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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[69]

Nr. 5.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(4. Fortsetzung.)

Auf der Chaussee fuhr, von Dresden kommend, ein offener Wagen in raschestem Trabe daher. Es war ein trüber Dezembertag und es schneite in großen Flocken. Die beiden Herren, die, in Pelze gewickelt, im Wagen saßen, glichen Schneemännern, so dicht legten sich die weißen Sterne auf ihre Kleidung. Herr Jussnitz hatte vom Bahnhof seinen Freund Wolf Maiberg abgeholt, der direkt von Hamburg kam; erst vor wenigen Tagen war er dort glücklich mit dem Dampfboot von Rio de Janeiro eingelaufen und wollte nun das Weihnachtsfest im Jussnitzschen Hause verleben.

Leo Jussnitz schnitt ein verdrießliches Gesicht. „Du wirst Dich erkälten, Wolf,“ brummte er; „welch ein Einfall, im offenen Wagen fahren zu wollen!“

„Wenn Du zu erfrieren fürchtest, laß ihn zumachen,“ war die launige Antwort. „Mir ist es eine Wonne ohne gleichen, einmal wieder Schneeluft, deutsche Schneeluft athmen zu können, Leo.“ Und die breite Brust des Mannes dehnte sich, so tief schöpfte er Athem. Ueber sein hübsches, von fester Willenskraft zeugendes Gesicht, zu dessen sonnverbrannter Hautfarbe der blonde Vollbart und die hellen graublauen Augen fremdartig genug aussahen, flog ein Schatten, als Jussnitz nun wirklich den Befehl ertheilte, den Wagen zu schließen. „Schade,“ sagte er, „diese winterliche Landstraße, die weißen Dächer der Villen in ihren verschneiten Gärten bieten ein so hübsches Bild. Du glaubst nicht, Leo, wie ich mich freute, als ich heute vom Coupéfenster aus die ersten Flocken sah. Das Heimathsgefühl packte mich mit einem Male so mächtig, daß ich –“

„Ich bitte Dich, Wolf, Du kannst noch Schnee in Massen erleben, und ich habe keinerlei Lust, mir einen Schnupfen zu holen.“

Doktor Maiberg sah, durch diesen gereizten Ton aufmerksam gemacht, forschend in das Gesicht des Jugendfreundes, und er bemerkte scharfe Züge, blasse Farbe und matte Augen. „Du fühlst Dich doch wohl, Leo?“ fragte er besorgt.

„Plage Du mich nicht auch mit solchen Fragen, Wolf! Ich kann doch unmöglich noch so aussehen wie vor acht Jahren!“

Nach hartem Kampf.
Nach dem Gemälde von J. Deiker.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

[70] „Gewiß nicht! So wenig, als ich mir noch gleiche. Die Jahre schreiben ihre Linien auf unsere Gesichter, – aber darum könntest Du doch einen gesunden Eindruck machen, und das ist nicht der Fall – Du siehst nervös aus.“

„Bester Wolf, Du scheinst patientenhungrig!“ lachte Jussnitz ärgerlich.

„Gott soll mich bewahren! Im Gegentheil, ich bin glücklich, einmal keine Klagen hören zu müssen, es thut mir nur leid, Dich nicht so zu finden, wie ich gehofft hatte.“

„Ich dächte, Du könntest aus meinem letzten Briefe –“ begann Jussnitz –

„Ja, freilich – der Brief! Daraus merkte ich es auch schon, daß Deine Gesundheit nicht ganz auf der Höhe ist; das war ja ein wahres Durcheinander von Klagen und Behagen, von Angenehmem und Schlechtem; Du hast ihn in keiner guten Stunde geschrieben, Leo! – Aber, sieh nur, da ist ein Wagen mit Christbäumen,“ unterbrach sich Maiberg und wies mit lächelndem Gesicht auf das Gefährt, das so eilig, als es die schwere Ladung erlaubte, an ihnen vorüberfuhr, die ganze Atmosphäre mit Tannenduft füllend.

„Die sollen heute noch alle an den Mann gebracht werden,“ sagte Jussnitz. „Aber rege Dich nicht auf, bester Wolf; Du wirst einen Lichterbaum bekommen; um Gotteswillen nur keine Sentimentalitäten.“

„Ich? Ich habe nicht die geringste Anlage dazu, Leo, ich möchte nur ein sentimentales Gespräch vermeiden, das Dir schon seit den Begrüßungsworten auf den Lippen zu brennen scheint. Es drängt Dich ja förmlich, mir Dein Herz auszuschütten, ich kenne Dich doch von früher her, Alter, und ich wollte nicht gern darauf eingehen, ich will erst selber sehen, selber prüfen. Ich bin überzeugt, daß es gar nicht so schlimm steht mit Dir, wie Du es in Deinem Schreiben schilderst. Du nanntest von jeher einen einfachen Wirbelwind Orkan und einen Platzregen Wolkenbruch.“

„Du hast wohl immer nach die Ansicht, daß nur der glücklich ist, der es zu sein glaubt?“

„Ganz recht, die habe ich noch immer, denn nicht die Dinge selbst, nur die Begriffe davon sind’s, die uns Kummer machen. Wer behauptet es doch gleich? Nun – es ist einerlei, jedenfalls ist es wahr.“

„Meine Schwiegermutter ist zum Besuch bei uns,“ sagte Jussnitz lakonisch.

Der andere lachte herzlich. „Uebrigens, Leo, da sind ja Weinberge! Nennst Du auch so köstlich Land Dein eigen?“

„Ja, zu Sibyllenburg gehören Weinanlagen,“ antwortete Jussnitz.

„Somit wirst Du mir selbstgekelterten Labetrunk kredenzen an der Pforte Deiner Burg, Leo?“

„Leider keltere ich nicht, habe den ganzen Schwamm verpachtet – die Sorte ist mir zu gehaltvoll. Schade, Wolf, Du würdest die Sibyllenburger Auslese vermuthlich als Rüdesheimer oder Johannisberger trinken, dank Deinem Talente, die Dinge so zu sehen, zu schmecken, zu fühlen, wie Du Dir vornimmst, sie zu finden.“

„So, nun geht’s schon besser mit Dir, Leo, nun erzähle mir von Deiner Malerei: hast Du Dein Bild der schönen Baronin vollendet?“

„Nein! Ich hatte Wichtigeres zu thun, auch war sie eine Zeit lang verreist.“

„Wichtigeres?“ fragte Wolf Maiberg und bückte sich, um ein kleines Packet aufzuheben, das Jussnitz beim Ergreifen seines Foulards mit aus der Tasche gezogen hatte. Aus dem flüchtig zusammengedrückten Seidenpapier lugte ein blaßblaues Plüschetui, dessen Federverschluß aufgespruugen war und etwas Blitzendes, in allen Regenbogenfarben Sprühendes sehen ließ. Der junge Arzt öffnete das Kästchen vollends. „Du siehst, Leo, die Neugier ist noch immer mein Fehler,“ sprach er lächelnd und betrachtete das Schmuckstück. Es war eine sehr kleine Brosche in Form eines Kleeblattes, aber die drei Steine, die sie bildeten, waren vom köstlichsten Feuer, ein Rubin, ein Brillant und ein Saphir. Das Dingelchen machte dennoch einen einfachen Eindruck; man mußte schon Kenner sein, um es zu würdigen.

„Sehr nett, Leo,“ sagte Maiberg. „Ist das der Geschmack Deiner Frau? Mir kommt es vor, als wäre sie etwas mädchenhaft, diese kleine Brosche.“

Jussnitz nahm das Etui und barg es in seinem Pelz. „Sie ist jetzt gerade Mode, diese Zusammenstellung,“ sagte er. „Uebrigens weißt Du, wir sind in der Weihnachtszeit.“

„Ja, es ist reizend, dieses Fest mit seinen Heimlichkeiten; wohl Dir, wenn Du solche allerliebste Sächelchen dabei verschenken kannst, und vor allem, wenn Du weißt, Du erreichst Deinen Zweck damit, Freude zu machen.“

Leo Jussnitz murmelte irgend etwas Unverständliches. Der andere achtete nicht darauf, sein vorher heiteres Gesicht war ernst geworden.

„Ich habe nämlich auch einmal solche blitzende Sternchen verschenken wollen,“ fuhr Maiberg fort – „vor zwei Jahren war es. Ich hatte monatelang dazu gespart und ich war glücklich, wenn ich mir ausmalte, wie ein gewisses Paar dunkler Augen blitzen würde, wenn es auf das Gefunkel der Steine schaute. Ich war gerade dabei, das Etui in einem Strauß Granatblüthen zu verbergen, um es an den Ort seiner Bestimmuug zu senden, da kam der Postbote und brachte mir einen Brief und ich schickte die Brosche nicht ab. Die sie empfangen sollte, schrieb mir, daß sie eingesehen habe, es sei besser, nicht ihr Schicksal an das meine zu ketten; und daß sie sich auf Zureden ihrer Eltern mit dem Besitzer einer Hacienda, die zu den größten und reichsten in ganz Brasilien gehöre, verlobt habe. Da warf ich die Granatblüthen aus dem Fenster und verschloß die Brosche in meinem Schreibtisch. Wie kam ich auch auf den Einfall, eine Frau sollte mein Arbeitsdasein theilen? Es ist doch etwas ganz anderes, wenn man einen Gatten besitzt, der einem Equipagen, Villen und Jachten zur Verfügung stellen kann!“

„Du hast mir ja nie geschrieben, daß Du verlobt warst, Wolf,“ sprach Leo. „Warum hast Du Dich nicht längst getröstet und eine andere gewählt? Lieber Himmel, es giebt Mädchen, reiche Mädchen genug, vermuthlich auch da drüben.“

„Ich hatte sie lieb.“

„Noch immer?“

„Ich habe es überwunden, Leo, ich bin herübergekommen, um mir eine Frau zu holen, eine gute, brave Frau, eine deutsche Frau. Weißt Du – so eine, wie meine Mutter war; kannst Du Dich ihrer noch erinnern? Gleichmäßig freundlich, gütig und mit einem gesunden Menschenverstande begabt, denn alles andere, Leo, ist von Ueberfluß an der, die uns zur Seite gehen soll in guten und bösen Tagen. Ich will ein heiteres Gesicht, ein ruhiges Wesen, wenn ich arbeitsmüde von der Praxis nach Hause komme; – einen geistreichen Sprühteufel, eine von den unberechenbaren Damen, die von mir noch verlangen wollten, daß ich mich in den Frack stürze, Oper und Bälle besuche, die könnte ich nicht brauchen, liebe auch dergleichen nicht und danke Gott, daß ich bewahrt wurde vor diesem Schicksal. Uebrigens, ist der hohe Giebel dort Sibyllenburg?“

„Nein, das ist die Besitzung der Baronin Erlach. Sibyllenburg ist Rokoko, reinstes Rokoko. Bei der nächsten Wendung wirst Du es erblicken.“

„Ich bin sehr neugierig, Leo, auf Dein Haus, Dein Weib, Dein Kind.“

„Du wirst Antje wohl schwerlich sehen, falls Du nicht in die Küche steigen willst. Wir haben Gäste heute abend, und da –“

„Was? Heute abend Gäste?“

„Stört Dich das, Wolf?“

„O bitte, nein! Ich hatte mir – ich hatte an einen Abend gedacht, wo wir beide von alten Zeiten plaudern würden bei einer Flasche Wein, und –“

„Laß die alten Zeiten; mich macht die Erinnerung elend,“ sagte Jussnitz, „aber wir sind da.“

Das Gefährt war in ein Gitterthor eingebogen und hielt gleich darauf vor einer niedrigen glasüberdachten Freitreppe. In der hohen geöffneten Hausthür, über der zwei Genien in krausen Gewändern mit flatternden Schleifen ein Wappenschild hielten, stand eine junge Frau. Es war schon dämmerig, das Licht, welches im Hausflur durch eine von der Decke hängende Lampe verbreitet wurde, fiel auf den goldigen Scheitel eines schön geformten Kopfes. Die Züge vermochte Wolf nicht deutlich zu erkennen, nur daß ein Paar großer Augen aus dem weißen Gesichte schaute, bemerkte er, und daß die ganze Erscheinung hausfrauenhaft und anmuthend dastand in dem schlichten dunklen Gewande und einer blendendweißen Schürze, mit einem [71] Schlüsselkörbchen am Arm. Eine leise angenehme Stimme klang jetzt in sein Ohr. „Willkommen, Herr Doktor, ich freue mich herzlich, Leos besten Freund begrüßen zu dürfen.“

Wolf hatte das Gefühl, als wehe ihn in diesem Augenblick erst die Heimathsluft an, die deutsche Luft, nach der er sich so gesehnt hatte. Etwas wie Rührung überkam ihn, und stumm zog er die Hand der jungen Frau an die Lippen; die Worte wollten ihm nicht recht aus der Kehle. Schweigend folgte er der Frau seines Freundes in das Haus hinein.

Das war sie also, die Leo so unglücklich machte! – Sie hatte ihrem Mann die Stirn zum Kusse geboten und antwortete auf seine Frage, ob Wolfs Zimmer in Ordnung sei, daß sie hoffe, der Gast werde alles zu seiner Zufriedenheit finden. Und mit einem freundlichen Kopfneigen sagte sie zu diesem: „Auf Wiedersehen, Herr Doktor!“ Dann verschwand sie mit dem leise klirrenden Körbchen am Arm hinter der hohen Flügelthür, die in den Speisesaal führte.

Wolf war stehen geblieben und schaute ihr nach. „Wie das gute Wesen selbst!“ murmelte er, als die Thür sich hinter der schlanken Gestalt schloß. Er kam erst langsam zu der teppichbelegten Treppe hinüber, als Leo, welcher glaubte, der Freund sei ihm gefolgt, hinunter rief: „Wo bleibst Du, Wolf? Bitte, hier herauf!“

Er trat in Leos Wohnzimmer und durchschritt das Atelier; es war trotz der frühen Stunde alles hell erleuchtet und machte einen reichen, fast zu prächtigen Eindruck. Auch das Zimmer, welches ihm nun als das seinige geöffnet wurde, war unendlich behaglich und nur zu elegant eingerichtet. Ueberall Teppiche, Bärenfelle, kostbare Luxusgegenstände.

„Mach es Dir bequem, Wolf, eine Tasse Thee oder ein Glas Grog steht sofort zu Deiner Verfügung. Große Toilette ist nicht nöthig; in einer Stunde werden die Gäste kommen – ich hole Dich ab.“

Doktor Maiberg war allein. Den Diener, der den Koffer hereinbrachte und denselben auszupacken sich erbot, hatte er entlassen. In einer Stunde erst wurde er erwartet, so hatte er ja noch lange Zeit. Er setzte sich auf das Sofa und sah im Zimmer umher; er mußte sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß er der Gast Leos sei. – Wie oft war er das gewesen in früheren Tagen! Dann saß er einem übermüthigen fröhlichen Menschenkinde gegenüber auf dem dürftigsten Rohrstuhl, vor dem einfachsten Tisch, den man sich denken konnte. Farben, Papiere, Zeichenstifte und allerhand Malgeräthe waren zusammengeschoben, und inmitten dieses Wirrwarrs summte eine Theemaschine aus Blech; der kleine Kanonenofen in der Ecke der getünchten Kammer war kalt, denn Feuer wurde nur einmal des Tages angemacht, und vor dem gardinenlosen Fenster der Mansarde strich Nachbars Katze über das Dach und wunderte sich, daß die beiden Menschen da innen so herzlich lachen konnten, trotz der Dürftigkeit, der Kälte und des dünnen Grogs.

Was war aus Leo geworden! Doktor Maiberg strich sich hastig über die Stirn. Die schöne schlanke Gestalt der jungen Frau erschien vor seinen Augen: ob sie wirklich so unbedeutend war, wie Leo sie schilderte? Armer Kerl – wenn es so wäre! Es mußte schrecklich sein, im ewigen Kampf mit Kleinlichkeit und Beschränktheit zu leben, schrecklich für jeden Mann, am meisten für einen Künstler. Er malte sich dieses Geistesdarben näher aus; wie entsetzlich, eine Frau zu besitzen, die nur immer wäscht, kocht, backt, die durch ihre bloße Gegenwart die Grazien und die Poesie vertreibt. Leos Brief hatte ihn besorgter gemacht, als er dem Freunde zugestehen wollte. Gottlob, ihre Erscheinung war wenigstens keine prosaische! Wie eine jener holden Frauengestalten war sie ihm entgegengetreten, die Beyschlag so anmuthsvoll malt – sollte wirklich das Innere mit dem Aeußeren in so grellem Widerspruch stehen können?

Und gleich darauf trat er mit einem tiefen Aufathmen vor den Tisch in der Mitte des Zimmers und betrachtete mit bewegtem Ausdruck eine Glasschale, in der anmuthig Tannenzweige und Christrosen geordnet waren. „Das kann nur sie gewesen sein, einer dienenden Person fällt dergleichen doch nicht im Traume ein!“ sagte er halblaut, und er sah sie im Geiste stehen und die Blumen ordnen. – Das zeugte wahrlich nicht von Prosa, dem Weithergekommenen die Blüthen der Heimath als freundlichen Gruß zu bieten!

