliemann aber erkannten sie sehr bald, daß er ein gelehrter Kenner des Arabischen sei. In ganz Ballanye gab es nur eine Person, die Arabisch lesen konnte, den Imam. Schliemann aber las nicht bloß, er schrieb auch. Ihm zuzusehen, wie die arabischen Schriftzüge aus seiner Hand entstanden, war ein Schauspiel von dem höchsten Interesse für die Leute, und als gegen Ende der Woche, die wir in Ballanye zubrachten, endlich eine Botschaft durch Bewaffnete von Wadi Halfa zu uns durchdrang und Schliemann einen arabischen Antwortbrief vor aller Augen verfaßte, da betrachteten sie ihn wie einen Wundermann. Seine höchsten Triumphe feierte er jedoch abends, wenn die Nacht plötzlich niedersank und die Sterne über uns zu glänzen begannen, fern über dem Horizont das Kreuz des Südens erschien und außer dem leisen Rauschen des gewaltigen Stromes kein Geräusch mehr hörbar blieb. Dann kamen die Nachbarn herbei und Schliemann recitirte ihnen Abschnitte des Koran.

Das Haus des alten Schechs, der uns gastlich aufgenommen hatte, lag hart um Rande der Wüste, die dort in schnellem Vorrücken begriffen ist. Der Sand drängt mit jedem Jahre weiter gegen den Nil vor. Noch zieht sich ein schmaler Streifen fruchtbaren Ackerlandes, damals gerade mit reifendem Weizen bestanden, längs des Ufers hin, nach dem Lande zu begrenzt van einer mehrfachen Reihe van Dattelpalmen, deren üppiger Aufschlag die Güte des unterliegenden Bodens erkennen läßt. Aber schon berührt der Wüstensand den Fuß dieser Palmen. Dann folgt ein freier Platz vor dem etwas zurückgelegenen, ziemlich weitläufigen Hause, dessen Vordertheil uns eingeräumt war. Dieser Platz ist eigentlich schon [107] Wüste, obwohl auf ihm zwei jener herrlichen Lebbachbäume[WS 1] stehen, deren prächtiger Wuchs in Cairo den ankommenden Fremden überrascht.

Unter dem gewaltigen Blätterdache eines dieser Bäume vollzogen sich alle feierlichen Handlungen. Hier waren wir bei unserer Ankunft von sämmtlichen männlichen Mitgliedern der Familie empfangen und bewirthet worden. Und hier hielt Schliemann jeden Abend nach unserem Nachtmahl eine Art von Gebetstunde ab.

Eine große Laterne, unsern Stalllaternen ähnlich, ein moderner Einfuhrartikel, wurde in den Sand gestellt, Schliemann setzte sich davor auf eine kleine Holzbank, die Nubier hockten auf der Erde und bildeten einen großen Kreis um die Laterne. Innen blieb ein freier Raum, um den sich bald die Käfer sammelten, die in geschäftiger Eile dem ungewohnten Licht zustrebten und mit ihren Hinterleibern sonderbare Zeichnungen in den Sand einschnitten. Alles lauschte in stiller Erwartung dem Beginne des Vortrags.

Dann begann Schliemann aus dem Gedächtniß eine Sure des Korans zu recitiren; seine anfangs dumpfe Stimme hob sich mehr und mehr, und wenn er dann in der ihm eigenen ekstatischen Weise die Schlußworte sprach, so neigten alle ihr Haupt und berührten mit der Stirn die Erde. Nach einiger Zeit pflegte Schliemann dann noch eine zweite Sure vorzutragen, und so reich war sein Gedächtniß, daß er fast jeden Abend neue Abschnitte zu geben imstande war. In feierlicher Stimmung schieden dann unsere braunen Freunde; niemals wurde der Ernst des Vorganges durch eilte unziemliche Bemerkung oder auch nur Miene unterbrochen.

Wie aber war Schliemann zu einer Kenntniß des Korans gekommen, die weit über das Maß des Wissens unseres Imam hinausginge Im Jahre 1858, als er 36 Jahre alt war, kam er zum ersten Male nach Aegypten und plante in Gemeinschaft mit Professor Wedl von Wien eine Nilreise. Damals verstand er kein Wort Arabisch Er übertrug daher die Zurüstung der Dahabieh, auf welcher die Reise gemacht werden sollte, einem deutschen Kaufmann in Cairo. Als derselbe aber seine Rechnung brachte, gewann Schliemann aus allerlei Anzeichen die Ueberzeugung, daß er schwer betrogen worden sei. Das veranlaßte ihn, Arabisch zu lernen. Mit gewohntem Eifer machte er sich an die Arbeit und schon während der Fahrt, die bis zu dem zweiten Katarakte ausgedehnt wurde, kam er soweit, daß er sich über die nötigen Bedürfnisse und die gewöhnlichen Verhältnisse ohne Dolmetscher verständigen konnte. Aber auch nach seiner Heimkehr setzte er diese Studien fort. Nach seiner Methode machte er sich daran, größere Abschnitte arabischer Schriften auswendig zu lernen. Dazu wählte er das heilige Buch der Mohammedaner. So begann seine genaue Bekanntschaft mit dem Koran, die uns von so großem Nutzen werden sollte. Es ist gewiß bezeichnend, daß noch die letzte Zerstreuung, die er sich auf seinem Krankenlager gönnte, in der Lektüre einer neuen Ausgabe des arabischen Textes von „Tausend und einer Nacht“ bestand, die ihm sein Verleger, Herr Brockhaus, besorgt hatte.

Wie er den Koran recitirte, so trug er den Homer vor. Auch die altgriechische Sprache, die von der neugriechischen so große Verschiedenheiten darbietet, hatte er erst in reifen Jahren, 1856, zu erlernen begonnen, aber sie hatte ihn sofort mit einem solchen Enthusiasmus erfüllt, daß er zwei Jahre lang fast ausschließlich Homer und die anderen klassischen Schriftsteller las. Die Ilias und die Odyssee wurden ihm so geläufig, daß jedesmal, wenn die Rede auf eine Begebenheit der homerischen Epen oder auch nur auf ein zweifelhaftes oder wichtiges Wort kam, er die betreffende Stelle sogleich oder nach kurzem Besinnen im Zusammenhange wiederzugeben vermochte. Und wie gern that er es! Wie hob sich seine Stimme, gleich der eines begeisterten Sängers, um dem Hörer in ausdrucksvoller Weise nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Schönheit der Verse nahe zu bringen! Er hatte einen trefflichen Konkurrenten: das war seine Frau Sophia. Oft genug nahm sie den Faden der Dichtung da auf, wo er endete, und ihre Begeisterung klang nicht minder vernehmlich aus der Wärme ihres Vortrages hervor.

Sonderbarerweise gab es einen verborgenen Gelehrten in der Troas, der dieser Zuverlässigkeit der homerischen Erinnerung wenigstens nahe kam. Wir besuchten ihn noch im vergangenen Frühjahr in seinem ärmlichen Zimmer in Neochori (Yanikiö), einem kleinen griechischen Städtchen am Südende des Sigeion, wo er eine Art von Privatschule hält. Für Schliemann war derselbe eine solche Merkwürdigkeit, daß er den Kaiser von Brasilien, Dom Pedro, der die Troas aufgesucht hatte, zu ihm führte. Der Mann gehört zu jener Klasse von „Stillen im Lande“, die, ohne jeden näher liegenden politischen Zweck, die Tradition der Griechen in der Zerstreuung lebendig erhalten, ohne welche Tradition schwerlich ein so langer Widerstand gegen die herrschende Rasse möglich gewesen wäre. Aber freilich fehlt ihm auch jenes Feuer der Begeisterung für die alten Dichter, welches erst der deutsche Mann aus dem kalten Norden zu einer solchen Gluth neu zu entfachen vermochte.

Für manche, auch streng philologisch geschulte Männer ist diese Begeisterung unverständlich, ja anstößig geblieben. Man kann zugestehen, daß Schliemann im Verfolg derselben gelegentlich sonderbare Konsequenzen zog. Es war z. B. eine Art von Schrulle für ihn geworden, alle Personen seiner Umgebung mit homerischen Namen zu belegen. Die ganze Dienerschaft erhielt altertümliche Bezeichnungen und wurde so gerufen. Ich erinnere mich noch lebhaft der Schwierigkeiten, die es mir machte, einen seiner Aufträge auszuführen. Im Jahre 1879, als ich ihn nach meiner ersten trojanischen Reise verlassen hatte, wünschte er, daß ich ihm für seine Kinder eine deutsche Erzieherin besorgen solle. Ich fand endlich eine junge Dame, welche seinen Anforderungen zu entsprechen schien, und sie war auch sehr geneigt, nach Athen zu gehen. Aber sie sollte den Namen Jkawi (Hekabe, neugriechisch ausgesprochen, lateinisch Hecuba) erhalten. Die ganze Verhandlung drohte zu scheitern, bis endlich der Rufname Wrisiis (Briseis) vereinbart wurde.

Diese Neigung kann um so weniger verständlich erscheinen, als irgend eine nähere Beziehung der Eigenschaften zwischen den klassischen Persönlichkeiten und ihren umgetauften modernen Namensvettern gar nicht verlangt wurde. Unsere Köchin auf Hissarlik hieß Hippodamia, der Diener Pelops. Ihre Nachfolger im letzten Frühjahr wurden Kreusa und Telamon gerufen. Indeß, ich habe mich allmählich daran gewöhnt, weil ich sah, daß die Griechen überall gewohnt sind, den Ihrigen hochklingende alte Namen beizulegen. Der Mann aus Kalifatli, der mir 1879 gewöhnlich ein Reitpferd stellte, hieß Agamemnon und der Sohn unseres Faktotums, des nachher im Skamander ertrunkenen Nicola, führte den Namen Hektor. Es verhält sich mit diesen Namen nicht anders, als mit den bei uns gebräuchlichen Namen aus der heiligen Schrift, die ja auch nicht den Anspruch machen, eilte körperliche oder geistige Aehnlichkeit der Träger dieser Namen mit den Männern und Frauen des alten und neuen Testamentes auszudrücken. Sie besagen nichts weiter, als daß die Namen sich einer besonderen Werthschätzung erfreuen, gelegentlich auch noch mehr, daß sie als solche geheiligt sind.

