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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[613]

Halbheft 20.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1890. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(1. Fortsetzung.)


3.

Als die Thurmuhr von Sankt Lukas die vierte Morgenstunde schlug, bog ein einsamer Wanderer um die scharfe Ecke, welche die gewaltige alte Kirche, ein Denkzeichen aus dem vierzehnten Jahrhundert, hier bildete, und blieb vor dem Hauptportal stehen.

Es fiel kein Regen mehr, allein die Wolken hingen so tief, als wollten sie sich jeden Augenblick von neuem entladen. Eine lichtlose, stille Märznacht! Nur von den Dächern rieselte und tropfte es, sonst unterbrach kein Laut die tiefe Ruhe. Der Mann war in einen dunklen Mantel gewickelt und hatte einen breitrandigen Hut tief in die Stirn gesetzt; er schob ihn jetzt ein wenig zurück, um unbehindert die Kirche ansehen zu können, deren gewaltiger Bau nur wie eine dunkle, dräuende Masse vor ihm lag. Wie weisende Finger hoben die Eckthürme sich gen Himmel, und ein leichter Nachtwind, der sich eben aufmachte, erzeugte oben in den Schalllöchern ein seltsames, fernes Klingen. Der Mann im Mantel umging die Kirche und blickte die Straße hinab, die sich rechts von ihm ausdehnte; der „Holländer Weg“ hieß sie, und gleich das dritte Haus darin war ein stolzes Gebäude aus alter Zeit, reich mit Schnitzwerk und allerlei sonderbarem Zierat versehen. Der Wanderer sah daran hinauf, als erwartete er von dorther irgend eine Botschaft, er wandte sich dann wieder zu der Kirche zurück und ließ seine Blicke hin- und hergehen – endlich drehte er sich hastig ab und ging mit beschleunigten Schritten über den Lukasplatz durch die nächstliegenden Straßen und über eine Brücke hinweg, unter welcher der breite Fluß, noch halb in eisigen Banden gefangen, in starrem Schweigen ruhte. Nur hier und da waren die Schollen voneinander geborsten, und mit leisem Gurgeln drängten sich dunkle Wasser dazwischen, unaufhaltsam schiebend und treibend, still geschäftig und rastlos bei ihrem Werk. – Das Haus, bei welchem der eilig Ausschreitende endlich stehen blieb, lag ein wenig abseits von den andern, gleichsam von der breiten, schönen Straße auf Vorposten gestellt; es war auf einer leichten Anhöhe erbaut, hatte einen hübschen Garten hinter sich und mußte im Sommer, seiner freien, erhöhten Lage wegen, einen schönen Blick bieten


Das IV. deutsche Sängerbundsfest in Wien: Die Gruppe „Germania“.
Zeichnung von T. Rybkowski.

[614] über die Vorstädte hinweg, über grüne Gärten und Anlagen bis zum Fluß hinüber und der bläulichen Kette des Gebirges, an dessen Fuß sich die ernsten dunklen Waldungen der königlichen Forsten schmiegten.

Im ersten Stock dieses Hauses waren mehrere Fenster auffallend hell erleuchtet, und namentlich eines von ganz ungewöhnlicher Breite und Höhe warf ein leuchtendes Viereck von Licht und Glanz auf den Boden, den jetzt der Fuß des einsamen Mannes betrat.

Er öffnete mit einem Hausschlüssel das Thor und durchschritt einen hohen, behaglich erwärmten und beleuchteten Treppenflur, welcher verschiedene Thüren zur Rechten und Linken und im Hintergrunde eine breite Doppeltreppe aufwies, von einem schön geschwungenen Geländer aus gußeisernen Ranken und Blumen begrenzt.

Hier stieg er empor und trat durch eine Thür zur Rechten in einen sehr großen weiten Raum, der die ganze Tiefe des Hauses einnahm und dessen Höhe zwei Stockwerke maß. Das einzige Fenster nahm fast die ganze Vorderwand für sich in Anspruch – von ihm, trotzdem es von innen verhängt war, fiel jener helle Glanz in die tiefe Nacht hinaus.

Trotz seiner Größe war dieser Raum gut durchwärmt und strahlend beleuchtet durch zahlreiche Wandlampen und eine Krone, die an starken bronzirten Ketten von der Decke niederhing. In einem prächtigen, mit buntem Marmor ausgelegten Kamin loderte ein helles Feuer, und das Knacken der Holzscheite mischte sich mit dem leisen, schwirrenden Ton, mit welchem die Gasflammen in ihren Glaskelchen sangen.

Ueberall an den Wänden hingen herrliche Gobelins, schwere, schillernde Stoffe aus Brokat, Sammet und Seide; Ritterrüstungen, Standarten und hohe, alterthümliche Banner in allen Ecken, dazwischen wundervolle Spiegel in Barockrahmen; tiefe Sessel in den verschiedensten Formen und Farben standen umher, kunstvoll geschliffene Gläser, zart wie ein Hauch, schweres metallenes Trinkgerät, getriebene Schilder, Waffen jeder Gattung, – und, regellos vertheilt, Staffeleien, große und kleine, mit Landschaften, Porträts, Entwürfen bestellt; auf einem niedrigen Tisch, der trotz seiner Größe federleicht auf Rollen ging, lagen dick gefüllte Skizzen-Mappen und lose Blätter, Kartons, Reißbretter, Kohlenstifte – das ganze malerische Durcheinander eines Künstlerateliers, schön und reich in jeder seiner Einzelnheiten, geschmackvoll in der scheinbar mühelosen, zufälligen Art seiner ganzen Anordnung.

Auf dem Fell eines riesigen Eisbären, dessen ausgestopfter Kopf mit unheimlicher Lebendigkeit den Rachen aufriß, lag ein mächtiger schwarzer Neufundländer, mit weißem Brustfleck und weißen Vorderpfoten. Köstlich hob sein seidenglänzendes, leicht gelocktes Schwarz sich von dem blendenden Weiß des Eisbären ab, und über beides zuckte der unruhige Feuerschein und warf rothe Reflexe hierhin und dorthin.

Der Hund hatte beim Oeffnen der Thür den mächtigen Kopf, der zwischen den Tatzen lag, erhoben und ein leises bewillkommnendes Knurren ausgestoßen.

Jetzt hielt er sich offenbar nur mit Mühe auf seinem Platz; die schönen, ausdrucksvollen Augen unablässig auf den Eintretenden geheftet, mit dem buschigen Schweif in immer kürzeren Zwischenräumen den Boden klopfend, wartete das gut geschulte Thier mit Ungeduld auf den kleinsten Wink seines Herrn, der ihm eine andere Begrüßung gestattete.

Vorläufig blieb dieser Wink aus; wie ein Träumender stand Delmont inmitten seines Ateliers, er sah sich darin um, als erblickte er es zum ersten Male, er vergaß, Hut und Mantel abzulegen, und unter den zusammengezogenen Brauen starrten seine großen, dunkelgrauen Augen jetzt unverwandt auf die Arabesken des Smyrnateppichs, welchen sein Fuß betrat.

Endlich raffte er sich auf, athmete tief, warf den Mantel auf den nächststehenden Sessel, den Hut rechts auf den Boden und rief mit halblauter Stimme:

„Ego!“

Sofort sprang der Neufundländer empor und war in drei Sätzen bei ihm. Wie ein treuer Freund den andern zum Willkommen umarmt, so legte das Thier, aufrecht stehend, seine Pfoten auf die Schultern seines Herrn und drückte seinen klugen Kopf unter einem leisen Freudengewinsel an dessen Brust.

„Schön, Alter, schön! Jetzt genug! Ich will ans Feuer!“ Er zog mit einer raschen Bewegung den Tisch mit den Mappen und Skizzen nahe zu sich heran und warf sich in einen breiten, niedrigen Lehnstuhl dicht am Kamin. Der Hund hatte ihm aufmerksam zugeschaut, jetzt begann er gleich einer sorgsamen Hausfrau aufzuräumen; er faßte den Hut seines Herrn behutsam mit den Zähnen und trug ihn in eine Ecke auf eine Polsterbank, ebenso die Handschuhe und den Regenschirm, dann streckte er sich würdevoll zu Delmonts Füßen hin und sah von Zeit zu Zeit erwartungsvoll zu ihm auf … er wußte es ja genau, sein Herr würde schon, nach seiner Gewohnheit, mit dem treuen Gefährten zu reden anfangen.

Wie viele einsam lebende Menschen hatte auch der Professor die Eigenthümlichkeit, Selbstgespräche zu halten, meist kurze, abgerissene Sätze, die für einen Zuhörer – hätte er einen gehabt – schwerlich einen Sinn besessen haben würden. Frau Krämer, seine Haushälterin, von Natur redselig, klagte sehr über die große Schweigsamkeit ihres Herrn und meinte zu ihrer Nachbarin, bei der sie sich des öfteren für ihre erzwungene Enthaltsamkeit entschädigte: „Und wenn er überhaupt einmal spricht, dann thut er’s noch am ehesten mit dem unvernünftigen Vieh!“ – Mit dieser Bezeichnung that aber Frau Krämer dem wackeren Neufundländer entschieden Unrecht; derselbe war durchaus kein „unvernünftiges Vieh“, vielmehr so begabt und feinfühlig, wie man es selbst bei Hunden dieser feinen und klugen Rasse selten antrifft. Delmont hatte ihn von der dritten Woche seines Daseins an aufgezogen, sich selbst jeder Mühe und Unbequemlichkeit, welche die Wartung eines so jungen Hundes mit sich bringt, unterzogen und in der That in seinem „Ego“ eine Art von Freund gewonnen, ein „anderes Ich“, das seinen Herrn so gut kannte wie niemand sonst, das alles, was dieser ihm zu sagen hatte, anhörte, ohne zu widersprechen oder etwas auszuplaudern, das jede Stimmung verstand und würdigte, nichts vergaß, aber auch nichts nachtrug und mit unerschütterlicher Liebe und Treue an seinem Beschützer hing. Dies waren nicht zu unterschätzende Vorzüge, und bei Frau Krämer war es offenbar Eifersucht, wenn sie dieselben nicht anerkannte. Die biedere Frau gestand es überhaupt häufig, daß sie für ihr Theil aus ihrem Professor nicht klug werde. Auf der einen Seite von einer wahrhaft erstaunlichen Mäßigkeit und Anspruchslosigkeit, entwickelte er auf der andern eine Verschwendung, die ihr, als einer „verständigen Frau“, unbegreiflich erschien – miethete das ganze Haus sammt Garten, wie es stand, auf ein Jahr, um höchstens zwei bis drei Zimmer darin zu bewohnen, – wünschte mit hereinbrechender Dämmerung sein Atelier, sowie sein Wohn- und Schlafgemach glänzend erleuchtet zu haben, gleichviel, ob er darin sei oder nicht – es könne ihm ja einfallen, unerwartet heimzukommen, und dunkle, kalte Räume seien ihm ein Greuel; ließ diese Lichtfluth zuweilen bis gegen den hellen Morgen brennen, ohne daß außer ihm selber ein einziger Mensch etwas davon hatte – kaufte Dinge an, die, nach Frau Krämers Urtheil, schlechterdings altes Gerümpel waren und in den Trödelkram gehörten, handelte nie, sondern bezahlte Unsummen, ohne eine Miene zu verziehen. Dabei trank er im Verlauf des ganzen Tages höchstens zwei Gläser Wein, rauchte selten eine Cigarette, spielte nicht Karten, hatte fast nie Besuch, und von weiblichen Modellen hatte Frau Krämers wachsames Auge bisher nur eine alte Frau aus dem Volk mit einem prächtigen Charakterkopf und ein paar kleine, drei- bis vierjährige Mädchen erblickt, die auf einem Gemälde Schneeglöckchen feilboten. Ein seltener – ein unbegreiflicher Herr! Wenn sie – Frau Krämer – ihm etwas vorzutragen hatte, hörte er eigentlich nie zu, sondern unterbrach sie fast immer im zweiten Satz: es sei gut, sie möge das einrichten, wie sie wolle. Nur seinen bestimmt ausgesprochenen Willen wünschte er befolgt zu sehen, alles übrige war ihm gleichgültig. Ein schlechter Mensch konnte er doch nicht sein, denn er liebte Thiere und liebte Blumen; dies letztere war auch eine seiner kostspieligen Leidenschaften, stets mußten Vasen und Schalen mit Blumen gefüllt in seinem Atelier wie im Wohnzimmer stehen, und seine herrlichen Blattpflanzen pflegte er eigenhändig.

Auch jetzt hob sich seine Hand wie mechanisch zu dem breiten Gesims des Kamins empor und griff in eine Majolikaschale, die bis zum Rande mit duftenden Blumen gefüllt war; sie stammten aus dem Treibhause – natürlich! wie sollte es im März anders sein! – Von den Maiblümchen, Tazetten und Krokus hinweg tastete seine Hand sich weiter, fast war’s, als ob er etwas suchte. [615] Da!, Ein paar weiße Fliederdolden und zwei kleine Veilchensträuße blieben in seiner Rechten hängen, und nun brachte er sie, wohl in Zerstreuung, an seine Lippen. Der Duft war schwach, kaum merklich, aber ein träumerisches Lächeln ging über das Gesicht des Mannes hin und blieb in den Augen stehen. – Vor ein paar Stunden, da war er, ziel- und zwecklos durch die geschmückten Räume des Weylandschen Hauses irrend, wie getrieben von einer inneren Unruhe, wieder in den Tanzsaal gekommen, wo ein gemietheter Spieler an dem schönen Blüthnerschen Flügel saß und in harten, dröhnenden, unfehlbar taktmäßigen Rhythmen einen Wiener Walzer herunterdrosch. Die Jugend tanzte Cotillon, und er, Professor Delmont, war immer wieder um diesen Tanzsaal herumgeirrt und war eingetreten, um zuzuschauen, und wieder fortgegangen, weil es ihm widerwärtig war, zu sehen, wie so viele Arme – meist waren es uniformirte – sich um die eine, begehrteste Tänzerin legten und sie immer von neuem lächeln und sich verneigen und danken mußte.

Und da war er mit einem raschen Entschluß zu der hübschen, hoch emporgethürmten Pyramide mit den Blumensträußen getreten – was kümmerte es ihn, ob die Zeit dazu jetzt schon war oder nicht! – und hatte mit raschem Griff dasjenige, welches ihm von den niedlichen Sträußchen das schönste schien, herausgesucht, war quer durch den Saal auf sie, die mit ihrem flotten Tänzer, dem schlanken Ulanenlieutenant, lachte, zugegangen und hatte gesagt: „Wenn ich auch kein geübter Tänzer bin – das Recht jedes eingeladenen Gastes, mir hier ein Sträußchen zu holen, darf ich mir doch nicht nehmen lassen. Wollen Sie diese Blumen von mir annehmen und mir dafür eine Extratour schenken?“

Und sie, mit einem frohen, überraschten Lächeln zu ihm aufsehend, meinte: „Ja – walzen Sie denn? Ich dachte, Sie thäten das überhaupt nicht!“

„Sonst nicht – seit vielen Jahren nicht – wollen Sie aber nicht die Ausnahme gelten lassen?“

„Mit Freuden!“

Und er, der das Tanzen einen schreienden Unsinn genannt, er, der seit undenklichen Zeiten keinen Fuß dazu gerührt hatte – da flog er über das glatte Parkett hin, seine schöne, weißgekleidete Tänzerin im Arm. Er sah auf das glänzende, nußbraune Haar herab, dessen gefiederte Löckchen unter dem Hauch seines Mundes leise erbebten. Wie sie reizend war, auch beim Tanz! Ihm fiel eine Strophe aus einem Gedicht ein, das er einmal irgendwo gelesen:

„Wie eine Blume lag sie mir im Arm,
Die sich im Abendwinde wiegt und schmiegt!“

Zögernd nur gab er sie frei; er wurde unwillig, wenn er dachte, sie sollte den langen Cotillon hindurch mit diesem Ulanen-Offizier, der so durchtriebene Augen machen und so herzlich lachen konnte, vereint sein. Und sie lachte gern, hatte ein so liebliches, goldtöniges Stimmchen, das ansteckend wirke! Hatte sie doch ihn, der das Lachen fast verlernt zu haben meinte, mit ihrer kindlichen Fröhlichkeit angesteckt, daß er sich selbst kaum wiedererkannte! Fast reute es ihn, nicht den ganzen „Unsinn“, womit er den Cotillon meinte, als ihr Tänzer mitgemacht zu haben! Lächerlich! Er und Cotillon tanzen! Vor kleinen koketten Gänschen in die Kniee sinken und nach emporgeworfenen Taschentüchern springen und sich Schneebälle von Papierschnitzeln ins Gesicht werfen lassen und was sonst der albernen Geschmacklosigkeiten mehr waren; er wäre sich reif fürs Narrenhaus vorgekommen, er hätte sich das selbst kaum jemals verzeihen können. Nun, der lustige Ulanenlieutenant hatte auch herzlich wenig von seiner Tänzerin, sie wurde ihm jede Minute entführt, und er sah ihr jedesmal ganz kläglich nach! –

Allgemach war auch der Cotillon beendet worden, die geplünderte Pyramide wurde von einem Bedienten hinausgetragen, die jungen Damen zerstreuten sich hierhin, dorthin, es wurden ihrer immer weniger, – die Herren setzten sich noch im Rauchzimmer beim Bier fest. Delmont stand, eine Cigarette zwischen den Lippen, an der Thür, die zum Hausflur führte und die, der in den Zimmern herrschenden Hitze halber, fast ganz geöffnet war. Eine Dame nach der andern kam die mit Decken belegte Treppe, welche nach der Garderobe führte, herab, in Mantel und Kappe vermummt, auf trippelnden Füßchen, schwatzend, lachend, – endlich auch sie, das süße, junge Gesicht von einem weißflockigen Seidenshawl wie von einer Sommerwolke umhüllt, beide Hände voller Blumen, aber nicht plaudernd und scherzend, sondern ernsthaft vor sich hinschauend, ganz in Gedanken! Sie schrak heftig zusammen, als er ihr „Gute Nacht“ wünschte, und antwortete sichtlich befangen. Dann war sie fort, und die ganze übrige Gesellschaft dünkte ihm unglaublich gleichgültig – er drückte dem Gastgeber die Hand, sagte der Hausfrau ein paar verbindliche Worte und ging hinaus in die dunkle und stille Märznacht, die urplötzlich einen Frühlingshauch mit sich brachte – einen ganz seltsamen, herzbeklemmenden Frühlingshauch. –

„Ja, ja,“ fing der Professor halblaut an, und Ego hob den Kopf und hörte zu, „gesteh’ dir’s nur ehrlich: es ist so! Hilft nichts, es mit einem andern Namen nennen zu wollen! Hast oft gefürchtet, es könnte noch einmal so kommen – nun ist’s mit einem Mal da!“ – Seine Stimme verlor sich in ein undeutliches Gemurmel, eine Zeitlang war in dem großen, weiten Raum nur das trauliche Schwatzen der Flammen im Kamin und das feine Singen des Gases zu vernehmen. „Wir haben kein Recht auf sie, Ego! Hörst Du? Kein Recht überhaupt auf das, was man Glück und Liebe nennt … wir nicht!“ Ego sah mit treuen, verständnißvollen Augen in die aufgeregten Züge seines Herrn – er hatte sich halb erhoben und stützte seinen Kopf liebkosend gegen Delmonts Knie. „Wenn die Leute das hörten, würden sie sagen: wozu brauchst du auch Glück und Liebe? Du hast ja deine Kunst, die kann dir Ersatz sein für alles! Man darf nicht zuviel vom Schicksal fordern! Meine Kunst, jawohl! Wir haben uns nicht ganz umsonst glühend um sie beworben, uns halbtodt um sie gesehnt! Sie giebt uns Begeisterung – Trost – und Brot – Ehre – Ansehen – aber auch Glück, volles, wirkliches Menschenglück, Ego? – aber auch Liebe?“

Des Professors Hand ruhte jetzt auf dem Kopf des Hundes. Er hatte sich vorgeneigt und starrte in das Feuer. Immer hatte er das geliebt – eine seiner frühesten Rückerinnerungen galt den Augenblicken, da er als ein kleines Knäbchen vor der halboffenen Ofenthür gekauert und die spielenden Flammen beobachtet hatte … da waren ihm allerlei verworrene Gedanken gekommen … Bilder, wie es sein müßte, wenn er erst groß und berühmt sein würde und ein Mann – – jetzt war das alles eingetroffen, er saß da, mit Gold, Ehren und Ruhm überhäuft, er war an Fürstenhöfen empfangen und von Künstlern ausgezeichnet worden, zu denen er als Jüngling nur in scheuer Bewunderung aufzublicken gewagt hatte, – – in seinem hohen, weiten Prachtgemach saß er da, ein Künstler von Gottes Gnaden, ein Mann, der sich aus eigener Kraft zu der hochragenden Stufe, auf der er stand, emporgeschwungen hatte; es umgaben ihn die Meisterwerke seiner Hand – Schönheit, wohin das Auge blickte, – aber er war einsam, kein häusliches Glück blühte ihm, kein leichter, weiblicher Schritt, kein herziges Kinderlachen tönte durch den hallenden Raum, nur die Flammen knisterten, und in ihnen zeigte sich ihm ein Bild, ein grausiges Bild. So oft er auch schon gewähnt, es vergessen zu können, es stieg immer wieder vor ihm auf, um ihn mit bangem Entsetzen zu erfüllen, das Bild einer alten Schuld, das ihn seit seiner Jugend von Land zu Land jagte, ruhelos, friedlos, das ihn trotz aller seiner Erfolge zu keinem Lebensgenuß kommen ließ, ihm den gefüllten Becher vom Munde zog.