Das heimliche Wohlbehagen von vorhin beschlich ihn in verstärktem Maße, dann aber fiel ihm ein, daß er im Begriff sei, eine grobe Unterlassungssünde zu begehen – er mußte nothwendig, bevor er in dem Gesellschaftszimmer erschien, der Hausfrau seinen Besuch gemacht haben. Möglichst eilig vollendete er seine Toilette und beauftragte dann einen Diener, ihn bei Frau Jussnitz zu melden. In drei Minuten war der Mann zurück, um ihm zu sagen, daß die gnädige Frau sehr bedaure, den Herrn Doktor nicht empfangen zu können, sie sei augenblicklich in der Kinderstube beschäftigt.

Leo, der eine Sekunde nach dem Diener eingetreten war, lachte, sich in die Kissen des Sofa werfend, kurz auf, als er des Doktors Gesicht erblickte, das ein wunderliches Gemisch von Enttäuschung und Ergebenheit zeigte. „Nimm Dir’s nicht zu Herzen. Wolf,“ sagte er, als der Diener sich entfernt hatte, „die Kinderstube ist die Verschanzung, hinter die sich meine Frau vor jeglicher gesellschaftlicher Pflicht rettet.“

„Nun, eine Kinderstube ist immerhin eine bessere Verschanzung als die übliche Migräne; der Grund hat eine gewisse Berechtigung,“ erwiderte Wolf gelassen.

„Für mich nicht mehr; sie heißt Eigensinn, diese ewige Kinderstube.“

„Vielleicht urtheilst Du zu hart, Leo; ich als Arzt weiß die öftere Anwesenheit der Mutter in der Kinderstube ihrer ganzen Bedeutung nach zu schätzen.“

„Oeftere Anwesenheit und – andauerndes dort Umherhocken ist zweierlei, mein Bester! Meine Frau hat zuverlässige Leute zur Verfüguug, aber – heutzutage –“

„Herr Gott, Leo, das, wofür andere Gott danken, scheint Dir ein Fehler!“ rief Wolf, um die Bitterkeit in des Freundes Urtheil zu mildern. „Sei froh, daß es noch Pflichttreue giebt in einem modern erzogenen Weibe, und daß Du ein solches Dein nennst! Tausend Wetter, Leo, bist Du ein jammersüchtiger, launischer Kerl geworden! Ist dieses trübselige Wesen das einzige, was Du eingetauscht hast gegen Deine sorgenvolle Lage von früher? Du sitzest da in einem Palast wie aus einem Feenmärchen und schimpfst über Kleinigkeiten – oder hast Du nur heute einen besonders schlechten Tag? Vielleicht leidest Du an der Leber; ich werde Dich daraufhin beobachten – es mag wohl so sein. Aber derartige Leute könnten vom lieben Gott mitten in ein Paradies gesetzt werden, und sie nörgelten doch noch!“

„Schon gut, Wolf, schon gut!“ wehrte Leo Jussnitz, als der Doktor scherzhaft Miene machte, ihm die Lebergegend zu befühlen, „sei nur erst acht Tage hier, dann wirst Du anders denken – sprechen wir über angenehmere Dinge! Es ist ohnehin bald sechs Uhr, begleite mich in das Empfangszimmer; die Herrschaften werden gleich da sein, nur Antje wird erst erscheinen, nachdem die Baronin sich bereits mit ihrem boshaftesten Lächeln nach der Hausfrau umgesehen hat.“

Sie stiegen eine kleine Wendeltreppe hinunter, die unmittelbar vom Atelier in das Billardzimmer führte, durchschritten den Speisesaal und betraten den Empfangssalon, der einen wahrhaft fürstlichen Glanz entwickelte. Wolf machte große Augen; er schaute von dem wundervoll erhaltenen Deckengemälde, das den Triumphzug der Venus darstellte und von reichem vergoldeten Stuck umrahmt war, über die mit gelben seidenen Stoffen bekleideten Wände, über das spiegelblanke Parkett, die üppigen Vorhänge, welche Thüren und Fenster verhüllten, über die Menge von Sesseln, Sesselchen und Sofas, alle vergoldet und im urechtesten Rokoko – gewiß, es war alles vollkommen stilgerecht wie ein Saal zu Trianon, aber das Lächeln auf des Doktors Gesicht war nicht mehr frei von Ungemüthlichkeit. „Merkwürdig,“ sagte er zu sich selbst, „ich hatte mir den heutigen Abend so anders gedacht; ich sah während der Fahrt hierher ein sehr behagliches Zimmer, in dem freilich künstlerischer Schmuck auch nicht fehlte; einen weißgedeckten Theetisch sah ich und an ihm drei frohe Menschen, die sich in alte Erinnerungen vertieften. Nun stehe ich hier in einem Prunkzimmer und –“

Die Uhr auf dem Kaminsims, die sechs Uhr schlug, unterbrach sein Selbstgespräch; in demselben Augenblick war unter die Thürvorhänge eine Dame getreten; sie hatte den blonden Kopf zurückgebogen, als musterte sie noch einmal die Anordnung der Tafel im Speisezimmer. Wolf war verstummt: diese schlanke wunderschöne Erscheinung dort im schwarzen Moirékleide, mit einem weißen Fichu um die Taille, das sich über der Brust kreuzte, [72] um rückwärts in eine lose zugeknöpfte Schleife zu enden, wie Marie Antoinette es liebte, – diese Erscheinung war in ihrer einfachen Vornehmheit von geradezu packender Wirkung in dieser schimmernden Umgebung.

Mit leichten Schritten, die rechte Hand ihm entgegenstreckend, kam sie auf Wolf zu, und zwei Augen, von deren „scheinbarer Unergründlichkeit“ Leo nicht zuviel geschrieben hatte, sahen dem jungen Arzt ernsthaft prüfend in das Antlitz, als sie um Entschuldigung bat, daß sie vorhin ihn nicht habe empfangen können, weil sie „die Kleine gerade gebadet habe“.

„Das muß die arme Frau immer selbst thun, sie hat keinerlei Hilfe sonst,“ bemerkte Leo ironisch.

„Doch nicht!“ war ihre ruhige Antwort; „ich thue es nur so gern und – seitdem die Kinderfrau die Kleine beinahe verunglücken ließ.“

„Ich bitte Dich, mein Kind, keine derartigen Erinnerungen!“ rief Leo.

Sie wandte sich zu ihm. „Mama beauftragt mich, sie für heute abend zu entschuldigen; sie fühlt sich, glaube ich, nicht ganz wohl.“

„Ich hatte auch gar nicht angenommen, daß Deine Mutter mit uns essen wollte,“ erwiderte er.

Sie sah ihren Mann groß und ruhig an. „Und wo sollte denn Mama sonst speisen, wenn nicht bei uns?“ fragte sie.

Wolf meinte ein Zucken in dem weichen blassen Gesicht zu sehen; es schnitt ihm ins Herz.

„Herr Gott,“ murmelte Leo, „wir sind lauter junge Leute! Ich denke, sie müßte sich langweilen, und anstrengen obendrein.“

„Mutter – sich langweilen? Sie, welche die Jugend so gern hat?“ Und dunkel erglühend wandte sie sich dem Kamin zu, um einen brennenden Ast, der etwas vorgerutscht war, zurückzuschieben.

„Dafür ist kein Verständniß vorhanden,“ murmelte Leo ärgerlich und verschwand in dem anstoßenden Raum, einem kleinen Gemach, dessen braune goldgepreßte Ledertapete einen sehr wirkungsvollen Gegensatz zu dem leuchtenden Gelb des Empfangszimmers bildete.

Antje brauchte eine ganze Weile, um das widerspenstige Buchenscheit in die gehörige Lage zu bringen und die bewußten zwei Tropfen zurückzuzwingen, die sich ihr in die Augen gedrängt hatten. Jetzt erst begriff sie die Weigerung der alten Dame, an der Gesellschaft theilzunehmen; Leo hatte es ihr wohl sehr nahe gelegt, daß er sie nicht wünsche. Antje empfand es so schmerzlich, als wäre diese Unart ihr persönlich zugefügt worden. Was sollte der Fremde davon denken?

Als sie sich umwandte, stand dieser, ihr den Rücken kehrend, vor einem großen Gemälde, das ein paar nackte, weinlaubbekränzte Putten darstellte, die um und auf einem behaglich ruhenden Panther spielten. „Wie köstlich das rosige Fleisch dieser kleinen Uebermüthigen gemalt ist,“ sagte er, „sehen Sie nur, gnädige Frau, diese Grübchen in den dicken Patschhändchen da, ist das nicht herzig?“

Sie trat dicht neben ihn, ein liebes trauriges Lächeln auf dem blassen Gesicht. „Es ist richtig,“ sagte sie, „die Hand ist so wahr gezeichnet, genau wie die meiner kleinen Leonie.“ Dabei verschwand das traurige Lächeln.

„Darf ich das Kind morgen besuchen?“ fragte er ernsthaft.

Sie nickte eifrig. „Ja, Herr Doktor, bitte! Ich werde es in mein Zimmer bringen lassen, denn Sie holen morgen hoffentlich den mir zugedachten Besuch nach?“

„Ich muß bitten, daß ich im Gemach des kleinen Fräuleins empfangen werde,“ sagte er und schaute ihr mit seinen blauen Augen gutmüthig lächelnd in das Gesicht, „nachdem ich,“ setzte er hinzu, „der Frau Mama in ihrem Zimmer meine Aufwartung gemacht habe, wo ich auch Ihrer verehrten Frau Mutter zu begegnen hoffe.“

Sie empfand diese liebenswürdigen Worte, als wären sie ein Verband, den ihr jemand auf eine wunde Stelle legen wollte, um den Schmerz zu lindern, und der doch noch mehr Weh verursachte, als wenn die Wunde unbeachtet geblieben wäre. „Meine Mutter wird sich freuen,“ antwortete sie kühler, und dann schritt sie rasch einer Dame entgegen, die, begleitet von einem riesengroßen blonden Herrn, herein – Wolf fand keinen passenderen Ausdruck für ihre Art zu gehen – herein gaukelte. Es war wirklich etwas Schmetterlingartiges, Spielendes in der Erscheinung der schlanken, fast zu schlanken brünetten Frau; sie trug ein weißes Kleid, das außer einem unmöglich engen, in einer langen Schleppe endigenden Rock eine Art Blusentaille mit weiten bauschigen Aermeln zeigte und der Trägerin außerordentlich gut stand. Ueber dem etwas zu hohen Stehkragen, den kleine Brillantnadeln zusammenhielten, saß ein zierlicher Kopf mit kurz geschnittenem Haar, zu welcher jungenhaften Tracht die kleinen brillantgeschmückten Ohren einen drolligen Gegensatz bildeten. Das Gesicht war blaß, von dunklen Augen belebt, die halb muthwillig, halb schmachtend in die Welt schauten. Die Nase war sehr kurz und gerade; die blutrothen Lippen schienen beständig zu lächeln, aus keinem andern Grunde, als um zwei Reihen spitzer, weißer, sehr unregelmäßiger Zähne sehen zu lassen, die sich wirklich allerliebst ausnahmen. In der Hand hielt sie an langem Stiel einen kreisrunden Atlasfächer, auf den ein Rokokobildchen gemalt war.

„Ich bitte Sie, liebste Frau Jussnitz,“ rief sie, „setzen Sie meinen Vetter heute abend an das entfernteste Ende der Tafel; er ist auf dem Wege hierher so außergewöhnlich unartig gewesen, daß ich am liebsten vergessen möchte, ihn hier zu wissen.“ Dabei bekam der riesenhafte Vetter, der sich lächelnd den blonden Bart strich, einen sehr lustigen Blick aus den schwarzen Augen seiner Feindin.

Jussnitz stellte die Herrschaften einander vor. Ehe noch Wolf die üblichen kurzen Höflichkeitsphrasen mit der Baronin gewechselt hatte, waren zehn bis zwölf Herren versammelt, die theils Uniform, theils Civil trugen und alle möglichen Stände vertraten.

Die Baronin und Antje waren die einzigen Damen unter ihnen. Die erstere hatte, auf einem Sofa Platz nehmend, sofort die ganze Wolke der Herren um sich.

Wolf, der sich nach Antje umsah, erblickte die junge Frau im Nebenzimmer, wo sie dem Diener irgend eine Weisung ertheilte. Sie kam nach einer Weile herüber und setzte sich auf den äußersten Sessel des Kreises, als sei sie nicht dazu gehörig, und ihre Augen sahen wie abwesend in weite Fernen. Wolf rückte seinen Stuhl zu ihr und versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen, indem er von seinen Reisen zu erzählen begann. Sie schaute ihn aufmerksam an, während er sprach, aber sie ging mit keinem Wort auf den angeregten Gegenstand ein. Als er auch die Schilderung eines Weihnachtsabends in Rio ohne Erfolg gegeben hatte, verstummte er; er fühlte sich müde von der Reise und fand es ganz angenehm, zu schweigen.

Sie schien sein Verstummen gar nicht zu bemerken. Das Lachen der kleinen Baronin, dem jedesmal ein Gelächter der Herren folgte, scholl immer öfter durch den Raum.

„Gnädige Frau sind bereits vor Tisch in einer brillanten Laune,“ rief ein blutjunger Kavallerieoffizier, „was wird es da nachher noch geben!“

„So bin ich immer, lieber Osten, wenn ich mich recht geärgert habe,“ erwiderte die junge Frau, und noch lachend legte sie die Hand in den Arm des Hausherrn, der sie zu Tisch führte. Im Hinausgehen wandte sie den Kopf und sah zu ihrem Vetter hinüber, wobei blitzgeschwind ihre kleine spitze Zunge zwischen den rothen Lippen erschien und das muthwillige Gesichtchen unter dem kurzen Haar täuschend dem eines unartigen Buben glich.

„Unglaublich!“ murmelte der blonde Riese mit seelenvergnügtem Ausdruck. – –

Antje saß oben an ihrem Hausfrauenplatz; rechts von ihr Maiberg, links ein älterer Maler mit langem Künstlerhaar und interessantem, aber sehr verdrießlichem hageren Gesicht, der sich im stillen beharrlich wunderte, warum er, der doch wirklich etwas geleistet hatte im Leben, hungern mußte, während so ein Grünschnabel wie Jussnitz vom Schicksal in Sammet und Seide hineingesetzt wurde. Solche Betrachtungen hinderten ihn indessen nicht, sich die Austern recht gut schmecken zu lassen.

Die Baronin hatte sofort die Unterhaltung an sich gerissen, ihre helle glockenklare Stimme schwebte beständig über dem Lachen der Herren; sie schien heute besonders gut aufgelegt.

(Fortsetzung folgt.)




[73]

„Auf Flügeln des Gesanges.“

O spiele nicht, mein Mägdlein,
Die Weise so lind und so weh,
Daß nicht vor Leid und Sehnen
Mein Herz bei den Tönen vergeh’!

Du weißt nicht, meine Tochter,
was jenes Lied mir gilt,
wie’s vor die Seele mir zaubert
Ein holdes leuchtendes Bild.

Sie sang es, deine Mutter,
Die meiner Jugend Glück;
Drum tragen die sanften Töne
In ferne Zeit mich zurück.

„Auf Flügeln des Gesanges,
Herzliebchen, trag’ ich dich fort,“
Sie sang es mit süßen Lippen;
Da fand ich das Zauberwort, –

Das Wort, das uns gebunden
Für Zeit und Ewigkeit,
Daraus mir unsägliche Wonne
Erwuchs und – unsägliches Leid!

Denn als sie dich geboren,
Mein Kleinod du, mein Kind,
Da glich sie der welkenden Rose,
Entblättert von rauhem Wind.

Noch seh’ ich die Bleiche dort ruhen,
Hör’ leis sie mir flüstern ins Ohr:
„Auf Flügeln des Gesanges, –
Herzliebster, spiel’ es mir vor!“

Dann glitt ich über die Tasten,
Daß das Lied den Saiten entquoll;
Doch mir war von Schmerz die Seele,
Das Auge von Thränen voll.

So mußt’ ich’s oft ihr spielen,
Sie lächelte sanft und hold,
Meine bleiche süße Rose
Im Abendsonnengold.

So spielt’ ich’s jeden Abend,
Sie lauschte mir still verklärt,
Das Antlitz umleuchtet von Frieden,
Der nicht von dieser Erd’.

„Auf Flügeln des Gesanges,
Herzliebchen, trag’ ich dich fort,“ –
Weit über das Weh’ der Erde
An einen glückseligen Ort.

Auf Flügeln des Gesanges
Zog lind ihre Seele empor
Zu des Himmels lichten Höhen,
Zu der Engel vielstimmigem Chor.

Und mit ihr sah ich scheiden
Von hinnen all mein Glück, –
Doch nein, sie ließ ja dich mir,
Mein theures Kind, zurück!