Für Schliemann gab es Zeiten, wo er sich ganz van der Gegenwart abwandte und ausschließlich im Alterthum lebte. Da fand er nach den zerreibenden Arbeiten, nach den Aufregungen der Gegenwart Kraft und Gleichmut wieder. Darum liebte er die langen Seereisen, welche ihm stets Gelegenheit gaben, sich in das Studium alter Schriftsteller zu versenken. Den größten Genuß gewährte ihm seine zweite ägyptische Reise im Winter 1886-87. Erschöpft von größeren litterarischen Arbeiten, hatte er sich nach Cairo begeben. Hier mietete er für sich allein eine eigene Dahabieh , ein großes Segelschiff, das mit Küche und Proviant wohl versehen wurde. Er ging damit bis nach Assuan; dann nahm er jenseit des ersten Katarakts ein neues Schiff und fuhr bis Wadi Halfa. Eine solche Fahrt, wobei die Richtung und Stärke des Windes allein entscheidend sind für die Zeitdauer, da auch die Thalfahrt durch widrigen Wind oft Tage lang gehindert wird, dauert mehrere Monate. Schliemanns einzige Gesellschaft waren die mitgebrachten Bücher. Außer einigen früheren Reisebeschreibungen, unter denen er die von Prokesch besonders liebte, waren es vorzugsweise die alten atheniensischen Dramatiker, deren Herrlichkeit sich ihm bei der Vertiefung in das Einzelne mehr und mehr erschloß; sie ließen ihn jede Störung der Reise gleichmütig ertragen. Noch in den letzten stillen Tagen, die ich mit ihm im letzten Frühjahr in Hissarlik verlebte, tauchten die Erinnerungen an besonders eindrucksvolle Stellen dieser Dichtungen massenhaft hervor und er [108] wurde nicht müde, die Einzelheiten zu besprechen und den Sinn der Stellen zu erläutern. Jene Nilfahrt hatte ihn so erfrischt, daß er nicht eher nachließ, als bis ich ihm das Versprechen gab, mit ihm zusammen noch einmal den Vater der Ströme hinaufzufahren. Es geschah im Winter 1887-1888 und da erschien er jeden Morgen, den Herodot oder Strabon in der Hand, und wir musterten das Land und die alten Trümmerstätten, ob und in wie weit sie den Erzählungen des ersten Historikers und den Schilderungen des gelehrten Geographen entsprachen. Nachrichten aus Europa erreichten uns wochenlang nicht. Den Tod des Kaisers Wilhelm meldete uns erst der Gouverneur von Wadi Halfa, und die ergreifenden Nachrichten über die Vorgänge in Deutschland erfuhren wir erst bei unserer Rückkehr nach Cairo. In der Abgeschlossenheit unseres Lebens blieb uns nur die unvergleichliche Ruhe dieser fernen Gegenden, von denen die aufständische Bewegung in Nubien und die verhältnißmäßig späte Zeit des Jahres fast alle fremden Besucher zurückhielt.

Unter solchen Verhältnissen versenkt sich der Geist unwillkürlich in die volle Hingabe an das Vorliegende, und wenn dieses, wie in Aegypten, überall von den Resten ältester Vergangenheit durchsetzt ist, so gewöhnt man sich täglich mehr, von den Vorgängen der Welt draußen abzusehen und sich nur mit der Natur und der Geschichte des Landes zu beschäftigen.

Niemand wird die Eigentümlichkeiten Schliemanns begreifen, der sich nicht vorzustellen vermag, wie häufig bei ihm solche Perioden der Zurückgezogenheit und der Vertiefung in weit zurückgelegene Zeiten wiederkehrten und mit welcher Ausdauer und Sorgfalt er sie auszunutzen verstand. Auch die gewaltigen Ausgrabungen, die er mit den größten Opfern an Zeit, Mühe und Geld unternahm und die eine völlige Umgestaltung der Anschauungen von der Vorgeschichte Griechenlands herbeigeführt haben, werden nur verständlich, wenn man erkennt, daß alle seine Pläne auf anhaltender und höchst eingehender Durchforschung der alten Schriftsteller beruhten, und daß er Entschlossenheit und Wagemuth genug besaß, um aus den viel bezweifelten Angaben der uns erhaltenen Werke sich eine eigene, selbständige Ueberzeugung von den Verhältnissen längst vergangener Geschlechter zu bilden und danach zu handeln, unbekümmert darum, ob die Zeitgenossen seine Pläne für thöricht und phantastisch erklärten. Es war kein Zufall, daß er aus der großen Masse möglicher Probleme sich eine beschränkte Zahl heraussuchte und daß gerade diese die wunderbarsten Ergebnisse lieferten. Ilos, Mykenae, Tiryns, Orchomenos, - das waren die Goldplätze, welche schon in den homerischen Dichtungen in den Vordergrund der Betrachtung gestellt waren, wenngleich nicht alle in gleicher Helligkeit. Schliemann war im voraus überzeugt, daß nur der besondere Gang der Darstellung die anderen Plätze neben Ilios in den Schatten zurücktreten ließ. Für ihn waren sie genügend bezeichnet, um ihn zu bestimmen, seinen Spaten gerade da anzusetzen.

Welcher Triumph, als er zuerst in Mykenae in glänzendster Weise die Richtigkeit der alten Schilderungen darlegte, und welche nachhaltige Wirkung für die gesammte Entwicklungsgeschichte des künstlerischen und geschichtlichen Vorlebens der hellenischen Stämme! Nicht gleich schnell vollzog sich die Aufdeckung der verschütteten Ueberreste in Tiryns und Orchomenos. Wiederholt nahm er das Werk in Angriff; kein Mißerfolg erschütterte ihn in der Zähigkeit der felsenfesten Ueberzeugung, daß hier Großes zu finden sei. Und er fand es endlich, unterstützt von dem Scharfsinn und dem feinen Verständniß der alten Architektur, welche der Helfer in allen späteren Unternehmungen, Wilhelm Dörpfeld, in seinen Dienst stellte. Die Zeit wird kommen, wo diese Errungenschaften in die Gesammtanschauung aller Gebildeten übergehen werden, ja man darf sagen, Schliemann ist nicht gestorben ohne das tröstliche Gefühl, daß die Aufgabe seines Lebens in der Hauptsache gethan und anerkannt ist.

Für uns Zurückbleibende aber mag es eine Mahnung sein, das, was wir planen, so musterhaft vorzubereiten, wie er es stets gethan hat. Welche lange Zeit der mühseligsten Vorbereitung hat dieser Mann durchgemacht, um sich zunächst nur die Mittel und dann das geistige Handwerkszeug zu beschaffen, die dazu gehörten, so großen Zielen nachzustreben! Er hat manche Wege vergeblich durchmessen, manche Arbeit umsonst gethan, aber stets hat er den Hauptweg wiedergefunden, der seinem prophetischen Geiste vorgeschwebt hatte.

Und dann, welches Vorbild hat er uns gegeben in der sorgsamen Durcharbeitung des Gewonnenen! Wenn eine Campagne des Grabens und Suchens vorüber war, dann setzte er sich für lange Zeit nieder, um aus seinen Tagebüchern und aus der fast unübersehbaren Fülle seiner Funde ein zusammenfassendes Bild zu gestalten und der Welt Rechenschaft zu geben von seinem Thun und von den Schlußfolgerungen, die er aus seinen Entdeckungen ableitete. Monate und wieder Monate unermüdlicher und immer wieder an den Thatsachen und Gegenständen geprüfter Niederschreibung waren erforderlich, um jene umfangreichen Bände zusammenzustellen, welche jetzt die Bibliotheken füllen.[1] Und jeder neue Band erschien in verbesserter Gestalt, jede neue Ausgabe erhob sich freier über das anfängliche Gewirre der Meinungen. So wuchs auch die Anerkennung.

Selten hat es größere Schwierigkeiten gemacht, daß ein Autodidakt sich zu einer solchen Sicherheit im Urtheil entwickelt, daß er so sehr die Zustimmung der Fachgelehrten, man darf wohl sagen. sich erzwungen hat. Schliemann war ein vorsichtiger Forscher, aber auch ein entschlossener Kämpfer: er wußte es, daß in einer Periode, wo die Presse einen so großen Einfluß auf das allgemeine Urtheil ausübt, dicke Bücher allein das Publikum, das ihnen oft ganz fern bleibt, nicht überzeugen. Seine Sprachgewandtheit befähigte ihn, auch der periodischen Presse stets mundgerechte Berichte zu liefern. In erster Linie war es meist die englische, welche ihm von Anfang an hilfreich gewesen war und welcher er sich daher mit Vorliebe zuwendete. Gleicherweise waren auch seine ersten großen Bücher in englischer Sprache abgefaßt. Er schrieb diese Bücher größtenteils direkt in der fremden Sprache. Aber er unterwarf sie der Prüfung von Sachverständigen, ehe er sie herausgab.

Manches seiner Blätter ist auch durch meine Hand gegangen. Das große Buch „Ilios“ hat mir in allen seinen Teilen vorgelegen, ehe es das Licht der Welt erblickte. Einen ganzen Sommer hindurch erschien von London her ein Revisionsbogen nach dem andern, und ich bin immer noch von Dank erfüllt, wenn ich daran zurückdenke, wie ernsthaft Schliemann jede meiner Bemerkungen, auch die sprachlichen, aufnahm und wie ausführlich er mir in zweifelhaften Fällen seine Gegengründe entwickelte.

In Deutschland hat man es als einen Mangel empfunden, daß die deutschen Ausgaben theils erst nachträglich, theils in weniger glänzender Ausstattung erschienen. Für die letzte Zeit hat sich das Verhältniß thatsächlich geändert. Aber für die frühere Zeit sollte man nicht vergessen, daß das Band zwischen Schliemann und dem Vaterlande stark gelockert war, zunächst durch seine langjährige Abwesenheit und durch die ganze Gestaltung seines geschäftlichen Wirkens, für welches ihm Deutschland keinen Anhalt gewährte, dann aber auch durch die unwillkürliche Anpassung an das Fremde. Als ich ihn zum ersten Male in Hissarlik besuchte, war ihm das Verständniß zahlreicher deutscher Wörter, ja die Erinnerung an ihr Dasein ganz abhanden gekommen. Nicht selten sagte er mir überrascht: „Das Wort habe ich seit 30 Jahren nicht gehört.“ Vorzugsweise galt das von Provinzialismen, die in seiner Heimath so zahlreich sind. Als Pommer kannte ich nicht wenige dieser Worte: jedesmal, wenn ich, sei es absichtlich, sei es unabsichtliche ein solches aussprach, weckte es in ihm Gedanken seiner Jugend, und dann hoben sich aus der Dämmerung seines Gedächtnisses nach und nach lichte Gestalten der Heimath empor. Es waren das jene Tage, wo auch das Gefühl für das Vaterland wieder in fernem Herzen erstarkte. In dem Maße, als die Sprache seines Volkes ihm wieder näher trat, wuchs auch die Sehnsucht des Wiedersehens, und es dauerte nicht lange Zeit, da kam er mit Weib und Kind und setzte sich still in sein altes Ankershagen, um in dem vollen Gefühl der Heimath zu schwelgen und - daselbst ein neues Buch zu vollenden"


[109]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein windiger Handwerksgeselle.