Ein Frösteln überlief ihn; er wandte sich rückwärts, wo auf einem breiten Gerüst in der Tiefe des Ateliers sein neuestes Werk, an dem er noch arbeitete, aufgestellt war: Karawane bei Kufara in der Libyschen Wüste.

Wohl nur ein Künstler vom Schlage Delmonts, ein Maler, der sich durch seine geniale Auffassung und seine unvergleichlichen Beleuchtungseffekte Weltruhm erworben hatte, konnte es wagen, ein Bild von dieser Ausdehnung mit verhältnißmäßig so unbedeutender Staffage zu schaffen. Denn die Karawane war Nebensache. So lebensvoll auch die Gruppe der Kameltreiber, der in weite, weiße Mäntel gehüllten Europäer, der braunen Araber anzusehen war, wie sie geschäftig nach längerer Rast zum Aufbruch rüsteten, während die Kamele noch halb aufgezäumt am Boden lagen, – die Hauptsache war doch die Wüste, die sich todt und kahl in weißflimmerndem Grau erstreckte, weit, unabsehbar weit, baumlos, strauchlos, eine unendliche Einöde. Am äußersten Rande des Horizonts zuckte es fahl röthlich auf, eine erste Ankündigung der Sonne, über dem ganzen Bilde aber lag ein blasser Dämmerschein, ein seltsam unirdisches Halblicht, das die Menschen wie Schatten und die hingedehnte Weite doppelt trostlos erscheinen ließ.

Auch Ego hatte sich zurückgedreht und musterte das Wüstenbild und darauf seinen Herrn, als wollte er sagen: ich erinnere mich!

[616] Delmonts Hand glitt herab vom Kopf des Hundes; die Augen immer noch halb rückwärts gewendet, zog er ein Blatt Kartonpapier und einen Zeichenstift zu sich heran. Jetzt legte er das Blatt auf seine Kniee und setzte den Stift an – dazu murmelte er halb unwillig: „Nur die Hand!“

So wie sie ihm vorschwebte – nein, wie er sie in diesem Augenblick greifbar deutlich vor sich sah wie alles, was ihm einen starken Eindruck machte, so gab er die Form dieser schönen Mädchenhand mit raschen, festen Strichen auf dem Papier wieder. Sie hatte den Künstler entzückt und den Menschen begeistert, diese weiße Hand mit ihren ruhigen, vornehmen Linien – es lag so viel Charakter darin! Sie hatte keinen Ring getragen, nur einen prachtvollen, alterthümlichen Armreif, den ihr Vater einmal für schweres Geld von einem Augsburger Raritätenhändler erstanden hatte. Delmont hatte den Reif bewundert, aber auch das feine, runde Handgelenk, das er umschloß! Da waren sie beide, der Armreif und die Hand, wie sie neben ihm auf dem Tisch gelegen hatten, regungslos und doch beseelt!

Der Stift fuhr unruhig auf dem Papier hin und wider, es war, als hätte er Leben bekommen und trachtete nun danach, selbständig etwas zu leisten …

„Nur den Umriß des Kopfes!“ flüsterte der Künstler vor sich hin, abermals zu seiner eigenen Entschuldigung.

Und es trat mit überraschender Schnelligkeit das feine Köpfchen auf dem zierlichen Halse auf, die reizende Biegung des Nackens, an den die goldigen Löckchen sich schmiegten. Weiter nichts! Das Haupt war ganz abgewendet, nicht einmal das Profil war zu sehen, wie wenn das Bildchen sagen wollte: „Was gehe ich dich an? Und was gehst du mich an?“

Dieser gebieterische Stift! Dies brennende Verlangen, dem stummen, weißen Papier noch mehr zu sagen! Und endlich … was war’s denn? Er wollte sich, um in der Künstlersprache zu reden, „von einem Eindruck befreien“. – Vielleicht – ganz traute er der Sache nicht! – aber vielleicht „befreite“ er sich wirklich; immerhin konnte er’s versuchen!

Da fuhr es wie ein elektrischer Strom in den herrischen, ungeduldigen Stift, und rasch, rasch wie durch Zauber, kam etwas Wunderschönes auf den Karton, ein feines, edles Profil, hinter dem zierlichen Ohr eine köstliche, voll erblühte La France-Rose, die sich in das seidenweiche Haar schmiegte – dann noch einmal derselbe Kopf, fast ganz dem Beschauer zugewendet, das süße, lächelnde Gesicht, die leuchtenden, klugen Augen, zum Sprechen getreu.

Ego hatte sich hoch emporgerichtet und sah seinem Herrn über die Schulter – seine ernsten Augen schienen zu fragen: „Was thunst Du da? Wer ist dies?“

Seufzend, wie nach überstandener Mühsal, ließ der Künstler seine Hand sinken; er mußte sich gefangen geben, das fühlte er, denn von einem „befreienden Eindruck“ war nichts in ihm zu verspüren – im Gegentheil!

Gut, er war sich klar über sich selbst! Aber das war alles – weiter sollte und durfte nichts folgen. Wie ein fest entschlossener Mann, der ein schweres Opfer auf sich nehmen muß, stand er auf, öffnete ein breites Geheimfach seines Arbeitstisches, legte das Blatt mit den Zeichnungen zu unterst hinein und häufte Papiere, Skizzen, Kartons darüber, schloß ab, steckte den Schlüssel zu sich, zündete ein paar Kerzen auf einem Armleuchter an und stellte das Gas ab. Im Nu lag der mächtige Raum im tiefsten Dunkel, nur im Kamin gaben die langsam verglimmenden Holzblöcke eine rothe gedämpfte Gluth, und die drei Kerzenflämmchen warfen einen ungewissen Schimmer auf die zunächstliegenden Gold- und Brokatstoffe, denen ein schwaches metallisches Funkeln entlockt wurde. Der Neufundländer war aufgestanden, er dehnte seine prächtigen Glieder und gähnte lautlos.

„Ja, Ego, komm’, wir wollen zur Ruhe gehen!“

Der Professor wandte sich noch auf der Schwelle zurück und sah nach seinem Arbeitstisch; das Geheimfach war gut abgeschlossen. –

Aber wie er eine halbe Stunde später in festem Schlaf in seinem Bett lag, da kam der Traumgott zu ihm und schloß das Geheimfach seines Herzens wieder auf und zeigte ihm Annie Gerold aufs neue, liebreizend und lebensvoll. Da sagte er ein paar halblaute, zärtliche Worte im Schlaf, und Ego, der zu seinen Füßen hingestreckt lag, fuhr in die Höhe und hob den Kopf, wachsam in die dunkle Nacht hinausspähend – er wußte, es nahte sich etwas Fremdes, Ungewohntes, – ein Schmerz für seinen Herrn …




4.

„Ich werde es doch thun müssen!“ sagte der Ulanenlieutenant Fritz von Conventius in gedehntem, elegischem Ton. Von ihm und der Umgebung, in der er sich befand, war wenig zu sehen, – derartig verfinsterten dicke Wolken von Tabaksqualm die Luft. Es war eine lange Pause in der Unterhaltung eingetreten, die durch diese Bemerkung des Gastgebers unterbrochen wurde.

„Thun? Was?“ knurrte der Baß des Rittmeisters Thor von Hammerstein dazwischen. Er war noch unsichtbarer als sein Kamerad Conventius, da er es in der Kunst, die riesigsten Ringelwolken von sich zu blasen, entschieden am weitesten gebracht hatte; jetzt theilte er mit seiner großen Hand den Rauch und man konnte für einen Augenblick sein dickes, rundes Gesicht mit dem brandrothen Schnauzbart und den verquollenen Augen sehen.

„Nun – eben, – zur Antrittspredigt meines Vetters Reginald in die Lukaskirche gehen.“

„Donnerwetter!“ fuhr der Lieutenant Gründlich heraus, und die braun und weiß gefleckte Hühnerhündin des Gastgebers, die unter dem Tisch in einen tiefen Schlaf versunken gewesen, begleitete den Fluch mit einem schmerzlichen Geheul, – der Lieutenant hatte ihr in seiner Erregung unversehens einen Fußtritt gegeben.

„Na, so nehmen Sie sich doch aber in acht, Gründlich! Sei ruhig, Julchen, der Onkel hat’s nicht gern gethan!“

„Sie müssen wirklich mehr an die Beine Ihrer Nebenmenschen denken, Gründlich!“ fiel Thors Baßstimme dazwischen; er hatte seine langen Beine so weit wie möglich von sich gestreckt und ebenfalls sein Theil abbekommen.

„Nebenmenschen ist wunderschön gesagt, Parsifal!“ erwiderte Conventius. „Quittire dankend in Julchens Namen, – sie nimmt’s bei ihrer hochgradigen Intelligenz allerdings mit manchem Menschen auf. So, kusch dich, Julchen, sei gutes Thier, – hat dich die schwere Reiterei so arg getreten?“ Die Hündin hielt die Pfote hoch und reichte sie dem Lieutenant hin wie ein Kind, das sich von seiner Mutter trösten lassen möchte. „So, – so – o – o! Alles in Ordnung, Alte, nicht wahr? Ich bitt mir’s aus, Gründlich, daß Sie ein andermal etwas leiser treten! Was hatten Sie sich denn überhaupt so kräftig zu verwundern?“

„Und das fragen Sie noch? Erlauben Sie ’mal, – wenn Sie freiwillig in die Kirche gehen …“

„Ich habe Ihren Verstand übertaxiert, mein Guter! Ich war der einfältigen Meinung, Sie müßten hierfür eine Art von Verständniß entfalten! Parsifal, was sagst Du?“

Der Angeredete, wieder gänzlich von Rauch verdeckt, that erst noch ein paar kräftige Züge und griff dann nach einem Bierglase, das vor ihm stand und seine beliebte „Mischung“ enthielt: Cognak und Portwein, halb auf halb.

„Na,“ kam es endlich brummend heraus, „hingehen mußt Du wohl!“

„Ich sollt’ es denken! Und Ihnen, Gründlich, würde es durchaus nichts schaden, wenn Sie mich begleiteten! Denken Sie denn, mein Vetter hält Predigten wie eine Wassersuppe?“

„Ihr Vetter ist ein schöner Mensch – aber – na, was anderes wird er auch nicht zu predigen wissen wie die übrigen.“

„Und ich sag’ Ihnen, er ist ein schneidiger Mensch, der Feuer und Leben in Gottes Wort zu bringen versteht – abgesehen davon, daß er sonst noch ein famoser Kerl ist und ich ihm so vieles verdanke. – Wo haben Sie denn übrigens jemals Gelegenheit gehabt, etwas vom Predigen zu sehen und zu hören?“

„Ich? Ach, ich hatte da ’mal solch’ hübsche Cousine auf dem Lande …“

„Aha! Sehen Sie, unreines Gefäß, das Sie sind, dazu war Ihnen die Kirche gut genug. Pfui! Und dabei haben Sie, Ihrem edlen Namen zum Trotz, nicht ’mal die Sache gründlich betrieben, denn Sie schleichen allein durchs Leben!“

„Schleichen? Ich? Bei meinem schneidigen Tritt?“

„Jawohl, schneidig! Mein Julchen wird an diesen Tritt noch lange denken! Wo ist die Cousine geblieben?“

Gründlich zog die Schultern hoch.

[617]

Die Rückkehr des Sultans von Selamlik.
Zeichnung von H. Lüders.

[618] „Weiß ich’s? Sie nahm nachher einen Gutspächter – war ein nettes Mädel –“

„Der Pächter?“

„Dummheiten! Ja, und seitdem hab’ ich sie nicht mehr wiedergesehen.“

„Gründlich, Sie sind ein gründlicher Don Juan! Und eben um dieser an sich verfluchten Eigenschaft willen sollten Sie uns, Thor und mich, schlankweg übermorgen in die Lukaskirche begleiten –“

„Was?“ fuhr der lange Rittmeister aus seinem Phlegma auf. „Ich soll auch mitkommen? Könnte mich grämen!“

„Weil,“ fuhr Conventius unbeirrt mit erhobener Stimme fort, „eine ganze Anzahl sehr hübscher und junger Mädchen sich ohne Zweifel zu eben dieser Antrittspredigt in eben diese Lukaskirche begeben wird und Ihre profanen Augen Gelegenheit zu gründlichen Studien bekommen dürften. Wenn dabei noch ein Stückchen Moral in Ihrem verstockten Busen Wurzel fassen sollte … welch’ ein Triumph für meinen Vetter! Meine neuliche Cotillontänzerin, diese reizende Annie Gerold, – ich weiß nicht, Parsifal, ob Du Dich ihrer noch erinnerst – eine kastanienbraune Haarfarbe – weißes Kleid – La France-Rosen – und –“

„Ja doch! Zum Donnerwetter, ich erinnere mich! Nun also, mach weiter!“

„Die kommt also bestimmt auch hin, sie hat es mir selbst gesagt.“

„Hm! hm!“ machte der Rittmeister und starrte ganz tiefsinnig in seinm leeres Glas. „Predigt er sehr lange – Dein Vetter?“

„Na, einschlafen wirst Du nicht, mein lieber Alter, bei solcher Augenweide! Die Blumenmädchen, die Deinen klugen Namensvetter in der Wagnerschen Oper umgaukeln, können es sicher nicht mit dem hiesigen Damenflor aufnehmen! Also Du kommst?

‚Mit Wellgunde bin ich zu zwei’n’!‘

Und Sie, Gründlich?“

„Na, ich weiß noch nicht, werde mir’s überlegen!“ Der Lieutenant stand auf, gähnte herzhaft und dehnte seine etwas dürren Gliedmaßen, wobei er von einem Fuß auf den andern trat mit einiger Vorsicht, um Julchen nicht aufs neue zu beschädigen.

„Was – Sie gehen schon, Gründlich?“ brummte Thor. „Am Ende komme ich auch mit Ihnen; hast Du noch Stoff vorräthig, Conventius?“

Der Angeredete nahm eine Flasche vom Tisch und hielt sie gegen das Licht. „Der Portwein ist hin. Du hast ihn bis auf den letzten Tropfen durch Deine unersättliche Gurgel rinnen lassen! Aber Cognak ist noch zu haben!“

„Danke schön. Ich komme lieber einandermal wieder, wenn Du frische Zufuhr hast. Wo sind Deine Cigarren hingekommen?“

„Dicht vor Dir auf dem Tisch stehen sie!“

„Kunststück, bei dem Qualm was zu sehen! Auf Wiedersehen denn übermorgen in der Lukaskirche.“

„Man wird sich kurios genug da drin ausnehmen!“ Gründlich zog sich, während er dies sagte, den Waffenrock zurecht und langte nach seinem Paletot. „Und übrigens, was das schöne Mädel betrifft, diese junge Gerold, so fürchte ich, unsere Waffe hat verflucht wenig Aussichten bei ihr, – sie sah neulich heillos vergnügt aus zwischen den zwei Civilisten, die sich, wie mir’s schien, beide etwas angesengt hatten.“

„Unsinn!“ murrte Thor dazwischen.

„Sie meinen, wenn eine so herzstürmende Persönlichkeit wie die Ihrige, noch dazu in der Ulanka, in die Schranken tritt, verschwindet alles einfarbige Tuch wie Schnee an der Sonne. Ich weiß doch aber nicht, lieber Hammerstein! Dies junge Fräulein hat eine ganz erstaunliche phisosophische und klassische Bildung erhalten, ihr Vater war ein Stockgelehrter, die alte Schwester, mit der sie lebt, liest ihren Kant und Schopenhauer wie unsereins die Fibel. Haben Sie von diesen Herren je etwas gehört?“

„Gründlich, lassen Sie ihn in Frieden! Sie sind ja heillos genau auf dem laufenden!“

„Halte ich für meine Pflicht, Bester! Bei einem schönen Mädchen muß unsereins stets wissen, woher und wohin. Adieu denn!“

Die beiden griffen nach Säbel und Kopfbedeckungen und verließen klirrend und rasselnd die „Bude“.

Der junge Conventius ging ein paar Mal gedankenvoll auf und nieder, ließ sich dann nachlässig auf seinen Klaviersessel fallen und schlug leise mit der rechten Hand auf den Tasten Lohengrins Erzählung an:

„Im fernen Land, unnahbar euren Schritten –“

Allmählich kam auch die Linke dazu, die herrliche Melodie schwoll an, wurde immer volltöniger und mächtiger. Der Lieutenant war ein vielseitig begabter Mensch: er zeichnete sehr hübsch, hatte viel Sprachtalent und spielte gut Klavier – zumeist nach dem Gehör, denn er war sehr sorglos in der Pflege seiner Gaben und viel zu bequem, sich eine große Technik anzueignen.

Julchen hatte sich, da die Thür zum Schlafzimmer geschlossen war, in den entferntesten Winkel zurückgezogen und saß nun dort mit still ergebenem Gesicht. Sie liebte die Musik gar nicht, wußte aber, daß Heulen ihr nicht gestattet war und unnachsichtlich mit schmerzhaftem Zerren an ihren lang herabhängenden Ohren gestraft wurde.

Jetzt klopfte es leise an die Thür und das rothe, runde Gesicht eines Burschen wurde sichtbar.

„Bitt’ um Verzeihung, Herr Lieutenant, aber Frau Lehmann ist hier – Herr Pfarrer möchte gern den Herrn Lieutenant sprechen und fragt an, ob es hier oder oben genehm wäre.“

Der Lieutenant warf einen raschen Blick auf das mit blauem Rauch erfüllte Zimmer, die geleerten Gläser und Flaschen, die Cigarrenreste auf dem Tisch, die Lampe, die wie in einem Dunstkreis brannte, und erwiderte:

„Ich lasse grüßen und würde in zwei Minuten oben sein!“

Er ging hastig in sein Schlafzimmer, warf den Hausrock ab und tauchte Kopf und Hände in eine große Waschschüssel; nachdem er dies Manöver prustend und ächzend mehrmals wiederholt und sich mit einem groben Tuch getrocknet hatte, trat er vor den Spiegel, zog den Rock wieder an, band die Krawatte fester und strich sich das Haar zurecht. Dann schellte er nachdrücklich.

„Kruschewsky, Du lüftest hier gehörig, aber gehörig – verstanden? Wenn ich herunterkomme, und ich rieche noch ein Atom von kaltem Tabak, so dreh’ ich Dir das Genick um!“

Mit dieser menschenfreundlichen Ermahnung stieg der Lieutenant, von Julchen begleitet, die Treppe hinan.

Eine freundliche alte Frau mit einem guten, faltigen Gesicht unter einer schneeweißen Haube öffnete ihm die Thür – Frau Lehmann, Reginalds Amme, die ihr heimathliches Dorf, ihre Kinder und Enkel verlassen hatte, um ihren Liebling in der großen, fremden Stadt nicht ganz allein zu lassen. – Die beiden, Fritz und die Lehmann, konnten einander gut leiden und lachten sich freundlich an.