In dir will mir aufs neue
Die Vielgeliebte erstehn;
Oft mein’ ich an dir ihr Lächeln,
Ihr hold Erglühen zu sehn,

Oft dünkt dein blaues Auge
Mich wie das ihre so hold –
Doch küßt die Abendsonne
Deinen Scheitel mit flüssigem Gold,

Entperlen deinen Fingern,
Den schlanken, die Töne lind:
„Auf Flügeln des Gesanges,“
Dann wird mir angst, mein Kind,

Um dich, du meine Sonne,
Du meines Abends Licht,
Daß du mich könntest verlassen, –
O spiel’ das Lied mir nicht! Ad. Gründler.

[74]

Der Kampf gegen die Bakterien.

Die Heilung des Wundstarrkrampfes (Tetanus).


Wer jemals in seinem Leben an dem Leidenslager eines vom Wundstarrkrampfe Befallenen geweilt hat, dem wird der erschütternde Anblick unverlöschlich in der Erinnerung haften. „Traurig großartig“ hat noch vor kurzem Dr. Renvers treffend die Summe von Erscheinungen genannt, welche den Tetanus begleiten. Mit krankhaft verzerrten Gesichtszügen, gerunzelter Stirn, angsterfülltem Blick, den Kopf hinten übergebogen, mit krampfhafter Streckung der Bauchwirbelsäule liegen die Kranken unbeweglich mit starrer Rumpfmuskulatur bei vollem Bewußtsein im Bett, nur imstande, sich mühsam lispelnd zu verständigen. Die Kaumuskeln sind zusammengezogen, die Oeffnung des Mundes ist unmöglich. Von Zeit zu Zeit steigert sich die anhaltend dauernde Starre. Bald fieberlos, bald nur vor dem Tode hohe Temperaturen zeigend, erliegen die Patienten entweder in den ersten Tagen einem solchen Krampfanfall, oder aber es tritt langsam zunächst Nachlaß der Krämpfe und dann der Starre ein, wenn nicht Erschöpfung auch jetzt noch den Patienten zu Grunde richtet.

Der Tetanus tritt zumeist als eine Begleiterscheinung von Wunden auf, und das Räthselhafte bestand bisher darin, daß er oft mit ganz geringfügigen, kaum bemerkbaren Verletzungen, einem Splitter, der selbst vom Kranken übersehen wurde, der keine Eiterung erzeugte, verbunden war. So geringe Ursachen und so fürchterliche Wirkungen! Beträgt doch die Sterblichkeit bei dieser Krankheit etwa 90 Prozent; in den deutschen Kriegslazarethen 1870/71 fielen ihr 159 Verwundete zum Opfer.

Schon der alte Hippokrates kannte den Wundstarrkrampf und stellte bereits die richtige Regel auf, daß der Tetanus um so gefährlicher ist, je frühzeitiger er nach der Verletzung sich einstellt, und mehr Aussicht auf Heilung bietet, wenn die ersten vier Tage ohne Anfangsspuren desselben verlaufen. Die Ursache dieser erschütternden Krankheit konnte er nicht finden, und bis auf unsere Tage blieb sie für alle Aerzte ein unerforschliches Räthsel.

Da kamen die Zeiten, in denen die Bakteriologie neues Licht in das Wesen so vieler Krankheiten brachte, und ihr gelang es auch in kurzer Zeit, alles in diesem jahrtausendelang so geheimnißvollen Leiden aufzuklären und selbst ein Heilmittel gegen dasselbe zu finden Das ist ein Siegeslauf, dem die ganze Menschheit entgegenjubelt, und der Jubel wird auch selbst im Stillen Ocean ein recht lautes Echo finden, denn ein großer Ruhmesantheil an dieser Entdeckung gebührt einem Schüler Robert Kochs, dem Dr. Kitasato aus Tokio in Japan.

Der erste Lichtstrahl drang aus Italien hervor. Hier stellten im Jahre 1884 Carle und Rattone fest, daß man bei Thieren Tetanus erzeugen könne, wenn man sie mit Wundsekreten am Wundstarrkrampf erkrankter Menschen impfe. Es war nun erwiesen, daß der Tetanus eine übertragbare, infektiöse Krankheit sei; die Suche nach dem Krankheitserreger begann. Nun geschah in Deutschland fast gleichzeitig und unabhängig von der italienischen eine neue wichtige Entdeckung. Nicolaier fand in Göttingen eine Gartenerde, die, wenn er sie Mäusen, Meerschweinchen und Kaninchen unter die Haut brachte, regelmäßig die Erkrankung und den Tod der Thiere an Tetanus veranlaßte. Es unterlag keinem Zweifel – in dieser Gartenerde mußte der Krankheitserreger stecken. Man durchsuchte den Eiter der an Tetanus erkrankten Versuchsthiere und fand eine Menge verschiedener Bakterien, darunter aber auch einen dünnen borstenartigen Bacillus, der an einem Ende Sporen bildete, so daß er in diesem Zustande wie ein Trommelschlägel oder eine Stecknadel aussah; er erschien von Anfang an verdächtig, und der Verdacht wurde noch bestärkt, als Rosenbach ein ähnliches Gebilde in der Wunde eines an Tetanus erkrankten Menschen nachwies. Aber der Bacillus spottete aller Bemühungen, ihn rein darzustellen, er erschien immer in Gesellschaft von anderen Bakterien, so daß man nicht bestimmen konnte, welchem Bacterium die Fähigkeit, den Wundstarrkrampf zu erzeugen, zuzusprechen sei.

Inzwischen mehrten sich die Beweise für die Uebertragbarkeit des fürchterlichen Leidens. In einem Falle wurde ein Holzsplitter aus der Wunde eines Tetanuskranken herausgezogen und vierzehn Monate lang trocken aufbewahrt; er wurde dann einem Thiere eingeimpft und erzeugte Tetanus; in einem zweiten Falle rief ein Holzsplitter, welcher aus einer Hohlhandwunde vier Monate nach der Verletzung herausgezogen und zweieinviertel Jahr in Papier aufbewahrt worden war, bei Thieren Impftetanus hervor. Ein Knabe endlich, welcher sich durch Fall auf einen Holzpfahl in einem Weinberge eine Verletzung im Gesicht zugezogen hatte, erkrankte acht Tage darauf und starb bald. Aus der Gesichtswunde wurde ein Splitter entnommen; auch er hat, Thieren eingeimpft, Tetanus verursacht.

Aber der Tetanusbacillus blieb immer noch unfaßbar. Seine Züchtung war mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft. Der borstenartige Bacillus ist ein anaërobes Bakterium, das heißt: er gehört zu der Klasse derjenigen Kleinorganismen, für welche Sauerstoff, der belebende Theil der Luft, geradezu Gift ist, und er muß darum unter Ausschluß von Sauerstoff gezüchtet werden. Dies war aber um so schwieriger, als er stets, wie wir bereits erwähnt haben, im Verein mit anderen anaëroben Bacillen auftrat. Erst neuestens ist es Kitasato gelungen, ihn aus diesem Bacillengemisch herauszugreifen. Er nahm ein kleines Gewebsstückchen von einem an Tetanus gestorbenen Menschen aus der unmittelbaren Umgebung der vereiterten Wunde und brachte es auf die gebräuchlichen Nährmittel. Nun machte er die Beobachtung, daß im Brutschrank die verschiedenen Bakterien sich sehr üppig entwickelten, daß aber der verdächtige borstenförmige Bacillus am allerersten seine Sporen ausbildete, während die übrigen erst viel später sich hierzu bequemten. Dieses voreilige Wachsthum sollte dem Bacillus verderblich werden.

Die Bakteriensporen sind nämlich viel widerstandsfähiger gegen die Einwirkung der Hitze als die im Wachsthum befindlichen sogenannten „vegetativen“ Bakterien. Kitasato wartete darum nicht ab, bis auch die anderen Bacillen Sporen gebildet hatten, sondern erhitzte seine Mischkulturen 1/2 bis 1 Stunde im Wasserbade auf 80° C. Alle vegetativen Formen wurden dadurch abgetödtet, nur die Sporen blieben entwickelungsfähig, und nun war es ein Leichtes, aus diesen Sporen Reinkulturen des borstenförmigen Bacillus zu erhalten, der jetzt durch Impfversuche als der unzweifelhafte Erreger des Wundstarrkrampfes entlarvt wurde und den Namen „Tetanusbacillus“ mit Fug und Recht erhielt.

Es ist bemerkenswerth, daß er in Reinkulturen ein widerwärtig riechendes Gas erzeugt; in Traubenzuckerbouillon ist diese Gasentwicklung mitunter so stark, daß beim festen Verschluß des Kölbchens dieses selbst auseinander gesprengt und zertrümmert wird.

Man wandte sich nunmehr auch der genauen Erforschung der von den Tetanusbacillen erzeugten Stoffwechselprodukte zu und fand in Reinkulturen derselben zunächst zwei alkaloidartige Gifte, Tetanin und Tetanotoxin, die allerdings erst in großen Dosen starke Reflexkrämpfe erzeugen, und zuletzt ein eiweißartiges Gift, ein Toxalbumin, welches dem Schlangengift ähnlich schon in sehr geringen Gaben die dem Tetanus eigenthümlichen Starrkrämpfe hervorruft. Das Toxalbumin wirkt bereits in der winzigen Menge von 1/100 Milligramm.

Impfungen mit ganz kleinen Mengen der Reinkultur ergeben folgendes Bild. Bei Mäusen macht sich schon nach 15 Stunden eine Muskelunruhe bemerkbar, die sich namentlich in einer großen Aengstlichkeit und Erregbarkeit zeigt. Nach etwa 20 Stunden beginnt zunächst in der Nähe der geimpften Stelle eine Starrheit der Muskeln, die sich rasch über den ganzen Körper erstreckt und von lebhaften Muskelstößen begleitet wird. In diesem Zustand bleiben die Thiere 1–3 Tage und gehen dann gewöhnlich am 2. oder 3. Tage nach der Impfung zu Grunde. Besser läßt sich (nach Renvers) das Krankheitsbild an größeren Thieren, namentlich an Kaninchen und Hunden, verfolgen, da hier der Impftetanus langsamer auftritt. Die Thiere bleiben zuweilen 3 Tage lang ohne jede Veränderung. An der Impfstelle bemerkt man keine Entzündung. Ist das Thier z. B. am Oberschenkel geimpft worden, so zeigt sich alsdann die Starre zuerst in diesem Körpertheil, in 24 Stunden schreitet sie auf die Rumpfmuskeln über, befällt zunächst die auf der Impfstelle liegende Seite und bewirkt eine starke Seitwärtskrümmung der Wirbelsäule; in weiteren 20 Stunden kommt es zu Krämpfen der Gesammtmuskulatur, denen die Thiere rasch erliegen.

[75] In der Wunde fehlt jede Eiterung, wenn die Impfung wirklich mit einer Reinkultur vorgenommen wurde. Die Bacillen sind nur in der unmittelbarsten Nähe der Wunde aufzufinden oder sind inzwischen zu Grunde gegangen. Sie haben eben an Ort und Stelle, ohne weiter den Körper zu durchdringen, das furchtbare Tetanusgift erzeugt, welches sich von hier aus über den ganzen Körper verbreitet und nach und nach den Tod herbeiführt.

So wurde das Wesen des Wundstarrkrampfes enträthselt. Die Keime des Tetanusbacillus sind in der Natur sehr verbreitet. Sie finden sich häufig in oberflächlichen Schichten der Gartenerde, ebenso hat man sie in verfallenem Mauerwerk, in faulenden Flüssigkeiten, sowie im Dunge nachgewiesen. Die französischen Forscher haben namentlich auf ein sehr häufiges Vorkommen des Tetanusbacillus in Pferdeställen aufmerksam gemacht, wodurch die vielen Tetanuserkrankungen bei französischen Kavalleristen ihre Erklärung finden. Ob es außer diesem bacillären Tetanus noch einen anderen, der durch andere Ursachen bedingt wird, den sogenannten „idiopathischen“ Tetanus, giebt, werden erst weitere Untersuchungen ergeben können.

Nachdem auf diese Weise das Wesen der Krankheit ergründet worden war, versuchten Dr. Kitasato und Stabsarzt Dr. Behring, Heil- und Schutzmittel gegen dieselbe zu finden. Sie führten ihre Arbeiten in dem hygieinischen Institut von Robert Koch in Berlin aus.

Es gelang ihnen, indem sie Versuchsthiere mit Jodtrichlorid behandelten, Kaninchen und Mäuse gegen das Tetanusgift zu „immunisiren“, d. h. gegen dasselbe unempfänglich zu machen. Das Blut der so behandelten Thiere besaß von nun an tetanusgiftzerstörende Eigenschaften.

Gewöhnlich genügen 0,5 kcm einer bestimmten Tetanusbacillenkultur, um ein normales Kaninchen ganz sicher am Tetanus zu Grunde gehen zu lassen. Dem immunisirten Kaninchen wurden 10 kcm von derselben Kultur eingespritzt – es erhielt somit das 20fache der sicher tödlichen Dosis - und es blieb ganz gesund.

Das Blut dieses Kaninchens erhielt und behielt wunderbare Eigenschaften. Mit frischem Blute desselben wurden Mäuse geimpft. Nun wurden nach 24 Stunden dieselben sowie zwei gar nicht vorbehandelte Kontrolmäuse mit Tetanusbacillen inficirt. Die Kontrolmäuse starben nach 36 Stunden an Tetanus; die mit dem immunen Kaninchenblut behandelten blieben gesund.

Nun wurde dem immunisirten Kaninchen Blut entnommen und dieses stehen gelassen. Es ist bekannt, daß unter solchen Umständen das Blut sich verändert: es gerinnt und es erfolgt nunmehr die Theilung in den festen rothen Blutkuchen, in dem die Zellenelemente des Blutes, die Blutkörperchen, enthalten sind, und in das Serum, eine fast farblose oder leicht bernsteingelbe Flüssigkeit. In dem Serum sind nun die tetanusgiftzerstörenden Eigenschaften enthalten.

Zu Versuchen mit Serum wurde eine zehntägige sehr giftige Tetanuskultur genommen. Man filtrirte dieselbe durch die Porzellanfilter und erhielt so eine keimfreie Flüssigkeit, in der sich keine Bacillen, wohl aber die von ihnen gebildeten Gifte befanden. Fünf Hunderttausendstel (0,00005) Kubikcentimeter dieser Flüssigkeit genügten, um eine Maus nach 4-6 Tagen, und 0,0001 kcm, um dieselbe nach weniger als 2 Tagen zu tödten. Nun wurde ein Theil dieser Giftflüssigkeit mit 5 Theilen des immunisirten Blutserums vermischt und die Mischung 24 Stunden stehen gelassen. Von dieser Mischung erhielten alsdann 4 Mäuse je 0,2 kcm. Es war also darin die 300fache Menge der für eine Maus unter gewöhnlichen Umständen sicher tödlichen Dosis von Tetanusgift enthalten! Aber alle diese Versuchsmäuse blieben dauernd gesund; denn das Blutserum, welches einem immun gemachten Thiere entnommen war, hatte das Tetanusgift schon außerhalb des thierischen Körpers unschädlich gemacht! Die so behandelten Mäuse wurden aber selbst gegen Tetanus immun, sie hatten eine Schutzimpfung durchgemacht; denn wie oft man sie auch mit großen Mengen von Tetanusbacillen impfte, sie blieben dauernd gesund, zeigten nicht eine Spur von Erkrankung.

Mit diesem Serum von tetanusimmun gemachten Thieren wurden auch sichere Heilwirkungen erzielt, indem man die normalen Thiere zuerst mit Tetanusbacillen inficirte und erst nachträglich das giftzerstörende Serum mit bestem Erfolg einspritzte. „Auch wenn schon mehrere Extremitäten tetanisch geworden sind,“ schreibt Dr. Behring in der „Deutschen medizinischen Wochenschrift“, „und nach den sonstigen Erfahrungen der Tod der Mäuse in wenigen Stunden zu erwarten ist, falls keine Behandlung eintritt, selbst dann gelingt es noch mit großer Sicherheit, die Heilung herbeizuführen, und zwar so schnell, daß schon in wenigen Tagen nichts von der Erkrankung zu merken ist. – Die Möglichkeit der Heilung auch ganz akut verlaufender Krankheiten ist danach nicht mehr in Abrede zu stellen.“

Diese Erfolge reihen sich in würdiger Weise der Entdeckung Robert Kochs auf dem Gebiete der Behandlung der Tuberkulose an; sie sind von der weittragendsten Bedeutung, denn sie gehören gleichfalls zu den Fortschritten, welche eine neue Aera der Medizin eröffnen. Man ist jetzt mit Schlüssen vom Thierexperiment auf den Menschen vorsichtiger geworden, aber über kurz oder lang werden die Erfolge auch beim Menschen nicht ausbleiben. Ueber kurz oder lang wird eine der fürchterlichsten Krankheiten, eine großartig traurige Niederwerfung des Menschen durch ein winziges Bacillenstäubchen, heilbar sein - eine Krankheit, bei der 90% der Befallenen bis jetzt zu sterben pflegen! Der Wundstarrkrampf ist in seinen Erscheinungen ebenso düster und tieferschüttert wie die Hundswuth – aber er kommt viel häufiger als die letztere vor. Dies läßt uns den neuen Erfolg der unermüdlichen Forscherschar in dem hygieinischen Institut zu Berlin erst im rechten Licht erscheinen. Aber weit wichtiger ist es noch, daß dieselben Methoden es gleichfalls möglich machen, auch die Diphtherie zunächst bei Thieren zu bekämpfen, wie wir dies in unserem ersten Artikel in Nr. 2 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ auseinandergesetzt haben. Es ist uns, als ob Märchenträume in Erfüllung gingen, und wir möchten ausrufen: „O Zeitalter, in dem wir leben!“ C. F.     