Die Druckluft im kleinen Gewerbebetrieb.
Von A. Bürkner. Mit Abbildungen von Willy Stöwer.

Wer ein Fläschchen mit wohlriechendem Wasser zur Hand nimmt und den Gummiball daran mit Daumen und Zeigefinger preßt, um dem zierlichen Glase einen Staubregen zu entlocken, denkt wohl kaum daran, daß die Kraft, welche er spielen läßt, auch zu gewaltigen Arbeitsleistungen benutzt werden, Maschinen in Fabriken treiben und Lasten auf Schienen weiter befördern kann.

Druckluftbetrieb einer Tischlerwerkstätte.

Diesseit der Vogesen ist allerdings zur Zeit noch keine derartige Anlage von einigem Umfange in Betrieb, wohl aber in Frankreich und namentlich in Paris und dessen Umgebung; da läuft seit mehr als Jahresfrist zwischen Vincennes und Ville d’Evrard an der Marne entlang aus einer Strecke von 11 km eine Straßenbahn, welche statt durch Dampf durch Druckluft betrieben wird, während in Paris selbst, namentlich im Osten und im Centrum der Stadt, gegen zweitausend industrielle Anlagen ihren Lebensodem, die bewegende Kraft ihrer Maschinen, aus der Centraldruckluft-Anlage in der Straße St. Fargeau in Belleville beziehen. In Deutschland ist bisher die Stimmung der Errichtung von Druckluftanlagen in Städten nicht günstig gewesen; man wollte der Elektrizität die Zukunft ausschließlich vorbehalten und das Gute, welches die Druckluft schon jetzt überall zu leisten imstande ist, dem, wie man glaubt, Besseren: den künftig zu erhoffenden Leistungen der Elektrizität, opfern. So ist es zu erklären, daß augenblicklich Druckluftanlagen in Deutschland und Oesterreich noch nicht in Betrieb sind. Trotz der stark betonten Bedenken gegen die Einführung der neueren bewegenden Kraft geht man indeß nunmehr auch bei uns angesichts der augenscheinlichen und handgreiflichen Erfolge, welche der Oesterreicher Victor Popp in Paris mit dem nach ihm benannten Druckluftsystem errungen hat, daran, dasselbe von Paris zu uns herüberzuholen.

Betrieb mittels Druckluftwerkzeugen.

Fürth, das den Ruhm genießt, die erste Eisenbahn auf deutschem Boden errichtet zu haben, wird bald auch die erste Druckluftanlage in seinen Mauern sehen. Die Hauptstadt des Deutschen Reiches schien schwieriger für die Sache zu gewinnen; man wandte sich daher zunächst an den größten Vorort Berlins, nach Rixdorf.

In diesem „Dorfe“ fand sich Verständniß und Entgegenkommen für die neue Idee; die Anlage einer Centralstation und die Verlegung der die Druckluft vertheilenden und vertreibenden Röhren in die Ortsstraßen sollten genehmigt werden, falls sich die über die Pariser Erfolge gemachten Angaben an Ort und Stelle bewahrheiteten. Eine Kommission war bald gewählt, ging’s doch nach Paris, nach welchem mancher der jetzigen Gemeinderäthe im Jahre 1870/71 als Wachtposten von den Höhen von Stains oder Pierrefitte sehnsuchtsvoll ausgeblickt hatte, ohne das böse schöne Seinebabel betreten zu dürfen!

Nach Paris! Um ein Uhr Mittags geht der Zug vom Anhalter Bahnhof in Berlin ab, am nächsten Morgen um halb neun Uhr passiert der Ankömmling in Paris die Schranken am Octroi; wenn er nichts Verzollbares bei sich hat, sitzt er bald im Einspänner, der ihn durch enge Straßen mit gewaltigem Wagenverkehr seinem Gastfreunde zuführt. Daß Paris mit feinen vielen engen, oft wenig sauberen Gassen und überhohen Häusern bei dem Fremden, bevor er die Boulevards entlang gefahren ist, die Notredamekirche, das Louvre und die Stadttheile am Triumphbogen gesehen hat, eine gewisse Enttäuschung hervorruft, ist schon oft bemerkt worden. Jemehr er aber von Paris sieht, desto mehr findet er, was ihm Anerkennung abnöthigt.

Also hinaus zur Rue St. Fargeau nach Belleville. Steile Straßen mit unansehnlichen Häusern führen hinaus nach Nordost; dort, nahe der Ringmauer liegt die Erzeugungsstätte der Druckluft, mit welcher Popp ein gewaltiges Stück der Stadt da zu unseren Füßen versorgt. 4000 Pferdekräfte sind es, welche die 16 Luftpumpen vor uns in Bewegung setzen. Wie die Lungen eines Riesen der Mythologie saugen sie in der Minute so und so viel Kubikmeter Luft ein, um sie den seitlich angeordneten wagrecht lagernden Eisenkesseln der Kompressoren zuzuführen. Damit die Kehle des Riesen nicht heiß und trocken wird, sorgt ein Spritzapparat dafür, daß es jedem dieser gewaltigen Athemzüge nicht an einem guten Tropfen fehle; bescheiden nimmt der Riese mit Pariser Wasser vorlieb.

Dort oben ist dies freilich etwas knapp, und so hat sich Popp bald nach einem bequemeren [110] Platz unmittelbar am Ufer der Seine umgesehen; er liegt ein Stück der Ringmauer entlang bergab, am Quai de la Gare, wo zwei Riesensäulen von je 50m Höhe das Entstehen gewaltiger Dampfanlagen verkünden. Am 1. Mai d. J. wird diese zweite Station, mit 8000 bis 10 000 Pferdekräften ausgestattet, eröffnet werden, ein gewaltiger Erfolg nach etwa dreijähriger Wirksamkeit des „Systems Popp“ in Paris.

Von Belleville nach den „Egouts“! Das sind die Kanäle von Paris, die Kellerstraßen, die unter den Boulevards sich hinziehen, hoch, geräumig, sauber, daß es ein Vergnügen ist, darin zu wandeln. Diese unterirdischen Kanäle sind in erster Linie allerdings zur Aufnahme der Abwässer der Stadt bestimmt, aber vorsorglich hat man daran gedacht, in diesen Bauten auch Raum für andere Zwecke zu schaffen. Da liegen die mächtigen Rohre der Wasserleitung, an den Wänden befestigt, und neben allerlei Kabeln elektrischer Anlagen die etwa gleich - ungefähr 30 cm - starken Röhren der Gas- und der Druckluftleitungen.


Die Druckluft als Triebkraft der Nähmaschine


Von den Kompressoren der Rue St. Fargeau wird die Druckluft in diese Röhren getrieben und unter der nöthigen Spannung gehalten. Darin zieht sie unter den großen Boulevards durch, bis zum Eintrachtsplatze, um über die Uferstraßen der Seine am Louvre entlang zurückzukehren.

Ueberall sind Anschlüsse. In Bleirohrabzweigungen tritt die Druckluft in die Häuser ein. Ihr Hauptzweck, dem Kleinbetrieb zu dienen, nöthigt sie oft, hoch in die Häuser emporzusteigen; die Bleirohrleitungen folgen gefügig allen Sonderbarkeiten, welche Pariser Korridore und Treppenhäuser darbieten, und als guter Kamerad tritt die Druckluft ebenso ein in die glänzenden Salons des Heilkünstlers in der Rue des Pyramides, welcher Asthmatikern Bäder mit 1 1/2 Atmosphärendruck in prächtigen Kabinen darbietet, wie zu dem Tischler, der im dritten Stock in der Rue Portefoin, an der Ecke der Rue du Temple, aus dem Holze der wilden Kastanie Kruzifixe herstellt. Der Tischler ist nicht so zurückhaltend wie die Geschäftsführerin des Arztes; er ist ein Schweizer und heißt Burkhardt; er begrüßt uns als Landsleute, mit denen er wieder einmal deutsch sprechen kann, und so ist Gelegenheit vorhanden, reichliche Auskunft zu erhalten.

Herr Burkhardt ist einer der ältesten Abonnenten; er ist seit drei Jahren an die Druckluftleitung angeschlossen und hat seinen Entschluß nicht zu bereuen; denn, während er anfangs nur einen Motor von einer halben Pferdekraft besaß, hat er sich bald einen zweiten größeren von einer Pferdekraft angeschafft, dem er seit kurzem einen dritten mit zwei Pferdekräften zugesellt hat. Die erste Anlage nebst dem kleinsten Motor hat 700 bis 800 Franken gekostet, die zweite etwa 1200, der dritte Motor einschließlich der Einrichtung gegen 2000 Franken. Ausbesserungen sind während des gesammten dreijährigen Betriebes nicht nöthig geworden. An Druckluft verbraucht Burkhardt jetzt monatlich für 30 bis 40 Franken in allen drei Motoren, welche natürlich nicht fortgesetzt alle in Betrieb sind. Mit einem gewissen Stolz zeigt er eine besondere Art der Anwendung seiner Druckluftleitung eigene Erfindung! Er läßt über seine besonders feinen, auf Sammet befestigten Erzeugnisse einen starken Strom Druckluft streichen, welcher auch die feinsten Staubtheile entfernt! Wir haben es übrigens hier nicht mit einem Manne zu thun, der besonders kostbare Ware liefert, für den es gleichgültig sein kann, wie theuer sich für ihn die benutzte Kraft stellt; seine Werkstatt ist mehr als einfach und, wie erwähnt, drei steile Treppen hoch gelegen; er zahlt nebenbei bemerkt hierfür sowie für eilte recht bescheidene Wohnung immerhin 1050 Franken Miethe.