„Gehen Sie nur gleich hinein, Herr Lieutenant, er ist vorn und wartet auf Sie! Mein Gott, Sie sehen ja so roth aus im Gesicht – Sie werden doch nicht krank sein?“

„Bewahre, liebe Frau Lehmann! Ich bin bloß aus Freude erröthet, Sie wiederzusehen! Komm’, Julchen!“

Das hellerleuchtete, sauber aufgeräumte und von Blumenduft durchzogene Zimmer, das der Ulan jetzt betrat, stand im schärfsten Gegensatz zu der „Bude“, die er soeben verlassen hatte. Alte, gediegene Möbel standen an den Wänden umher, ein großer, heller Teppich bedeckte den Fußboden; über dem Sofa hing das lebensgroße Brustbild einer sehr schönen blonden Frau, der Reginald auffallend ähnlich sah.

Er hatte mit einem Buch neben der Lampe am Tisch gesessen und reichte seinem Vetter freundlich die Hand.

„Guten Abend, Fritz! Setz’ Dich! Kann’ ich Dir etwas zu rauchen und zu trinken anbieten? Nein? Nun, wie Du willst! Guten Abend, Julchen!“

Die wohlerzogene Hühnerhündin hatte dem Pfarrer eine Pfote hingereicht, und er schüttelte sie ihr wie einer guten Freundin.

„’s ist doch höllisch gemüthlich bei Dir, Regi!“ sagte der Lieutenant mit einem tiefen Athemzug, indem er sich behaglich in seinem Sessel dehnte.

„Höllisch ist für einen Geistlichen nicht ganz kommentmäßig, Fritz!“ sagte der Pfarrer lachend. „Und warum, wenn Dir’s bei mir so gefällt, kannst Du Dir nicht unten die selbe Gemüthlichkeit schaffen?“

„Das leiden schon die Kameraden nicht, denen ist am wohlsten, wenn angerauchte Cigarren und Karten und Gläser und Reitpeitschen bunt durcheinander gemengt sind. Du hast im ganzen wenig Besuch.“

[619] „Bitte sehr! Soeben habe ich einen gehabt, noch dazu einen wichtigen.“

„Damenbesuch?“ fragte der Lieutenant gespannt.

„Nein, Du frivoler Mensch, nichts so Zartes! Wie sollte ich wohl auch dazu kommen?“

„Setz’ Dich nur erst als wohlbestallter Seelsorger an der Lukaskirche fest, und Du sollst sehen, wie Dir die anmuthigen Beichtkinder zufliegen werden! Ein bildhübscher Kerl wie Du – sag’, siehst Du denn nie in den Spiegel?“

„Natürlich, Fritzchen! Allein – ich kann nicht sagen, daß mich das, was ich da zu sehen bekomme, sehr entzückt! Ich bin erstens nicht mein eigener Geschmack – und dann –“

„Nun?“

„Ich denke, das, was den Damen gefällt, ist ein ganz anderes Genre, als das meinige, – das interessante, fesselnde, ein wenig düstere, das ihnen halb Furcht einflößt, sie doch und unwiderstehlich anzieht …“

„Sieh, was der geistliche Herr für Studien auf diesem Gebiet macht!“ lachte der Vetter. „Solch’ ein Gesicht, wie Du es da beschreibst, paßt ja Zug für Zug auf diesen Maler, den Professor Delmont, den wir neulich bei Weylands sahen.“

Die Augen der beiden Vettern trafen ineinander, und der Offizier merkte zu seinem ungemessenen Erstaunen, daß der Herr Pfarrer verlegen war – seinem raschen Begriffsvermögen dämmerte etwas wie eine Ahnung auf, und frisch entschlossen steuerte er geradeswegs auf das Ziel zu.

„Deine schöne Tischnachbarin von Weylands wird sicher Deine Ansicht nicht theilen. Du weißt, ich war ihr Cotillontänzer – sie hat kein einziges Wort über Delmont zu mir gesagt, dagegen sich angelegentlichst nach Dir erkundigt!“

„Wirklich? Hat sie?“

„Ja – und daß sie bestimmt zu Deiner Antrittspredigt kommen will. Du wirst sie da wohl alle wiedersehen, die lieben kleinen Mädchen vom neulichen Abend. Wird es Dich nicht verwirren, all diese neugierigen Aeuglein auf Dich gerichtet zu sehen?“

„Nein, Fritz! Ich habe dann an Wichtigeres zu denken als an Mädchenaugen!“

Der Ulan ließ sich nicht so leicht irremachen.

„Ja, aber dieses Fräulein Gerold hat denn doch ein Paar ausgesuchter Augen im Kopf. Wetter noch eins! Wenn die so sonnenhell und freundlich dreinsehen … ’s wird einem doch kurios so um die linke Gegend herum! Die Kameraden wollen allesammt Visite schneiden – die Gerolds sollen ein sehr hübsches Haus machen, haben auch viel Vermögen – schade, daß die Saison vorbei ist!“

„Ich habe mir auch vorgenommen, dort meinen Besuch zu machen!“ Conventius hatte den Blick niedergeschlagen und spielte mit der Quaste an der Tischdecke.

„Den Mann hat’s!“ dachte der Lieutenant und musterte seinen Vetter mit einem ganz neuen Interesse. „Seh’ einer den Duckmäuser an! Ist noch nicht recht warm hier geworden und verliebt sich flottweg in das schönste Mädchen, das uns hier vor die Augen gekommen ist! Gut, daß ich das weiß! War selber auf dem besten Wege, mich gehörig ansengen zu lassen. Na, davon kann natürlich jetzt gar keine Rede mehr sein! Regi hat die Vorhand, und wir blasen in aller Stille zum Rückzug. Was der geistliche Herr für einen auserlesenen Geschmack entwickelt! Ein schönes Paar giebt das ab! Sie wird doch kein Närrchen sein und dieses Prachtexemplar von einem Menschen zurückweisen? Er hat sie mit diesem Professor im Verdacht, und wenn ich mich recht besinne, wie angelegentlich die zwei mit einander redeten, trotzdem er eigentlich Hertha Kreutzer, das kleine Affengesicht, zur Dame hatte … dummes Zeug! Warten wir’s ab! Jedenfalls lege ich mich als liebenswürdiger Vetter in Reginalds Namen auf die Lauer!“

Blitzartig waren diese Gedanken durch des jungen Mannes Sinn gegangen, während er ganz gesetzt erwiderte:

„Du wirst sehr wohl daran thun, bei Gerolds Besuch zu machen. Fräulein Annie liebt ihre ältere Schwester schwärmerisch, und da diese Dame Geist und große Kenntnisse besitzen soll, dürftest Du ihr besser gefallen und mehr Eindruck auf sie machen als unsere gesammte Ulanenpracht!“

Reginald machte eine Bewegung, die sagen zu wollen schien, daß ihm daran nichts liege, und es trat eine kurze Stille ein, die Fritz endlich mit den Worten unterbrach:

„Du sprachst von einem Besuch –“

„Ja, ja, ganz recht. Entschuldige, Fritz! Es war der Grund, weshalb ich Dich heraufbitten ließ – und nun hatte ich ganz vergessen –“

Welch ein Neuling in der Verstellungskunst! Der schöne, stattliche Mann war verlegen wie ein Kind; es gehörte wahrlich nicht viel Menschenkenntniß dazu, in seiner Seele zu lesen!

„Also, vor einer Weile war der Gefängnißdirektor Warner hier, ein verständiger, gescheiter Mann; wir hatten eine sehr lange Unterredung miteinander, und da Du besonders für diesen Zweig meines Berufs Interesse gezeigt hast, so wollte ich Dir mittheilen, was ich heute erfahren habe.“

„Nur zu, Freundchen! Ich kann es nicht leugnen, daß es zunächst die profane Empfindung der Neugier ist, die mich beherrscht – wie nämlich Du, vor dem ich im übrigen alle Hochachtung habe, Dich einer Aufgabe, die doch soviel Gewandtheit und Seelenkunde erfordert, gewachsen zeigen dürftest!“

„Ja – darauf bin ich selbst neugierig!“ entgegnete der Prediger ruhig. „Jedenfalls werde ich thun, was in meiner Macht steht.“

„Hat Dich der Direkor mit Deinen neuen Pflichten als Gefängnißprediger bekannt gemacht?“

„Gewiß! Er hat mir gesagt, wann allgemeine Andachten gehalten werden, und wer dazu zugelassen wird, wer nicht. Er hat mir in allgemeinen Zügen ein Bild des Sinnes und des Geistes, der unter diesen meinen neuen Pflichtbefohlenen herrscht, entworfen – zu Dir im Vertrauen gesagt, Fritz: mein Vorgänger im Amt hat sich’s ungeheuer bequem mit seiner Aufgabe gemacht, er hat fast alles, was ihm unangenehm war – und dies war sehr viel, wie ich Dir kaum zu sagen brauche – von sich abgeschüttelt und ist eigentlich nur dem Namen nach Gefängnißgeistlicher gewesen. Nach des Direktors Aussage, die mir frei von Uebertreibung zu sein schien, muß eine unglaubliche Rohheit und Verwilderung unter diesen verkommenen Menschenkindern Platz gegriffen haben.“

„Armer Reginald! Diese Bande wird Dir schwer zu schaffen machen! Ich bitte Dich um alles, laß einmal Deine liebenswürdige Milde und Duldsamkeit beiseite und geh’ mit den Kerlen schneidig ins Zeug; droh’ ihnen mit Höllenstrafen und ewiger Verdammniß, mit jüngstem Gericht und Teufeln, daß ihnen die Haare zu Berge stehen! Hast Du denn viele schwere Verbrecher?“

„Leider ja! Einbrecher und Diebe, Falschmünzer, Brandstifter – wir leben in einer bösen Zeit! Ein Fall namentlich, von dem mir der Direktor sprach …“

„Was ist das für ein Fall? So etwas reizt mich ganz ungemein!“

„Das wußte ich! Also, es liegt schwerer Raubmord vor. Der Thäter, ein gewisser Schönfeld – er hat oft andere Namen angenommen, in Berlin nannte er sich Heller, in London Deaks, glaube ich – ist ein Mensch gefährlichster Sorte und steht im allerdringendsten Verdachte, das Oberhaupt einer ganzen, wohlorganisirten Bande zu sein, die in verschiedenen großen Städten ihr Unwesen treibt – Anarchisten, Umsturzmänner der schlimmsten Art. Der Mensch, der den Eindruck eines gebildeten Mannes im oberflächlicheren Sinn machen soll, verweigert hartnäckig jede Auskunft über seine Mitschuldigen, leugnet aber die That selbst keinen Augenblick, was ihm freilich auch nichts helfen würde, da er unmittelbar nach derselben am Ort des Verbrechens selbst ergriffen wurde und seine Urheberschaft zweifellos erwiesen ist. Er behauptet, die Unthat ganz allein vollführt zu haben, eine Aussage, die durch verschiedene klar am Tage liegende Umstände offenbar zur Lüge gestempelt wird. Er hat sie beschworen, aber natürlich einen Meineid geleistet, von dem Bestreben beseelt, nicht den Angeber zu spielen. Die Geschworenen konnten nicht anders als ihn zum Tode durch Henkershand verurtheilen – jetzt ist das Gnadengesuch – nicht auf Antrieb des Verbrechers – an Se. Majestät abgegangen, ich fürchte aber, es wird abschlägig beschieden. Er selbst soll völlig mit dem Gedanken vertraut und zufrieden sein, einen so schimpflichen Tod erleiden zu müssen, und eine Verlängerung seines Daseins weder erwarten noch wünschen. Den Aerzten, die ihn beobachteten, in der Vermuthung, es könne Irrsinn vorliegen oder während der That zeitweilige Geistesstörung [620] stattgefunden haben, hat er kurz und trocken erklärt, sie möchten sich nicht weiter bemühen – er sei ebenso richtig und klar im Geist wie die Herren selbst, er habe damals genau gewußt und wisse auch jetzt, was er gethan habe und welche Folgen sein Verbrechen nach sich ziehe. Wirklich sind seine Antworten, insofern sie nur seine eigenen Angelegenheiten betrafen und seine Helfershelfer ganz aus dem Spiel ließen, von einer derartigen Folgerichtigkeit und Sicherheit gewesen, daß von irgend welcher Entschuldigung durch Krankheit nicht entfernt die Rede sein konnte.“

„Hat er keine Angehörigen, von deren Einfluß auf ihn etwas zu erwarten wäre?“

„Eine einzige Schwester, eben die, welche das Gnadengesuch für ihn eingereicht hat. Sie lebt in Ungarn, die Geschwister sind seit langen Jahren außer allem Zusammenhang, die Frau hat eine zahlreiche Familie, lebt in beschränkten Verhältnissen und ist nicht in der Lage, hierherzukommen, um ihren Bruder zu sehen. Sie traut sich überdies nicht den geringsten Einfluß auf ihn zu, auch hat er erklärt, sie keinesfalls wiedersehen zu wollen, es hätte gar keinen Sinn, sie kommen zu lassen.“

„Hat er die That aus Noth begangen?“

„Allem Anschein nach nicht aus persönlicher Noth gerade. Es ist den Richtern, so kurz und vorsichtig der Verbrecher auch in seinen Antworten war, zweifellos klar geworden, daß er Aufwieglern und Volksverderbern in die Hände gefallen und, vermöge seiner nicht wegzuleugnenden Begabung, seiner Bildung und eines gewissen zwingenden Einflusses seiner ganzen Persönlichkeit, ein höchst gefährliches Werkzeug dieser Leute geworden ist. Er besitzt nicht unbedeutende kaufmännische Kenntnisse, hat in jungen Jahren mehrfach in Comptoiren gearbeitet und stand nicht ganz ohne Mittel da, als er die That beging.“

„Wer war es denn, den er gemordet hat?“

„Eine sehr reiche, sehr hartherzige alte Dame, vom bösartigsten Geizteufel besessen, ein Wesen, das niemand liebte und dessen einziger Genuß darin bestand, Schätze zusammenzuscharren, wobei die Wahl der Mittel ihr ganz gleichgültig war. Sie hat Wucher der schlimmsten Art getrieben und ist mehrmals nahe daran gewesen, mit dem Strafgesetzbuch in allernächste Berührung zu kommen. Schönfeld behauptet, durch ihre Beseitigung eine gute That vollbracht und die Welt von einem Scheusal befreit zu haben. Es thäte ihm nur leid, ihr Geld nicht in Sicherheit gebracht und ‚vertheilt‘ zu haben, wie es seine Absicht gewesen wäre. Es scheint, daß seine Spießgesellen mit einem Theil des Raubes das Weite gesucht und ihn, der bei den Werthpapieren beschäftigt war, noch rechtzeitig gewarnt haben. Er war aber gerade dabei, eine Anzahl von Schuldverschreibungen, meist mittelloser Leute, die er aus dem feuerfesten Geldschrank hervorgeholt hatte, zu zerreißen, glaubte wohl auch die Gefahr nicht so nahe und verließ sich auf seine große Gewandtheit … es half ihm aber alles nichts, man faßte ihn, als er im Begriff war, aus einem Hinterfenster zu klettern – er feuerte noch zwei Schüsse aus seinem Revolver ab, verwundete einen der verfolgenden Polizisten schwer, den andern leicht und wurde nach einer verzweifelten Gegenwehr überwältigt und schwer gefesselt davongeführt.“

„Donnerwetter!“ Der Lieutenant schlug mit der Faust auf den Tisch, sprang auf und fing an, ganz erregt im Zimmer auf- und abzulaufen. „Wie der Kerl es noch verstanden hat, sich förmlich mit einem Nimbus von Heldenthum zu umgeben. Stiehlt nicht für sich selbst, sondern für andere! Mordet einen alten Geizdrachen, an dem die Welt keinen Pfifferling verliert. Zerreißt die Schuldscheine armer Leute, damit die nicht noch nachträglich in die Patsche gerathen! Will seine Gefährten um keinen Preis nennen! ’s liegt so was von Großartigkeit in all dem! Ja, zum Teufel – wenn diese Erzkanaille –“

„Wenn ich Dich bitten dürfte, Fritz! Wär’ Dir’s nicht möglich, etwas weniger zu fluchen?“

„Ach so! Das kommt davon, Regi, daß Du im gewöhnlichen Leben so gar nichts von einem Pfaffen, wollte sagen Prediger hast! – Nimm’s nicht übel, daß ich dazu aus vollem Herzen Gott sei Dank sage! Solche Leute, die mit der Miene von Heiligen unter uns profanem Volk herumwandeln, sind mir ein Greuel! Aber genug davon! Dieser Kerl, dieser Schönfeld! Und dies Galgenfrüchtchen sollst Du nun mit geistlichem Zuspruch erbauen?“

„Ich soll, und ich werde es – trotzdem er als einzige Bitte an den Direktor den Wunsch ausgesprochen hat, man möge ihn mit der Geistlichkeit verschonen!“

„Eine hübsche Aufgabe für Dich, Freund und Vetter! Ich möchte diesen Schönfeld, alias Heller, alias Deaks, wohl kennenlernen! Fast wollte ich, ich wäre an Deiner Stelle!“

Der Prediger mußte lächeln.

„Ob dabei etwas Vernünftiges herauskäme?“

„Weiß ich nicht! Himmlische Freuden würde ich ihm nicht in Aussicht stellen, vielmehr die ausgesuchtesten Qualen, die ein solcher niederträchtiger Satansbraten –“

„Fritz!“

„Ja, ja, ich mäßige mich schon, obgleich diese Sache eine gewisse Derbheit in der Bildersprache entschieden begünstigt. Nun sag’ mir nur noch: wie lange hat denn der Kerl noch zu leben?“

„Das wußte selbst der Direkor so genau nicht! Vielleicht zwei Monate – vielleicht auch drei!“

„Und wann wirst Du ihm Deinen ersten Antrittsbesuch abstatten, mein Lieber?“

„In künftiger Woche – er ist jetzt heiser, erkältet, und der Arzt behandelt ihn! ich will erst warten, bis er gesund ist.“

„Hm! Und Du kannst mich nicht dorthin mitnehmen – als – als sagen wir: als Deinen geistlichen Beistand?“

„Fritz, Fritz! Zu solch einem Posten fehlt Dir, fürchte ich, nicht mehr als alles!“

Der Lieutenant sah etwas unruhig aus.

„Nun – ich will Dir was sagen – ein Heiliger bin ich natürlich nicht … aber für einen so ganz hartgeklopften Sünder brauchst Du mich darum doch nicht zu halten. Ich hab’ Dir’s schon immer ’mal unter vier Augen sagen wollen – was brauchen denn schließlich die Kameraden zu wissen, wie man über solche Dinge denkt? Man braucht darum noch lange nicht … na, Du wirst’s ja wissen, Regi, wie ich’s so eigentlich meine!“

Und mit diesem unvollkommenen Glaubensbekenntniß schüttelte Fritz von Conventius, der immer verlegener geworden war, seinem geistlichen Vetter heftig die Hand, drehte sich auf dem Absatz herum, pfiff nach Julchen und verließ mit raschen Schritten das Zimmer.

Reginald sah ihm eine kleine Weile nach und lächelte freundlich, dann nahm er sein Buch auf und vertiefte sich von neuem in seine Lektüre.

(Fortsetzung folgt.)




Sängertage in der Kaiserstadt Wien.
Mit Zeichnungen von T. Rybkowski.

Glänzend ist es verlaufen, das IV. deutsche Sänger-Bundesfest in Wien; es hat die Erwartungen der Wiener wie diejenigen der Gäste weit übertroffen. Vor allem ist die Theilnahme der fremden Sänger eine viel größere gewesen, als man vorausgesetzt hatte; denn man war auf etwa 10000 Gäste gerüstet, und es sind wohl mehr als 15000 deutsche Sangesbrüder gekommen. Die in dem Prater auf der sogenannten „Feuerwerkswiese“ erbaute Sängerfesthalle hatte einen Fassungsraum für 20000 Menschen; sie hätte aber doppelt so groß sein müssen, um alle Einlaßbegehrenden aufzunehmen.

Diese Sängerfesthalle, vom Architekten und Stadtzimmermeister Hermann Otte entworfen und errichtet, bildete den gelungensten Holzbau, den wir jemals zu sehen Gelegenheit hatten. Trotz der riesigen Spannweite – die Länge betrug 160 Meter, die Breite 56 Meter und die Mittelhöhe 23 Meter – konnte der Architekt doch auf Säulenstützen verzichten, so daß die Decke sich völlig frei und in schöner Bogenlinie über den ganzen Raum weg wölbte. Das Ganze erhielt dadurch trotz seiner gewaltigen Ausdehnung ein freundliches, luftiges, leichtes Gepräge. Glücklicherweise hatte der Baumeister in der Festhalle auch eine [621] ausgezeichnete Akustik erzielt. Denn wenn die Schönheit der Verhältnisse und die Zweckmäßigkeit der Einrichtung ganz des Erbauers Verdienst waren, so wäre es nicht seine Schuld gewesen, wenn sich die Schallwirkungen in dem Riesenraume ungünstig gestaltet hätten. Die Gesetze der Akustik sind eben heute noch nicht genau festgestellt.