Neunzig Jahre Frauenmode.

Von Cornelius Gurlitt.0 Mit Zeichnungen von O. Seyffert.


III.

Der Stahlreifrock, auf den bald der Name Krinoline fälschlich übertragen wurde, erschien seit 1856. Fast zwanzig Jahre hat er die Welt der Frauenmode beherrscht. Millionen wurden an seiner Herstellung verdient, bis in die unteren Stände griff er durch, den Geschmack aller Nationen umbildend. Lange vorher erhob sich in der Presse, in der Gesellschaft ein Wehgeschrei, ehe er kam. Man ahnte ihn voraus und machte drei beschwörende Kreuze. Selbst die Modenblätter verwahrten sich feierlich dagegen, daß eine vornehme Dame je den Reifrock tragen werde. Aber bereits 1858 sagt die „Allgemeine Modenzeitung“, die Gegner des neuen Kleidungsstückes seien schon still geworden, bekehrt, gewonnen, da sie einsähen, daß ein nicht fächerförmig sich entfaltender Rock „unangenehm absteche“. Im Jahr 1859, höhnt dasselbe Blatt bereits die Bestrebungen, welche in Deutschland gegen die Nachahmung der Pariser Mode, durch den österreichischen Krieg hervorgerufen, kurze Zeit wirkten. Dann, 1860, wird die Form des Reifrockes geändert, er erscheint nicht mehr als Glocke, sondern als umgestülpter Trichter – was womöglich noch häßlicher wirkt; 1862 treten die jupes cages auf, welche namentlich die Engländer Thomson u. Comp. meisterhaft anfertigten; ihre Eigenart lag darin, daß sie vorn wenig, hinten aber um so mehr abstanden.

„Cage“ heißt „Käfig“. Der Reifrock bestand nämlich nicht nur aus 37 wagrechten ovalen Reifen, sondern auch aus acht lothrechten. Er bildete also einen Stahlkäfig, welcher frei für sich stand und dem Hinsetzen einen ganz entschiedenen Widerstand entgegenstellte. Noch 1867 waren die jupes cages in vollem Gebrauch. Der Hauptbügel, welcher dem Reifrock die stark geschwungene Haltung für die Schleppe gab, war 1,02 Meter lang, [76] während der vordere Theil nur 0,83 Meter maß. Der Umfang betrug immer noch 2,7 Meter.

Es war sehr schwer, sich im Reifrock geschickt zu bewegen. Stets umlauerten die Trägerin Gefahren. Schon über eine schmutzige Straße zu gehen, war ein Kunststück. Denn es war unmöglich, das Kleid allein aufzuheben.

Daher erfand man 1858 das lève-jupe und das Pompadour-porte-jupe, Vorrichtungen, durch welche das Kleid wie eine Gardine an verschiedenen Stellen aufgezogen werden konnte. Eine verwickelte und daher auch oft versagende Einrichtung mit Schnüren, Rollen und Haken ermöglichte es, dem vorher glatt hängenden Kleid durch einen Zug an einem am Gürtel hängenden Band plötzlich die Gestalt eines achtfach gerafften Vorhanges zu geben. Aber gegen die Schwierigkeiten im Wagen, in enger Thür, im Gedränge, bei Windstößen, beim Ersteigen einer Treppe, auf engem Sitz im Theater oder Konzerte halfen alle Vorkehrungen nichts.

Hohl und unwahr, aufgebauscht und unsittlich war diese Tracht – ein echtes Bild des zweiten Kaiserreiches. Der Kaiserin Eugenie, der gefeierten Führerin dieser Mode, wird man sie stets als ihr Spiegelbild vorhalten. Sie gehörte zu ihr, ihrem ganzen inneren Wesen nach.

Aber die Gerechtigkeit fordert, zu berichten, daß die Kaiserin guten Geschmack genug besaß, wiederholt gegen den Reifrock aufzutreten. Schon 1858 wurde der Welt durch die Pariser Modeberichte verkündet, daß sie ihn abgelegt habe; 1859 ertönte wieder der Ruf, daß seine letzte Stunde geschlagen habe; er sei zu „gemein“ geworden, die Kaiserin habe zu einem Feste am Napoleonstage die Stahlreifen durch das Stärken, die Steifheit der Röcke durch deren Zahl ersetzt.

Aber alsbald begann die Industrie eine Gegenbewegung: die Stofffabrikanten, denen die bauschige Tracht so genehm war, die Stahlerzeuger, die Millionen von Metern Reifen zu liefern übernommen hatten, die Schneider, die Posamentiere, die Blumenmacher – alle erhoben ein lautes Geschrei, man solle die treffliche Mode nicht stören. Der Rückzug der Kaiserin wurde durch jene Erfindung der trichterförmigen Krinoline gedeckt. Trotzdem trug die Kaiserin noch 1859 in Compiègne, wo sie wirklich Herrin der Mode war, wieder fußfreie, engere Kleider, leichte Wollenstoffe statt der theuren Seide. Auf diese Weise empfahl sie ihren Gästen, den erschreckend anwachsenden Luxus mit bekämpfen zu helfen. Die Rennen von Longchamp 1860 brachten abermals die Kunde, die Krinoline sei aus der eleganten Welt verbannt. Aber alle diese Anläufe erwiesen sich als vergebliche. Selbst der Fürstin der Mode war der Gegner zu stark, sie beugte sich vor seiner Gewalt. Sie mußte sich immer wieder selbst zum Reifrock bequemen.

Die Fabrikanten siegten, denn sie allein waren es, welche die Mode hielten und der Welt auch ferner aufzwangen. Balzac sagte 1855, Frankreich habe 500000 Frauen, die sich modern tragen, die tonangebende Gesellschaft bestehe aber aus höchstens 2000 Menschen und unter diesen aus 200 Frauen, deren Geschmack die Welt beherrsche. Er vergaß in seiner Rechnung einen Posten: jene noch geringere Zahl Großhändler, welchen der Geschmack jener 200 Frauen ebenso unterthan war wie der der Kaiserin.

„Konjunktur“ heißt die oberste Herrin der Mode. Sie ist heute und war noch viel mehr damals eine Sache der Handelsberechnung. Und weil Paris während des zweiten Kaiserreiches so unbedingt herrschte, darum war diese Berechnung so sicher und bequem. Den anstrengenden, aber das Gute fördernden Wettbetrieb der Kräfte hatte eine großartige Gemeinsamkeit des Strebens ersetzt. Jeder fand seine Rechnung unter dem herrischen Walten der Mode. Zwar war der Industrie jede Selbständigkeit im künstlerischen Schaffen, jede Eigenart unterbunden, sobald sie nicht im Ringe mit den großen Machern sich befand – aber die Brocken, welche Paris abwarf, waren so groß, daß es auch noch in den fernsten Ländern davon etwas zu knappern gab.

„Modes de Paris“ stand und steht noch heute auf tausend deutschen Ladenschildern. Das war der Triumph des einheitlich geregelten [77] Modebetriebes der fünfziger und sechziger Jahre. Damals wußte man genau, „was getragen wird“. Man brauchte wenig eigenen Geschmack und eigenes Denken, wenn man nur gut von Paris bedient wurde. Und Paris sorgte dafür, daß dies geschah. Die neue Mode, die der Kaiserin und jenen 200 Frauen aufgedrängt wurde, war diejenige der Welt. Wenn sie in Paris den bevorzugten Löwinnen des Tages zum „Creiren“ übergeben war, standen schon Tausende von Ballen postfertig da, damit die neuen Stoffe nach wenig Wochen in Berlin und Wien, in Petersburg und Madrid, in New-York und Montevideo in den Schaufenstern prangen konnten.

Die Krinoline brachte mit sich eine zweite traurige Modeausschweifung: das Chignon, jenen unmäßig großen Nackenzopf, welcher gleichfalls bis in die siebziger Jahre hinein getragen wurde. Wie hat man gegen die unsinnige, unappetitliche und häßliche Anhäufung dicker Wülste fremden Haares geeifert! Und wie wenig hat es geholfen! Bis in die untersten Stände hinein schien die Zuhilfenahme fremden Haares allen Frauen unerläßlich.

Die Industrie erfand Ersatzmittel, der Haarhandel stieg zu außerordentlichem Umfange, in den entferntesten Waldthälern waren die Zöpfe der Bauernmädchen vor der Schere des feilschenden Händlers nicht mehr sicher.

Das Jahr der Vergeltung, das furchtbare Jahr 1870, kam. Das Kaiserreich prasselte zusammen. Aber selbst über den Krieg hinaus wirkte die Macht seiner Organisation der Pariser Moden.

Die Welt war rathlos, wie sie sich zu kleiden habe, als das deutsche Heer die tonangebende Stadt mit eisernen Armen umklammerte, als die endlich befreite geschwächt, zerschlagen aus dem Ringen hervorging.

Noch lange blieb die Mode der alten Richtung treu. Noch 1875 herrschte die Krinoline, das gespreizte Wesen. Aber während früher die Kleider aufgebauscht, in der stolzen Linie eines Domes gewölbt waren, hatten sie jetzt etwas Schlaffes, Hängendes, Lotteriges. Eine der unglücklichsten Eigenthümlichkeiten dieser letzten Zeit war, daß die Taillen immer kürzer wurden. Man war 1874 schon fast wieder beim Schnüren dicht unter der Brust angekommen. Die Rückenlänge war oft nicht über 30 cm. Damit war es ermöglicht, die nun trichterförmige Krinoline recht weit auszudehnen, den Kleiderberg noch größer zu machen. Aber es war der letzte Versuch, dem nun veraltenden Formgedanken Interesse abzugewinnen.

Seit dem Herbst 1875 – ganz plötzlich – fiel der weite Rock in Ungnade, der ein halbes Jahrhundert sich in der Gunst der Frauenwelt erhalten hatte. Der Umschlag war ein allgemein gebilligter und daher auch ein überraschend plötzlicher und radikaler. Schon 1876 waren die Kleider zu einer Engheit zusammengeschrumpft, die sogar jene von 1801 übertraf. Mit den Millionen unnütz gewordener Reifröcke spielten die Kinder; es kamen kleine, von ausgehöhlten Hollunderästen gebildete Pistölchen auf, deren treibende Kraft ein Stück Stahlfeder aus Mutters Krinoline abgab.

Aber viele ältere Frauen trennten sich nur schwer von dem liebgewordenen Kleidungsstück, das sie als ein reinliches und in mancher Beziehung sparsames priesen. Denn die Stoffe zum Rock wurden nicht zerschnitten, konnten also öfter verwendet werden, wenn sie ihren ersten Zweck erfüllt hatten.

Zwei Kleidungsstücke waren charakteristisch für die 1875 bis 1880 getragene Mode: die Panzertaille und die Prinzeßrobe. Beider Haupteigenschaft war die Knappheit. Die erstere war ein ganz festes, oft hinten geschnürtes, mit Fischbein verstärktes Leibchen, welches bis auf die Hüften herabging. Es war dieses Kleidungsstück also abermals ein Widerspiel zu den bisher getragenen kurzen Taillen. Es schien darauf abgesehen, gerade das Gegentheil von dem zu machen, was als die kaiserliche Mode galt.

Wieder wie vor 60 Jahren wurde das Bestreben allgemein, die Gestalten so schlank als möglich zu bilden. Aber während das erste Mal zu diesem Zweck der Oberkörper verkürzt wurde, so daß der untere Theil der Brust und die Seiten verleugnet wurden, der Unterkörper also möglichst lang aussah, wählte man jetzt den umgekehrten Weg. Der Oberkörper wurde möglichst gestreckt, die Taille so tief als möglich gerückt, die Hüften in das gleiche Gewand mit der Brust gepreßt. Der Rock kam erst unterhalb der Hüften zum Vorschein und hatte enge, reich, aber schneidermäßig gelegte, nicht frei bewegliche Falten, so daß das Schreiten fast zur Unmöglichkeit wurde. Während das Leibchen kräftig lothrecht getheilt wurde, um lang auszusehen, umgab die Beine wagrecht [78] angebrachter Schmuck, damit sie kurz erscheinen möchten. Die Kleider machten den Eindruck, als seien sie vom Leibe herabgerutscht, zumal eine lange schmale Schleppe beliebt wurde, um der ganzen Gestalt mehr Länge zu geben.

Alles, was gegen die Unsittlichkeit der Kleider von 1801 vorgebracht worden war, wurde auch der Prinzeßrobe nachgesagt! Sie verhüllte die Körperformen nicht, sondern enthüllte sie. Damals wurden Vischers berühmte Angriffe gegen die Mode geschleudert, denen man mit der ungetrübtesten aller Freuden, der Schadenfreude, zustimmte, die aber auf den Gang der Dinge keinerlei Einfluß hatten. Andererseits begannen einflußreiche Stimmen der Prinzeßrobe Hymnen zu singen, begannen die Berliner Modeblätter Einfluß zunächst in Deutschland, später für das Gebiet der „Konfektion“ auf ganz Europa zu gewinnen.

So wandelten denn die Frauen in trippelndem Schritt durch die Straßen, eine Schleppe hinter sich herziehend, die in ärgerlichen Schlängellinien den Staub aufwirbelte und den Koth fegte. Wohl erfand man Schleppenträger, Bänder, die über die Hand gezogen wurden, wohl lernte man mit einem zierlichen Fußstoß nach hinten die Schleppe der tragenden Hand entgegenzuwerfen, aber man konnte nicht verhindern, daß der Staub die weißen Strümpfe beschmutzte, der Koth sich in die Röcke setzte.

Damals kamen zum ersten Male in diesem Jahrhunderte dunkle Strümpfe auf, die kurz vorher als das eigentlichste Merkmal der Uneleganz gegolten hatten; es war in erster Linie die Furcht vor dem schlechten Aussehen bestaubter weißer Strümpfe, durch welche diese plötzlich in Acht und Bann bis auf den heutigen Tag geriethen.

Aber die Krinoline versuchte doch noch einmal, sich Geltung zu verschaffen. Schon 1879 erschienen gesteifte Unterröcke und bald darauf kleine Tournüren aus Roßhaar. Außerdem begann man die Kleider zurückzubinden, so daß eine Art Grat vom Rücken aus zu Boden fiel, der dem Körper an einer unaussprechlichen Stelle mehr Fülle gab.

So kam es denn, daß im letzten Jahrzehnt sich alle Modeschwankungen im wesentlichen um diesen Punkt drehten, um die Rückseite des weiblichen Daseins.

Es wird uns Männern schwer, galant gegen die Frauen zu sein, wenn diese selbst es so wenig sind. Wir sind ja mit ihrer schönen Gestalt völlig zufrieden, nicht so sie selbst; das beweisen sie durch das ununterbrochene Bestreben, an sich herum zu ändern. Die allgemeine Stimme ihrer Selbstkritik scheint in allen Zeiten, besonders aber in unserer, dahin zu gehen, daß der liebe Gott sie nicht mit hinreichenden Werkzeugen zum Sitzen bedacht habe. Denn dort wissen sie stets zu basteln und zu bessern, dort entfaltet sich besonders seit zehn Jahren die ganze Wirksamkeit ihres umbildenden Geschmacks.

Als etwa 1882 die vielgeschmähte Schleppe verschwand, machte es den Eindruck, als sei sie nicht abgeschnitten, sondern nur in bauschigen Falten nach oben gezogen worden, wo sie ein von der Taille ausgehender loser Gürtel oder eine Schärpe festhielt. Denn immer stattlicher wurde der Puff, welcher sich über der Tournüre bildete. 1884 war der jupon crinoline wieder da, eine Art Viertelkrinoline, die am oberen Ende der Rückseite angebracht wurde. Die Gestalten näherten sich den Rokokofiguren, nur mit dem Sonderumstande, daß der Schneiderei, dem Zerschneiden, Fälteln, Aufnähen der Stoffe zu Volants, Rüschen, Querbahnen und dem modisch werdenden Plissé weit mehr Raum gelassen und der schönere freie Fall der Stoffe dadurch verhindert wurde. So kam man dahin, die Hüften breit zu bilden, eine puffartige Stofffalte, die sich nach hinten in der Tournüre vereinigte, auch ihnen aufzulegen. Im Jahre 1883 hatten sie schon einen Umfang von etwa 23/4 Metern, der untere, nun kurz getragene Rock stand dem, wenig nach. Man war schon beim halben Reifrock angelangt: während die Vorderlinie des Umrisses einer von der Seite gesehenen Frau in Wellenlinien senkrecht abfiel, entsprach die Hinterlinie an stark abstehender Bauschung schon den Zeiten von 1866. Namentlich an den Ueberkleidern, den Paletots, Mänteln etc., war diese Form deutlich erkennbar, da sich bei ihnen der Bausch der Tournüre nicht in leichten Falten, sondern in fest geschneiderten Formen geltend machte.