Doch treten wir noch bei einem anderen Tischler ein in der Rue St. Augustin; er verfertigt lediglich Kisten zum Versenden von Waren; ein Keller ist seine Werkstatt, unter der Treppe hat er seinen Motor von nur zwei Pferdekräften angebracht. Fünf Gesellen schaffen ziemlich stetig; eine Kreissäge, eine Hobelmaschine sind im Gange, die Schleifsteine werden ebenfalls vom Motor aus in Bewegung gesetzt. Unser Mann bezahlt durchschnittlich 30. Franken monatlich für die benutzte Druckluft und ist augenscheinlich stolz darauf, daß er den Werth derselben für sein Gewerbe erkannt und sich seit etwa achtzehn Monaten angeschlossen hat.

Ganz dasselbe Ergebniß lieferte die Besichtigung einer Fabrik von Elfenbeinwaren in der Rue St. Denis, in welcher früher eine Lokomobile von sechs Pferdekräften die grobe Arbeit zu verrichten hatte. Noch liegt der Kessel am Boden, aber seitdem die Maschine, übrigens ohne erhebliche Kosten, für den Drucklustbetrieb eingerichtet worden ist, blieb er unbenutzt. Das Elfenbein wird hier geschnitten gebohrt und gedreht; alle hierzu erforderlichen Maschinen sind fortwährend im Gange. Der bedeutende Betrieb erfordert monatlich etwa für 240 Franken Druckluft. Ebenso wie Holz und Elfenbein wird Eisen in anderen Werkstätten gedreht und gelocht; auch das Löthrohr, mit Gas und Druckluft versehen, scheint wesentliche Vortheile dem Klempner zu bieten. Neben den harten Stoffen zeigt der Betrieb eitler Wäschefabrik (Akar & Co. in der Rue Cléri), daß sich auch Leinwand 48 Schichten über einander gelegt - mittels einer Bandsäge, welche ein Druckluftmotor von nur einer halben Pferdekraft treibt, bequem und geschwind zu den ausschweifendsten Halskragen zerschneiden läßt. Der Motor steht im selben Raume wie die Schneidemaschine, ohne daß dadurch die Sauberkeit des Linnens beeinträchtigt würde; vier Nähmaschinen im Nebenraume vollenden später das Werk, jede hat am Fuß ihren kleinen Motor; sie verrichten dieselbe Arbeit wie fünf Kolleginnen mit Fußbetrieb.

In welcher Weise sich die Druckluft in Bewegung umsetzt, das macht die schematische Zeichnung aus Seite 111 deutlich. Die Druckluft tritt auf der durch die Pfeile bezeichneten Bahn durch den unteren Zutrittskanal in den Kolben (dort durch Schraffirung angedeutet), drückt den Schieber nach aufwärts, wodurch eine Kurbelstange in Bewegung gesetzt wird, während die über dem Schieber befindliche kraftlose Luft durch das Austrittsrohr entweicht. Sobald nun der Schieber am obersten Ende des Kolbens angekommen ist, wird durch eine in unserer Zeichnung nicht sichtbare, am Schwungrad angebrachte Vorrichtung die Stange, deren Ansatz wir rechts erblicken, nach abwärts gedrückt; der untere Zutrittskanal wird für die Druckluft geschlossen, der obere geöffnet. Sie strömt nun oben ein, drückt den Schieber nach unten, kurz, der ganze Vorgang wiederholt sich in umgekehrter Reihenfolge. Bei den eigenartigen „Druckluftwerkzeugen“, wie sie der Arbeiter auf der Abbildung Seite 109 handhabt, vollzieht sich derselbe Vorgang des Vor und Zurückstoßens innerhalb des kleinen Stahlcylinders, aus welchem das eigentliche Werkzeug, Feile, Meißel, Säge, Stichel oder dergl., herausragt und welcher die Druckluftzuleitung vermittels eines Gummischlauches erhält.

Neben den zahllosen Kleinbetrieben giebt es auch eine Menge [111] von Großbetrieben, welche die Druckluft mit großem Vortheil benutzen, so die Druckerei des „Petit Journal“, welches seinen an alle Giebel geklebten Anzeigen nach eine Million Exemplare täglich absetzt. In den Kellern der Rue du Exemplare treibt ein Motor von 50 Pferdekräften die zwölf Druckpressen des gedachten Blattes.

Noch größere Motoren, bis zu 400 Pferdekräften, sind an den Stationen tätig, welche die Dynamomaschinen zur elektrischen Beleuchtung einiger Stadttheile von Paris treiben; die interessanteste, äußerlich nicht bemerkbare Anlage aber ist in den Kellern der Getreidebörse (bourse de la Commerce) angebracht; sie ist bemerkenswert wegen der zweckmäßigen Anwendung eines Nebenerzeugnisses der Druckluft, der Kaltluft! Die Druckluft tritt beim „Auspuff“, nach Abgabe ihrer motorischen Kraft, in einen Seitenraum, welcher durch einen Mittelgang in zwei Reihen von Kältekammern zerlegt ist. Diese Kammern sind an Handeltreibende der nahen Centralmarkthalle vermietet, welche dort ihre Vorräthe an Fleisch, Geflügel und Wild aufbewahren.

Anschluß der Druckluftleitung an den Betrieb.

Man muß schon sein Halstuch umnehmen, wenn man hinabsteigt; ein Markthelfer mit einem Spieß voll Wachteln erscheint und öffnet seinen Raum, nicht ohne vorher denselben durch den Druck an einen Knopf elektrisch beleuchtet zu haben. Da hängen sie, die Hasen, Fasanen und Rebhühner, steif gefroren, denn der Thermometer zeigt 10 Grad Kälte!

Auch in kleineren Verhältnissen findet sich diese Doppelanwendung der Druckluft; so stellt sich der Wirt des Restaurants Cog d'or in der Rue Montmartre sein elektrisches Licht im Keller selbst her und benutzt in einem noch darunter liegenden Raum „Auspuffluft“ zur Eisbereitung.

„Einen Chartreuse, Garcon!“ hören wir einen Gast rufen.

Das Gewünschte erscheint, dazu eine Karaffe mit Wasser, in welcher sich ein Eiskrystall befindet, groß wie ein Kinderkopf. Wie mag der durch den Flaschenhals hineingekommen sein? Sehr einfach! Der Wirt hat die ganze Karaffe, zusammen mit einer ganzen Batterie anderer, in seinen Gefrierkeller gebracht; zehn Minuten genügen, um im Inneren den Eiskloß zu bilden; denn dort unten zeigt der Thermometer – 35 Grad Celsius! Damit übrigens die Drucklust dort, wo sie Kälte nicht erzeugen soll, nicht lästig fällt, wird sie durch einen Vorwärmer, einen kleinen Heizapparat geleitet, welcher indeß bei Klein Motoren nicht erforderlich ist.

Auch Bacchus hat sich neuerdings an Aeolus gewandt. Am Quai St. Bernard nahe beim Jardin des Plantes liegen die gewaltigen Weinlager von Paris, die Halles aux vins. In den Kellern und darüber lagern unendliche Mengen großer und gewaltiger Fässer; selbst der berühmte Zwerg Perkeo und seine Heidelberger trinktapferen Nacheiferer würden angesichts dieser Vorräte klein beigeben. Hier rechts beim Hause Herteaux wird gerade umgefüllt. Schläuche führen an der Kellerdecke entlang; jetzt wird ein Faß von 130 Litern Inhalt herangerollt und mit einem größeren, von welchem aus die Füllung erfolgt, verbunden, indem die Metallspitze des von demselben herabhängenden Schlauches in sein Spundloch gesteckt wird. Ein Hahn an der Wand wird geöffnet, die Druckluft beginnt zu wirken und der Küfer muß sich mit seinem Schlegel beeilen; denn während er an den Dauben des Fasses heraufklopft, hat sich die Füllung schon vollzogen. Bis 200 Liter füllt er mit Hilfe der Druckluftzuleitung in einer Minute um. Die Druckluft wirkt hier, ebenso wie bei der Hebung von Wasser aus Brunnen, direkt, ohne daß es der Einschaltung einer Pumpe bedarf, indem jeder unter Druck eintretende Kubikcentimeter Luft ein entsprechendes Quantum der zu hebenden Flüssigkeit durch das Steigerohr treibt.

Doch nun hinaus vor die Thore der Riesenstadt! Vom Bastilleplatz führt die Eisenbahn in die östlich belegenen Vororte; da alle Viertelstunden ein Zug abgeht, so haben sich die Vororte Vincennes, Nogent u. s. w. stark bevölkert, wie der rege Verkehr auf dem Bahnhofe beweist.


Wasserversorgung durch Druckluft.

An die Eisenbahn schließt sich eine Straßenbahn, welche in Vincennes beginnt, durch Nogent hindurch mit einer Abzweigung ins Marnethal bis Ville Evrard hinausführt. Die Strecke von 11 Kilometern wird in einer knappen Stunde zurückgelegt. Nicht Dampf, nicht Elektrizität, sondern Druckluft ist die bewegende Kraft, welche die großen Wagen, deren oft drei aneinander gehängt sind, vorwärts bewegt. Mitunter sind solchen Zügen auch kleine Lokomotiven, welche die bewegende Kraft in einem großen Kessel mitführen, vorgespannt; sonst befindet sich die Druckluft unter dem Boden des Wagens in Cylindern aufgespeichert, während neben dem den Kutscherplatz einnehmenden Wagenführer ein Messingkessel sichtbar wird, welcher mit stark erhitztem Wasser gefüllt ist. Die Straße selbst enthält nichts als die gewöhnlichen Pferdebahnschienen. Die Druckluft soll eine Spannung von fünfunddreißig Atmosphären erhalten; dies hat zu Bedenken Veranlassung gegeben. Indeß hatten sich im Betriebe keine Anlässe zur Besorgniß gezeigt, da Störungen in den achtzehn Monaten vom Beginn der Fahrten bis zu unserem Besuche nicht vorgekommen waren. Der Preis für Pferd und Kilometer stellt sich in der Umgegend von Berlin beim Pferdebahnbetrieb auf 1 Mark, bei der Drucklust-Straßenbahn in Nogent jedoch dieselbe Leistung auf 85 Centimes, trotz der hohen Kohlenpreise in Frankreich, sodaß auch beim Straßenbahnwesen für die Druckluft in allen größeren Städten und deren Umgebung ein weites Feld offen steht.