Die Sängerhalle von der Südseite. 
Das Innere der Sängerhalle während der
ersten Aufführung.
 

Hofloge.
Digirigentenplatz.
 Die Sängerhalle von der Ostseite.

[Text im Banner:]Viertes
deutsches
Sängerbundesfest
in Wien
vom 15. bis 18. August 1890
Auszug aus der Festordnung
Sängerfestzug vom Rathhaus
auf den
FESTPLATZ im PRATER.


Die Tribüne für die Sänger, welche terrassenförmig angelegt war, gab für etwa 8000 Menschen Raum, und so viele haben sich sicherlich auch auf dem Podium vereinigt, als es galt, die Gesammtvorträge unter der Leitung Eduard Kremsers und Franz Mairs zur Ausführung zu bringen. Die Wirkung dieser großen Aufführungen war eine überwältigende, berauschende; sie gereicht den Tausenden von Sängern, welche dem Taktstock des Dirigenten zu gehorchen wußten, und den beiden Chormeistern selbst im gleichen Maße zur Ehre. Unsere Abbildung zeigt die Sängerhalle während einer solchen Aufführung mit der großen Tribüne und der gegenüberliegenden Hofloge; und als verbindenden Schmuck hat unser Zeichner die Kolossalfigur des „Gesangs“ verwendet, welche sich neben derjenigen der „Musik“ über dem Hanpteingang der Festhalle erhob. Die beiden Gestalten waren von dem Bildhauer Hans Paindl nach den Angaben des Erbauers der Festhalle entworfen und ausgeführt worden.

Trotz der großartigen Vorbereitungen und des gewaltigen [622] Aufwandes an Arbeit, Mühe und Geld – die Festbauten allein haben nahezu 70000 Gulden gekostet – wollten wenige Tage vor dem Beginne der Feier viele noch nicht recht an das Zustandekommen echter Festesfreude glauben. „Die Zeiten sind zu schlecht!“ „Die sommerliche Hitze hält die meisten Leute von Wien fern“, solches und ähnliches konnte man reden hören. Doch diejenigen, welche in den gastfreundlichen, deutschen Sinn der Wiener festes Vertrauen setzten, haben sich nicht getäuscht.

Am Tage von Mariä Himmelfahrt (15. August) hat das Sängerfest seinen glorreichen Anfang genommen, und schon die großartige Betheiligung an dem feierlichen Einzug hat auf jeden Unbefangenen einen geradezu erhebenden Eindruck gemacht. Nachdem die Eisenbahnlinien noch im Laufe des Vormittags Hunderte und Tausende von Sängern und Sangesfreunden nach Wien gebracht hatten, welche man theils zu Fuß, theils im Fiaker, im Omnibus und in der Trambahn durch die Straßen ziehen sah, legte die Stadt ihr Werktagsgewand beiseite und kleidete sich in feierlichen Flaggenschmuck. Der Himmel schien dem Unternehmen seine volle Gunst zu schenken; denn nachts hatte ein heftiger Regen die glühende Hitze der Vortage abgekühlt, die Sonne lachte freundlich und milde, der ganze Himmel strahlte helle Freudigkeit.

Nachmittags um 2 Uhr begann die Aufstellung des Festzugs bei dem neuen Rathhaus, und der Bundesvorstand, Rechtsanwalt Dr. Beckh von Nürnberg, übergab das Banner des deutschen Sängerbundes der Stadt Wien, damit es „leuchte und flattere in der herrlichen Stadt als ein Zeichen des unzerreißbaren Bandes, das alle deutschen Sänger, alles Volk deutscher Nation vereinigt!“

[Text im Banner:]Vom Rathhause in die Sängerhalle

Festwagen der „Austria“.  Festwagen der „Vindobona“.

Dankend übernahm der Bürgermeister von Wien, Dr. Prix, die Bundesfahne, und als dann zwei Wiener Frauen, die Gattin des Herrn Dr. Prix und Frau Anna Geitler, das Banner unter sinnigen Worten mit Widmungsschleifen zierten, die erste im Namen der Frauen und Mädchen Wiens, die zweite im Namen der „Wiener Frauen- und Mädchen-Ortsgruppe des Deutschen Schulvereins“, da war der Jubel ein unbeschreiblicher. Die Theilnehmer am Festzuge bedurften dieser gehobenen Festesstimmung, denn es war keine Kleinigkeit, den ermüdenden Marsch vom Rathhause bis in den Prater, der fast vier Stunden währte, wohlgemuth zu bestehen. Eine materielle Stärkung fehlte leider den meisten: die Gasthäuser in der Nähe des Rathhauses waren schon einige Stunden vor Abmarsch des Zuges – ausverkauft. Doch die Mühen und Anstrengungen des Tages werden vergessen werden; der erhebende Eindruck, welchen die herzliche, jubelnde Begrüßung von seiten der Wiener hervorgerufen hat, wird in der Erinnerung fortleben!

Denn zu einem wahren Triumphzuge des deutschen Sanges hat sich dieser Marsch in den Prater gestaltet. Die ganze Breite der Ringstraße war dicht gefüllt von Männern und Frauen, welche in nie erlahmender Begeisterung die fremden Sänger mit Hochrufen empfingen. Der Zug ging an Baumreihen vorüber, hinter welchen die majestätischen Paläste emporragten, und die Befürchtung der Veranstalter, daß auf der breiten Ringstraße die Fühlung zwischen Wienern und Fremden, zwischen Festtheilnehmern und Zuschauern verloren gehen würde, war durchaus unbegründet. Man muß vielmehr den Behörden dafür Dank wissen, daß sie den Durchzug durch die innere Stadt verboten haben; denn abgesehen davon, daß viele Unglücksfälle in den Engpässen des alten Wiens unvermeidlich gewesen wären, hätte sich auch der Festesjubel bei solchem Platzmangel unmöglich so großartig entfalten können, als es wirklich geschehen ist. Man sah fast kein Haus, von dessen Fenstern nicht freundliche Grüße winkten, und auch die Fenster der öffentlichen Gebäude, z. B. diejenigen der Hof-Museen, waren von Zuschauern dicht besetzt. Ja selbst von dem Gerüste der im Bau begriffenen neuen Hofburg wurden Tücher geschwenkt, und von dem Triumphbogen des Burgthores, einem Theile der ehemaligen Bastei, grüßten zahlreiche Wiener ihre deutschen Gäste.

Die Ordnung, welche die Bevölkerung bewahrte, war eine mustergültige, ohne daß man es nothwendig gehabt hätte, Schranken zu ziehen, ohne Aufwendung von Militär, ja fast ohne Polizei, die erst im letzten Augenblick aufzog, um für den Festzug Raum zu schaffen.

Da Makart nicht mehr am Leben ist und unser Jahrhundert keinen zweiten Farbenzauberer seines Ranges besitzt, konnte der Sängerfestzug nicht eine gleiche Augenweide werden, wie ihn Makarts Huldigungsfestzug zu Ehren der Silbernen Hochzeit des österreichischen Kaiserpaares geboten hat. Aber jedenfalls war es ein glücklicher Gedanke der Veranstalter, den von Rud. Weyr entworfenen Eisenbahnwagen aus dem Makartschen Festzug auch hier zu verwenden. Derselbe eröffnet, mit vier prächtigen Pferden bespannt und mit blumengezierten weiblichen Gestalten geschmückt, [623] die unabsehbare Reihe der unzähligen Sängervereine und -bünde, von denen einzelne ihre eigenen Musikkapellen, alle ihre Standarten und Fahnen mit sich führten. Einzelne Bundesabzeichen sind so schwer, daß sie im Fiaker gefahren werden müssen, andere werden von Fahnenjunkern buchstäblich im Schweiße ihres Angesichtes getragen. Man kann sogar die liebenswürdige Scene beobachten, daß ein freundlicher Sangesbruder dem geplagten Fahnenträger, welcher keine Hand frei hat, die perlenden Tropfen von der Stirn wischt! Große Heiterkeit erregen der Berliner Bär, der Nürnberger Trichter und die unter grünweißen Sonnenschirmen gehenden 14 Sänger aus Wurzen. Ein Herold und sechs Knappen reiten dem Wagen der „Vindobona“ voraus, der mit wunderschönen Frauen besetzt ist. Nicht minder reizvoll aber sind die Insassen der Wagen „Austria“ und „Germania“. Beim Nahen der süddeutschen Sänger erhöht sich der Jubel der Bevölkerung, und er steigt auf die Spitze, als die Amerikaner mit ihrem Sternenbanner herannahen. „Ein Hoch der schönen Stadt Wien!“ ruft einer der Gäste, und ein vieltausendstimmiges Echo beantwortet den liebevollen Gruß. Helle Bewunderung erwecken – beim Wagen „Germania“ – die alten Deutschen, die in glaubwürdigster Weise Gestalten aus dem Nibelungenliede verkörpern.

Bierhalle zur „Sängertoni“.
Wein- und Bierhalle zum „Minnesänger“.

Der herzlichsten Huldigung hat sich auch der Bürgermeister zu erfreuen, welcher im Galawagen der Stadt Wien dahinfährt. Eine lange Reihe von Fiakern, fast durchweg mit reizenden Pferdchen bespannt, schließt sich an den städtischen Galawagen an; einzelne Herren pflücken von der Bekränzung ihres Wagens Rosen und werfen sie in die Menge – ein kleiner Zug, der den herzlichen Charakter der Wiener kennzeichnet! Den Schluß machen die Prunkwagen der Wiener Vereine; besonderen Beifall finden das „Donauweibchen“ und das Sechsgespann des Wiener Männergesangvereins. Derselbe macht vor der Oper Halt, um dem Direktor Jahn, der auf der Loggia den Zug mitansieht, seine Huldigung darzubringen.

Sechs Sicherheitswachleute zu Pferde schließen den Zug ab, dessen Vorbeimarsch fast volle drei Stunden gedauert hat, und dessen letzte Glieder erst um 8 Uhr in die Sängerfesthalle des Praters gelangen.

Der trinkbare „Sängerwein“, der dort unten beim „Minnesänger“ fließt, und der edle Schwechater Stoff, der bei der „Sängertoni“ geschenkt wird, erfrischen gar rasch die müden Glieder. Unser obenstehendes Bildchen vereinigt die Darstellung der beiden Augenblicksgasthäuser, welche wahrscheinlich schon wieder vom Erdboden verschwunden sein werden, wenn diese Zeilen in die Hände des Lesers gelangen. Ein sichtbares Andenken aber wird uns in dem Gemälde erhalten bleiben, welches der volksthümliche Wiener Künstler J. M. Kupfer „Sängertoni“ getauft hat und von welchem der Bierschank des Festplatzes seinen Namen ableitet. Kupfers „Sängertoni“ wird zwar wohl niemals so populär werden wie Kaulbachs „Schützenliesel“, sie ist aber doch ein recht flottes, naturwüchsiges und dabei anmuthiges Frauenzimmer.

Selbstverständlich vereinigte noch am selben Abend die Festhalle, auf deren Galerie sämmtliche Banner und Fahnen aufgestellt wurden, viel tausend sangesfreudiger Gäste, die in immer höher schwellender Begeisterung deutsche Lieder erklingen ließen und sich schließlich zu einem weihevollen Vortrage der österreichischen Volkshymne vereinigten. Große Wirkung machten die Worte des amerikanischen Vertreters, der mit seiner mächtigen Stimme den Riesenraum ganz erfüllte. Und seine Höhepunkt erreichte der Festesjubel, als das Telegramm verlesen wurde, in dem Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, einer der deutschesten unter den deutschen Fürsten, den Sängerbund begrüßte und seine Zuneigung für denselben ausdrückte.

Der zweite Festtag war vornehmlich künstlerischen Zwecken gewidmet. Am Vormittag hielten die Chormeister Kremser und Mair ihre Proben ab und stellten durch ihre künstlerische Gewissenhaftigkeit gar hohe Ansprüche an die Ausdauer und Geduld der Sänger. Daß ein achttausendstimmiger Chor nicht achtzig Mal stärker und voller klingt als ein hundertstimmiger, daß die Wirkung nicht in gleichem Maße sich verstärkt, als die Zahl der Sänger zunimmt, ist eine alte Erfahrung. Trotzdem war die Wirkung eine eigenartig große, und jeder Theilnehmer würde es wohl sehr bedauern, wenn er diesen seltenen Genuß verabsäumt hätte.

In dem allgemeinen Sängerkriege, der sich an die Gesammt-Aufführung anschloß, bestanden zwar die Deutschen, insbesondere die Königsberger, sehr ehrenvoll; den Sieg aber ersang sich doch der Wiener Männergesangverein, dessen echt österreichische Innigkeit und Herzlichkeit im künstlerischen Vortrage unerreicht bleibt. Auch die österreichische Militärmusik feierte (unter Komzaks Leitung) große Triumphe. Die ernsten Vorträge fanden allgemeine Anerkennung und die volksthümlichen Weisen entfesselten rauschenden Beifall.

Ein feierlicher Kommers beschloß den zweiten Festtag. Wie durch Zauber waren ein Theil der Bänke wieder in Tische verwandelt, und bei Speise und Trank erquickten sich die Kehlen. Den Gastgebern zur Ehre ertönte wiederum die „Volkshymne“, den deutschen Gästen zuliebe das „Heil Dir im Siegerkranz“, und zur allgemeinen Freude „Das deutsche Lied“. Durch die feierliche Begrüßungsrede des Bürgermeisters Dr. Prix, welcher das Deutschthum Wiens betonte und die österreichischen Deutschen mit den Gliedern einer großen Familie verglich, die sich ein eigenes Heim gegründet haben – durch diese Rede hat der zweite Festtag eine erhöhte Bedeutung erhalten.

Der dritte Festtag fiel mit dem Sonntag zusammen und brachte Menschenmassen in den Prater, wie sie derselbe seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hat. Der zweiten Haupt-Aufführung, die nicht minder würdig verlief als ihre Vorgängerin, wohnte der Erzherzog Carl Ludwig als Vertreter des Monarchen bei, welcher letztere außerdem den Sängern telegraphisch seinen kaiserlichen Gruß entbieten ließ. Auch die Erzherzöge Wilhelm und Rainer, der Ministerpräsident Graf Taaffe, der Kultusminister Dr. Baron v. Gautsch, der Handelsminister Marquis Bacquehem und der Justizminister Graf Schönborn waren zur Begrüßung der Sänger erschienen. Der Bundesvorstand, Dr. Beckh aus Nürnberg, brachte in einer bedeutsamen Rede ein Hoch aus auf den Kaiser Franz [624] Joseph, der zu Napoleon die stolzen Worte gesprochen: „Sire, ich bin ein deutscher Fürst!“ Dieser Ansprache folgte unbeschreiblicher Jubel, der sich abends beim Kommerse stürmisch erneuerte, als der Wiener Vicebürgermeister Dr. Borschke hervorhob, daß man am Vorabend von des Kaisers sechzigstem Geburtstag stehe. Der Reichsrathsabgeordnete Dr. Weitlof sprach einige markige Worte zu Ehren des deutschen Kaisers. Ein dreifach donnerndes Hoch erfüllte die Halle, und mit nicht minder herzlicher Begeisterung als die österreichische Volkshymne wurde das „Heil Dir im Siegerkranz“ gesungen.

Der vierte und letzte Festtag endlich war eine große Freude. Die Sänger hatten ihren Beruf vergessen, der Tag gehörte ganz der Geburtstagsfeier des Kaisers Franz Joseph. Die mächtige Halle war ihres Bannerschmuckes schon zum Theil entkleidet und auf dem Festplatz waren die schaulustigen Wiener in der Ueberzahl, während sich die Sänger im nahen Parke der land- und forstwirthschaftlichen Ausstellung an der herrlichen Festbeleuchtung ergötzten. Den würdigen Abschluß aber fand das Sängerfest am Abend dieses Tages, als die Ottesche Riesenhalle von den Klängen der Volkshymne erdröhnte, die unter heißen Segenswünschen für den Kaiser aus zwanzigtausend Kehlen emporstieg.

Gerhard Ramberg.




„Deutsche Art geht über alles.“

Ein Nachklang vom deutschen Sängerbundesfest in Wien.

Das war einmal, wie wenn es wieder klang
Aus eines Wunderbornes tiefsten Tiefen,
Wie wenn erwacht der Töne Meister riefen
In siegesfreud’gem Auferstehungsdrang! —
Das war ein Singen nicht der Lust allein,
Der leichten, die, was flüchtig sie geboren,
Im Wechselspiel des Lebens giebt verloren:
Es war des Schönen ew’ger Wiederschein!

Du hast bereitet dir ein leuchtend Fest,
Deß Nachklang nimmer wieder wird verhallen
In ihnen, die du sahst so freudig wallen
Aus Nord und Süd, vom Ost und fernen West —
Germania, du sahst sie all mitsammen
In einem Glauben, einer Liebe Brunst.
Genährt, gesäugt durch deine Himmelskunst,
Die stets dir schuf die reinsten Opferflammen.

Und du, o Stadt der Minne, Stadt des Weins,
Du Hort allzeit des edlen Sängerthumes,
Den goldnen Blättern deines alten Ruhmes
Hast zugethan du heute wieder eins. —
Ob auch schon fern, dir bin ich ewig nah;
O daß mein Lied dich recht zu preisen wüßte,
Es klänge fort von Pregels nord’scher Küste
Hinüber bis zur blauen Adria.

Was hast du uns nicht gastlich-froh beschert! —
In deinem Haus, in deinen wonn’gen Auen,
In deinen holden, wundersel’gen Frauen
Fand ich so manchen alten Spruch bewährt. —
O hätt’ er selber es an uns gewahrt,
Der große Sänger solcher Augenfreude,
Noch heut rief Walter von der Vogelweide:
„Hoch über alles geht dort deutsche Art.“

Karl Hüdiger.




Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Mann.

Roman von Hermann Heiberg.

      (5. Fortsetzung.)

Als Graf Snarre am Abend dieses Tages in seinen Gasthof zurückgekehrt war und sich zu Bett begeben hatte, vermochte er nicht gleich einzuschlafen. Dinas Bild drängte sich in seine Gedanken, und er ging ernsthaft mit sich zu Rathe, ob er nicht gleich am andern Morgen bei Frau Ericius um die Hand ihrer jüngeren Tochter anhalten sollte. Es war bei einem Manne wie Snarre natürlich, daß er trotz seiner starken Leidenschaft noch einmal alles, was für und gegen diese Verbindung sprach, in kühle Ueberlegung zog. Eine Bürgerliche zu heirathen, war ihm im Grunde genommen keineswegs erwünscht. Er fürchtete zwar nicht, daß die Welt es an schuldiger Achtung vor seiner Gemahlin fehlen lassen würde, aber die meisten seiner Standesgenossen würden sich doch stets erinnern, daß die Gräfin Esbern-Snarre eine Ericius gewesen. Snarre würde vermöge seines Reichthums und seines Namens sogar ein Recht gehabt haben, die Hand nach einer Dame fürstlichen Geblüts auszustrecken. Der Verkehr mit dem Hofe würde ihm sicher bei einer Ehe mit Dina abgeschnitten, ein solcher in seinen Kreisen mindestens erschwert werden. Daß Dinas Mutter altem schleswig-holsteinischen Adel entstammte, glich den Mangel nicht aus. Dinas Jugend und Schönheit blieben die einzigen Anziehungspunkte. – Aber wollte er denn, fragte sich Snarre wieder, eine Heirath um anderer willen schließen, oder sich um seiner selbst willen vermählen?

Das Endergebniß aller seiner Ueberlegungen lief doch darauf hinaus, daß er Ernst machen wollte, wenigstens in dem Augenblicke konnte er sich nicht denken, daß er ohne dieses kluge und liebenswürdige Geschöpf würde leben können. Fade, unbedeutend erschienen ihm alle anderen jungen Damen seiner Bekanntschaft. Es waren Marionetten in seinen Augen, nichts anderes. –

Auf den folgenden Tag war ein großes Fest beim Oberpräsidenten angesagt, und auch Snarre, der diesem und einigen andern hervorragenden Persönlichkeiten der Stadt seinen Besuch gemacht hatte, war dazu geladen.