Da verkündete im Jahre 1888 die launische Göttin dem sich eindrängenden Reste des Reifrockes das Todesurtheil. Und so sind wir denn heute wieder einmal alle Aufpolsterungen los.

Sicher nicht für alle Zeiten! Wer aber weiß, welcher Theil des weiblichen Körpers jetzt der bevorzugte werden, welchem die Mode ihre verschönernde und dadurch entstellende Fürliehe zuwenden wird? Es scheint, als gingen wir in der Aufbauschung der Oberarme wieder den „Gigots“, den „Hammelkeulen“, entgegen. Was aber auch die Mode beschließt, – nie wird in die Kleidung Dauer kommen, so lange noch eine schöne Frau vor dem Spiegel sich heute eine Locke so, morgen eine Schleife anders legt. Immer wird ein unerklärlicher, nirgends im ganzen greifbar auftretender allgemeiner Zug des Geschmackes bald zu jener Steigerung ihres Ichs führen, bald zu dieser. Stets werden wir alle mehr oder minder stark von dem Zuge ergriffen werden, der Allgemeinheit folgend unseren Geschmack bis zu einem gewissen Grade umbilden. Bis zu einem gewissen Grade! Denn die sklavische Unterordnung unter alle auch noch so ausschweifenden Launen der Mode wird hoffentlich mit der Zeit einer höheren, vernünftigen Auffassung weichen, ein Ziel, dem gerade eine solche geschichtliche Betrachtung wie diejenige, an deren Schlusse wir stehen, näher führen dürfte. Das Ideal aller Bekleidungskunst muß sein, daß unsere Frauen und Mädchen lernen, sich der gleichmachenden Tyrannei der jeweils herrschenden Mode gegenüber unabhängig zu stellen und dagegen mit freiem und gutem Geschmack dasjenige für ihre Kleidung zu wählen, was zu ihrem äußeren und inneren Wesen, zu ihrer Individualität am besten paßt. [79]

Die Reinlichkeit in den Schulen und die Gesundheit der Schüler.

Im Auftrage des preußischen Kultusministers v. Goßler hat Professor Schmidt-Rimpler in einigen Gymnasien wiederholte Augenuntersuchungen an Schülern vorgenommen. Dieselben bezogen sich in erster Linie auf die Kurzsichtigkeit; außerdem aber wandte Schmidt-Rimpler seine Aufmerksamkeit auch den Lidschleimhauterkrankungen der Schüler zu. Das Ergebniß ist ein überraschendes: unter 1662 Schülern waren 566, das heißt 34 Prozent, mit solchen Erkrankungen behaftet. Zumeist bestanden dieselben in vermehrter Blutfülle oder Entzündung der Schleimhaut, welche bei der Mehrzahl der Schüler keinerlei hervortretende Schmerzen oder Beschwerden verursachten. Kurzsichtige und Normalsichtige wurden von dem Leiden in gleichem Verhältniß befallen; auch machte sich zwischen den einzelnen Klassen kein besonderer Unterschied bemerkbar. Die Ursachen sind nach der Ansicht Schmidt-Rimplers verschiedene. Es handelt sich dabei um Schädlichkeiten, welche während der ganzen Schulzeit die so empfindliche Schleimhaut jugendlicher Individuen treffen. Schon die unreine Atmosphäre, welche über größeren Städten lagert, trägt ihr Theil zu diesen entzündlichen Erkrankungen bei; ferner werden sie durch übermäßige Augenarbeit bewirkt und zuletzt kommt der Staub in den Schulzimmern in Betracht.

Professor Schmidt-Rimpler äußert sich in seiner jüngsten Schrift, „Die Schulkurzsichtigkeit und ihre Bekämpfung“, auch über die Reinlichkeit in den von ihm untersuchten Schulen. „Ich selbst,“ schreibt er, „habe noch geradezu skandalöse Zustände kennen gelernt: der Schmutz lag in geballten Massen auf Treppen und Fußböden, in dicker Schicht der Staub auf Tischen und Bänken; die Schüler hatten wirklich recht, wenn sie unter diesen Umständen ihre Schulen als ‚Ställe‘ bezeichneten. In einem Gymnasium wurde nur einmal im Jahre in den Sommerferien naß aufgescheuert und gründlich gereinigt, sonst begnügte man sich mit trockenem Ausfegen zweimal wöchentlich; in den Ferien wurde mit feuchten Sägespähnen gefegt! Allerdings wird eine größere Reinhaltung der Schulen auch größere Ausgaben erfordern; doch muß im Interesse der Gesundheit von Schülern und Lehrern dies Opfer gebracht werden. Ich betone hier besonders die Schädigung der Augen; die, wie gezeigt, in so zahlreichen Fällen vorhandene Blutfülle, Entzündung und Bläschenbildung in der Schleimhaut muß den günstigsten Boden für den Ausbruch einer epidemischen Augenkrankheit in der staubgeschwängerten Schulatmosphäre geben!“

In dem reinlichsten Gymnasium wurde nach Schmidt-Rimpler, wenn es draußen besonders schmutzig war, täglich gekehrt, sonst in der Regel nur Mittwochs und Sonnabends, aber alsdann, nachdem nasse Sägespähne (für diesen Zweck sehr empfehlenswert!)!) im Zimmer verstreut worden waren. Vierteljährlich fand eine gründliche Reinigung mit Wasser statt.

Wenn man aber bedenkt, wie massenhaft der Schmutz ist, den die Schüler ins Haus bringen, so erscheint es fraglich, ob auch diese Maßregeln als genügend erachtet werden dürfen. Neuerdings hat der preußische Kultusminister die Aufmerksamkeit der Schulbehörden auf diese Angelegenheit gelenkt.

Aber nicht nur die Augen der Schüler werden durch die staubgefüllte Atmosphäre gefährdet. Sie leistet auch der Verbreitung allgemeiner Ansteckungskrankheiten Vorschub. Denken wir z. B. an die Tuberkulose, die durch den eingetretenen Auswurf Schwindsüchtiger verbreitet, oder an die Diphtherie, die auf ähnlichen Wegen verschleppt wird! Wie werthvoll auch das Kochsche Heilmittel ist, so haben die bisherigen Erfahrungen doch gelehrt, daß gerade die Lungenschwindsucht durch dasselbe nicht im Handumdrehen geheilt wird. Wir müssen darum immer noch mit allen Mitteln danach streben, die Verbreitung der Seuche zu bekämpfen.

Die Gefahr, die in dem eingetrockneten Auswurf der Schwindsüchtigen ruht, ist bekannt. Hier muß die Schule gleichfalls eingreifen; denn es ist nicht möglich, alle tuberkulösen Kinder von dem Schulbesuch auszuschließen.

Der Lehrer muß streng darauf achten, daß keiner der Schüler auf den Boden des Schulzimmers auswerfe, sondern daß dazu ausschließlich in dem Schulzimmer aufzustellende Spucknäpfe benutzt werden. Dabei ist es nicht gleich, wie die Spucknäpfe beschaffen sind. Es ist im Auge zu behalten, daß der Auswurf erst dann gefahrdrohende Eigenschaften annimmt, wenn er eintrocknet, zu Staub getreten oder zerrieben wird und dann die Tuberkelbacillen mit den Staubtheilchen in die Luft aufsteigen. Sie können jetzt eingeathmet werden und die Ansteckung bewirken.

Darum dürfen die Spucknäpfe nicht aus Holz, sondern müssen aus glasiertem Thon, Porzellan, Glas oder lackirtem Blech bestehen. Als Auffangmaterial dürfen nicht abstaubende Mittel wie Sägespähne oder Sand eingefüllt werden. Man muß den Auswurf feucht erhalten, bis er vernichtet wird, und den Spucknapf entweder ganz leer lassen oder ein wenig Wasser eingießen, so daß dasselbe in ihm eine dünne Schicht bildet.

Täglich sind die Spucknäpfe zu reinigen und ist ihr Inhalt zu vernichten. Die Lebenseigenschaften der Tuberkelbacillen sind glücklicherweise genau erforscht. Wir wissen, daß dieselben in faulenden Flüssigkeiten mit der Zeit zu Grunde gehen und überhaupt erst bei 29° C. wachsen. Es ist darum nicht nothwendig, den Auswurf mit desinficirenden Mitteln zu versetzen, wodurch ziemlich umständliche Arbeiten und vielleicht unerschwingliche Kosten verursacht würden, um so mehr, als die Vernichtung der Bacillen mit chemischen Mitteln im Auswurf nicht so leicht zu bewerkstelligen ist. Man muß nur dafür sorgen, daß die Schulen dichte Abtrittsgruben besitzen, und den Auswurf in dieselben entleeren. Von hier können die Bacillen nicht auffliegen und werden durch die Fäulniß abgetödtet.

„Durch eine strenge Gewöhnung aller Kinder,“ schreibt Medizinalrath Rembold, „in dieser Weise ihren Auswurf nie auf den Boden des Schullokals, sondern stets in die daselbst aufgestellten Spucknäpfe zu entleeren, würde die Schule zu einer größeren Ausbreitung dieser Gewohnheit im Volke und damit zu einer rationellen Bekämpfung der Tuberkulose überhaupt in mächtiger Weise beitragen. Auch für die Bekämpfung anderer Krankheiten, die durch eingetrockneten Auswurf verbreitet werden können (Diphtherie, Keuchhusten etc.), würde dies vom größten Werthe sein.“

Noch wichtiger ist die Sorge für die Reinhaltung des Fußbodens in den Turnhallen, wo der Staub durch die Erschütterung noch mehr auffliegt. Hier ist der Boden vor jeder Unterrichtsstunde zu befeuchten.

Hoffen wir, daß bei der bevorstehenden Schulreform auch diese Fragen Berücksichtigung finden werden. Ihre Tragweite liegt auf der Hand. *     




Truggeister.

Roman von Anton von Perfall.
(4. Fortsetzung.)

Das Rollen eines Wagens weckte den alten Baron aus seinen Gedanken; in der Pappelallee, die sich gegen das alterthümliche Portal von Schönau hinzog, fuhr eine elegante Equipage, zwei herrliche Rappen waren vorgespannt und das silberbeschlagene Geschirr blitzte zwischen den alten Stämmen auf. So fuhren die Brennbergs nach Hause, ehe dieser Verschwender, der Großvater, an das Regiment kam. Christian dachte es und blickte unwillkürlich an sich herab.

Der Wagen fuhr nach Schönau, zu ihm, ohne Zweifel! Wer es nur sein konnte? Von der städtischen Aristokratie besuchte ihn niemand, wer kümmerte sich dort um den armen komischen Kauz, den Brennberg! Er glaubte zwei Herren erkannt zu haben – wenn der Stefanelly dabei wäre? Dieser war zwar bis jetzt nur mit Lohnfuhrwerk gekommen, aber er konnte ja seitdem ein Millionär geworden sein, denn er war klug und nutzte seine Zeit. In der Equipage ein Stefanelly! Vor zehn Jahren arbeitete er noch als einfacher Polier in Schönau, und die Brennbergs waren schon vor dreihundert Jahren – das Blut stieg dem alten Herrn in den Kopf, und der alte Schimmel bekam zum ersten Male seit vielen Jahren die Sporen. Er machte einen drolligen Sprung, wandte den Kopf erstaunt nach seinem Herrn um und rannte dann wie von Entsetzen gepackt dem Schlosse zu.

So kam Christian gar ritterlich angesprengt; die Knechte im Hofe rissen erstaunt die Mäuler auf, denn so etwas war noch nie vorgekommen. Vor dem Portale stand Theodor mit Stefanelly in eifrigem Gespräche.

Der ungewohnte kühne Ritt hatte das Antlitz Christians geröthet, und als ob durch denselben alle Ideen des Ritterthums wieder in ihm wachgerufen worden wären, hob er sich aus dem Sattel und erwiderte im Tone eines großen Herrn den unterthänigen Gruß Stefanellys, der zu der vornehmen Equipage auf dem Kiesplatz gar nicht paßte.

Theodor war sichtlich verlegen, gedrückt.

„Herr Stefanelly hat mit Dir in wichtiger Angelegenheit zu verhandeln,“ begann er; „wir sind zusammen aus der Stadt herausgefahren. Ein brillantes Gespann, was?“ Er deutete auf die zwei Rappen.

„Sehr hübsch,“ erwiderte Christian gemessen, ohne sein Gefallen daran zu verrathen. „Wie kommen Sie dazu, Herr Stefanelly? Ich dachte wirklich in der Ferne, Fürst Löwenstein komme angefahren.“

Ein leichtes, aber nicht verletzendes Lächeln zog über das glatte Antlitz des Bauunternehmers.

„Etwas Glück, Herr Baron!“

Christian nickte mit dem Kopfe in der hohen Kravatte bei dieser Benennung.

„Heller Kopf, unverdrossene Arbeit – und man braucht heutzutage nicht Fürst Löwenstein zu sein, um sich diese kleine Freude gestatten zu können,“ fuhr Stefanelly fort. „Für Herrn Baron würde sich diese Equipage allerdings weit besser schicken als für mich, einen Arbeiter, und wenn der Herr Baron wollen, kann sie heute noch bestellt werden.“

[80] Christian erschrak, denn er wußte nun genau, weshalb Stefanelly gekommen war, und fühlte, daß er selbst in diesem Augenblicke nur schwachen Widerstand zu leisten vermöchte.

„Treten Sie ein, Herr Stefanelly!“ forderte er ihn auf mit zitternder Stimme.

Ein bittender Blick traf ihn aus den in höchster Erregung flimmernden Augen Theodors – er verstand ihn wohl.

Das Gemach, in welches Stefanelly und Brennberg eintraten, war bürgerlich einfach, verblichenes Rokoko; zerbrochene Porzellanfigürchen standen auf Etageren, aus einem verschnörkelten Glasschranke blickten alle Kostbarkeiten der seligen Herrin: bunte Tassen, niedliche Figürchen, Silberzeug, Schmucksachen. Ein altes Spinett, dessen weißer Lack überall gesprungen war, stand in einer Ecke. An den Wänden mit den zerbröckelten Goldleisten hingen die Bilder der Brennberge mit Zopf und Allongeperücke. Auch der unglückselige Großvater war darunter, seine langen schmalen Finger, durch welche all das schöne Brennbergsche Geld gelaufen war, ruhten feierlich gespreizt auf der weißen Brustkrause, als wollte er seine Unschuld betheuern. Er sah Christian auffallend ähnlich: dieselbe lange gebogene Nase, der stolz nach unten gezogene, von zarten Falten umgebene Mund.

Der Bauunternehmer setzte seinen goldenen Klemmer auf und ließ seine scharfen Blicke überall umherschweifen.

„Ihre Ahnen wohl, Herr Baron? Charmant!“

Dann ließ er das Glas plötzlich fallen.

„Ich komme, gerade herausgesagt, Herr Baron, um Ihnen ein Angebot für Schönau zu machen, welches Sie nicht ausschlagen dürfen. Ich könnte Ihnen, ich gestehe es, aus eigenen Mitteln das Angebot gar nicht stellen, wenn nicht Kapitalisten hinter mir ständen, die meine Pläne unterstützen. Wir bieten Ihnen –“ er machte eine kleine Pause – „fünfmalhunderttausend Mark, das heißt eine halbe Million!“

Christian machte sich absichtlich auf die Nennung einer hohen Summe gefaßt, um nicht überrascht zu werden, aber diese übertraf doch weit alle seine Erwartungen. Er preßte die Faust unter dem braunen Rock auf das Herz – umsonst! Eine halbe Million! Da zuckte er jäh zusammen, es flimmerte vor seinen Augen, durch die langen Finger des Großvaters an der Wand rieselte ein Goldstrom auf ihn herab – und der kalte stechende Blick des Unternehmers ruhte regungslos auf ihm; es war ein fürchterlicher Augenblick. –

„Nein, ich verkaufe nicht, um keinen Preis“ sagte er endlich mit fast übermenschlicher Anstrengung sich beherrschend. Ein furchtbarer Kampf wüthete in der Brust des Gutsherrn, der Schweiß stand auf seiner Stirn.

„Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr Herr Sohn, der letzte Brennberg, dann ruinirt ist und wegen Spielschulden den Dienst quittiren muß?“ sagte jetzt scharf, mit blitzenden Augen Stefanelly.