In Mal-Tournée, etwa in der Mitte der Strecke, befindet sich die Centralanlage, in welcher die Luft komprimiert wird. Die Wagen fahren ein; an der Wand der Wagenhalle zeigen sich zwei Hähne, über welchen sich die Inschriften „air“ (Luft) und „eau“ (Wasser) befinden. Nach Herstellung der Verbindung des Wagens mit den Füllstellen wird dem ersteren die zur Zurücklegung einer Elfkilometertour erforderliche Energie binnen einer Viertelstunde mitgeteilt. Der Wagen verläßt wieder den Schuppen und tritt unmittelbar darauf in Thätigkeit.

Wie die Druckluft in die Stadt Paris durch Popp eingeführt ist, so ist sie nach Nogent durch Mekarski, auch einen Ausländer, gekommen.

Nicht unerwähnt darf bleiben, daß längs der ganzen Bahnstrecke [112] sich eine rege Bauthätigkeit bemerkbar macht; namentlich sind es zahlreiche Einfamilienhäuser einfacher Art, welche der so geschaffenen bequemen und zweckmäßigen Verbindung ihr Entstehen zu danken haben. Daß sich in ähnlicher Weise auch bei uns die Umgebungen der größeren Städte anbauen möchten, ist der lebhaft geäußerte Wunsch aller Sozialpolitiker; hier sehen wir ihn in die Praxis übergeführt, durch einen Neuling – die Druckluft; eilen wir, denselben auch bei uns in Deutschland als einen überall dienstfertigen Geist und guten Gesellen heimisch zu machen!




Truggeister.

Roman von Anton von Perfall.
(6. Fortsetzung.)
4.

Das war eine schwere Trennung von dem lieben Schönau! Der alte Herr fühlte erst jetzt die unzähligen Saugwurzen seines Herzens, die in diesen Boden sich senkten.

Ein Möbelwagen faßte alles, was von dem heiligen Besitz ihm blieb.

Die Einrichtung des Rokokozimmers, des Jagdsaals, das spärliche, schadhafte Mobiliar der übrigen Räume, die Bilder, die Waffen, das Spinett, alles verschluckte das grüne Ungethüm, und noch immer hatte es den weiten Rachen offen; ganz Schönau schien ihm nicht zu groß. Man stopfte es zu guterletzt mit den alten zerbrochenen Statuen aus dem Park voll, mit all dem vielgestaltigen Gerümpel, das Christian aus seiner hundertjährigen Staubdecke auf dem Dachboden erlöste und in seinem Seelenschmerz des Mitnehmens für werth hielt – Rahmen ohne Bilder, Bildern ohne Rahmen, unbestimmbarem, ineinander verworrenem Eisenzeug, alten Vogelbälgen u. s. w. u. s. w.

Als endlich der Rachen zuklappte, war ganz Schönau sauber ausgeweidet, nichts mehr übrig als nackte Wände, zerrissene Tapeten, blinde Fensterscheiben. Auf dem grünen Wagen aber, der langsam der Stadt zurollte, drang bei jedem Stoße ein geisterhaft klingender Ton heraus, das Klagelied des alten gebrechlichen Spinetts.

Theodor hatte bereits für eine passende Wohnung gesorgt. Papa sollte sich sofort heimisch fühlen, er selbst wandte ja nicht den Kopf mehr zurück nach Schönau. Aber das Mobiliar nahm sich gespensterhaft unheimlich aus in der neuen Wohnung, und Christian erschrak jetzt selbst über die Armseligkeit; gerade so mußte sich ja auch sein langer kaffeebrauner Rock, mußte sich der ganze Christian ausnehmen in dieser Umgebung.

Es entging ihm nicht die spöttische Miene des Mannes, welchen ihm Theodor als „Hausherr“ vorstellte, und bei dem Worte „Hausherr“ zuckte ihm das Herz. Er, geboren auf seinem altererbten Besitz, grau geworden darauf als Fürst seines Bodens, hatte jetzt einen „Hausherrn“. Die Diele, auf die er trat, der Ofen, der ihm Wärme spendete, die Decke über seinem Haupt war nicht sein, geliehen, kündbar – Christian fühlte sich bettelhaft gegen früher, trotz der halben Million.

Ueber jeden Gegenstand, den die Packer heraufbrachten, mußte er sonderbarerweise lachen. Die verschnörkelten Schränke und Kasten sahen so komisch aus, die zersprungenen, verblaßten aber nachgedunkelten Ahnenbilder in den großen Perücken und blitzenden Halskragen blickten so dumm erstaunt aus ihren zerstoßenen Rahmen, das Spinett jammerte so drollig die Treppe herauf. Er wußte, daß, wenn er über diese Dinge lachte, er damit über seine ganze Vergangenheit, über sein ganzes Leben lachte, und doch konnte er nicht anders, obgleich es so weh that. Theodor hatte ganz recht, eine neue, der Zeit und ihren jetzigen Verhältnissen entsprechende Einrichtung mußte gekauft werden.

Jetzt, da Christian einmal in der Residenz war, sah er auch ein, daß er seine Kreise wenigstens formell aufsuchen, sich vorstellen und Gegenbesuche empfangen müsse, das war er seinem Namen schuldig und vor allem seinem Sohn, dessen Vorwärtskommen jetzt sein einziges Lebensziel sein mußte. Christian zitterte davor, denn er fühlte sich längst nicht mehr salonfähig, war es eigentlich nie gewesen, immer ein rauher Landjunker geblieben. Er wußte, sie würden ebenso über ihn lachen wie er selbst über sein Mobiliar, aber das Pflichtbewußtsein mußte über all das weghelfen. Nur einige Wochen Zeit bat er sich bei seinem Sohne aus, bis er sich einigermaßen von dem eben erlebten Umschwung der Verhältnisse erholt habe.

Stefanelly verlor den Alten nicht aus dem Auge. Das Geschäft mit Schönau war trotz des hohen Preises vortrefflich. Er hatte damals schon die Gründung einer Aktiengesellschaft im Sinne und wußte, daß er beruhigt den Grundkomplex um hunderttausend Mark höher, als er ihn gekauft, der Gesellschaft anrechnen könne.

Außerdem war der alte Brennberg, nun einmal losgerissen von seinem Grund und Boden, ein knetbarer Stoff, das wußte Stefanelly aus Erfahrung.

Den Jungen hatte er nicht zu fürchten, wenn dieser nur immer Mittel hatte, seinem Vergnügen nachzugehen, und dafür wollte er schon sorgen.

Die halbe Million durfte nicht aus dem Gesichte verloren werden.

Der Alte, welcher sich in der Miethwohnung unglücklich fühlte und sich auch nie daran gewöhnen würde, der eigensinnige, verknöcherte Edelmann, war für Stefanelly bereits zu einem neuen Geschäfte reif; was er verloren. wollte Stefanelly ihm schon wieder verschaffen, er sollte wieder Herr werden in seinem Hause.

Stefanelly hatte Häuser auf Lager für jeden Geschmack, für alle Verhältnisse, er kannte alle die Schwächen und Eitelkeiten seines Publikums. Häuser mit überladenen aufgeputzten Fronten, Karyatiden, reichen Gesimsen, im Innern billige Massenarbeit; schmucklose Miethkasernen, nach Schachtelsystem gebaut; niedliche kleine Häuschen, idyllisch, gemüthlich, mit Gärtchen daran; einfach vornehme, aristokratische, mit einer Säulenhalle aus Sandstein; alterthümlich ritterliche mit Erkern und Thürmchen, Wappen und Fähnlein; das letzte Muster war für den alten Brennberg recht, das mußte ihm in die Augen stechen. Das wirklich aristokratische mit den Säulenhallen verstand er nicht, ihm mußte er schon mit gröberer Zeichnung kommen. Er hatte eben ein solches burgartiges Ding fertig, ziemlich weit draußen vor der Stadt in seinem neuen Viertel, gegen Haching zu, aber das machte nichts, der Alte liebte ja die Landluft.

Für Christian hatte das Anerbieten, das Stefanelly ihm machte, wirklich etwas Verlockendes, und mit einer Kühnheit, die ihn fast selbst wunderte, ging er darauf ein.

Als ihm Stefanelly das schöne Gebäude zeigte. war er gerührt.

Das war ja ein Herrensitz, gegen den Schönau nicht aufkommen konnte, das war kein Haus wie die andern alle umher! Ueber dem gothischen Thor das Brennbergsche Wappen, auf dem Thurm die Flagge, die Jahrhunderte auf Schönau geweht – herrlich!

Da paßten auch die alten lieben Möbel hinein, die alten Herren in den Allongeperücken; und dabei lag es doch fernab von dem nervösen Gewühl der Großstadt, Ackerluft umgab es, und frei schweifte der Blick hinaus, sogar bis hinüber nach dem Schönauer Park, aus dem nach das Dach des alten Schlosses hervorleuchtete.

Christian verlor vor Freude alle nöthige Vorsicht des Käufers, und der Preis, den Stefanelly forderte, schien ihm wirklich nicht zu hoch. Der kühne Bauunternehmer hatte offenbar eine besondere Vorliebe für ihn, den alten Herrn von Brennberg – ja, ein guter alter Name that doch trotz aller Aufklärung und allen Fortschritts noch immer seine Wirkung!

Der Kauf war rasch abgeschlossen und damit ein Bruchtheil der halben Million schon wieder zurückgekehrt zu ihrem früheren Besitzer.

[113]

Der Kieler Hafen im Winter.
Nach einer Zeichnung von A. Kircher.

[114] Brennberg wartete den Ablauf seines Miethsvertrages nicht ab und zog sofort um: ungeduldig sehnte er die Stunde herbei, wo er wieder sein eigener Hausherr sein würde. Sein ganzes Selbstbewußtsein, sein ganzes Standesgefühl waren ihm wiedergekehrt, als er endlich die „Brennburg“, wie er das neue Haus taufte, bezogen hatte; er stand jetzt wieder auf eigenem Boden, zwischen seinen eigenen vier Wänden, wenn letztere auch recht dünn waren.

Die Straße, in welcher die „Brennburg“ lag, war zwar sonst nichts weniger als vornehm: lauter Neubauten standen darin, von dem zusammengewürfelten frischen Zuzug vom Lande oder von kleinen Leuten bewohnt, welche die Theuerung aus der inneren Stadt verdrängt hatte. Doch das paßte Christian gerade; er war hier wieder der gnädige Herr Baron wie in Schönau, ja, was dort schon lange nicht mehr Sitte gewesen war: man grüßte den reichen Herrn Baron, der in dem schloßartigen Hause wohnte, von allen Seiten.