„Ich freue mich,“ begann Dina nach Tisch, „daß wir heute abend etwas Abwechslung haben. Ich werde mich sehr schön mit den herrlichen Blumen ausnehmen, die Sie die Freundlichkeit hatten, mir zu senden. Ist es wirklich möglich, dergleichen in Kiel zu erhalten?“

„Nicht in Kiel, meine liebenswürdige und genügsame Freundin, sondern in Berlin,“ entgegnete Snarre lächelnd.

„Ja, natürlich, das hätte ich mir selbst sagen können! Sie müssen immer einen besonderen Zauberstab in Bewegung setzen, Erlaucht. Wie glücklich muß man sein, stets ein Tischchen deck’ dich! mit sich in der Westentasche herumzutragen!“

„Jedenfalls recht beschwerlich, wenn zutreffend,“ entgegnete Snarre launig. „Aber ich muß doch beides bestreiten.“

„Beides bestreiten? Ich bitte! Ich verstehe nicht –“

„Erstens, daß ich einen Zauberstab überhaupt besäße, und ferner, daß mich sein Besitz besonders glücklich machte. Wir Art Menschen sind etwas abgestumpft, so sehr wir uns gegen diese Erkenntniß sträuben. Sie freuen sich zum Beispiel auf die Gesellschaft beim Oberpräsidenten, ich empfinde solche Einladungen als eine Last.“

„Jawohl, weil Sie zu viel verlangen, weil Sie ohne besondere Beachtung sich nicht behaglich fühlen. Ihnen, Erlaucht, müßte einmal etwas wirklich Schweres in den Weg treten. In die stille Wasserfläche Ihres Glückes müßte ein Stein hineinfallen, damit Sie den Gegensatz kennenlernten.“

„Glauben Sie, ich erhöbe mich nur morgens von meinem Lager, um aus den Händen festlich geschmückter Pagen Geschenke der Glücksgötter entgegenzunehmen? Sie irren! Augenblicklich beschäftigt mich zum Beispiel eine Angelegenheit in sehr ernsthafter Weise. Ich finde gar keinen Ausweg.“

„Schlagen Sie das Auskunftslexikon für alle Stände in zwanzig Bänden, herausgegeben von Dina Ericius, unverehelichter Bürgerstochter, auf, da wird Ihnen Antwort.“

[625]

Der erste Schritt.
Nach einem Gemälde von Rob. Beyschlag.

[626] Snarre lachte. „Gut, helfen Sie mir die Limforder Werke verkaufen. Die sind es, die mir Alpdrücken machen. Ich habe nichts als Unannehmlichkeiten davon – verzeihen Sie, das bedeutet keinerlei Vorwürfe gegen die einstigen Besitzer – und jetzt, da Herr von Alten mich verlassen wird, bin ich erst recht rathlos!“

„Herr von Alten wird Sie verlassen? Mag er nicht mehr auf Limforden sein?“ stieß Dina mit naiver Lebhaftigkeit heraus.

„Er mag wohl, aber ich mag ihn nicht!“ warf Snarre etwas hochmüthig hin.

„Haben Sie Unfrieden gehabt?“

„Allerdings!“

„Dann sind Erlaucht sicher der schuldigere Theil! – Bitte um Verzeihung für diese unbescheidene Rede –“ fügte Dina rasch hinzu, als sie sah, daß Snarre ihre Worte durchaus nicht so gutgelaunt aufnahm, wie sie es erwartet hatte. Snarre vermochte in der That eine leichte Verstimmung nicht zu beherrschen und sagte etwas schroff:

„Weshalb, meine schöne Gnädige, nehmen Sie ohne weiteres, ohne Einblick in die Verhältnisse an, daß ich der Schuldigere bin? Sie scheinen wirklich zu glauben, ich besäße nur eine gewisse äußerliche Wohlerzogenheit und wollte in Wirklichkeit nichts von der Morallehre wissen, die uns vorschreibt, unseren Nebenmenschen auch menschlich zu begegnen!“

„O nein, Erlaucht. Aber da Sie meine scherzhafte Aeußerung so ernsthaft nehmen, so gestatten Sie mir, ernsthaft darauf zu antworten. Mir stehen ja keine erheblichen Erfahrungen zur Seite, aber die Natur gab mir, glaube ich, gesunden Blick und Einsicht genug in das, was sich mir im Leben entgegengestellt hat. Wenn ich sagte, Sie seien schuld, so war es nur in dem Sinn gemeint, als ich überzeugt bin, daß nicht die geschäftlichen Angelegenheiten allein zu einem Zerwürfniß Veranlassung gaben, sondern daß Alten durch die überlegene Art verletzt worden ist, mit der Sie ihm begegneten. Einen Tadel ohne diese Beimischung hätte er ruhig hingenommen!“

Snarre sah mit Erstaunen auf das kleine Mädchen, das in so wohlgesetzter Rede ihn abermals so richtig schilderte. Aber diesmal war er nicht verletzt, ja, seine an Gereiztheit streifende Empfindlichkeit war verschwunden. Er fühlte, daß Dina einen guten Einfluß auf ihn auszuüben vermöge, und er lehnte sich keineswegs dagegen auf, von ihr eine Zurechtweisung zu empfangen, sich durch sie zu veredeln. Die Wendung des Gespräches gab ihm auch Veranlassung zu einem raschen Entschluß. Ohne Besinnen sah er Dina mit festem, warmem Blick ins Auge und sagte: „Fräulein Dina, beantworten Sie mir einmal aufrichtig eine Frage: Sind Sie mir ein wenig gut?“

Sie sah ihn ruhig und mit treuherzigem Blick an. „Ja,“ entgegnete sie dann. „Ich bin Ihnen gut, aber nicht dem Grafen Esbern-Snarre, Erlaucht, wie er sich auf den Pariser Photographien zeigt.“

Nach diesen Worten verbeugte sie sich mit einer die Peinlichkeit des Gespräches glücklich aufhebenden neckischen Grandezza und – huschte aus dem Zimmer.

Snarre aber schaute ihr nach und bewegte sinnend den Kopf. „Ja, liebt mich nun das verteufelte kleine Frauenzimmer, oder – oder – liebt sie mich nicht? Der Kuckuck werde aus den Frauen klug!“ murmelte er. –

Die Gesellschaft beim Oberpräsidenten machte ihn nicht klüger in dieser Frage. Wie immer bei solchen amtlichen Festlichkeiten, zu denen fast nur die Spitzen der Behörden geladen sind und bei denen jeder peinlich darauf bedacht ist, seiner Würde nichts zu vergeben, ging es auch hier ziemlich steif und langweilig her. Dem Grafen war zudem, als dem vornehmsten der Gäste, die Ehre zu Theil geworden, die Dame des Hauses zu Tisch zu führen, und so war er gerade während des Mahles, also während desjenigen Theils des Festes, der am leichtesten die Gemüther etwas auftauen und sie den Zwang der vorgeschriebenen Förmlichkeiten abstreifen läßt, von Dina, die sich in einem Kreis junger Offiziere herrlich zu unterhalten schien, getrennt.

Vergebens suchte er aus der Ferne auch nur einen freundlichen Blick zu erhaschen; Dina schien, ganz der Unterhaltung mit ihren Nachbarn hingegeben, seine Anwesenheit völlig vergessen zu haben, und als die Tafel endlich aufgehoben wurde, entschwand sie ihm in den Wogen des Tanzes, während er sich mit der Präsidentin an einem Whisttisch niederließ.

Als es ihm später gelang, der Entschwundenen doch noch habhaft zu werden, machte er ihr aus seiner Verstimmung über ihre Gleichgültigkeit kein Hehl. Wie erstaunte er aber, als ihn die großen Kinderaugen, die sonst so fröhliche Blitze schossen, mit einem Ernst ansahen, den er ihnen nie zugetraut hätte! Und wie ganz anders klang die Stimme, als sie ihm antwortete:

„Sie fragten mich heute nachmittag, ob ich Ihnen gut sei, Herr Graf! Ich erwiderte mit einem ‚Ja‘. Da sprach aus Ihnen der Mensch, nicht der Graf Snarre, der als selbstverständlich annimmt, daß er stets siegen muß, wenn er darauf ausgeht. War diese ehrliche Antwort nicht genügend? Hundert Augen beobachten uns, die nichts lieber erspähen möchten als etwas Häßliches, mit ihren Voraussetzungen sich Deckendes, also in diesem Falle: Graf Snarre ist täglicher Gast im Ericiusschen Hause, und das hat doch etwas sehr Auffallendes und wirft doch ein sehr eigenthümliches Licht auf die Frau Ericius. Ja, Herr Graf, so urtheilen die Menschen, wir haben Beweise dafür! – War da ein Austausch von Blicken am Platze, ja, war es nicht weise gehandelt für alle, ich sage, alle Theile, daß ich that, wie geschehen? Sie können nichts einbüßen – Sie haben nichts zu verlieren, wohl aber die kleine Ericius. Und nun zürnen Sie mir nicht, daß ich das alles so offen gesagt habe, nicht wahr, lieber Herr Graf?“

„Zürnen? Nein, nein, mein liebes, theures Mädchen!“ rief Snarre fortgerissen. „Wahrlich, man kann bei Ihnen in die Schule gehen und lernen, viel lernen. Und sehen Sie, Ihr Takt, Ihre bescheidene und doch so große Klugheit, Ihr Freimuth und Ihre gerade Gesinnung, sie sind es ja, Fräulein Dina, die mich Sie neben all Ihren anderen Vorzügen so –“

Aber Dina unterbrach den Grafen und sah ihn freundlich bittend, ja sogar ein wenig ängstlich an. „Bitte nicht!“ stand in ihrem Auge geschrieben.

Zufällig trat in diesem Augenblick der Herr des Hauses auf Snarre zu, um sein Urtheil über eine Havanacigarre einzuholen, und so wurden sie ohnehin getrennt.




15.

Das große Schreibpult, vor dem Richard Tromholt in seinem Comptoir bei der Zollbude in Kopenhagen saß, war bedeckt mit Schriften, Briefen und Papieren, und in drei Nebenräumen sah man zahlreiche Arbeiter mit emsig kritzelnden Federn. Telegramme wurden gebracht und sofort beantwortet, Agenten und andere Geschäftsleute strömten aus und ein, im Flur stand die Thür nicht einen Augenblick still. Ein erstaunlich reges Hin und Her bis zur Börsenzeit!

Das Geschäft von Richard Tromholt blühte in ungewöhnlicher Weise. Daß ein Mann innerhalb weniger Jahre sich so emporzuschwingen verstanden hatte, gar ein fremder, überraschte selbst die sehr thätigen Geschäftsleute Kopenhagens. Nur ein Mensch, der mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet war, vermochte so rasch zu solchen Erfolgen zu gelangen.

Tromholt schickte sich, da er noch Geschäfte auswärts zu erledigen hatte, eben an, das Bureau zu verlassen, als ihn Graf Utzlar um eine Unterredung bitten ließ, die er ihm sofort gewährte. In dem Mann, der gleich darauf in gebeugter, sichtbar verlegener Haltung die Schwelle des Gemachs überschritt, hätte man wohl kaum den tollen Utzlar von einst wiedererkannt, so groß war die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Er war gealtert, viel mehr, als es die wenigen Jahre, die seit seiner Trennung von Susannen verflossen waren, erwarten ließen, sein Haupthaar hatte sich gelichtet, und der blonde Vollbart, der sein Gesicht umrahmte, war schon vielfach von grauen Fäden durchzogen. Aus diesem Gesicht aber hatte die Spur überstandener Leiden jeden Zug des früheren Hochmuths völlig verdrängt, ernst und wehmüthig blickten die blauen Augen in die Welt, die ihnen einst des Begehrenswerthen nicht genug zu bieten gehabt hatte. Dem Seelenkenner aber konnten trotz dieser Zeichen des äußeren Verfalls die Spuren einer sittlichen Erhebung nicht entgehen, welche die Erscheinung des Mannes in dem schlichten, aber von peinlichster Sauberkeit zeugenden Anzug veredelten.

Ueber die Schicksale, welche diese Wandlung vollbracht hatten, sind wir durch die Mittheilungen, welche Tromholt dem Grafen Snarre, als dieser sich nach Utzlar erkundigte, gemacht, im allgemeinen unterrichtet, doch bedarf sein Bericht einer Ergänzung.

[627] Nachdem seine Scheidung von Susanne Ericius gerichtlich vollzogen war, hatte Graf Utzlar, im Besitz der nicht unbedeutenden Abfindungssumme, die ihm der Prozeß eingetragen, zunächst das Leben in vollen Zügen genossen. Daß seine neuen Heirathspläne an der Zurückhaltung der adligen wie der bürgerlichen Gesellschaft scheiterten, machte ihm wenig Verdruß. An guten Freunden, die seine Orgien theilten, fehlte es ihm trotzdem nicht; warum sollte er, kaum erst von einem lästigen Joch befreit, sich gleich wieder an eine Kette, und wär’s auch eine goldene, schmieden? Dazu war’s noch Zeit, wenn seine Mittel zu Ende gingen. Wenn ihm die spießbürgerliche Gesellschaft hier den Rücken kehrte, was lag daran? Von ihr hatte er so wie so genug, die Welt war groß und die Menschheit nicht überall von so kleinlichen Vorurtheilen befangen wie im engeren Vaterland. Er ging auf Reisen, und bald sprach man an den glänzendsten Sammelpunkten internationaler Geselligkeit von der Verschwendung und den galanten Abenteuern des tollen deutschen Grafen. Die Heirathsgedanken hatte er darüber ganz vergessen, es war ja noch Zeit! Allein einem Leben, wie es Graf Utzlar führte, hätten auch weit bedeutendere Mittel als die, welche er besaß, auf die Dauer nicht genügt; um die immer größer werdenden Lücken zu decken, griff er zum Spiel. Eine Zeitlang gewährte sich dieses Auskunftsmittel aufs trefflichste, die Glücksgöttin zeigte sich ihm über die Maßen gewogen, um sich sodann, wie das ihre Gewohnheit ist, ebenso hartnäckig von ihm abzuwenden, als sie seiner allzu kühnen Werbung satt geworden war; und schneller, als er es je vermuthet, kam der Augenblick, wo Graf Utzlar bleich, mit nervös zuckenden Gesichtsmuskeln an dem grünen Tisch vor den letzten Banknoten stand und mit starrem Blick den Sprüngen der kleinen Kugel folgte, von welcher es abhing, ob er im nächsten Augenblick ein Bettler wurde.

Er war es schon geraume Zeit, als er noch immer in derselben Stellung verharrte. Die kleine Kugel hatte ihren Kreislauf unzählige Male begonnen und vollendet, und von ihren Launen hatte er jetzt, da er das grüne Tuch nur mehr mit gedachten Einsätzen belegte, nicht das geringste mehr zu befürchten. Der Croupier mußte ihn schließlich darauf aufmerksam machen, daß er in solch passiver Rolle den andern Spielern im Wege stehe. Schwankenden Schritts wie einer, der eben aus einem wüsten Traume erwacht ist, verließ er den Saal. Draußen begrüßte ihn das bunte, schwirrende Leben, seine Freunde und Freundinnen gingen oder fuhren in schimmernden Karossen an ihm vorüber, sie kannten ihn nicht oder grüßten ihn nur flüchtig; die er anreden wollte, wichen ihm aus.

Jetzt wäre es Zeit gewesen, aber jetzt war es zu spät. Der Graf hatte jetzt anderes zu thun, als ans Heirathen zu denken. Zunächst machte er alles, was er noch an Kostbarkeiten besaß – und es war nicht mehr viel – zu Geld, um dieses der kleinen Kugel, die lustig, unbarmherzig darüber wegsprang, in den Weg zu werfen. Dann dachte er ernstlich daran, allen ferneren Launen des Zufalls mittels einer anderen kleinen Kugel ein Ende zu machen. Er stand vor dem Laden eines Waffenhändlers, in den Anblick der dort ausgestellten Ware vertieft, als ihm ein älterer, sorgfältig gekleideter Herr, der ihm längst, ohne daß Utzlar es bemerkt hatte, gefolgt war, sachte von hinten auf die Schulter klopfte und dabei mit sanfter, flüsternder Stimme die Worte sprach: „Nicht hier, Herr Graf!“

Als Utzlar sich erschrocken umwandte, lüftete jener mit einer höflichen Verbeugung den Hut und fragte, indem er eine reich gefüllte Banknotentasche hervorzog, in derselben artigen Weise: „Mit welcher Summe kann ich Ihnen dienen?“

Utzlar, der, durch den Undank seiner Freunde verbittert, allen Glauben an die Uneigennützigkeit der Menschen verloren hatte, war von dieser Frage des ihm völlig Unbekannten aufs höchste überrascht. Die Todesgedanken, denen er sich eben noch hingegeben hatte, schwanden beim Anblick der gefüllten Börse wie Nebel vor der Sonne.

„Wie, Sie wollten?“ rief er freudig erstaunt.

„Unter einer Bedingung, Herr Graf!“ erwiderte der Fremde.

„Und die wäre?“ fragte Utzlar hastig. Er war im voraus bereit, jede zu erfüllen, die der Herr an ihn stellen würde, sofern er ihn nur instand setzte, den Kampf mit der kleinen Kugel aufs neue aufzunehmen.

„Daß Sie unverzüglich von hier abreisen, um zunächst wenigstens nicht wiederzukehren,“ war die nachdrücklich betonte Antwort des Unbekannten.

„Was berechtigt Sie, mein Herr, diese Forderung an mich zu stellen?“ brauste nun Graf Utzlar auf.

„Ihr eigener Vortheil, die genaueste Kenntniß Ihrer dermaligen Verhältnisse,“ erwiderte der andere, ohne sich im geringsten durch die Heftigkeit des Grafen beirren zu lassen. „Ich weiß, daß Sie keinen Franken mehr besitzen, noch von irgend welcher Seite in absehbarer Zeit einen nennenswerthen Zuschuß zu erwarten haben. Was wollen Sie hier, Herr Graf? Der Anblick des Spiels, an dem Sie sich zu betheiligen nicht mehr in der Lage sind, kann Sie nur aufregen und zu Entschlüssen führen, die ich aufs tiefste bedauern würde. Ein längerer Aufenthalt würde überdies unangenehme Auseinandersetzungen mit dem Wirth Ihres Gasthofs zur Folge haben, denen ich durch Bezahlung Ihrer Rechnung und Einlösung Ihrer Koffer vorzubeugen bereit bin, sofern Sie meinem wohlgemeinten Rath folgen wollen. Sie sind Fremder, Herr Graf, einer alten, hochangesehenen Familie entstammt, es kann Ihnen bei Ihren Beziehungen in der Heimath nicht schwer fallen, die Verlegenheit Ihrer augenblicklichen Lage zu überwinden, und wenn Sie in einer späteren Saison wiederkehren, um den jetzt so ungleichen Kampf gegen die Bank, deren Vertreter ich bin, mit neuen Kräften zu beginnen, so werden Sie mir für meinen guten Rath danken, und ich werde es vielleicht bereuen, Ihnen denselben gegeben zu haben. Was ich Ihnen sonst biete, ist, soweit es eben in unserer Macht steht, eine Entschädigung für die großen Summen, die Sie an uns verloren haben, zu gewähren. Und nun bitte ich Sie, mir das Ziel Ihrer Reise zu nennen, damit ich Ihr Gepäck rechtzeitig zur Bahn schaffen lassen und Ihnen das Billet lösen kann. Darf ich bitten, wohin?“

„Nach Berlin,“ erwiderte Utzlar; er wußte selbst nicht, warum gerade dorthin, er sagte es mehr aus einem unbewußten Triebe als aus Ueberlegung, er fühlte nur, daß jener Mann einen Einfluß auf ihn übte, ähnlich dem der kleinen Kugel, in deren Dienst er stand; daß er ihm unbedingt gehorchen müsse. Erst während der Fahrt kam er zum vollen beschämenden Bewußtsein dessen, was mit ihm vorgegangen war.

So kehrte Graf Utzlar in die Heimath zurück, und nun begann für ihn jener Kampf ums Dasein, der ihn nach verschiedenen Niederlagen nach Kopenhagen und als einen Hilfesuchenden zu Tromholt geführt hatte.

Aber – und das wußte zur Stunde selbst Tromholt nicht – die eigene Noth allein war es nicht, die Utzlar zu diesem für seine Besserung und sittliche Läuterung entscheidenden Schritt getrieben hatte.