„Wegen Spielschulden, sagen Sie?“

Die Stimme Christians klang wie von Thränen erstickt, seine Hände krampften sich um die Lehne des Stuhles.

„Hohe Spielschulden, dreißigtausend Mark!“ klang die kurze Antwort.

„Dreißigtausend Mark! Ja dann – dann – muß ich wohl –“

Christian nestelte an seiner Kravatte, wie um Athem zu bekommen.

„Dann bin ich ja gezwungen, nicht wahr? Ich kann doch nicht meinen Sohn – ja, Sie haben ganz recht, Herr Stefanelly, und es ist ja ein hoher Preis, eine halbe Million!“

Sein Antlitz glühte, sein Auge brannte fieberhaft, er sprach die Worte heftig, dann rief er, wie von plötzlicher toller Freude gepackt: „Ich – ich schlage ein, ich verkaufe um eine halbe Million, Schönau gehört Ihnen.“ Dann sank er wie leblos in den Sessel zurück.

Stefanelly entsetzte sich, der Schlag hatte den Alten wohl getroffen, die Aufregung hatte ihn getödtet; er rief laut um Hilfe.

Theodor trat hastig ein. Er erkannte sofort die Lage. „Rasch, fahren Sie in die Stadt um einen Arzt, das Entsetzen über meinen unverantwortlichen Leichtsinn hat ihn am Ende getödtet! Wie konnten Sie aber auch so rücksichtslos alles sagen?“

„Sie irren vollständig,“ entgegnete sarkastisch Stefanelly, „nicht die Entdeckung Ihres Leichtsinns, sondern das Angebot von einer halben Million hat ihn getödtet, wenn es wirklich so schlimm ist. Ich hole einen Arzt.“ Und er entfernte sich.

Vor dem bleichen Vater, dessen Lippen leise zitterten, knieete Theodor. Bittere Selbstvorwürfe regten sich in seiner Brust über seinen Leichtsinn, der an allem schuld war! Er kannte ja seinen Vater, was kümmerte der sich um Geld! Und wenn es eine ganze Million wäre, er würde Schönau nicht lassen, außer in der äußersten Noth, um seinen ehrlichen Namen zu retten. Innige Verehrung für den Vater, verbunden mit aufrichtiger Verachtung seiner selbst und seines unordentlichen Lebens, stieg in ihm auf, die besten Vorsätze wurden gefaßt. Da schlug Christian die Augen auf, blickte wirr, ängstlich im Zimmer umher, dann starr auf seinen Sohn.

„Theodor! Du? Ich hörte doch eben eine andere Stimme?“

„Stefanelly war bei Dir und erschreckte Dich so. Es ist ja nicht wahr, was er Dir sagte!“ beruhigte Theodor.

Der Alte trommelte mit den Fingern auf der gefurchten Stirn.

„Was sagte er mir nur gleich? Ja, ja, eine halbe Million, sagte er, und das ist nicht wahr, Theodor, die halbe Million ist nicht wahr?“

Sein Gesicht drückte ängstliche Erwartung aus.

„Die halbe Million ist schon wahr,“ entgegnete der Sohn, „aber das, was Dich so entsetzte, die Geschichte mit den dreißigtausend Mark Spielschulden – Gott! wahr ist es auch, aber es drängt nicht so, wie er Dir vorstellte, vorderhand nicht, beruhige Dich darüber! Ich sehe ja meinen Leichtsinn ein und es soll nicht mehr geschehen, ich weiß selbst nicht, wie ich zu der unglückseligen Leidenschaft komme –“

Christians Gesicht hellte sich auf, er lachte.

„Also die halbe Million ist wirklich wahr? Nun, dann beruhige Dich, Theodor, dann kann ich ja einstehen für Dich. Du bist ja dann reich und wirst nicht mehr spielen, nicht wahr? Man spielt doch nur so hoch, um zu gewinnen, und wenn man reich ist, nützt es nichts mehr, man hat ja dann, was man am Spieltisch suchte! Ist es nicht so, Theodor, nicht so? Sprich! Oder ist es eine Leidenschaft, die auch den Reichen nicht verläßt, eine Krankheit? Ich habe nie gespielt, ich weiß es ja nicht. Freilich Dein Urgroßvater da oben - der war auch reich – also das wäre keine Rettung davor, auch die halbe Million nicht! Es muß doch eine eigenthümliche Leidenschaft aein, das Spiel!“

„Der ich für immer entsagen will, Papa,“ schwur Theodor, den die wirren sonderbaren Reden Christians beängstigten. „Man ist jung, lebenslustig, ständig in Geldverlegenheit, da hat es etwas arg Verführerisches, zu denken: in einer Stunde kannst Du die ganze Last vom Herzen haben! Aber das wird ja jetzt alles anders, wenn Du in den Verkauf willigst – und Du willigst doch ein? Schönau ist ja doch nicht mehr zu halten.“

„Gewiß, Theodor, ich bin fest entschlossen, Du sollst die Last vom Herzen haben und nicht mehr spielen – nur nicht mehr spielen, Theodor, das schwöre mir! Wenn er nur wiederkommt, der Stefanelly! Daß ich auch ohnmächtig werden mußte! Das ist mir noch nie begegnet – ein böses Zeichen! Du wirst bald allein sein, Theodor, der letzte Brennberg. Dann bist Du reich, kannst eine glänzende Karriere machen, unserem Namen wieder zum alten Glanze verhelfen, dafür opfere ich ja mein geliebtes Schönau. Eine vornehme Heirath wird Dir – da fällt mir ein – Du sollst ja ein Verhältniß zu dieser Bertha Margold haben, der Alte war eben bei mir. Ein leichtsinniger Streich, weiter nichts, ich weiß es ja; aber das ist nicht recht von Dir, ich habe ihn gerne, den treuen Margold – versprich mir, die Sache nicht weiter zu treiben – mit einer halben Million, ein junger Brennberg!“

Theodor wurde feuerroth; er schämte sich dieses Verhältnisses, das ihm plötzlich furchtbar lächerlich vorkam.

„Ich denke ja nicht daran, Papa, es ist reine Einbildung von dem Alten; weiß Gott, was ihm das Mädel vorgeschwatzt hat! Ein paar scherzhafte Worte, die ich neulich zu ihr sprach, weiter nichts! Ich weiß, was ich Dir und meinem Namen jetzt schuldig bin, Du wirst mit mir von nun an zufrieden sein!“

Gleich darauf betrat Stefanelly mit dem Arzte das Zimmer. Seine glatte Stirn zog sich in Falten, als er den Gutsherrn ohne alle Hilfe aufstehen und auf sich zukommen sah; er hatte sich eine andere Erwartung gemacht.

[81]

Aurelian überbringt die Brautwerbung des Frankenkönigs Klodwig.
Nach einer Zeichnung von A. Zick.

[82] „Beruhigen Sie sich, mein Herr, es war nur ein kleiner Anfall ohne jede weitere Bedeutung. Ich bedaure sehr, daß Sie sich herbemüht haben, Herr Doktor! Ich werde alt und bin großen Aufregungen nicht gewachsen."

Der Arzt war bereits von seinem Begleiter über die Art dieser Aufregung aufgeklärt und entfernte sich mit einem sonderbaren Lächeln, nachdem er pflichtgemäß die üblichen Fragen gestellt hatte. Der Gutsherr sah jetzt wieder so lebensfrisch aus, sein Auge leuchtete von jugendlichem Feuer, ein Arzt war hier nicht mehr nöthig und konnte nur stören.

„Wir sind entschlossen, Ihr Anerbieten anzunehmen,“ sagte jetzt Christian, als der Doktor das Zimmer verlassen hatte, zu Stefanelly, der hei dem „Wir“ mit einem spöttischen Blick auf Theodor lächelte; „wollen Sie gleich einen Rundgang durch die Besitzung machen, durch den Park, die Stallungen? Ich fühle mich wieder bei vollen Kräften.“

Stefanelly lehnte dankend ab.

„Ich kenne Schönau zur Genüge, und die Einzelheiten sind für mich weiter nicht von Belang. Ich rechne, offen gesagt, nur nach Quadratmetern Bauplatz, weiter nichts, was darauf steht, ist für mich werthlos. Die Einrichtung beanspruche ich gar nicht. Sie sehen, Sie haben es mit einem coulanten Mann zu thun.“

Sein früher so ehrerbietiges Wesen hatte sich in ein völlig geschäftsmäßiges verwandelt.

Christian verursachte die trockene Erklärung über das künftige Schicksal Schönaus einen heftigen Schmerz, obwohl er kein anderes dafür hatte erwarten können. Der alte, ehrwürdige Park, das Schloß, die gut gepflegten Felder, die Musterstallungen – die heiligste Stätte seines Lebens – alles werthloses Zeug, zum Abbruch reif, eine Fläche von so und so viel Quadratmetern Bauplatz! Die Thränen traten ihm in die Augen, es war ihm, als müsse er alles widerrufen, das ganze Todesurtheil, das er über sein Schönau gefällt hatte. Er blickte auf Theodor, und dieser, sein Stammhalter, gab ihm wieder Muth. Den andern Tag sollte der Notar kommen.

Theodor küßte seinen Vater innig, er las alles in seinen feuchten Augen; er war ein guter Junge und vergoß selbst ein paar Thränen in seiner weichen erregten Stimmung, nahm aber trotzdem die Einladung Stefanellys, mit ihm in die Stadt zurückzufahren, an. Dieser denkwürdige Abend in seinem Leben durfte nicht in dem langweiligen Schönau vertrauert, der mußte der neuen glänzenden Zukunft entsprechend würdig begangen werden!

Als das stolze Gefährt in der Allee verschwunden war, trat der Rückschlag bei Christian ein: die Kniee wankten ihm, unsagbares Weh packte ihn; er schleppte sich mühsam in die Stallungen, las mit schmerzlichem Kopfnicken die alten halbverwischten Pferdenamen über den jetzt leerstehenden Ständen, „Achill“, „Esperance“, „Warwick“, „Esther“, kraute den Rindern, die, gewohnt, von ihm Obst, Rüben und dergleichen Leckerbissen zu bekommen, ihm von weitem entgegenschnupperten, die lockigen Stirnen. Von da ging er in den Park, zu den von Gesträuch überwucherten, ruinenhaften Götterstatuen, die er so liebte; zu seinen Lieblingsplätzen, wo er mit der Seligen gesessen hatte. Es dunkelte schon, der Mond zerriß den Nebel, durch eine Lücke der alten Akazien erblickte er das weiße Schlößchen mit den hohen, von reicher Stuccatur umgebenen Fenstern, seinen Thürmchen und verfallenen Terrassen; wie ein Traum aus alter Zeit, mondlichtumwebt, erschien es ihm, er bedeckte sein Antlitz mit dem großen blauen Schnupftuch und weinte und schluchzte wie ein Kind.

Der schrille Pfiff einer Lokomotive brachte ihn zu sich; fest auf seinen Stock gestützt, Trotz im Antlitz, ging er dem Schlosse zu.




3.

Die Heiligegeistkirche ist das älteste Gotteshaus der Stadt M ..., in jener urwüchsigen plumpen Gothik aufgebaut, welche wohl hauptsächlich durch den Mangel an einem gefügigen Baumaterial verschuldet war. Aus gebrannten Backsteinen werden keine „Strahlen der Andacht“, die in feiner Gliederung emporzucken zum Himmelsgewölbe, es ist vielmehr ernstes, kräftiges Werktagsgebet, welches darin zum Ausdruck kommt, und das war es auch, was Jahrhunderte hindurch von frommen Lippen dort gemurmelt wurde. Kurz, die Heiligegeistkirche ist eine streng bürgerliche Kirche, ihrem Bau, ihrem Aussehen, ihrer Umgebung und ihrer Gemeinde nach.

Sie liegt mitten in der Altstadt; die Giebeldächer drängen sich in mittelalterlicher Hilfsbedürftigkeit um den schützenden Koloß, einige wenige dunkle Gäßchen um ihn herum bildend, und nur die Portalseite liegt frei. Vor ihr breitet sich der Obst-, Gemüse-, Fleisch- und Fischmarkt. Das Himmlische und das Irdische kommt hier in vertrauliche Berührung; der Lärm der Käufer und Verkäufer mischt sich mit Orgeltönen und Choralgesang, man geht hinein, um für die Seele – heraus, um für den Leib zu sorgen. Das Gebetbuch kommt auf das appetitliche Sonntagsganserl zu liegen, der Rosenkranz verwickelt sich in das Grünzeug, Himmel und Erde vertragen sich vortrefflich und predigen hier laut ihre innige Zusammengehörigkeit.

Es war ein bitterlich kalter Dezembertag, die Sonne stand machtlos über der Heiligengeistkirche im frostklaren Himmelsblau. Auf dem Markte herrschte trotzdem reges Leben, nur ging der Verkauf heute schneller und ruhiger vor sich als gewöhnlich. Die weibliche Redseligkeit war offenbar eingefroren; man kämpfte nicht, wie gewohnt, eine halbe Stunde um ein oder zwei Pfennig, die stehenden Fragen, Lock- und Schmeichelworte wurden bedeutend verkürzt oder ganz weggelassen. Und doch herrschte eine auffallende Unruhe unter den Standbesitzern. Man rief sich zu, flüsterte sich in die Ohren, schlug die Hände zusammen, lachte spöttisch, blickte ärgerlich von allen Seiten auf das Zifferblatt oben am Thurm der Heiligengeistkirche – man erwartete etwas!

Da schlug die große Glocke an, ein tiefer Brummbaß; dazwischen hinein ein voller Tenor. Die Weiber schnellten förmlich empor aus ihren strohgefütterten Holzkästen, alles rannte, unbekümmert um die Kunden, vor die Standthüren und blickte gegen das Portal der Kirche, um welches eine Menge Volk sich gesammelt hatte.

„Na, die Großthuerei! Mit der großen Glock’n läut’n wegen so einer!“

„Je weniger nutz, desto mehr Glück!“

„Wie wir uns nur so herstell’n mögen, als käm a Prinzeß!“

Unzählige derartige Redensarten schwirrten durcheinander. Dann drängte sich alles der Kirche zu. Kälte, Kunden, Waren, alles wurde vergessen. Die „Damen der Halle“ schoben sich in die erste Reihe mit der Miene voller Berechtigung. Man sprach gar nicht mehr, die Erwartung war zu groß.

Der Schnee knirschte und tönte von nahenden Wagen; der erste rollte um die Ecke, noch einer, ein dritter, und noch immer kein Ende – jetzt wurden die Leute unruhig.

„Die Protzerei! A Schand’ is! A Schwind’l!“

Aus dem sechsten Wagen beugte sich ein Mädchen in vollem Brautschmuck, mit dem sichtlichen Bemühen, gesehen zu werden.

„Die Loni soll leben, hoch!“ rief jetzt ein junger Metzgerbursche aus der Menge heraus.

Der Ruf wurde von dem jungen Volk trotz heftigen Widerspruchs der Weiber begeistert aufgenommen, und das Mädchen im Wagen verbeugte sich hoch erröthend mit fürstlichem Anstand.

Es war die Trauung Hans Margolds mit Loni Weinmann. Der alte Margold hatte dem Drängen seiner Kinder nachgegeben und verkauft.

Wer nur irgend konnte, drängte sich in die Kirche, man kannte ja die ganze Sippe der Margolds und Weinmanns und war begierig, sie in ihrem vielbeneideten Glück zu sehen. Eine feierliche Hochzeit mit sechs Wagen, am Hochaltar der Heiligengeistkirche zwei Gärtnerskinder, die zwischen ihren Ständen aufgewachsen waren, das machte die Leute ganz verwirrt.

Endlich trat der Zug aus der Sakristei. Die Braut in weißem Atlas, kostbarem Schleier, geführt von zwei eleganten Herren im Frack – die Loni! das ungezogene Mädel, mit dem sie ihre Kinder gar nicht umgehen ließen. Wie sie stolz daher ging, das weiße Bouquet für mindestens zwanzig Mark in der Hand! Wo sie wohl die zwei Brautführer hergenommen hatte? Natürlich nicht aus der Familie, feine Herren waren’s – vielleicht gar gute Freunde, ehemalige Kunden von Weinmanns! Hinter ihr der Hans, auch mit Frack und Cylinder, und neben ihm – wer ist denn die? Ein sauberes Mädel! Einfach und nett gekleidet und den Kopf sittsam gesenkt. wie sich’s gehört in der Kirche - ja, das ist ja die Bertl! die Bertl Margold! Die mit dem Baron! O, die wird die nächste sein in der Heiligengeistkirche, [83] dann werden’s mit Equipagen und Bedienten kommen – nein, was das Pack für ein unverschämtes Glück hat! – Ah, da kommt der alte Weinmann! Wie der sich bläht vor Hochmuth! Wie ein Bankier schaut er aus – und daneben, richtig, der Margold! O je, den hat das Glück ja ganz zusammengedrückt! Der versteht’s noch nicht, den Privatier zu spielen. Und sie erst recht nicht! Schaut’s doch! Die Margoldin! Den Hut, wo sie den aufgabelt haben mag, und das seidene – na das kennen wir bereits. Wie sie daher kommt, als wenn sie einen Sack Kartoffel tragen müßt! Und wer ist denn der Glatzköpfige da hinten? ’S ist keiner von uns! ’n Orden hat er an seinem Frack – ja, wer kann denn nur das – –

„Der Stefanelly, der Bauunternehmer!“ ging’s plötzlich andächtig flüsternd von Mund zu Mund. „Der Millionär, der ihnen abkauft hat! Der Millionär!“ flüsterte es weiter – dann war’s feierlich still.