Er hätte sich hier ausgezeichnet wohl gefühlt, ja selbst der Blick auf die alte Heimath hätte ihm nicht mehr weh gethan; es machte sich eher eine Art von Schadenfreude bei ihm geltend, daß er dem kargen Boden, dem er ein ganzes Leben geopfert, der ihm viel Sorge und wenig Ertrag gebracht, der Jahrhundertelang sein Geschlecht gefesselt hatte, endlich noch in seinen alten Tagen entronnen sei. Nur eines ging ihm nicht aus dem Kopf: seine gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen er jetzt nachkommen mußte.

Der neue Anzug lag bereit, der Schneider machte dem Herrn Baron beim Anprobiren Komplimente über seine aristokratische Erscheinung: da sei es ein wahres Vergnügen, zu arbeiten. Eine solche Schmeichelei hatte Christian schon lange nicht gehört; er ging in dem tadellosen Anzug vor dem Spiegel auf und ab und lachte über den Unsinn, daß er, ein alter Herr, noch mit solchen Geckereien sich abgebe, über seine Taille, die auf einmal so schlank erschien.

Wie doch so ein langer altmodischer Rock alt machte! Ja, man war weit gekommen, seit er jung gewesen war, auch im Schneiderhandwerk, das mußte er zugeben.

Endlich ließen sich die feierlichen Antrittsbesuche nicht mehr verschieben, und eigentlich mußte Christian sich gestehen, daß, je länger er wartete, desto mehr die Menschenscheu einer gewissen Neugierde wich, nach so langen Jahren wieder einmal die vornehme Welt zu sehen, wenn es auch nur wäre, um über ihre Albernheiten ordentlich zu lachen.

Theodor hatte bereits eine Besuchsliste zusammengestellt, welche die Spitzen der Gesellschaft enthielt. Man sei allgemein sehr erfreut, den alten Herrn, dessen vortheilhafter Verkauf das Tagesgespräch bilde, persönlich kennenzulernen, versicherte er, ja er regte bereits die Frage an, ob es nicht am Platze wäre, bei Hofe um eine Audienz nachzusuchen, und der Papa verwarf diesen Plan durchaus nicht; er wolle nur zuerst probiren, meinte er, wie man den alten Landjunker überhaupt in der Gesellschaft aufnehmen werde.

Der große Tag kam, an dem der zweiundsechzigjährige Christian von Brennberg seinen Eintritt in die Salons der Residenz halten sollte.

Die Aufregung verlieh dem alten scharfen Kopf jugendliche Röthe, der weiße Schnurrbart, das sorgfältig gescheitelte Haar gaben ihm einen vornehmen Ausdruck. Einen schweren Kampf kostete Christian nur der landwirthschaftliche Orden, den er einst vor zwanzig Jahren von dem damaligen Regenten bei Gelegenheit einer Ausstellung bekommen hatte, eine plumpe Medaille an rothem Bande. Er fühlte sich schwer gekränkt, als Theodor ihm dieselbe abnahm, sie hatte ja doch vortrefflich ausgesehen auf dem schwarzen Rock und war eine wohlverdiente Auszeichnung.

Nach langem Hin- und Herreden gab er so weit nach, daß er sich mit dem rothen Bändchen im Knopfloch zufrieden gab.

Ein eleganter Zweispänner war bestellt, ein Lohndiener auf dem Bock, und obwohl Christian immerfort über den „ausgemachten Schwindel“ schalt und wie ihm das alles lächerlich vorkomme, hatte er doch eine kindische Freude daran. Wenn nur alles glatt abging – Theodor war’s am peinlichsten dabei zu Muthe.

Graf Hartenau, ein entfernter Verwandter von Christians seliger Frau, ein tonangebender Kavalier, war die erste Adresse. Der Wagen hielt vor dem mächtigen Portale eines altersgrauen Palastes, ein alter Diener öffnete den Schlag, der Herr Graf war auch zu Hause.

Christian fühlte sich hier sofort heimisch, das war dieselbe moderige ehrwürdige Luft wie in Schönau, welche die breite teppichbelegte Freitreppe herabwehte, hier hatte er nichts zu fürchten, der Name Brennberg-Schönau genügte hier, um ihn vor Lächerlichkeiten zu bewahren.

Und er täuschte sich auch nicht; ein liebenswürdiger Kavalier, ungefähr in Christians Alter, empfing Vater und Sohn herzlich und half rasch über die erste Verlegenheit hinweg. Der Graf war eifriger Landwirth, und so gab sich das Gespräch von selbst; er entschuldigte sich, nicht zuerst in Schönau Besuch gemacht zu haben, aber er habe es aus Rücksicht unterlassen, denn er kenne das, man wolle auf dem Lande nicht von Besuchen belästigt sein. Jetzt freue er sich, daß Christian endlich sein Einsiedlerleben aufgegeben habe und in die Kreise eintrete, die ihn schon lang vermißt, man müsse der Zeit auch ihre Zugeständnisse machen, und dergleichen mehr.

Alles ging vortrefflich, bis die Hausfrau mit ihrer achtzehnjährigen Tochter den Salon betrat.

Frauenzimmer waren unbekannt in Schönau seit undenklicher Zeit. Aber Christian hielt sich trotzdem wacker – so etwas liegt im Blute – und Theodor selbst hatte nichts auszusetzen an der Begrüßung der Damen von seiten des Vaters. Aber das Gespräch nahm nun rasch eine ganz andere gefährliche Richtung: mit dem Kartoffeln- und Rübenbau, der Stallfütterung und dem Kunstdünger war es aus.

Litteratur, Theater, Kunst, alle die dem Landjunker fremdartigen Dinge, welche das Gesprächsthema eines großstädtischen Salons ausmachen, kamen an die Reihe.

Theodor half zwar vortrefflich, soweit das ging, aber hie und da hätte doch der Vater die Unterhaltung auch selbständiger führen sollen! Das mißlang jedoch fast stets kläglich und Christian selbst entging nicht das gefürchtete spöttische Lächeln um die Lippen der Komtesse, die nun mit der bekannten Liebenswürdigkeit der Gesellschaft erst recht ihm auf den Zahn fühlte und ihre sämmtliche backfischhafte Bildung auskramte.

Ehrlichkeit allein hätte allen diesen kleinen Bosheiten die Spitze abgebrochen.

„Ich stand diesen Dingen infolge meines zurückgezogenen Lebens stets fern und in meinen Tagen lernt man nicht mehr,“ das wären die richtigen Worte gewesen. Christian hatte sie auch auf den Lippen, wagte aber nicht, sie auszusprechen. Die wenigen Wochen, seit er Schönau verlassen, hatten bereits ihre verderbliche Wirkung auf ihn ausgeübt.

Er sah nicht mehr mit männlicher Festigkeit auf sich und seine Ueberzeugung, sondern auf die anderer, er glaubte bereits, sich den neuen Verhältnissen anpassen zu müssen, anstatt umgekehrt sich mit seiner ausgeprägten Individualität in diese neuen Verhältnisse hineinzustellen und es ihnen zu überlassen, sich mit ihm abzufinden.

Da ihm aber die weltmännische Gewandtheit fehlte, welche im Bewußtsein der Hohlheit all dieser schöngeistigen Phrasen sich niemals verblüffen läßt, so scheiterte er und machte sich lächerlich. Er war feinfühlig genug, das zu empfinden, zu alt, um sich darüber wegsetzen zu können, und so verließ er unzufrieden mit sich selber den Palast des Grafen.

Die Unterweisung des Sohnes während der Fahrt zur nächsten Station erhöhte noch sein peinliches Gefühl; am liebsten wäre er wieder nach Hause gefahren in seine Straße, wo ihn alles grüßte, dort hätte er unbedingt eine Gesellschaft getroffen, die ihm besser zusagte.

Er athmete jedesmal erleichtert auf, wenn der Diener mit dem ersehnten „die Herrschaften sind nicht zu Hause“ zurückkam. Und er hatte Glück: drei gefährliche Häuser wurden auf diese Weise erledigt. Doch Baron Anspacher, Inhaber des großen Bankhauses Anspacher und Sohn, die erste Finanzgröße der Stadt, war wirklich zu Hause und geruhte auch, die beiden Herren zu empfangen.

„Ein hochmüthiger Mensch, der auf seinen Geldsack pocht! Kehre doppelt den alten Aristokraten heraus, das ärgert ihn wenigstens; er spielt nun einmal eine große Rolle, selbst bei [115] Hofe, deshalb müssen wir ihn besuchen,“ bereitete Theodor den Vater vor.

Eine warme, von Patschuli und anderen Wohlgerüchen durchtränkte Luft ersetzte hier die eigenthümlich moderige, dem alten Holze und Mauerwerke des Hartenauschen Stiegenhauses entströmende Atmosphäre. Alles glänzend, üppig, neu, bis auf die glatten Gesichter der Lakaien. Das Alter, die Tradition hatte hier keine Stätte, nur die brutale Macht des Goldes machte sich in allen Ecken geltend.

Baron Anspacher ließ lange auf sich warten und empfing dann die Herren mit einer herablassenden Gutmüthigkeit, die für Christian verstimmender war als der zurückhaltende Stolz eines Geldfürsten, auf den er sich vorbereitet hatte. Der Bankier lenkte das Grspräch auf den Verkauf von Schönau, der ihm bis in seine Einzelheiten genau bekannt schien, und drückte mit nicht zu verkennendem Hohne seine Verwunderung darüber aus, daß der Freiherr sich von dem altehrwürdigen Besitz, an den sich die ältesten Ueberlieferungen seiner Familie knüpften, in seinen Jahren noch habe trennen können.

Der Bankier empfand eine lebhafte Genugthuung, die Nichtigkeit aristokratischer Grundsätze, mit denen er trotz seines Reichthums doch zu kämpfen hatte, der Macht des Goldes gegenüber von neuem bewiesen zu sehen.

Christian fühlte den Stachel. Er rechtfertigte sich mit der zwingenden Nothwendigkeit: die vorrückende Stadt hätte ihn ja doch vertrieben, und einen besseren Käufer als Stefanelly hätte er sich nicht wünschen können. Dann erging er sich, ohne auf das Augenwinken Theodors zu achten, in Lobeserhebungen auf Stefanelly, der vom gemeinen Arbeiter sich zu einer Finanzgröße aufzuschwingen im Begriffe sei.

Bei dem Worte „Finanzgröße“ gab es dem Banker einen Ruck, er lachte hell auf.