Nach dem Zusammenbruch seines letzten Unternehmens suchte ihn ein schwerer Rückfall in jene Krankheit heim, die schon den Verlust seiner Stellung als Versicherungsagent herbeigeführt hatte und die im Grunde nur eine Folge des jähen Wechsels seiner Lebensverhältnisse gewesen war. Während er nun so im Spital lag und den Tod als eine Erlösung herbeisehnte, hatte sich ein mitleidiges Geschöpf seiner erbarmt und ihn durch treue, selbstlose Liebe und Pflege dem Leben wiedergegeben. Es war dies eine arme Nähterin, deren Bekanntschaft er in der ersten Zeit seines Aufenthalts in Kopenhagen gemacht hatte, die ihn liebte, aber seinen Bewerbungen, von deren Ehrlichkeit sie nicht überzeugt war, stets widerstanden hatte, und die nun, da er hilflos und von allen verlassen auf dem Krankenbett lag, nicht nur ihre Ersparnisse opferte, sondern auch ihren bisher unbescholtenen Ruf zu seiner Rettung in die Schanze schlug. Und als Graf Utzlar, nach schweren Fieberträumen zum ersten Male wieder zur Besinnung gelangt, die Augen aufschlug, da war das erste, was sein Blick traf, die Gestalt jenes Mädchens, die einem Schutzengel gleich, über sein Lager gebeugt, dasaß. Nicht anders erschien sie dem Kranken in den nun stets länger währenden Pausen, als das Fieber von ihm wich und er kraftlos, keines Wortes mächtig, ihre Gestalt vor sich sah. Wie ihm nun aber bei fortschreitender Genesung die ganze Größe des Opfers zum Bewußtsein kam, das Agnes ihm gebracht hatte, da durchdrang ihn, vielleicht zum ersten Male, das Gefühl einer Dankesschuld, die einzulösen fortan der einzige Zweck seines neugewonnenen Lebens sein sollte. Nun wußte er, daß dieses Leben eine Pflicht für ihn sei, und aus der anfangs nur flüchtigen Neigung wurde eine tiefe, starke Liebe.

Auf dieser Grundlage allein konnte sich eine so wesentliche Wandlung, wie sie mit Utzlar vorgegangen war, mit Gewähr für die Dauer vollziehen, und seine Liebe war es auch, die ihm den Gang zu Tromholt, den schwersten, den er je gethan, damals wie heute ermöglichte. Wozu ihn die eigene Noth nie vermocht hätte, das [628] vollbrachte die Sorge für eine andere, für Agnes, der er in ernster Stunde gelobt hatte, sie, sobald er nur eine auskömmliche Lebensstellung gefunden habe, vor Gott und den Menschen zu seiner Frau zu machen.

An der verzeihenden Großmuth Tromholts zweifelte Utzlar längst nicht mehr, und doch überwältigte ihn die einfache Art, mit der jener, den Dank ablehnend, seine Bitte erfüllt hatte. „Was ich für Sie thue,“ hatte Tromholt gesagt, „ist nicht mehr als eine natürliche Pflicht; ich reiche meinem Nächsten, den ich versinken sehe, die Hand, daß er sich daran emporrichte. Lassen wir das Vergangene vergangen sein! Wir Menschen sind nur zu oft das Ergebniß der Verhältnisse, in denen wir aufgewachsen sind, und erst durch mancherlei Prüfungen gelangen wir zu der Erkentniß unserer wahren Natur; dem einen kommt sie früher, dem andern später. Danken Sie mir dadurch, daß Sie Ihren Entschlüssen treu bleiben, und was in meiner Kraft steht, soll gern geschehen, Sie auf der betretenen Bahn weiter zu fördern.“

Von seinen Beziehungen zu Agnes, von seinen Heirathsabsichten hatte Utzlar damals nicht zu sprechen gewagt; die Stellung, die ihm Tromholt in seinem Geschäft anwies, schützte ihn zwar vor Noth, aber an eine Erfüllung seines Gelöbnisses konnte er vorläufig nicht denken, ja, er mußte sich gestehen, daß er als völliger Neuling in kaufmännischen Dingen der ihm übertragenen einfachen Arbeit beim redlichsten Willen kaum gewachsen sei. Immerhin aber mußte er befürchten, daß Tromholt, von anderer Seite über seine, Utzlars, Beziehungen zu dem Mädchen unterrichtet, sie in falschem Lichte ansehen werde. Darum hatte es ihn längst gedrängt, sich auch hierüber unumwunden mit seinem Prinzipal auszusprechen, und er hatte es bisher nur unterlassen, weil eben die Hoffnung auf Erfüllung seiner Wünsche eine so geringe war.

Nun aber bot sich ihm durch einen günstigen Zufall die Aussicht auf eine Stellung in seinem früheren Beruf. Durch die Admiralität war ihm ein Schreiben zugegangen des Inhalts, daß die japanische Regierung für ihre noch junge Kriegs-Marine tüchtige, mit der Technik unseres Seewesens vertraute Leute suche, wobei sie insbesondere auf solche Werth lege, die bereits in der deutschen Marine gedient und aus irgend welchem, ihre dienstliche Befähigung nicht beeinträchtigenden Grund ihren Abschied genommen hätten. Da Utzlar zu diesen gehöre, so werde ihm unter Mittheilung der näheren Bedingungen anheimgegeben, sich um eine der ausgeschriebenen Stellen zu bewerben, auch eintretenden Falles eine Empfehlung in Aussicht gestellt.

Graf Utzlar athmete auf, als er das Schreiben las, aber seine Freude erhielt eine starke Einschränkung, als er von den Bedingungen, von welchen die Anstellung abhängig gemacht war, Kenntniß nahm. Da stand in erster Linie, daß die Kosten der Ueberfahrt wie auch die der ersten Ausrüstung von dem Bewerber selbst zu tragen seien. Und das war es, woran alle Pläne, die Utzlar an dieses Schreiben geknüpft hatte, zu scheitern drohten, es sei denn, daß sich jemand fand, der ihm die nicht unbedeutende Summe vorstreckte.

Aber wer sollte das thun? Der Graf, der aus einer gänzlich unbemittelten Seitenlinie der Utzlars stammte, besaß auch nicht einen einzigen Verwandten, der, wär’s auch nur der Ehre des Namens wegen, das Opfer für ihn gebracht hätte. Mit seinen einstigen Freunden und Kameraden hatte er keinerlei Beziehungen mehr, auch wären sie, wenn je geneigt, kaum in der Lage gewesen, ihm zu helfen. Agnes’ Ersparnisse waren durch die Kosten der Krankheit und der darauf folgenden arbeitslosen Zeit verschlungen worden. Wohin er auch die Blicke richtete, er stand allein, niemand war, der ihm helfen konnte und wollte, als eben Tromholt, der Mann, den er am tiefsten gekränkt. „Was in meiner Kraft steht, Sie auf der betretenen Bahn weiter zu fördern, soll gern geschehen,“ hatte Tromholt gesagt, und die Worte gaben Utzlar den Muth, sich auch in dieser Angelegenheit, von der das Lebensglück zweier Menschen abhing, vertrauensvoll an Tromholt zu wenden.

So trug er ihm jetzt in offener Weise die Geschichte seiner Liebe und das Anliegen vor, das er auf dem Herzen hatte, und Tromholt, der erst nicht ohne Ueberraschung, dann mit wachsender Theilnahme seinen Worten zugehört, schließlich auch genaue Einsicht in die ihm vorgelegten Papiere genommen hatte, täuschte auch diesmal sein Vertrauen nicht.

„Ich will mir die Sache überlegen,“ sagte er, „auch noch Erkundigungen einziehen und Ihnen dann sobald wie nur möglich Näheres mittheilen. Ist alles in Wirklichkeit so, wie es sich hier auf dem Papier ausnimmt, so hoffe ich, daß der Entscheid günstig ausfallen wird.

Und noch eines, auch Ihre Braut möchte ich gern kennenlernen, Herr Graf, nicht als ob ich Ihrer Wahl mißtraute, sondern aus aufrichtiger Bewunderung für das treffliche Mädchen. Grüßen Sie, ich bitte, Fräulein Agnes von mir und bereiten Sie sie auf meinen Besuch vor! Wer ein solches Herz besitzt, der ist nicht arm.“

Nicht ohne Rührung hatte Tromholt die letzten Worte gesprochen, und als ob er sich dieser schämte, ging er nun plötzlich in den Geschäftston über, indem er, auf die Uhr blickend, fortfuhr: „Jetzt aber rufen mich dringende Pflichten, ich werde Ihre Angelegenheit darüber nicht vergessen, seien Sie gutes Muths! Wir sprechen bei nächster Gelegenheit mehr davon. Gott befohlen, Herr von Utzlar!“

Mit einem warmen Händedruck war Utzlar verabschiedet, ehe er noch seinem Dank anders als durch einige abgerissene Sätze Ausdruck zu verleihen vermocht hatte. Aber war es denn überhaupt möglich, in Worten auszudrücken, was in seiner Brust vorging? –




16.

Tromholt kehrte an diesem Abend nach Erledigung seiner Geschäfte nicht, wie es sonst seine Gewohnheit war, sogleich nach Haus zurück, sondern begab sich, nachdem er im Telegraphenamt noch einige Depeschen aufgegeben, auf den sogenannten Strandvei, einen sich an der Hafenbucht bis nach dem Badeort Klampenborg entlang ziehenden herrlichen Spazierweg. Er hatte das dringende Verlangen, nach langer Zeit einmal wieder frische Luft in vollen Zügen einzuathmen.

Es war ein wundervoller Abend, und der Anblick, der sich ihm bot, als er über das Gebiet des inneren Hafens hinausgekommen, war unbeschreiblich schön.

In tiefer, leuchtender Bläue lag das Meer vor ihm. Ein kräftiger Wind schuf auf der weiten Fläche in wechselnder Laune und in entzückender Mannigfaltigkeit schneeschäumende Wellen. Bald hoben sich nur ihre schaumbedeckten Köpfe, bald kamen sie mit ihren langgestreckten, silbernen Leibern breit herangerauscht, brachen sich mit murmelndem Getöse oder lösten sich – kraftloser als ihre Vorgänger – in der Fluth sanft auf. Rauschen und Singen, ruheloses Wandern, Werden, Wachsen und Vergehen, und über der großartigen Fläche mit ihren prachtvollen Farben der weit ausgespannte Himmel im reinsten, von dem Licht der Sonne durchflutheten Blau! Tromholt blieb stehen und lauschte der geheimnisvollen Musik der Wogen, die sich am Strande brachen. Stets dieselben räthselhaften Töne und doch dem Ohre immer wieder neu! Selbst den stärksten Anprall der See brachen die sandigen, hellschimmernden Ufer. Nun eben glaubte man, eine Riesenwelle müsse von dem Lande Besitz nehmen, es niedertauchen in das fröhliche, durchsichtige, schäumende Naß, aber die Erde, eben noch magnetisch die Fluth an ihre Brust ziehend, stieß sie im Augenblick ihres übermächtig jauchzenden Einzugs mit stolzer Ruhe von sich, und wie beschämt lösten sich die aus Millionen Tropfen bestehenden Gebilde, wichen mit gleichsam sich sanft unterordnender Ergebung zurück und machten, gebrochen in ihrer Kraft, neuen, brausend heranstürmenden Wassern Platz. Oft flogen weiße Meervögel kreischend vorüber oder tauchten ihre schneeigen Flügel in das auf- und abwogende Meer, und nun eben erschienen, einer Flottille gleichend, zahllose Segel in ungleichen Abständen auf der offenen See, ihrem Ziele zusteuernd. Schiffe aus aller Herren Ländern! Eine gewaltige Heerstraße von Dreimastern, Schonern, Kuttern und Dampfschiffen, deren schwarze Rauchfahnen zeitweilig die Linien des Horizonts verhüllten, erschloß sich dem Auge.

Endlich erinnerte sich Tromholt der Zeit und wandte sich wieder langsam der Stadt zu.

Der frische Athem der See hatte Lust und Sehnsucht in ihm geweckt. In rascher Reihenfolge lösten sich die Gedanken ab; Susannens Bild stieg vor ihm auf, Alten und Bianca winkten ihm, nach Limforden zu kommen, nach langer Zeit Wiedersehen zu feiern. Er beschloß auch, sich aufzumachen, einige Tage auf dem Lande zu bleiben, andere Eindrücke zu gewinnen, frische Kräfte zur Arbeit zu sammeln und wieder einmal von einem warmen Hauch der Liebe berührt zu werden.

[629] Unter den ihn beherrschenden Vorstellungen blieb Tromholt stehen, reckte sich und streckte die Arme aus wie ein Mensch, der nur in solcher Weise seiner starken Empfindungen Herr werden kann. Utzlars Erzählung hatte ihn seltsam weich gestimmt. War dieser bei all seiner Armuth nicht fast reicher als er, Tromholt, mit allem, was er erreicht hatte? Er hätte ihn beneiden können, wäre für dieses Gefühl überhaupt Raum in seiner Brust gewesen. In seinem Herzen brach’s auf. Alles, was er einst gewollt und ersehnt hatte, nahm wieder Gestalt an. Immer nur allein im Dienst der Arbeit und Pflichterfüllung zu sein, das lähmte!

Der Morgen brach täglich an, der Abend schloß ihm die Augen, ohne daß er für sein Gemüth und Herz etwas eingesammelt hatte. War das alleiniger Zweck und Inhalt des Lebens? Freilich, ein weibliches Geschöpf gab’s auch für ihn in Kopenhagen, das ihn zärtlich liebte, das schon zitterte, wenn es seine Schritte hörte, das kaum etwas anderes dachte, als ihn zu erfreuen, einen guten Blick von ihm zu erhaschen: Ingeborg Elbe. Aber er konnte diese Liebe nicht erwidern, wie sie’s verdiente, ja, er durfte sie, um unbefangen zu bleiben, nicht einmal bemerken. Nur zu wohlbekannt mit den Qualen, die mit einer starken Neigung verbunden sind, fühlte er mit ihr und mußte doch wie ein Ahnungsloser neben ihr einhergehen.


Merkwürdiger Fall.
Zeichnung von Franz O’Stückenberg.


Ingeborg besaß im Grunde alles, was ein Weib einem Manne begehrenswert macht. Schön, edelgesinnt und tugendhaft, verband sie mit einem kräftigen Willen ein weiches Gemüth. Aber er liebte sie nicht mit jenem Gefühl, das nicht fragt nach den Gründen, das ein Weshalb nicht kennt, das sich dem andern Theil nach geheimnißvollen Gesetzen zuwendet wie die Welle dem Strande. In solcher Weise liebte er nur eine einzige, Susanne. Und diese Liebe war sein Verhängniß. Wie ein zweites Ich wohnte sie in seinem Inneren, und erst mit der Scheidestunde vom Leben, das wußte er, konnte die Erinnerung an sie ihm entschwinden. –

Als Tromholt die Stadt erreichte, war die Dämmerung bereits hereingebrochen, in dem engen Straßengewirr des Hafenviertels, durch das ihn sein Weg führte, war es dunkel und öde, die Laternen waren noch nicht angezündet, und nur aus den zahlreichen Matrosenkneipen und sonstigen Vergnügungslokalen niederen Schlags fiel hier und dort ein trüber Lichtschein auf das feuchte schlüpfrige Pflaster; schrille Musiklänge, dumpfes, hin und wieder mit helleren kreischenden Lauten vermischtes Stimmengebraus bekundeten, daß das wilde Treiben dort seinen Einzug gehalten. Die Luft war schwül und drückend, noch mit den widerlichen Mißdünsten des Tages durchsetzt, und Tromholt eilte umsomehr, aus dieser Atmosphäre herauszukommen, als die Stunde, da er zu Haus beim Abendbrot erwartet wurde, längst vorüber war und er von der Sorge, in die sein längeres Ausbleiben die empfindliche, leicht erregbare Ingeborg versetzen mußte, schädliche Folgen für deren Gesundheit befürchtete.

An den geöffneten Fenstern einer zur ebenen Erde gelegenen Taverne vorüberschreitend, hörte er sich plötzlich beim Namen rufen, und, unwillkürlich stillstehend, warf er einen Blick in das Innere des mit dichtem Tabaksqualm erfüllten Raumes. Bei der trüben Beleuchtung vermochte er jedoch nicht viel mehr als ein Durcheinander verschwommener Gestalten zu erkennen, von denen sich nur eine, die eines Seemanns in verlumptem Anzug mit rohem, aufgedunsenem Gesicht, deutlicher abhob. Der Mann schien eben von seinem Sitz aufgesprungen zu sein.

Einen Augenblick besann sich Tromholt, wo er diese Züge, die ihn mit überraschtem, drohendem Ausdruck anstarrten, schon gesehen haben könnte. Da ihm sein Gedächtniß jedoch nicht rasch genug den gewünschten Anhalt bot, so setzte er, überzeugt, sich getäuscht zu haben, seinen Weg fort, und seine vorauseilenden Gedanken beschäftigten sich wieder ausschließlich mit der seiner harrenden Ingeborg.

Er sah daher nicht und konnte auch nicht sehen, wie hinter ihm jene Gestalt vorsichtig auf die Straße heraustrat und, nachdem sie sich eine Weile scheu nach allen Seiten umgesehen hatte, dicht an die Häuser geschmiegt, schleichenden Gangs seinen hallenden Schritten folgte. Als Tromholt eben, den Weg zu kürzen, in eine noch engere und dunklere Seitengasse einbog, folgte ihm jener in raschem Lauf bis zur Ecke, um sodann wieder, lauernd wie ein zum Sprung bereites Raubthier, hinter ihm herzuschleichen.

Ohne eine Ahnung von seinem unheimlichen Verfolger zu haben, schritt Tromholt weiter, und schon war er am Ende der engen Gasse, an einer Stelle, wo dieselbe auf beiden Seiten von hohen, finsteren Mauern begrenzt wurde, angelangt, als plötzlich zwei starke Fäuste rücklings seine Kehle faßten und ihn, ehe er’s hindern konnte, zu Boden rissen.

[630] Der harte Aufschlag raubte ihm einen Augenblick die Besinnung, und wie er, zu sich kommend, aufspringen wollte, war es schon zu spät. Der andere hatte sich auf ihn gestürzt, ihm das Knie auf die Brust gestemmt und umschnürte ihm den Hals so fest, daß er zu ersticken vermeinte. Ueber ihm funkelten aus wuthverzerrtem Gesicht zwei Augen, die eher einem Tiger als einem Menschen anzugehören schienen.

„Larsen!“ stöhnte Tromholt, der nun seinen Gegner erkannte.

„Ja, Larsen!“ höhnte dieser. „Kennst Du mich noch? Hab’ Dich auch gleich wiedererkannt. Kein Wunder, wir sind ja alte Bekannte, schon von Mückern her, von meiner Hochzeit, haha! Mit dem Alten hab’ ich schon abgerechnet, heut ist’s an Dir! Hast mich wohl nicht so nah vermuhtet, dachtest, ich sei wohl aufgehoben drüben überm Ocean und Du könntest nun in Ruhe Deines Raubes genießen. Verrechnet, Bursche! Drüben war ich zwar, ja, aber ich hab’ meine Sache schlecht gemacht das letzte Mal, sieh, und das ließ mir keine Ruhe, das trieb mich wieder herüber. Jetzt mach ich’s besser; erst sollst Du’s erfahren und dann die Dirne, denn das ist sie durch Dich!“

„Mörder, feiger Meuchelmörder!“ kam es stoßweise aus Tromholts Brust. Nicht die Furcht vor dem Tod, aber die Schmach, wehrlos durch die Hand dieses Elenden, den er im offenen Kampf zerschmettert hätte, sterben zu müssen, die Sorge um Ingeborg, die er von dem selben Schicksal bedroht sah, war es, was ihn am meisten peinigte und ihn eine letzte verzweifelte Anstrengung machen ließ, sich den Händen Larsens zu entwinden. Allein es war vergebens, die zunehmende Athemnoth hatte die Kraft seiner Muskeln gelähmt, und schon hatte Larsen die Hand, in der ein Messer blitzte, zum tödlichen Stoß erhoben, als er plötzlich mit einem Wuthschrei von seinem Opfer abließ.