Die hohe Halle mit den unzähligen Heiligen, Engeln, Marien, Himmelfahrten und Kreuzigungen, die heilige Ceremonie, die sich am Hochaltar vollzog, alles war vergessen; alle Blicke, alle Gedanken hefteten sich auf den Mann mit dem kahlen Haupt und dem Orden vor der Brust, der zwei von ihnen losgekauft hatte aus der Knechtschaft der Arbeit – auf den Millionär Stefanelly!

Wie ein Messias erschien er ihnen, und wäre er jetzt vorgetreten mit der Verkündigung seines kostbaren Geheimnisses, das heißersehnte Gold mit zauberhafter Kraft an sich zu ziehen, sie hätten ihm andächtiger, brünstiger gelauscht, als wenn ein Engel herabgeschwebt wäre von dem sternbesäeten Gewölbe und zu ihnen geredet hätte. –

Sonst waren nur wenige Hochzeitsgäste da, und die wenigen, wohl die nächsten Verwandten, trugen in ihrer altmodischen, ärmlichen Kleidung, ihrer eckigen schüchternen Haltung zum Glanz des Festes nicht bei.

(Fortsetzung folgt.)





Blätter und Blüthen.


Nach hartem Kampf! (Zu dem Bilde S. 69.) An einem naßkalten Februarmorgen lehnen wir, die gespannte Flinte unterm Arm, Hektor zu Füßen, an einer schneetropfigen, in den Buchenhochwald eingesprengten Fichte und lauschen nach dem Fuchsbau hinüber, in welchem Erdmännchen als ungebetener Gast das Hochzeitsfest Reinekes, seines Erzfeindes, stört. Wie das da unten poltert und rumort! Der dumpfe „Hals“ (Bellen) des Hündchens, der zeitweise unser Ohr trifft, dann wieder verstummt, um nach hellem Klopfen, Pochen und Rollen unter der Erde von einer andern Stelle des Baues weit giftiger zu uns herüber zu klingen, läßt uns schließen, daß es drinnen zu ernsten Auseinandersetzungen gekommen ist. Aber je lauter es im Bau wird, desto lauter klopft auch unser Herz vor Weidmannslust – denn wir wissen, daß der Augenblick ganz nahe bevorsteht, wo unser schneidiges Teckelchen dem rothen Gauner handgreiflich beweist, daß es draußen trotz des matschigen Schlappschneewetters viel angenehmer ist als drinnen im warmen trockenen „Bau“ – – und ihn zum „Springen“ veranlaßt. Das Fuchshetzen ist eine der erregendsten Jagden, die den Jäger in der gespanntesten Aufregung hält, wie den Backfisch der erste Roman.

Jetzt ist plötzlich alles still – – und wie der Blitz, so unerwartet schnell fährt das Hündchen aus der Röhre und stürmt, die Nase suchend dicht auf der Erde, rings um den Bau und, ohne auch nur eine Sekunde zu stutzen, wieder hinein in das verhaßte Malepartus. Aufgepaßt! Der Fuchs ist vor dem Teckel geflohen, „er hat sich versetzt“, er will „springen“. Das Teckelchen hatte ihn in dem unterirdischen Labyrinth verloren und suchte deshalb oben den Bau ab, ob sein Feind schon das Weite gesucht hätte.

Ritsch! Da saust ein rother Streifen aus einer anderen Röhre. Dicht über die Erde, so rasch ihn seine Läufe zu tragen vermögen, geht’s in schnellster Flucht der Fichtenschonung zu. Aber selbst in der wildesten Hast weiß sich der Schlauberger doch zu decken – hier durch einen Stamm, dort durch einen Busch. Da heißt es rasch gezielt und gedrückt. Es knallt – der Fuchs knickt ein wenig zusammen und ist in den dichten Büschen verschwunden. „Donnerwerter! daß einem das passiren muß! Hektor faß!“ Und Hektor rast dem Erzschelm nach.

Und Erdmännchen? Drunten kläffte und „hühntscht’s“ von neuem. Der schwarze, giftige Satan macht Frau Fehin, die sich während seiner Auseinandersetzung mit dem Gemahl verschämt in das entlegenste Gemach der weitverzweigten Raubritterburg zurückgezogen hatte, seine unerwünschte zudringliche Aufwartung.

Aber auch über der Erde wird’s lebendig. Laut „ausgebend“ (bellend) folgt Hektor flüchtig dem krankgeschossenen Fuchse. Wie genau erzählt doch der „Boll“ des Hundes dem lauschenden Jäger die ganze Jagd!

Vorerst ist Hektor noch weit vom Wilde im dichten Gebüsch. Jetzt wird der Hals des Hundes rascher und hin und wider klingt er auch heller Hektor rückt dem Füchslein näher, und in der Dickung, wo er jagt, sind lichte Stellen. Immer rascher, immer feuriger wird das „Geläute“ des Hundes – jetzt klingt es ganz hell durch den Forst, und mit dem Solo des Hundes mischt sich das Echo, welches in ununterbrochenem Schall der Berglehne entlang zieht. Hektor jagt auf einer Blöße dicht hinter dem Fuchse her. Immer heftiger wird sein Hals – jetzt wieder dumpf – er ist wieder im Buschwerk – und jetzt!? In kurzen, tiefen, ich möchte sagen, so regelmäßigen Tönen wie das Ticken einer Uhr, oft dumpf, oft hell, jauchzt uns der Hals des Hundes zu, daß sich Reineke gestellt hat, daß er unter einem Busch in lichter Dickung steckt – den Kopf mit offenem „köckerndem“ Rachen und giftig äugenden Sehern vorangestreckt – die Lauscher geknickt, wagrecht liegend – dem Hunde zugekehrt, der, um das Buschwerk kreisend, einen günstigen Augenblick zum Angriff sucht.

Aber wle er sich auch dreht, immer blickt er in die weißen haarscharfen Fänge des wüthenden Fuchses.

Plötzlich schreit der Hund laut auf – er hat einen Schmiß vom Fuchse weg – dann ist’s todtenstill. Wenn wir näher wären, würden wir nur ein Schnarchen und tiefes Athmen und ein dumpfes Schütteln und Schlenkern hören.

Unsere Aufmerksamkeit ist wieder ganz auf den Bau gelenkt, in dem

es wieder lustig hergeht. Von Zeit zu Zeit schielt unser Blick aber doch zur Dickung hinüber, ob Hektor noch nicht erscheint. Da ist er endlich, der alte Bursch – im hochgehobenen Rachen den gewürgten Kapitalfuchs tragend – – nach hartem Kampfe.
Karl Brandt.     

Aurelian überbringt die Brautwerbung des Frankenkönigs Klodwig. (Zu dem Bilde S. 81.) In dem burgundischen Reich, das wir uns nicht mehr dort, wo das Nibelungenlied es kennt, am Rhein in der Gegend von Worms, sondern an der Rhone und in den westlichen und südlichen Alpen zu denken haben, etwa in der Gegend, wo heute noch der „Burgunder“ wächst, ging es am Ende des 5. Jahrhunderts schlimm zu. Vier Brüder theilten sich in die Herrschaft darüber, aber sie kamen schlecht miteinander aus, und einer von ihnen, Gundobad, erschlug seinen Bruder Chilperich und ließ dessen Gemahlin mit einem Stein um den Hals ins Wasser werfen; die Töchter aber verbannte er vom Hofe.

Die beiden verwaisten Mädchen zogen sich in ein Kloster nach Genf zurück, und die ältere ward auch selbst Nonne. Der jüngeren aber, Klothilde mit Namen, war noch eine wichtige Rolle in der Geschichte der Völker zugedacht.

Von der Schönheit Klothildens hörte der Frankenkönig Klodwig, der eben damals den letzten Rest der römischen Herrschaft im heutigen Frankreich durch seinen Sieg über Syagrius beseitigt hatte, und sein schlauer Kopf sagte ihm alsbald, daß er durch eine Vermählung mit dieser burgundischen Königstochter nicht bloß ein schönes Weib, sondern auch einen willkommenen Anlaß gewinnen könne, seine Hand nach dem Burgunderlande auszustrecken.

Die Geschichte weiß nun nur davon zu berichten, daß Klodwig eine Gesandtschaft an Gundobad gesandt und kurzweg um die Hand der Klothilde angehalten habe. Aber die Sage hat sich mit diesem einfach nüchternen Hergang bei einem in der Folge zu solcher Bedeutsamkeit emporgewachsenen Ereignisse nicht begnügt. Sie umgab diese Werbung Klodwigs mit romantischen Ranken und gestaltete sie zu einer romanhaften Geschichte aus. Sie erzählt, Klodwig habe einen vertrauten Mann, einen Römer mit Namen Aurelianus, zu Klothilde gesandt, damit er sie sehe und seine Werbung anbringe. Aurelianus zieht, als Bettler verkleidet, nach Genf und findet dort Klothilde mit ihrer Schwester. Und als sie ihn nach der Sitte der Zeit und des Klosters gastlich aufnimmt und ihm die Füße wäscht, da neigt sich Aurelianus zu ihr und sagt ihr heimlich: „Ich habe Dir ein großes Wort zu melden: der Frankenkönig Klodwig sendet mich zu Dir, er will Dich zu seiner Gemahlin erhöhen; und damit Du diesem Worte traust, sendet er Dir diesen Ring.“ Zugleich schlägt er seinen Mantel zurück und zeigt sein vornehm Gewand. Klothilde nimmt den Ring mit Freuden. Sie mochte in dem Antrage des Frankenkönigs sofort das Werkzeug ihrer Rache erkennen. Reich beschenkt, kehrt Aurelianus zu seinem Herrn zurück; und nun erst begiebt sich die offizielle Werbegesandtschaft zu dem Oheim Gundobad, der – in der bösen Klemme, entweder durch eine Weigerung den mächtigen Klodwig zu erzürnen oder durch seine Zustimmung der Klothilde gleichsam selbst den Rachestahl in die Hand zu drücken – gute Miene zum bösen Spiel macht und seine Nichte ziehen läßt.

Und nicht lange dauert es, da bricht das Schicksal über das Burgunderreich herein, die Rache der Klothilde beginnt: Klodwig besiegt den Gundobad in einer Schlacht bei Dijon, und wenn sich die beiden Könige auch noch einmal unter dem Einfluß anderer politischer Umstände vertragen, so wird doch das Ende darum kein anderes: im Jahre 534, dreiundzwanzig Jahre nach Klodwigs Tod, unterwirft sein und der Klothilde Enkel Theodebert den letzten Sprossen des burgundischen Königshauses, Godemar, das burgundische Reich geht im fränkiischen auf.

Wer aber die Geschichte der Klothilde betrachtet, wem fallen da nicht die verwandten Grundlinien in unserem großen nationalen Epos, dem Nibelungenlied, ein? Auch hier flüchtet ein gekränktes Weib an einen fremden Fürstenhof, um als Gattin dieses Fremden die Waffen zu schmieden, die ihrer Rache an den Eigenen dienen sollen! =     

[84] Isolde Kurz. Wir haben im Jahrgang 1889 unseres Blattes die formenschönen Gedichte von Isolde Kurz besprochen. Es verdient die Thatsache Erwähnung, daß diese Gedichte bereits die zweite Auflage (Stuttgart, G. J. Göschensche Verlagshandlung) erlebt haben. Dann erschienen von derselben Verfasserin die „Florentiner Novellen“ (Stuttgart, ebenda), welche sich wie jene Gedichte durch ein stilvolles Gepräge der Darstellung auszeichnen. Wenn man von einer Schule Paul Heyses sprechen darf, so muß man Isolde Kurz zu den Schülerinnen des Münchener Novellisten zählen. Paul Heyse hat eine nicht unbeträchtliche Zahl von Novellen geschrieben, die ihren Stoff den Chroniken italienischer Städte entnehmen, sie tragen auch meist den Ausdruck der gewaltthätigen Zeiten, denen sie entnommen sind – und noch mehr ist dies bei den Schöpfungen von Isolde Kurz der Fall. An blutigen Kämpfen, an Ermordungen, an Schrecknissen und Greueln jeder Art fehlt es in den „Florentiner Novellen“ nicht, ja in zwei Erzählungen spielt die Pest ihre verhängnißvolle Rolle.

Die erste Novelle der Sammlung, „Die Vermählung der Todten“, haben die Leser im Jahrgang 1889 der „Gartenlaube“ kennen gelernt. Die zweite, „Die Humanisten“, schildert uns die gelehrte Bildung aus der Zeit des Lorenzo von Medici, die sich für das neuerweckte Alterthum begeistert. Auch hier ist die entscheidende Wendung grell genug: durch einen Schlaftrunk und durch Brandlegung sucht ein Gelehrter, der seinen Ruf der Handschrift eines Werkes von Cicero verdankt, die insgeheim in seinen Besitz gekommen ist und mit deren Federn er sich geschmückt hat, den Ueberbringer einer Abschrift des klassischen Werkes aus dem Wege zu räumen. Der Plan wird allerdings vereitelt, und zwar in einer nicht ganz glaubwürdigen Weise, aber als treues Zeitgemälde ist die Erzählung von Interesse. – In der dritten Novelle, „Der heilige Sebastian“, begeistert sich ein schwärmerisches Mädchen Pia für das Kirchenbild eines Malers und für diesen selbst, der keineswegs den Preis der Schönheit in Anspruch nehmen kann. Da kommt das Modell, der heilige Sebastian selbst, der Jugendfreund des Malers, ein leichtfertiger Kardinal, und gewinnt das Herz des Mädchens, fällt aber als ein Opfer der Rache, die der Bruder an dem Verführer nimmt. Die Beschreibung des alten verfallenen Schlosses am Arno und des gefahrvollen nächtlichen Stelldicheins ist sehr lebendig. Hintergrund der freierfundenen Fabel ist der geistige Kampf in Florenz zwischen den Anhängern des Savonarola und seiner strengen Sittenlehre und dem Schönheitsinn der künstlerisch begeisterten, aber sittenlosen Anhänger der Medici. Durch die harmonische Darstellung bei aller grell flackernden Beleuchtung, besonders aber durch die Spannung in der Verkettung der Ereignisse werden sich diese Novellen zahlreiche Freunde erwerben.

Ganz andere Töne werden in der letzten Veröffentlichung von Isolde Kurz angeschlagen. Es sind „Phantasien und Märchen“, kühn durchgeführte Gedankenspiele voll sinniger Betrachtung, geistreicher Satire und anmuthigen Humors, das alles in jener schlichten Redeweise, wie sie dem richtigen Märchen eigen ist, vorgetragen. Man lese in dem kleinen Bändchen (ebenfalls bei Göschen erschienen) das „Sternenmärchen“ und man wird, wenn man daneben zurückdenkt an die „Florentiner Novellen“, erstaunen über die Vielseitigkeit dieser glücklichen Dichternatur. †     

„Keine Rose ohne Dornen“. Ein tiefer Sinn liegt in diesem Sprichwort, und es drückt eine felsenfeste Wahrheit aus, die ein jeder im Leben an sich selbst erfährt. Aber der alte Roßmäßler erläuterte das Sprichwort dahin, daß es ein arger wissenschaftlicher Schnitzer sei. Keine Rose hat Dornen! denn bei ihr sind die stechenden Dinger Stacheln. Die Botaniker geben uns folgende nähere Bestimmungen dieser beiden verwandten Waffen der Pflanzen: „Als ‚Dorn‘ bezeichnet man ein Gebilde, welches der Hauptmasse nach aus einem Holzkörper gebildet wird oder welches doch von Gefäßbündeln durchzogen ist, die aus dem Holzkörper ihren Ursprung nehmen, und der dann in eine harte, stechende Spitze ausläuft. ‚Stachel‘ nennt man dagegen ein Gebilde, welches von der Haut oder Rinde eines Pflanzentheiles ausgeht, im Innern keine Gefäßbündel enthält, im übrigen mehrzellig oder einzellig sein kann, immer aber mit einer Spitze endigt, welche die Haut des Angreifers zu verletzen imstande ist.“ Oder kürzer gesagt: Der Dorn ist ein in ein blätterloses, steifes, spitzes Aestchen verkümmerter Zweig, Stacheln sind nur leicht ablösbare Oberhautgebilde. – Um diese botanischen Unterscheidungen kümmern sich die Leute sehr wenig. Der Sprachgebrauch ist entscheidend, und er wirft Dornen und Stacheln durcheinander, darum wird es auch immer heißen: „Keine Rose ohne Dornen!“*     



Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

S. G., Abonnentin in Graz. Sie feiern in diesem Jahre Ihr zwanzigjähriges Jubiläum als Abonnentin der „Gartenlaube“. Nehmen Sie dazu unseren herzlichen Glückwunsch und unseren besten Dank für Ihre treue Anhänglichkeit.