„‚Finanzgröße‘ nennen Sie das? Nun ja, Sie sind ja nicht bewandert in unseren großstädtischen Verhältnissen, um derlei Erscheinungen beurtheilen zu können. Wir haben darin natürlich andere Ansichten, uns täuscht der augenblickliche Erfolg nicht, wir sehen hinter die Coulissen. Uebrigens will ich Ihnen Ihre gute Meinung von dem Herrn durchaus nicht nehmen, Herr von Brennberg, Sie haben ja allen Grund dazu, es ist ein hoher Preis, den er bezahlt hat, aber zu hoch, um reell zu sein nach unseren Grundsätzen. Doch das kümmert Sie ja nicht –“ er lachte wieder verletzend. „Sie werden in der Gesellschaft erscheinen, Herr von Brennberg, bei Hofe wohl? sich entschädigen für die einsamen Jahre in Schönau? O, ich begreife das und beneide Sie um die Frische Ihrer Empfindung, Ihrer Lebenslust in Ihren Jahren! Bei mir ist das alles vorüber, ich bin übersättigt – – Spielen Sie auch?“

Christian war unangenehm überrascht von dieser unerwarteten Frage.

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte er.

„Nun, es ist das doch nichts Ungewöhnliches bei Edelleuten vom Lande, außerdem –“ er betrachtete die wohlgepflegten Nägel seiner fleischigen Hand – „las ich Sie als Theilnehmer an dem neuen Stefanellyschen Aktienunternehmen; das zeigt mir, daß Sie wenigstens den Reiz der Spekulation lieben, der gewagten Spekulation – nun, und das Spiel ist ja auch im Grunde nichts anderes.“

„Davon haben Sie gelesen?“ entgegnete ganz verwirrt Brennberg. „Aber das sind ja doch Privatangelegenheiten, wie ist denn das möglich?“

Der Bankier lachte mitleidig.

„Nun, sehen Sie, das sind so Stückchen Ihrer neuen Finanzgröße. Der Mann macht Reklame mit Ihrem Namen.“

„Mit meinem Namen? Das wird ihm wenig nützen, er spielt am Geldmarkt keine Rolle,“ meinte Christian; die argwöhnische bösartige Beurtheilung Stefanellys, dem er sich zu Dank verpflichtet fühlte, behagte ihm nicht.

„Gerade weil Ihr Name am Geldmarkt keine Rolle spielt, weil es der Name eines der Börse völlig fernstehenden, einfachen Landedelmannes ist, von dem man gewohnt ist, daß er nur Nummer Sicher zieht, gerade deshalb sind Sie ein ausgezeichnetes Reklamemittel; das sind so Kunstgriffe dieser Leute, die im Kleinen wühlen und arbeiten.“

„Kunstgriffe, die Sie natürlich nicht mehr nöthig haben!“ entgegnete gereizt, seiner Zurückhaltung vergessend, Christian.

Der Bankier setzte seinen goldenen Klemmer auf und zwang sich zu einem Lachen.

„Ah, sehen Sie einmal, auch schon Antibörsianer und kaum ein paar Monate in der Stadt! ‚Die Pestbeule der Gesellschaft, staatlich autorisirter Raub!‘ sind diese Schlagwörter auch schon zu Ihnen gedrungen? Beruhigen Sie sich, es ist nicht so schlimm. Die Börse ist ja nur das Miniaturbild der ganzen menschlichen Gesellschaft, der Geist der ganzen Gesellschaft ist ihr Geist, und die sie lästern, sie verdammen, Brandreden gegen sie halten, die sind von demselben Geiste erfüllt, dem Geist der rücksichtslosen Selbstsucht, des persönlichen Vortheiles; reformiren Sie die Gesellschaft und Sie reformiren die Börse. Uebrigens ist es ja zu lächerlich! Als ob es ohne Börse keine Uebervortheilung der Massen gäbe! Als ob sich die Massen nicht mit und ohne Börse gewaltsam herzudrängten, um übervortheilt zu werden! Doch irgend etwas, ein Name, ein Begriff muß ja da sein, auf den man ordentlich loslästern kann, anstatt daß man sich selbst bei der Nase nimmt. – Entschuldigen Sie meine Erregung, aber gerade bei Ihnen befremden mich solche Vorurtheile, bei einem Manne, der doch schon durch seinen Namen berufen ist, nicht mit der Masse zu gehen. Dem Geburts- und dem Geldadel ist heutzutage offen der Krieg erklärt, dem ersteren, zu dem Sie gehören, aus Gründen der Vernunft, dem letzteren, dem ich angehöre, aus rein praktischen Gründen. Darum sollten wir zusammenhalten aus Selbsterhaltungstrieb. Man sieht das auch an gehöriger Stelle sehr wohl ein, und ich rate Ihnen, wenn Sie in unsern Kreisen verkehren, halten Sie sich daran!“

Christian saß wie auf Kohlen; er hatte eine Taktlosigkeit begangen mit der unüberlegten Anspielung auf die Kunstgriffe, die Baron Anspacher seiner festen Ueberzeugung nach nur in größerem Maßstabe anwendete als Stefanelly; er hatte sich am Ende den Bankier, der selbst bei Hofe hoch angesehen war, zum Feinde gemacht, er wurde am Ende dort als Demagog, als Feind des Kapitals, als – er entsetzte sich, das Wort nur zu denken – als „Sozialist“ verschrieen.

Er stammelte ungeschickt übertriebene Entschuldigungen, welche die Sache nur noch verschlimmerten.

Theodor, der während der ganzen Auseinandersetzung seinem Vater verzweifelte Blicke zugeworfen hatte, brach das peinliche Gespräch ab, indem er dienstliche Pflichten vorschützte, die ihn zum Aufbruch zwängen.

Baron Anspacher entließ Christian mit einem gnädigen Lächeln wie einen zurechtgewiesenen Schüler, von dem man für die Zukunft das Beste hofft.

Brennberg war trostlos. Er fühlte, daß er niemals auf diesem Boden heimisch werden könne, und bat seinen Sohn, von den weiteren Besuchen vor der Hand abzustehen, er sei zu abgespannt.

Dieser rieth ihm selbst dazu in der Furcht, sein Vater könnte sich wirklich noch weitere Blößen geben; er ließ ihn allein nach Hause fahren.

Peinliche Gedanken quälten Christian. Zu was sollte er sich in seinen alten Tagen noch dieser neuen ihm so fremden Welt anpassen, gleichsam von neuem gehen und reden lernen? Was gab man ihm dafür? Warum sollte er sich nicht in seine Burg verschließen können, ein stilles, beschauliches Leben führen nach seinem Sinn wie einst in Schönau? Was hatte ihn denn eigentlich nur gepackt? War die Stadtluft daran schuld oder die halbe Million?

Er dachte unwillkürlich an den alten Margold, dessen Verhältnisse sich in ähnlicher Weise geändert hatten wie die seinen. Der würde deshalb gewiß nicht aus dem Geleise kommen, sondern seine alten Tage in Ruhe verbringen. Er sehnte sich jetzt nach dem ehrlichen Alten, dem er sich näher fühlte als all den Leuten, die er heute kennengelernt hatte. Wenn er es nicht doch unter seiner Würde gehalten hätte, er wäre geradenwegs zu ihm gefahren.

Endlich hielt der Wagen wieder vor der Brennburg, und Christian verließ ihn mit ganz anderem Gefühl, als er ihn bestiegen hatte.

(Fortsetzung folgt.)




[116] 0


Blätter und Blüthen.

Am 70. Geburtstag von Hermann Allmers, der am 11. Februar gefeiert wird, darf die „Gartenlaube“ unter den Glückwünschenden nicht fehlen. Auch unseren Lesern ist der wegekundige, schönheitkündende Wandersmann, der von seinen Streifzügen durch die grünen Marschen des deutschen Nordens wie seinen frohgenossenen Schlendertagen im Weichbilde Roms und seiner Campagna gleich lebensvollen und farbenfrischen Bericht zu geben verstanden hat, ein guter alter Bekannter. „Marschenbuch“ und „Römische Schlendertage“ – wohl wecken die Titel der beiden Hauptwerke des urwüchsigen Poeten aus altem Friesenstamme gar entgegengesetzte Vorstellungen. Hier: Sankt Peter und Engelsburg, Vatikan und Quirinal, Capitol und Palatin, dazwischen die großartige Trümmerstätte des alten Forum, die in solchen Wahrzeichen aufragende Welthauptstadt dreier Kulturepochen! – und dort die weithin sich dehnenden schweigsamen Hochgrasflächen des niederdeutschen Marschlands mit ihren weidenden Herden, den von Meerwasser durchflossenen, von Dünen und Deichen geschützten Kanälen: kaum läßt sich ein größerer Gegensatz denken für den poetischen Stimmungs- und Landschaftsmaler. Und doch hat Allmers hier wie dort den echten Lokalton getroffen, hat sein kraftvolles Charakterisirungsvermögen im Süden wie im Norden sich gleich erfolgreich bewährt. Nur in einem sind die Bücher doch auf einen gemeinsamen Ton gestimmt, gerade so wie seine vielen Lieder und Balladen: sie spiegeln treulich Allmers’ scharfumkantete, heißempfindende Persönlichkeit wieder mit ihrer festgewurzelten Heimathliebe neben der stürmischen Wikingersehnsucht nach der Schönheit des Südens, seine naturfrische Persönlichkeit, wie sie aufgewachsen ist in aufrechter Selbständigkeit in der weltabgeschiedenen Stille des uralten Hofs seiner Väter zu Rechtenfleth in der Osterstader Marsch an der unteren Weser, wo er vor siebzig Jahren zur Welt kam und wo er noch heute im frohbewußten Besitz seiner markigen Manneskraft lebt. Von früh an haben sich die beim Volksthum Einkehr haltende germanische Wanderlust und ein Schönheitssinn, dessen Ideale die Kunst der Antike geschaffen hat, als die treibenden und bildenden Kräfte erwiesen, die seinem menschlichen und litterarischen Charakter das so bestimmte wie sympathische Gepräge gaben. So ließ er dem „Marschenbuch“ die „Römischen Schlendertage“, dem Drama „Elektra“ das Buch über „Die Pflege des Volksgesanges im deutschen Nordwesten“ folgen. Und so zog es ihn nach langer Rast in der nordischen Heimath vor zwei Jahren erst wieder nach Rom, um dort mit ungeschwächter Sinnes- und Herzenskraft noch einmal die Schlenderpoesie seiner schönsten Jugendzeit zu erleben.