Aus dem Dunkel der Nacht war eine dritte Gestalt aufgetaucht, die seinen Arm bei Seite schlug und ihm das Messer zu entwinden suchte; gleichzeitig hörte man in der Ferne den Schritt einer Polizeipatrouille. Aber Larsens Wuth ließ ihn jede Vorsicht vergessen, er bedachte nicht, daß er es nunmehr mit zwei Gegnern zu thun hatte, und der Ausgang des Kampfes konnte nicht mehr zweifelhaft sein, da nun auch Tromholt, wieder im Vollbesitz seiner Kraft, seinem Retter zu Hilfe kam. Larsen wurde trotz seiner verzweifelten Gegenwehr entwaffnet, geknebelt und der inzwischen herbeigeeilten Wachmannschaft übergeben.

„Der Mensch,“ sagte Tromholt zu dem Führer derselben, „der mich hier hinterrücks in meuchelmörderischer Absicht überfallen hat, ist ein gefährlicher, von den deutschen Gerichten längst wegen Mordes verfolgter Verbrecher. Bringen Sie ihn zur Wache, ich werde selbst nachfolgen und meine Angaben dort niederlegen. Ohne das Dazwischentreten dieses Mannes wäre ich verloren gewesen, ihm allein verdanke ich mein Leben.“ Bei den letzten Worten wandte er sich an den unbekannten Retter, dessen Züge ihm die Dunkelheit bisher verborgen hatte.

„Wie! Sie sind es, Herr Tromholt?“ rief dieser, aus der Menschengruppe vortretend, die sich urplötzlich, man wußte kaum, woher sie gekommen war, an der Stelle versammelt hatte. „Wahrlich, dann war es kein Zufall, der mich hierher geführt hat, sondern die Vorsehung selbst!“

„Graf Utzlar, Sie?“ rief jetzt auch Tromholt, aufs höchste erstaunt.

Utzlar neigte das Haupt. „Ich kam von meiner Braut, wir hatten von der Zukunft gesprochen, in die mir Ihre heutigen Worte einen so hoffnungsreichen Ausblick eröffneten, und von Ihnen, unserem Wohltäter. Da, wie ich auf dem Heimweg an der Gasse vorbeikomme, höre ich ein Stöhnen wie von einem Sterbenden, ich eile zu der Stelle, von woher die Töne zu kommen scheinen, und – nun, Sie wissen das übrige. Ich hatte keine Ahnung, wem ich beisprang, nun aber weiß ich, daß ich das Werkzeug einer höheren Macht war, die meine Schritte lenkte.“

„Haben Sie Dank!“ sprach Tromholt, indem er ihm tief ergriffen die Hand drückte. „Aber, was ist Ihnen? Sie bluten, Sie sind verwundet?“

„O, nichts Erhebliches, ich muß mich wohl geschnitten haben, da ich dem Schurken das Messer entwand; es wird vorübergehen,“ meinte Utzlar, den Schmerz, den er jetzt erst empfand, gewaltsam beherrschend.

Aber Tromholt ließ sich dadurch nicht beruhigen. „Nein, nein,“ sagte er, „es ist eine starke Blutung.“ Und sich an die Umstehenden wendend, bat er den einen, einen Wagen, den andern, Wasser und Verbandzeug herbeizuschaffen. Alle drängten sich, seinem Wunsche nachzukommen, er selbst wusch Utzlar die Wunde aus und verband sie, so gut es eben ging; dann führte er ihn zu dem Wagen, der am andern Ende der Gasse bereit stand, fuhr mit ihm zu einem Wundarzt und von da zur Wohnung des Grafen. Erst als dieser, regelrecht verbunden und zwar stark fiebernd und durch den Blutverlust geschwächt, aber doch nach dem Ausspruch des Arztes außer jeder ernstlichen Gefahr im Bett lag, verließ er ihn, um zunächst Agnes, des Grafen Braut, in schonender Weise selbst von dem Vorgefallenen in Kenntniß zu setzen und dann auf der Polizeiwache die näheren Angaben bezüglich Larsens zu machen, der dort dumpf vor sich hinbrütend mit gefesselten Händen in einem Winkel hockte und jede Aussage verweigerte. Der höhere Beamte, der sich, von der Wichtigkeit des Fangs benachrichtigt, gleichfalls dort eingefunden hatte, befahl hiernach sofort die Abführung Larsens ist das Gerichtsgefängniß.

Als Tromholt endlich, nachdem alle diese Angelegenheiten erledigt waren, sich seiner Wohnung näherte, sah er schon von weitem Ingeborg am offenen Fenster, besorgt nach ihm ausspähend.

Da es bei Tromholts ungewöhnlichem Ordnungssinn bisher niemals vorgekommen war, daß er ohne Benachrichtigung oder Grundangabe sich verspätet hätte oder ausgeblieben wäre, hatte sich Ingeborg, deren Leben und Denken überhaupt nur auf ihn sich richtete, einer furchtbaren Unruhe hingegeben.

Im Geschäft, wohin sie das Mädchen geschickt hatte, wußte man weiter nichts, als daß der Chef sich wegen einer Schiffsladung, die morgen in aller Frühe gelöscht werden sollte, an den Hafen begeben habe, von dort aber nicht, wie es sonst seine Gewohnheit war, nach dem Bureau zurückgekehrt sei. Mit dem Hafen wie mit allem, was in irgend einer Beziehung zum Seemannsberuf stand, verbanden sich für Ingeborg die trübsten Vorstellungen. Noch immer tauchte zu bestimmten Zeiten die Schreckgestalt Larsens vor ihrer erregten Phantasie auf, sie hatte eine dunkle Angst, daß er wiederkehren würde, plötzlich, unerwartet, wenn er erführe, daß sie lebte, und von dort, von der See würde er kommen. Daß sein Haß Tromholt nicht weniger als ihr selbst galt, fühlte sie instinktiv, und sie zitterte für ihn mehr als für sich selbst. So wuchs denn ihre Angst von Stunde zu Stunde. So oft unten ein Schritt hallte, riß sie dem Gebot des Arztes und der beruhigenden Einsprache des Mädchens zum Trotz das Fenster auf und bog sich, ihre schwache Gesundheit dem schädlichen Einfluß der Nachtluft schonungslos preisgebend, weit hinaus, um zu sehen, ob er es sei. Dieser Zustand hatte sich nach wiederholten Enttäuschungen bis zum Fieberdelirium gesteigert, so daß das Mädchen sie fast mit Gewalt hindern mußte, das Haus zu verlassen und ihm, den sie bereits in seinem Blut schwimmen sah, zu Hilfe zu eilen.

Ueber all diese Vorgänge hatte Hansine, das Hausmädchen, Tromholt hastig unterrichtet, während er die Treppe emporstieg, und nun trat ihm auf dem Flur Ingeborg selbst, noch zitternd vor Erregung, mit glänzenden Augen und lebhaft gerötheten Wangen entgegen. Tromholt erkannte nur zu gut das Trügerische dieser blühenden Farben, und als Ingeborg nun sprachlos in überwallendem Gefühl seine Hände ergriff und ihn mit einem Blick anschaute, in dem die Freude, ihn wieder zu haben, noch mit der Angst um sein Leben kämpfte, da beruhigte er sie mit liebevollen Worten und drängte sie mit schonender Gewalt ins Zimmer, wo die Lampe auf dem gedeckten Tisch brannte und den freundlichen Eindruck stiller Häuslichkeit über den Raum verbreitete, der noch kurz vorher der Schauplatz so wilder Seelenkämpfe gewesen war.

Indem Tromholt an dem Tisch Platz nahm, überlegte er, ob es klug wäre, Ingeborg schon heute von dem Geschehenen in Kenntniß zu setzen, oder ob er damit nicht eine spätere Zeit abwarten sollte, wo ihre Nerven sich etwas beruhigt hätten. Aber während er sich noch auf eine Ausrede geschäftlicher Natur besann, bemerkte er, daß Ingeborg durch dieses Mittel nicht zu beruhigen sei, daß es vielmehr ihre Qual nur steigere. Obwohl er seinen Anzug sorgsam von allen Spuren des Kampfes gesäubert hatte, schien sie doch einen Theil des Vorgefallenen mittels jenes Ahnungsvermögens, das bei erregbaren Personen in ihrer Lage oft den Charakter des Hellsehens annimmt, zu errathen, ja, sie sagte es gerade heraus: „Sie sind ihm begegnet? Er ist da? O, ich wußt’ es ja, daß er kommen würde, der Elende! Er wird nicht [631] ruhen, bis er mich getödtet hat, mich und alle, die ich – die mich beschützen. O, sagen Sie, ob er Ihnen etwas angethan hat, dieser – – – Doch nein, Sie sind ja hier, sind gesund, unverletzt, Sie leben, und es war wohl nur meine thörichte Angst, die mich so Schreckliches ahnen ließ!“

Nun konnte auch Tromholt mit der Wahrheit nicht länger zurückhalten. „Nein, es war nicht thörichte Angst, Ingeborg.“ sagte er, „Sie haben das Richtige errathen. Larsen ist hier –“

Mit einem Aufschrei sprang Ingeborg empor, Tromholt aber drückte sie mit sanfter Gewalt auf den Stuhl zurück. „Er ist in Kopenhagen,“ wiederholte er, „aber sein Verhängniß hat ihn hierher geführt, Sie haben nichts mehr von ihm zu besorgen.“ Und nun erzählte er ihr das Nähere, wie ihn Larsen überfallen und wie er, durch Utzlar gerettet, den Verbrecher den Gerichten übergeben habe, deren Sorge es sein werde, ihn für alle Zukunft unschädlich zu machen.

Ingeborg hatte während dieser Erzählung mehrmals die Farbe gewechselt, und als Tromholt geendet hatte, da löste sich die Spannung ihres Gemüthes in einem heißen Thränenstrom. Laut schluchzend schnellte sie empor. „O mein Retter!“ rief sie. „Gott sei gepriesen, daß er Sie aus den Händen dieses Teufels befreit hat!“

Tromholt sprach tröstend auf die Erschütterte ein. „Beruhigen Sie sich, Ihre Gesundheit ist solchen Aufregungen nicht gewachsen. Sie schaden sich, Ingeborg, und ich verdiene nicht solch überschwänglichen Dank.“

Er zog die Widerstrebende empor, sie schwankte, er mußte den Arm um sie schlingen, einen Augenblick ruhte sie an seiner Brust, und ihr feuchtes Auge tauchte sich, jetzt von fast überirdischem Glanz erfüllt, tief in das seine.

„Nein, nein,“ flüsterte sie mit gebrochener Stimme. „Und wenn ich daran sterben müßte, ich bin so glücklich – so glücklich –“

Ein jäher Hustenanfall erschütterte den zarten Körper, kraftlos und todesbleich sank das Haupt zurück. Tromholt rief erschreckt nach Hansine, er selbst trug die Kranke auf den Armen nach ihrem Lager, der Arzt mußte gerufen werden, er befürchtete einen Blutsturz, und die ganze Nacht saß Tromholt im Nebengemach, angstvoll den schweren Erstickungsanfällen lauschend, von denen Ingeborg heimgesucht wurde und die jeden Augenblick das Schlimmste befürchten ließen. Erst gegen Morgen trat eine leichte Besserung ein, und nun suchte auch Tromholt die Ruhe auf, deren er nach den vorhergegangenen Geschehnissen so bedürftig war.




17.

Die geschilderten Ereignisse machten es Tromholt in der nächsten Zeit unmöglich, den Plan einer Reise nach Limforden zur Ausführung zu bringen. Aber auch die Nachrichten, die er von dort erhielt, waren keine erfreulichen; das Verhältniß zwischen Alten und Snarre verschlimmerte sich von Tag zu Tag, und Bianca gab ihrer Besorgniß für die Zukunft gegen den Bruder unverhohlenen Ausdruck. Sie erbat seinen Besuch, sobald es nur immer möglich sei.

Ingeborgs Zustand war seit jenem Abend ein höchst bedenklicher, der nach der Ansicht des Arztes ebensowohl noch Monate sich hinschleppen, als zu einer plötzlichen Katastrophe führen konnte. Utzlar befand sich auf dem Weg der Genesung, aber es war zu befürchten, daß ein paar Finger der verletzten Hand steif bleiben würden. Um so mehr fühlte sich Tromholt verpflichtet, für die Zukunft des Menschen, ohne dessen Dazwischentreten er sicherlich ein Opfer von Larsens Rachsucht geworden wäre, sorgend bedacht zu sein. Seine verschiedenen Besuche bei dem Kranken hatten ihn auch in nähere Berührung mit dessen Braut Agnes gebracht, und er hatte sich dabei in einer jedes fernere Mißtrauen ausschließenden Weise von dem ehrbaren Charakter, dem treuen, selbstlosen Wesen des Mädchens überzeugt, das Utzlar zu seiner Frau machen wollte. Darum that Tromholt jetzt auch alle Schritte zur Verwirklichung jener japanischen Pläne, an deren Werth er nach den eingezogenen Erkundigungen nicht länger zweifeln konnte, und er dachte daran, auch den Grafen Snarre für diese Sache, wie überhaupt für Utzlars ferneres Schicksal zu interessiren und seine Großmuth zu Gunsten seines gebesserten Standesgenossen in Anspruch zu nehmen.

Zu all den Sorgen um andere gesellte sich für Tromholt in dieser Zeit auch noch eine, die ihn selbst betraf. Er fühlte eine zunehmende Abschwächung der Sehkraft seines gesunden Auges, ja, nach großen Anstrengungen im Lesen und Schreiben, wie sie das Geschäft mit sich brachte, trat oft plötzlich eine völlige, wenn auch stets wieder vorhergehende Abstumpfung des Sehnervs ein. Der Arzt, den er über solche Erscheinungen befragt, hatte mit Bedenken nicht zurückgehalten und ihm unbedingte Schonung des angegriffen Organs empfohlen, wenn anders er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, blind zu werden. Blind! Welch’ ein furchtbarer Gedanke! Aber wie vertrug sich die empfohlene Schonung mit dem rastlosen Geist dieses unermüdlich schaffenden Mannes, der nur in der Arbeit das Ziel seines Lebens sah!

Tromholt hatte eben eine Besprechung mit einigen Geschäftsfreunde auf seinem Bureau, als Hansine, das Dienstmädchen, ganz bestürzt und noch athemlos vom schnellen Gehen bei ihm eintrat.

„Herr, Herr!“ rief sie. „Es steht schlimm mit Fräulein Elbe. Ich bin fortgelaufen, es Ihnen zu sagen, der Husten ist wieder gekommen und die Athemnoth, und es ist, als ob sie ersticken wollte.“

Tromholt erschrak heftig.

„Eilen Sie sogleich zum Doktor Tyrup,“ befahl er, „und bitten Sie ihn, sich so schnell wie irgend möglich zu Fräulein Elbe zu bemühen. Ich werde bald folgen.“

Dann sprach er, gewaltsam die Gedanken dem Nächstliegenden wieder zuwendend, in gewohnter Ruhe und Sachlichkeit mit den Herren, verständigte sich mit ihnen über die in Frage kommenden Gegenstände, gab noch verschiedene Anweisungen in den Bureaur und nahm dann – es war inzwischen Mittag geworden – eilend den Weg nach Hause.

Er fand bei seinem Eintritt die Dienstboten in großer Erregung. Sie theilten ihm mit, daß der Arzt sich sehr besorgt geäußert und versprochen habe, gegen Abend wiederzukommen. Tromholt ging, tiefbewegt durch diese traurige Wendung in Ingeborgs Befinden, sinnend in seinem Zimmer auf und ab und ließ endlich, um seiner Unruhe Herr zu werden, die Kranke fragen, ob er sie besuchen dürfe.

Er sah sie auch auf Augenblicke und war erschrocken über die Veränderung, welche sich in so kurzen Stunden in ihrem Aussehen vollzogen hatte. Die Farbe ihres Angesichts, seit der Krankheit in Trollheide immer bleich und durchsichtig, war nun kreideweiß, und ein röchelnder, mit großer Reizbarkeit verbundener Husten erschwerte ihr das Sprechen.

„Meine arme Freundin,“ stieß Tromholt hervor und verhüllte dichter das Fenster des Gemaches, da das Licht, scharf hereindringend, Ingeborgs Augen anzustrengen schien. „Kann ich irgend etwas für Sie thun?“

Ingeborg Elbe richtete einen matten, dankbaren Blick auf Tromholt und schüttelte sanft das Haupt. So viel lag auf ihrem Herzen, so viel hatte sie ihm zu sagen! Ihr ahnte, daß sie das Krankenzimmer nicht wieder verlassen werde, und furchtbare Qualen zogen durch ihre Brust.

Tromholt wußte, was in ihr vorging. Er wäre gern in ihrer Nähe geblieben, allein er fürchtete, die Bewegung, in die sie sein Anblick versetzte, möchte ihr schädlich sein, und so wandte er sich nach kurzem Aufenthalt wieder zum Gehen.

„Ich sende Ihnen eine zuverlässige und in der Krankenbehandlung erfahrene Pflegerin,“ sagte er, die weiße, magere Hand der Kranken ergreifend und eine Weile in der seinen haltend. „Und nun denken Sie an nichts als an Ihre Gesundheit. Sie müssen wieder lebensfrisch werden, Ingeborg, und Sie werden es auch gewiß. Ich habe keinen innigeren Wunsch als den, Sie wieder kraftvoll und fröhlich zu sehen.“

Ein heißer Thränenstrom löste sich bei diesen Trostworten aus Ingeborgs Augen. Der ganze furchtbare Schmerz, der ihr Inneres durchwühlte, kam zum Ausdruck. Tromholt aber neigte tiefbewegt das Haupt und entfernte sich.

Als er in sein Zimmer zurückkehrte, fand er einen an seine Privatadresse gerichteten Brief von seinem Schwager Alten vor, dessen Inhalt seine Sorgen abermals vermehrte.

Alten meldete, daß Bianca sich einen sehr schmerzhaften Gelenkrheumatismus zugezogen habe und unfähig, ein Glied zu bewegen, im Bette liege. Ferner theilte er mit, daß Graf Snarre ihm auf seine sämmtlichen letzten Berichte, die wichtige und zugleich rasch zu erledigende Anfragen enthielten, mit keiner Silbe geantwortet habe, und daß er, abgesehen von der Aufregung über diese „bodenlose Rücksichtslosigkeit“, infolge dessen gar nicht wisse,

[632]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Die Gänsewiese.
Nach einem Gemälde von P. F. Messerschmitt.

[633] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [634] was er thun solle. Er habe schon nicht übel Lust gehabt, Snarre die ganze Geschichte kurzweg vor die Füße zu werfen, und würde seine Absicht wohl auch ausgeführt haben, wenn nicht Biancas Zustand ihm Rücksicht auferlegt hätte. Limforden sei ihm nachgerade verhaßt. Den Gedanken, dort in irgend einer Weise ferner thätig zu sein, habe er nunmehr endgültig aufgegeben. Zum Schluß hieß es, aus Kiel seien Nachrichten eingelaufen, denen zufolge man jeden Tag die Verlobung von Dina Ericius mit Snarre erwarte. Snarre würde das Mädchen im höchsten Grade in seinem Rufe schädigen, wenn er nicht Ernst machte. „Aber passen Sie auf, Tromholt! Im letzten Augenblick besinnt sich die mit ihrem lächerlichen Hochmuth weit über Gott und Menschen stehende Erlaucht doch und läßt das bürgerliche Fräulein sitzen!“

Am Abend desselben Tages begab sich Tromholt, den diese Mittheilungen tief erregten und beschäftigten, zur Ablösung seiner schweren Gedanken in ein Weinhaus, wo er Freunde zu treffen und das er häufiger zu besuchen pflegte; gegen elf Uhr kehrte er nach Hause zurück.

Er fand die Mädchen nicht mehr vor, in Ingeborgs Zimmer aber war Licht, und er nahm deshalb an, daß die Wärterin bei der Kranken wache.

Wiederholt betrat er das Speisezimmer, an das zur Linken im gleichen Flügel Ingeborgs Wohn- und Schlafzimmer stießen, und horchte, ob sich nebenan etwas rühre. Dann begab er sich in seine zur Rechten belegenen eigenen Räume, ließ aber absichtlich die Thür nach dem Speisezimmer offen, um für den Nothfall bei der Hand zu sein.

Da seine Gedanken noch allzu lebendig waren, entzündete er eine Lampe und ließ sich in einem Lehnstuhl nieder. Er nahm eine Zeitung zur Hand und vertiefte sich in ihren Inhalt; endlich aber überfiel ihn doch die Müdigkeit, und zwar solchergestalt, daß er in dem Sessel fest einschlief.