L. Sch. in Pasewalk. Die Verse:

„Man hat mir nicht den Rock zerrissen,
Es wär auch schade für das Kleid“ u. s. w.

sind von Uhland und dem Gedicht „Abreise“ entnommen (Gedichte und Dramen, I. Theil, S. 74), welches anfängt:

„So hab ich nun die Stadt verlassen,
Wo ich gelebet lange Zeit!“

M. W. in R. Ueber die rechtliche Seite Ihrer Angelegenheit müssen Sie einen Rechtsanwalt befragen; im übrigen sind wir der Ansicht, daß man eingegangene Verträge auch zu halten hat.



Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (4. Fortsetzung). S. 69. – Nach hartem Kampf. Bild. S. 69. – „Auf Flügeln des Gesanges“. Gedicht von Ad. Gründler mit Bild S. 73. – Der Kampf gegen die Bakterien. Die Heilung des Wundstarrkrampfes (Tetanus). S. 74. – Neunzig Jahre Frauenmode. Von Cornelius Gurlitt. III. S. 75. Mit Abbildungen S. 75, 76, 77 u. 78. – Die Reinlichkeit in den Schulen und die Gesundheit der Schüler. S. 79. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall. (4. Fortsetzung). S. 79. – Aurelian überbringt die Brautwerbung des Frankenkönigs Klodwig. Bild. S. 81. – Blätter und Blüthen: Nach hartem Kampf. Von Karl Brandt. S. 83. (Zu dem Bilde S. 69.) – Aurelian überbringt die Brautwerbung des Frankenkönigs Klodwig. S. 83. (Zu dem Bilde S. 81.) – Isolde Kurz. S. 84. – „Keine Rose ohne Dornen“. S. 84. – Kleiner Briefkasten. S. 84.


manicula Hierzu die Kunstbeilage: „Laura“. Von Konrad Kiesel.


Zum Denkmal für Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland.

Der Aufruf zu Beisteuern für ein auf der Insel Helgoland zu errichtendes Denkmal Hoffmanns von Fallersleben, des Dichters von „Deutschland, Deutschland über alles“, hat schon erfreulichen Erfolg gehabt. Wir verzeichnen nachstehend die seit der ersten Veröffentlichung des Aufrufs in Nr. 46 des Jahrgangs 1890 der „Gartenlaube“ eingegangenen Beiträge: 70 Mk. von einer Versammlung in Cassel-Wilhelmshöhe; 10 Mk. von N. N. in Gera; 40 Mk. von einer Versammlung in Halle a. S.; 10 Mk. von Dr. R. Keil in Weimar; 20 Mk. von Hauptmann a. D. Schweder in Berlin; 50 Mk. von Fabrikbesitzer Grosser in Ohlau; 30 Mk. von Abg. Seyffardt in Crefeld; 20 Mk. von Abg. v. Eynern in Barmen; 15 Mk. von Jul. Reusch, Gut Idylle b. Krufft; 500 Mk. von Sr. Hoheit Herzog von Ratibor; 10 Mk. von Jakob Böhm We., Frankfurt a. M.; 6 Mk. 80 Pf. von einer goldenen Hochzeit in Langenhain b. Bad Nauheim; 10 Mk. von H. Röstel, Berlin; 100 Mk. von L. Betschke, Halle a. S.; 10 Mk. von Buchhändler Schwetschke das.; 3 Mk. von Dr. A. R., Berlin; 30 Mk. von Dr. Schwetschke, Berlin; 3 Mk. von J. H. F., Mülheim a. d. R.; 5 Mk. 70 Pf. von einer fröhlichen Gesellschaft in Brunsbüttel; 50 Mk. von Kommerzienrath Hr. Gust. Selve, Altena; 10 Mk. 25 Pf. Sammlung des Deutschen Vereins in Toftlund; 15 Mk. von W. Aufermann, Wiesbaden; 3 Mk. von Λαικός Diutiseo; 10 Mk. von Otto Westermann, Bielefeld; 10 Mk. von Theod. Dilthey, Rüdesheim; 5 Mk. von Dr. Wilh. Ahlmann, Kiel; 10 Mk. von P. Volkers, Helgoland; 20 Mk. von Abg. Berger, Horchheim; 8 Mk. 10 Pf. von dem Verein für Handlungskommis v. 1858 in Elberfeld; 11 Mk. von dem Gesangverein, Emmerich; 128 Mk. von Heinr. Bulthausen, Essen, Sammlung; 4 Mk. 46 Pf. von der Zahlmeister-Aspiranten-Vereinigung, Straßburg i. E.; 66 Mk. von der Loge in Bochum; 2 Mk. von M. und J. auf Helgoland; 64 Mk. 30 Pf. Sammlung bei einem Festessen in Bockenheim; 1 Mk. 10 Pf. von einem Skattisch in Lemförde bei Osnabrück; 8 Mk. Sammlung von Fr. Wilh. Reichard in Neuwied; 9 Mk. Sammlung von John Harrisson in Amsterdam; 9 Mk. 20 Pf. Tellersammlung des Militärvereins in Mannheim; 20 Mk. von J. W. Hamdorff in Altona; 10 Mk. 10 Pf. vom Verein der Arbeitsscheuen in Berlin; 50 Pf. von Ferd. Hampe in Zörbig; 3 Mk. von Plassink und Starke in Großenhain; 15 Mk. 10 Pf. Sammlung alter Arionen in Dresden; 16 Mk. 24 Pf. desgl. des Kriegervereins in Altwasser; 10 Mk. von der Loge in Soest; 15 Mk. von Sr. Durchl. Prinz Heinrich von Schönaich-Carolath; 20 Mk. von Louis Lesbebusch; 20 Mk. von Otto Jäger; 20 Mk. von Heinrich Eisenloh; 100 Mk. von der „Gartenlaube“. Summa: 1637 Mk. 85 Pf.

Weitere Beiträge sind selbstverständlich stets willkommen und an den Herrn Geh. Regierungsrath Robert Fischer in Gera (Reuß) zu senden, welcher die weiteren Quittungen an dieser Stelle veröffentlichen wird.

Zu Unterstützung der Sache führen wir noch die Namen derjenigen Herren auf, welche inzwischen jenen Aufruf unterzeichnet haben. Es sind folgende:

Herzog von Ratibor, Fürst von Corvey, General der Kavallerie, Präsident des Herrenhauses. Heinrich Prinz zu Schönaich-Carolath. Baehr, Paul, Lieutenant a. D. in Oeynhausen. Baumbach, Rudolf, in Meiningen. Berger, Louis, in Horchheim. Dr. Beumer, W., Generalsekretär in Düsseldorf. Dr. Bothe, Bertha, in Görlitz. Dr. Bulthaupt, Heinrich, Stadtbibliothekar in Bremen. Busch, Peter, Kommerzienrath in Hochneukirch. Dahn, Felix, Geheimrath in Breslau. Dauber, Gymnasialdirektor, Professor in Wolfenbüttel. von Eynern, Abgeordneter des preuß. Abgeordnetenhauses in Barmen. Fischer, Robert, Geh. Regierungsrath in Gera. Fontane, F., Verlagsbuchhändler in Berlin. Friederichs, Karl, Kommerzienrath in Remscheid. Dr. Gaedertz, K. Th. Kgl. Bibliothekar in Berlin. Dr. jur. Gensel, Julius, in Leipzig. Dr. Gerstenberg, H., in Hamburg. Dr. Goldbaum, W., Redakteur der „Neuen Freien Presse“ in Wien. Graef, Karl, Schleswlg-Holsteinischer Ingenieur, Lieutenant a. D. in Dresden. Grosser, G., Fabrikbesitzer, Hauptmann a. D. in Ohlau. Heyl, Ferd., Kurdirektor, kaiserl. Ottomanischer V.-Konsul in Wiesbaden. Hirsche, Dr. theol., Hauptpastor in Hamburg. Hupfeld, Hermann, in Kassel. Dr. Keil, Robert, Rechtsanwalt in Weimar. Knetsch, George, in Kassel. Dr. Kreyenberg, Gotthold, Direktor der höheren Töchterschule in Iserlohn. von Lilienthal, L., in Elberfeld. Neumann, J., Redakteur in Groß-Lichterfelde. Pfingsten, Ernst, Buchdruckereibesitzer in Itzehoe. Dr. Pfundheller, Emil, Realgymnasialdirektor in Barmen. Reusch, Julius, Gut Idylle bei Krufft. von Riehl, W. H., Geheimrath, Professor in München. Rittershaus, Emil, in Barmen. Dr. Rodenberg, Julius, in Berlin. Rosegger, P. K., in Graz. Scherenberg, Ernst, in Elberfeld. Dr. Scherer, Georg, Professor in München. Schwartz, A., Hofbuchdruckereibesitzer in Oldenburg. Schweder, M., Hauptmann a. D. in Berlin. Dr. phil. Schwetschke, Eugen, in Berlin. Selke, Oberbürgermeister in Königsberg i. Pr. Seyffardt, Louis, Abgeordneter in Crefeld. Stettenheim, Julius, in Berlin. Träger, Albert, Rechtsanwalt in Nordhausen. Wolff, Julius, in Charlottenburg.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

[36] Das Elternhaus Robert Kochs. (Mit Abbildung.) Es ist ein freundliches Städtchen im Oberharz, Klausthal, wo Robert Koch, der Mann, dessen Name heute auf aller Lippen ist, geboren wurde. Der Bergmann ist der nächste Landsmann Kochs, und wie jener in den Schacht hinabsteigt, die Erze zu fördern, so ist auch Koch, ein getreuer Sohn des heimathlichen Bodens, tief eingedrungen in die verborgenen Gänge und Adern der Wissenschaft, ihr kostbares Erz zu entringen.

Das Haus, welches unsere Abbildung darstellt, ist das Elternhaus Kochs, die Stätte, an welcher er seine Kindheit und Jugend verlebte und an welche der große Forscher eine so treue und liebevolle Anhänglichkeit besitzt, daß er es sich nicht nehmen ließ, das schlichte Gebäude, dem es doch nicht an traulich anheimelndem Reize fehlt, wieder in seinen Besitz zu bringen. In dem Haus, in welchem Robert Koch geboren wurde und welches aus Anlaß seiner Geburtstagsfeier am 11. Dezember vor. Jahres mit einer Gedenktafel geziert wurde, haben Kochs Eltern nur kurze Zeit gewohnt, ehe sie sich das hier abgebildete käuflich erwarben. Der Wanderer aber, der hier vorüberzieht, wird ergriffen von einem Schauer der Verehrung, als fühlte er die geistige Nähe desjenigen, der die Stätte geweiht hat für alle Zeiten.

Das Elternhaus Robert Kochs.
Nach einer Zeichnung von M. Hennings.


Eine neue Beschäftigung für Damen, und dazu eine sehr lohnende, ist – die Buchbinderei. Wie oft bedürfen die zierlichen Handarbeiten einer „Montirung“ durch Karton und Plüsch oder Leder, wie schwer aber ist es, in dem fabrikmäßigen Buchbindergeschäft der Großstädte einen Handarbeiter zu bekommen, der solche Dinge wirklich geschickt macht! Das haben die Frauen längst beklagt, nun aber sind sie auf dem besten Wege, sich selbst zu helfen. An verschiedenen Orten beginnt man mit dem Buchbinderunterricht und erlebt überall sehr erfreuliche Erfolge, so in Karlsruhe, wo der unermüdliche badische Frauenverein neben seinen anderen Fachschulen auch eine für Buchbinderei errichtet hat. Der Zudrang zu diesem Kurs ist ein so großer, daß Anmeldung schon lange vor Semesterbeginn noth thut. Die Mädchen und Frauen fangen mit einfachen Büchereinbänden und Kästchen für den täglichen Bedarf an, allmählich aber schreiten sie fort bis zu den theuren und reizenden Luxusdingen in Plüsch und Goldleder, Mappen, Rahmen, Ständer für den Schreibtisch u. s. w., wobei die malenden unter ihnen natürlich in der angenehmen Lage sind, ihr ganzes Wert eigenhändig herzustellen. Als ernsthafter Erwerbszweig kann diese nette Fertigkeit wohl weniger in Betracht kommen, weil die private Handarbeit den Wettkampf mit der fabrikmäßigen Herstellung nur ausnahmsweise aufnehmen kann. Aber als Erweiterung der Kenntniß und Geschicklichkeit, als Anregung zur wirklich nutzbringenden Thätigkeit kann sie gewiß warm empfohlen werden. Es wäre zu wünschen, daß auch andere Städte dem Karlsruher Beispiel folgten durch Eröffnung ähnlicher Kurse an ihren Gewerbeschulen. Sie würden gewiß dieselbe Theilnahme finden! Br.     

Woher stammt das Wort „Kaviar“? Darauf wissen Gelehrte und Feinschmecker keine Antwort, deshalb behilft man sich mit mehr oder weniger gesuchten Erklärungen. Tatarisch, wie die meisten Wörterbücher angeben, ist das Wort entschieden ebensowenig als türkisch, es steht auch als Fremdling innerhalb aller europäischen Sprachen. Keine Wurzel aus dem Alterthum haftet ihm an: auf den eingehenden Küchenzetteln der römischen Schwelger fehlt der Kaviar gänzlich, obwohl schon der alte Herodot die großen Störe des Dnjepr kennt und nennt. Auch das ganze Mittelalter beobachtet ein tiefes Schweigen über die heute so gesuchten und köstlichen Fischeier. Erst in einer Abhandlung von Platina, Hofmeister des Papstes Pius II., 1458 kommt zum ersten Male das Wort Kaviar vor, um sich von da an häufig in italienischen Schriftstellern zu finden. Der Kaviar war für die Menschheit entdeckt. Diese Thatsachen zusammenfassend, begründet W. Joest (Zeitschrift für Ethnologie 1890, Heft III, Berlin, Asher u. Co.) eine Vermuthung, die sicher Beachtung verdient. Demnach stammt der Name von Kapha-Theodosia, dem durch Jahrhunderte größten Handelsplatz am Schwarzen Meer, wo der Fischeierkauf in großem Maßstabe vor sich ging, wo auch die italienischen Händler den aus den Flüssen gebrachten Kaviar erstanden, um ihn dann nach dem Westen, nach Byzanz, Griechenland, Italien zu verschiffen.

Er stützt diese Annahme unter anderen guten Gründen auch mit Analogien. Korinthen z. B. wachsen nicht in Korinth selbst, ebensowenig als Smyrna-Feigen in Smyrna. Marsala, Portwein und Malvasier tragen ebenso nur den Namen ihrer Ausfuhrorte wie der Mokka, welcher erst mehrere Tagereisen hinter Molka gebaut wird.

Man muß gestehen, daß in Ermanglung irgend welchen sprachlichen Anhaltspunktes für den Begriff „Fischeier“ in dem Worte Kaviar diese Ableitung von dem Ausfuhrorte eine einleuchtende Erklärung darbietet.Br.     

Briefe mit unvollständigen Aufschriften. Die Findigkeit der Jünger Stephans wird im Deutschen Reiche allgemein gerühmt, und es ist bekannt, daß der Spürsinn derselben namentlich in den großen Hauptstädten oft auf eine harte Probe gesetzt wird. Welchen Aufwand beamtlicher Thätigkeit die Ermittelung solcher Adressen in Berlin verlangt, darüber werden folgende Mittheilungen gemacht. Es gehen in Berlin täglich etwa eine halbe Million Postsendungen ein: darunter befinden sich im Durchschnitt 10000 Briefe mit unvollständigen Adressen. Das Nachschlagen der 10000 Namen im Adreßbuch erfordert täglich 333 Arbeitsstunden und bildet die dauernde Thätigkeit von 33 Beamten bei zehnstündiger Dienstzeit. Mehr als 30 Namen können in der Stunde nicht nachgeschlagen werden, da es unter diesen Namen viele so verbreitete giebt, daß sie mehrere Seiten des Adreßbuchs füllen. Außerdem benutzt die Post auch anderes Material zur Ermittelung unzureichend bezeichneter Wohnungen: ein Oberpostsekretär, zehn ältere Beamte, fünfundzwanzig Sortirer und ein Postschaffner sind damit beschäftigt. Und doch werden täglich 2000 Briefe und 200 Drucksendungen als unbestellbar an die Aufgabeorte zurückgeschickt. †     


Kleiner Briefkasten.

M. M. in München. Vielfachen aus unserem Leserkreis geäußerten Wünschen folgend, lassen wir die Hefte der „Gartenlaube“ nicht mehr aus Halbheften, sondern wieder, wie früher, aus Nummern zusammenstellen.


Inhalt: 0 [Anm. WS: Inhaltsverzeichnis des vorstehenden Heftes, nicht transkribiert]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.