Damals war es dem Schreiber dieser Zeilen vergönnt, den reckenhaft gebauten Marschlandssohn persönlich kennenzulernen und ihn – nach Verdienst – vielfach gefeiert zu sehen als erfolgreichen Vermittler des deutschen Geistes mit dem italienischen. Und da sah er denn auch, wie das starke Heimathsgefühl in Allmers sich mitten in seiner Bewunderung der Schönheit des Südens geltend machte; so hingebend sein Blick an den Kunstmalen und Gedächtnißstätten der Ewigen Stadt weilte, am begeistertsten schwoll ihm die Rede und löste sich die von Natur schwere Zunge, wenn wir aus dem Straßengewirr in die Campagna hinaus bogen, wenn sich dem ins Weite schauenden Blick das Bild der Stadt mit dem Petersdom als Ganzes darbot, ringsum aber andächtige Stille herrschte, die tiefe Stille der campagna romana, der – Marschen der Tiberlandschaft. „Eccola Roma“ („sieh’, das ist Rom“) brach es dann stürmisch von seinen Lippen, wie einstmals, als er diesen Ausruf an die Spitze eines seiner schönsten Kapitel aus der römischen Schlenderzeit stellte. Wie ich ihn so entzückt dastehen sah, hochaufgerichtet, ein germanischer Mann vom Fuß bis zum Scheitel, mußte ich vergleichend an jene nordischen Barbaren denken, die einst als Eroberer, Zerstörungslust in den Augen, auf das prangende Städtebild hier niederschauten, und dann des gewaltigen Umschwungs, der seitdem germanische Barbarenenkel zu den begeistertsten Verkündigern und Deutern der Schönheit und Bedeutung des alten und des neuen Roms gemacht hat. Unter diesen wird Allmers bleibend eine hervorragende Stellung behaupten. J. Pr.      

Für arme Waisen. Es liegt viel menschliches Elend in den zwei Worten „arme Waise“, und nicht umsonst sind die Geschöpfe, welche mit diesem Namen bezeichnet werden müssen, für unsere Empfindung gleichsam der Typus geworden für das allerniederste Maß von Menschenglück. Es ist nicht bloß das äußere Darben, das körperliche Hungern des Armen, es ist noch mehr die seelische Verlassenheit, das liebeleere Dasein des Vater- und Mutterlosen, was auf unser Herz so ergreifend wirkt und unser Mitgefühl so tief aufrührt.

Vergessen sind sie darum auch nicht von der menschlichen Barmherzigkeit, und viel geschieht gewiß allerorts in der Stille für sie. Aber es besteht auch seit einem Jahrzehnt etwa in Leipzig ein Verein, der es sich zur besonderen Aufgabe gemacht hat, Voll- oder Halbwaisen, gegebenenfalls auch uneheliche Kinder, die ja doch meist gerade um ihrer unehrlichen Geburt willen noch schutzloser in der Welt stehen, zu versorgen, und zwar in der Hauptsache dadurch zu versorgen, daß er ihre Aufnahme in vermögliche, namentlich kinderlose Familien vermittelt. Der Verein, welcher aus den menschenfreundlichen Bestrebungen des Schuldirektors Mehner in Burgstädt bei Chemnitz hervorgegangen ist, an Friedrich Hofmann einen der eifrigsten Förderer fand und sich „Gesellschaft der Waisenfreunde“ nennt, ist den älteren Lesern der „Gartenlaube“ nicht unbekannt; am Anfange der achtziger Jahre ist über sein Entstehen und Wirken mannigfach berichtet worden. Durch den Tod Friedrich Hofmanns gerieth das Werk etwas ins Stocken, es soll aber jetzt mit erneuter Kraft aufgenommen werden, und gerne stellt sich auch die „Gartenlaube“ ihm wieder zur Verfügung. Es ist ja keineswegs wenig, was bisher geleistet worden ist. Der Geschäftsführer Schuldirektor Mehner berichtet, daß er seit Neujahr 1878 im ganzen 55 Kinder direkt versorgt habe, während über 50 weitere Kinder von Eltern auf anderem Wege als durch den Verein angenommen wurden, wobei aber der Verein sich doch das Verdienst der Anregung zuschreiben darf. Andererseits sind die Schwierigkeiten nicht gering, denn es erfordert oft einen außerordentlichen Aufwand von Geduld, Zeit und Geld, bis alle Rücksichten und Wünsche bei der Unterbringung solch eines Wesens erfüllt sind, bis man sich von dem guten Ausfall der getroffenen Wahl überzeugt und über die weitere Entwicklung des Pfleglings beruhigende Klarheit verschafft hat.

Der Leser möge hieraus zugleich entnehmen, wie weit der Verein den Kreis seiner Pflichten spannt. Er begnügt sich nicht damit, ein Kind „angebracht“ zu haben, sondern er hat auch weiter ein Auge auf dasselbe, ob der eigentliche Endzweck der Vereinsthätigkeit, diese armen Hilflosen zu nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft heranzuziehen, erreicht werde.

Der neue Vorstand, der sich gebildet hat, ist zusammengesetzt aus den Herren Dr. jur. Philipp Fiedler, Dr. Messerschmidt, Dr. Wangemann, Franz Beyer in Leipzig und dem obengenannten Schuldirektor Mehner. Und nun wendet sich der Verein an die Oeffentlichkeit mit der dringenden Bitte, es möchte doch jeder, der ein Herz hat für die armen Waisen, durch Zahlung eines Beitrags (nicht unter 3 Mark) seinen Eintritt in die „Gesellschaft der Waisenfreunde“ erklären, damit dieselbe ihre segensreiche Thätigkeit in größerem Umfange fortsetzen und womöglich ihr letztes Ziel, die Gründung eines Asyls, erreichen könne. Die Beitragszahlungen und Beitrittserklärungen sind an den Kassirer des Vereins, Herrn Franz Beyer, Adresse Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig, Königstraße 33 p., zu richten.

Auf dem Rheineise. (Mit Abbildung S. 101.) Merkwürdige, hochinteressante Landschaftsbilder schafft er doch, der starre Winter, vollends wenn er mit solcher Macht auftritt, wie diesmal. Er überbrückt die eilenden Ströme, die sich sonst selten das Joch des Eises gefallen lassen, und giebt ihnen das Ansehen, als wären sie Gletscher des Hochgebirgs. Unser Bildchen stellt eine Ansicht vom Eise des Rheins bei Bacharach dar. Das Treibeis ist zum Stehen gekommen, die wirr durcheinandergeworfenen Schollen sind so fest aneinander gefroren, daß sie bequem das Gewicht von mehreren Menschen tragen, man hat sogar einen Weg über das Eis von einem Ufer des hier 390 Meter breiten Stromes zum andern gebahnt und ausgesteckt, um so die unterbrochene Verbindung wiederherzustellen. Als man die Dicke der Eisschicht maß, da fand sich durchschnittlich eine Stärke von anderthalb Metern. Aber es gab auch Stellen mit Durchmessern von drei, vier und fünf Metern, ja an einem Punkte sollen es der Meter sogar sieben gewesen sein! Eine Gelegenheit zum Schlittschuhsport ist freilich eine solche Eisfläche nicht – aber darum ist sie auch soviel seltener! Bis diese Nummer in die Hände unserer Leser kommt, ist wohl der starre Bann gebrochen und die Eismassen sind geschmolzen oder hinabgetrieben, dem Meere zu. Hoffen wir, daß ein gütiges Geschick die Gestade des Rheins und der andern deutschen Ströme vor einem plötzlichen überraschenden Eisgang bewahre, daß es jene gefährlichen Eisstauungen verhüte, die schon so furchtbares Unheil angerichtet haben, indem sie den Abfluß der angeschwollenen Wasser verhinderten und die Fluthen zu ungeahnter Höhe hinauftrieben.

Der Kieler Hafen im Winter. (Zu dem Bilde S. 113.) Ein paar Monate sind es her, da haben wir unseren Lesern ein stolzes Bild aus dem Kieler Hafen vorgeführt. Damals spielte sich in diesen Gewässern die großartige Flottenparade ab, die wir in Nr. 41 des vorigen Jahrgangs abgebildet haben. Aber der außerordentlich strenge Winter dieses Jahres hat den Schauplatz dieser Begebnisse bedeutend verändert. Auf Wochen schlug der Frost das bewegliche Element in Fesseln, zwanzig, ja dreißig Centimeter starkes Eis hielt die Schiffskolosse gefangen, bis Friedrichsort dehnte sich die krystallene Fläche und mühsam hielten die Hafenbehörden eine schmale Fahrstraße offen. Auf der glatten Bahn aber, zwischen den eingefrorenen Meerdurchfurchern hin und her, bewegte sich der Schlittschuhläufer vergnügliche Menge. Da lagen die beiden jetzt von der Liste der Kriegsschiffe gestrichenen Fahrzeuge, das ehemalige Kadettenschulschiff „Niobe“ und die „Pommerania“, die zuletzt als Vermessungsfahrzeug diente, abgetakelt, eisbehangen über und über. Vor ihnen, im Strom, erblicken wir das Minenschulschiff „Rhein“, von welchem Geleise zum Ufer führen, auf denen kleine Wagen sich bewegen; die Bojen, sonst des Schiffers Wegzeiger, dienen den Schlittschuhläufern als bequeme Gelegenheit zum Ruhen, zum Aus- und Anziehen der Schlittschuhe, kurzum, es ist das vollkommenste Widerspiel zu jenem sommerlichen Bilde, das sich denken läßt.



Inhalt: [Anm. WS: Inhaltsverzeichnis des vorstehenden Heftes, nicht transkribiert]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Vor etwa Jahresfrist ist bei F. A. Brockhaus in Leipzig ein Buch erschienen, welches die Ergebnisse der Schliemannschen Forschungen zusammenfassend und in einer für weite Kreise verständlichen Form behandelt. Auch ein kurzer lebensgeschichtlicher Abriß findet sich daselbst, und ein reicher Schatz von Abbildungen, meist nach den Schliemannschen Originalwerken, ist ihm beigegeben. Das Buch führt den Titel: „Schliemanns Ausgrabungen in Troja, Tiryns, Mykenae, Orchomenos, Ithaka im Lichte der heutigen Wissenschaft. Dargestellt von Dr. Carl Schuchhardt, Direktor des Kestnermuseums in Hannover.“ Anmerk. der Redaktion.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Lebbekbaum (Albizia lebbeck (L.) Benth.)