Wohl eine Stunde mochte er so geruht haben, als er plötzlich durch ein Geräusch aufgeweckt ward. Rasch sprang er empor, rieb sich die Augen und schaute um sich. Seine Blicke richteten sich unwillkürlich auf das Speisegemach, woher das Geräusch gekommen war, und da sah er zu seinem Schrecken – ja, es war keine Täuschung – aus dem Dunkel hervorschimmernd eine weiße Gestalt auf der Erde liegen.

Im Nu ergriff er die Lampe und eilte hinein.

Vor ihm, nahe dem Speisetisch neben einem Stuhl, lag lang ausgestreckt Ingeborg Elbe. Offenbar hatte sie sich mit einer bestimmten Absicht von ihrem Lager erhoben und war hier, von Schwäche überwältigt, zusammengesunken.

Tromholt ließ sich zunächst, ohne nach der Wärterin zu rufen, zu ihr herab, hob und stützte sie und horchte voll Sorge und Unruhe nach dem Schlage ihres Herzens. Noch schien geringes Leben in ihr zu sein, und wirklich öffnete sie in diesem Augenblick die Lider, sah ihn mit tiefen und angstvoll flehenden Blicken an und flüsterte seinen Namen. Während er gütig und zärtlich auf sie einsprach drückte sie ihm ein kleines Packet in die Hand und flüsterte mit sterbender Stimme:

„Noch einmal innigsten Dank für alles, alles Gute! – Kein Mensch, ein Gott waren Sie für die arme Ingeborg. – Dieses hier – Briefe von Dina Ericius, lesen Sie – sie werden Ihnen das Glück bringen, ich weiß es, das Sie bisher entbehrten, und dieser Gedanke erleichtert mir den Tod. – Leben Sie wohl, mein einziger unvergleichlicher Freund!“ Und von neuem schlossen sich ihre Lider – wie todt fiel sie zurück.

„Mein Kind, mein armes, liebes Mädchen!“ rief Tromholt in ungeheurem Seelenschmerz. Er hoffte, daß vielleicht doch nur eine neue Ohnmacht sie überfallen habe, und suchte sie höher aufzurichten. Als aber alle Versuche, sie ins Leben zurückzurufen, ohne Erfolg blieben, da ließ er Ingeborg sanft zurückgleiten und eilte ins Schlafgemach. Er fand hier zu seiner Ueberraschung keine Wärterin, sondern Hansine, die in einem Stuhl eingeschlafen war und erst bei wiederholtem Rütteln zu sich kam.

Aber als Tromholt mit ihr zurückkehrte, war alles vorüber.

Tromholt und Hansine hoben die Entschlafene empor, betteten sie auf ihr Lager und stellten brennende Kerzen ringsum. Nachdem das alles geschehen, hieß der Mann die Magd sich entfernen. Er aber saß bis zum Morgengrauen bei der Entschlafenen, und ruhelos irrten die Gedanken durch sein sorgenschweres Haupt. Er dachte, was ihm Ingeborg Elbe gewesen war, wie sie an ihm bis zum letzten Athemzug in treuer, aufopfernder Liebe gehangen hatte, und es ergriff ihn ein bitteres Gefühl der Trauer darüber, daß es ihm nicht gegeben war, diese Liebe so zu erwidern, wie sie es verdient hätte.

Seltsames Geschick! Für sie, deren stumme Qual er täglich mit ansah, die ihm mit ihrer ganzen Seele ergeben war, konnte er nichts anderes als Gefühle warmer Freundschaft finden, während sein Herz mit allen Fasern an der hing, die ihn nicht lieben konnte, die ihn verschmäht hatte. Nun fiel sein Blick auf das Packet Briefe, das er noch immer in der Hand hielt, Ingeborgs letztes Vermächtniß an ihn. Was mochten sie enthalten? – Mechanisch griff er einen aus dem Bündel heraus und las, erst nur mit halbem Verständniß und dann mit wachsendem Interesse, während ein Zug tiefster Rührung über sein Gesicht flog. Der Brief lautete:

„Meine einzige Ingeborg!

Draußen scheint die Sonne so warm und herrlich, als ob ihr vom Schöpfer eine Belohnung für regen Diensteifer ausgesetzt sei. Du weißt, meine Herzensfreundin, daß solches Wetter die Seele freudig stimmt und daß man Flügel nehmen möchte, um in die schöne Welt hinaus zu fliegen, wenn das bei den vorhandenen Jagdrevieren nicht gar zu gefährlich wäre. Als Trappe oder sonst ein großes, seltenes Thier herabgeschossen zu werden, erkläre ich nun eigentlich nicht für das Endziel meiner Wünsche. Nein, ganz gewiß nicht. Also, wie gesagt, die Sonne hat sich wundervoll herausgeputzt und macht mir Freude, und in dieser gehobenen Stimmung setze ich mich auf den bekannten mit dem bunten Papagei bestickten Schreibsessel, um endlich Deine Zeilen zu beantworten. Mein Gott, Herzenskind, wo war ich denn eigentlich stehen geblieben, und was wollte ich Dir doch alles erzählen? Man sollte sich Notizen machen, bevor man sich ans Briefschreiben begiebt. Niemals sollte man unterlassen, empfangene Briefe vor der Beantwortung noch einmal durchzulesen, um zu sehen, mit welchen Gegenäußerungen man den Briefschreiber erfolgreich ärgern oder entzücken kann. Sodann wäre zu berichten über eigenes inneres und äußeres Dasein, also über Hoffnungen, Freude, Schmerz, Liebe, Zahnweh, Halsweh und Freundschaft. Ferner über Bälle, drückende Stiefel, langweilige Visiten, anziehende Bücher, Klavierspiel und Dienstbotenverdruß. Bei Liebe und Freundschaft, gute Ingeborg, fällt mir ein, daß Graf Snarre noch immer hier ist und mich in unerlaubter Weise verzieht. Daß ich öffentliches Aergerniß errege, ist sicher, ich sehe bereits manches Fräulein mit neidgelbem Angesicht an mir vorüberschreiten, ihr Gruß ist steif und herablassend, als sei ich in meinem Lebenswandel höchst tadelnswerth, als sei ich ein kokettes sündiges Geschöpf, das mit vollen Segeln dem Abgrund entgegentreibt. Du fragst in Deinem letzten Brief, wie weit das luftig ernste Spiel zwischen mir und dem Grafen gediehen sei. Darauf, mein verehrtes Fräulein, kann ich Ihnen keine Antwort geben. Ich hatte Snarre bei seinen vielen guten Eigenschaften, die mich zu ihm hinziehen, für veränderlich, unschlüssig und von augenblicklichen Bequemlichkeitsstimmungen recht sehr abhängig, also vielleicht ist alles doch nur Strohfeuer. Dann geht die kleine Ericius in eine stille Ecke und weint sich aus, und wenn sie sich ausgeweint hat, wird sie sich sagen: auch ein Mädchen soll sich in ernsten Lebensverhältnissen als ein Mann zeigen und so gut es geht in das Unabänderliche schicken – aber, mein Herzenskind, schnell wird’s mit dem Weinen nicht vorbei sein – – – da hast Du mein Bekenntnis!

Hier ist noch solch ein in Zweifeln, aber in weit schwereren Zweifeln seinen Kopf abends in das Bettkissen drückendes Geschöpf, es heißt Susanne, einstige Utzlar, geborene Ericius. Um Dir das deutlich zu machen, muß ich Dir eine kleine Geschichte erzählen. Also höre:

Es war einmal ein stolzes Burgfräulein, das goldene Spangen und eine Schleppe trug, so lang wie der Schweif eines schimmernden Kometen. Aber sie hatte ein launisches, hoffährtiges Gemüth und däuchte sich eine Brunhild gegenüber den Männern. Den sie mit ihrer Hand beglückte, der sollte ein Muster seiner Gattung sein, stark und weich, klug und schwärmerisch, stolz und unterwürfig, vornehm von Stand und doch schlicht bürgerlich in seinem Auftreten, kurz ein Mann, der die verschiedensten Eigenschaften in sich vereinigte. Sie sah wohl ein, daß ein solcher, wie ihr Herz ihn begehrte, wie sie allein ihn ihrer werth hielt, auf dieser Erde schwer zu finden sein dürfte, ja nach und nach hatte sich der Gedanke in ihr festgesetzt, daß es kaum möglich sei, ihn zu finden.

[635] Und als nun der Richtige, der, welcher ihrem Ideal, soweit es eben menschenmöglich war, entsprach und wenigstens die hervorragendsten dieser Eigenschaften in sich vereinte, wie durch eine höhere Schickung plötzlich vor ihr stand und zu ihr sprach: ‚Ich liebe Dich, werde mein Weib!‘ da wollte sie’s nicht zugeben, daß er der Rechte sei, und eben weil ihr Herz sie im stillen schon zu ihm hinzog und sie fühlte, daß er bereits eine Macht über sie erlangt hatte, sträubte sich ihr trotziger Sinn gegen solchen Zwang und sie wies ihn zurück.

Nach Jahren aber, da sie noch immer im stillen jenes Mannes gedachte und sich mit aller Macht gegen den Gedanken wehrte, der ihr oft wie ein heimlicher Vorwurf vor die Seele trat, kam ein anderer, der von den vorerwähnten Eigenschaften keine oder doch nur die eine, nebensächliche, der vornehmen Geburt besaß. Wie der nun vor sie hintrat und mit falscher, berückender Stimme dasselbe, nur in anderer blumenreicherer Rede sprach, da – obwohl oder gerade weil alle, die es gut mit ihr meinten, sie warnten, und auch weil sie glaubte, des ihrem Stolz so peinlichen Gedankens an jenen ersten Freier damit am schnellsten ledig zu werden, da sagte sie ‚Ja‘ und nahm ihn.

Aber es zeigte sich bald, daß sie eine Perle gegen einen Kiesel, einen nichtigen, nur äußerlich und sehr oberflächlich geschliffenen Kiesel hingegeben hatte, und sie warf auch den Kiesel wieder weg. Da erkannte sie erst recht den Werth jener Perle, die zwar nicht aufdringlich an Glanz, aber doch ein echtes, kostbares Kleinod war, und einen Augenblick hoffte sie auch jetzt noch, jene wieder erringen zu können. Allein es war ein schöner Wahn. Der Mann, den sie damals verschmäht hatte, war gerade so stolz, wie sie selbst es gewesen, seine Liebe war erloschen, und ihre Reue kam zu spät. Seit sie das erkannt hat, will sie von den Männern, die sich noch immer um ihre Gunst bewerben, nichts mehr wissen und verzehrt sich in heißer, ohnmächtiger Sehnsuchtsqual nach dem einen, den sie für immer verloren. Für immer! Sie kann es noch nicht ganz fassen, und es giebt Augenblicke, wo sie beim leisesten Geräusch zusammenfährt und zittert und meint, er müsse es sein, der da komme und vor sie hintrete, um ihr das zu wiederholen, was er ihr damals gesagt – o wie ganz anders würde sie ihm jetzt antworten! – oder wo sie roth und blaß wird und ihre Augen leuchten, wenn der Postbote einen Brief bringt und sie glaubt, er komme von ihm, während er doch von Dir kommt, meine süße Ingeborg, und kein Sterbenswörtchen von ihm enthält. Ich glaube, manchmal ist sie sogar ein bißchen eifersüchtig auf Dich, mein liebes Herz. Aber siehst Du, so geht es den Burgfräulein, wenn sie zu stolz sind. Es ist eine recht traurige Geschichte, und sie thut mir herzlich leid, die arme – – jetzt hätt’ ich bald ihren Namen verrathen, und es ist doch nur ein Märchen, was ich Dir da erzählt habe. Aber nun zu etwas Lustigerem – –“

Tromholt las nicht weiter, eine heiße Blutwelle drängte ihm gegen das Auge und ließ die zierlichen Schriftzüge zu einem wirren Bilde verschwimmen, sein Herz schlug mächtig, er mußte die Hand, die den Brief hielt, darauf pressen, und ein Rausch des Glücks kam über ihn, ein Gefühl, wie er es nie in seinem Leben empfunden hatte, der späte Lohn für die Qual langer Jahre. Er schämte sich dessen fast im Anblick der Todten, die mit verklärtem, friedlichem Gesichtsausdruck dalag, als theilte sie auch noch dieses Glück mit ihm. Ihr hatte er es zu danken, das also war der letzte, höchste Beweis ihrer Liebe, die sie im Tod noch für ihn bekundete. Tromholt drückte einen Kuß auf die kalte, starre Hand und benetzte sie mit seinen Thränen, Thränen des Glücks und der Trauer, den ersten, die er seit lange geweint.




18.

Am Tage nach dem Ball beim Oberpräsidenten traf Snarre, als er eine Stunde vor dem Mittagessen die Ericiussche Wohnung betrat, Frau Ericius und Dina nicht zu Hause. Der Diener berichtete, daß die beiden Damen Besuche machten, daß aber Frau Susanne sich im Wohnzimmer befinde. Snarre kam dies nur halb gelegen. Er hatte sich inzwischen überlegt, ob er nicht Susanne zur Vertrauten seiner Absichten auf Dina machen und sie bitten sollte, die Gesinnungen ihrer Schwester in dieser Richtung näher zu erforschen. Aber dann war ihm aufs Herz gefallen, daß etwas Unzartes darin liegen könnte, gerade diejenige, der er einst selbst ziemlich deutlich gleiche Absichten in Bezug auf ihre Person zu erkennen gegeben hatte, in dieser Sache um Rath zu fragen.

Bei diesen Zweifeln wäre es ihm eigentlich lieber gewesen, der Zufall hätte die Dinge weiter gelenkt. Es ging ihm wie allen schwankenden Menschen, sie möchten gern etwas erreichen und gelangen doch zu keinem Handeln. Endlich entschloß er sich, bei Susannen einzutreten, statt sich, wie er einen Augenblick erwogen hatte, in den Garten zu begeben und Dinas Rückkunft dort zu erwarten.

Susanne saß auf ihrem gewohnten Platz am Fenster. Der Zug schmerzlichen Entsagens, den Snarre in letzter Zeit so oft auf ihrem Antlitz bemerkt hatte, war einer freundlichen Milde gewichen, das eindringende Morgenlicht verlieh dem sonst bleichen Gesicht eine frischere Farbe und von dem hellen Hintergrund hoben sich die Formen ihrer Gestalt in gereifter Schönheit ab. „Es ist etwas Madonnenhaftes an ihr,“ dachte Snarre, als sie ihm freundlich lächelnd Guten Morgen bot und ihn mit einer Gebärde voll ruhiger Anmuth zum Sitzen einlud.

„Ich freue mich, Sie in so guter Stimmung zu finden,“ sagte er, ihren Gruß erwidernd. „Man sieht, Sie haben fröhliche Gedanken, ich beneide Sie darum. Schade daß wir nicht tauschen können!“

„Ihre Voraussetzungen bezüglich meiner Laune treffen zu, Herr Graf,“ erwiderte sie ihm, den heiteren Ton des Gesprächs trotz seiner nachdenklichen Miene festhaltend. „Das kommt wohl davon, daß ich nicht wie Mama und Dina, die heute etwas angegriffen aussehen, auf dem Ball beim Präsidenten gewesen bin. Sollte die Nachwirkung dieses großen Ereignisses auch auf Ihr Gemüth einen Schatten geworfen haben? Oder was sonst veranlaßt Sie zu dem Wunsch, mit mir tauschen zu können? Uebrigens ein Gedankenaustausch gehört ja keineswegs ins Gebiet der Unmöglichkeiten, und wenn ich Ihnen damit einigen Trost spenden kann, soll mich’s freuen. Was bedrückt Sie, Herr Graf? Darf man’s wissen?“

„Ja,“ bestätigte Snarre in schier kläglichem Ton, „es sind die Nachwirkungen vieler anderer aufregender Dinge, nicht nur des gestrigen Balls, die mich bedrücken. Kennen Sie, gnädige Frau, jenes Gefühl des Unbefriedigtseins, jenen Drang nach einem Etwas, das unsere Gedanken trotz aller Gegenwehr ausschließlich in Anspruch nimmt, sie bald in die hellen Farben der Hoffnung, bald in die düsteren des Verzagens, der Unsicherheit, ja selbst des Grams taucht und uns in diesem raschen Wechsel von Stimmungen und Empfindungen der Fähigkeit eines kühnen Entschlusses völlig beraubt?“

„O ja, ja; ich kenne ihn, diesen Zustand!“ flüsterte Susanne, über deren Gesicht bei des Grafen Worten ein Schatten der Wehmuth geflogen war, mehr für sich, als in Erwiderung auf seine Rede. Zum Glück hatte der Graf, der den Kopf gesenkt hielt und seinen Gedanken nachhing, nichts davon gehört. Susanne fand Zeit, ihre Gemütsbewegung zu beherrschen, und in den früheren Ton zurückfallend, erwiderte sie nun laut: „Ein Zustand, wie Sie ihn schildern, Herr Graf, ist mir wohl, wenn ich nicht irre, aus Büchern bekannt, ich bezweifle aber doch, ob die Bezeichnung, die er dort findet, auch für Ihre Gemüthsstimmung paßt. Nein, nein, ich täusche mich wohl, Sie sind nicht verliebt, Herr Graf, Sie haben nur, wie Dina sagt, zu viele weiche Bettkissen, daran scheuern Sie sich die Gedanken wund.“

Susanne lachte bei den Schlußworten.

„Aus Ihrem Lachen,“ bemerke er etwas gereizt, „schließe ich, daß Sie Fräulein Dina beistimmen. Es scheint bei Ihnen allen ein unantastbares Evangelium, daß es mir zu gut geht und daß ich deshalb Verdruß empfinde. Sie glauben doch sicher nicht, Frau Gräfin, daß äußeres Wohlleben alles ist, dessen der Mensch bedarf? Seltsam, die Wohlhabenden erfreuen sich niemals der Theilnahme ihrer Mitmenschen, ihre körperlichen und geistigen Schmerzen sind belanglos. Sie haben ja Geld! Das ist die ausreichende Arzenei für alle Leiden, körperliche und geistige. Aber kommen wir einmal zur Sache, gnädigste Gräfin! Ich habe sehr das Bedürfniß, Ihnen mein Herz auszuschütten.“

„Bitte, sprechen Sie, Herr Graf!“ entgegnete Susanne, deren Gesicht einen ernsten Ausdruck angenommen hatte. „Was immer es auch sei“ – sie betonte ihre Worte merklich, – „seien Sie überzeugt, daß ich es in dem von Ihnen gewünschten Sinne auffasse.“

„Wohl!“ sagte Snarre, rückte ein wenig näher und faßte Susannens Hand, die sie ihm mit einer leichten Verlegenheit ließ, [636] „ich möchte von Ihnen hören, ob Sie glauben, daß Fräulein Dina mich liebt, und ob Sie meinen, – beachten Sie wohl, – daß sie in diesem Fall mit mir glücklich werden würde?“

„Wie seltsam, daß Sie diese letzte Frage hinzufügen. Herr Graf!“ entgegnete Susanne, ohne über die Eröffnung eine sonderliche Ueberraschung zu zeigen. „Sie scheint mir schwerer zu beantworten als die erste, die ich unter Umständen bejahen möchte. Sie sind beide sehr verschieden. Dina ist gut bürgerlich geartet, ich wähle absichtlich diesen Ausdruck; Sie, Herr Graf, sehen einmal – es ist dies das natürliche Ergebniß Ihrer Erziehung und Ihrer gesellschaftlichen Stellung – alles in einem – verzeihen Sie – etwas einseitigen Lichte an.“

„Gerade weil Fräulein Dina mir stets denselben Vorwurf macht, der Mensch doch aber nicht über seinen eigenen Schatten springen kann, kommen mir Bedenken,“ erwiderte Snarre. „Aber glauben Sie mir, der bürgerliche Hochmuth ist nicht weniger groß als der unsrige, und doch erscheint er den Leuten als etwas vollkommen Berechtigtes. Manche treten schon von vornherein dem Adeligen mit steifer Kopfhaltung entgegen. Weshalb? Sie sagen, Du trägst ein ‚von‘ vor Deinem Namen, aber ich bin doch besser als Du!“

„Ich kann Ihnen darin nicht ganz Unrecht geben und finde dies auch tadelnswerth, obwohl der erste Anlaß dazu doch wohl von der anderen Seite ausgegangen ist. Es sind die bösen Beispiele, die hier die guten Sitten verdarben.“

Snarre sprang von dem Thema ab, er wußte, er würde Susanne nicht überzeugen, auch wünschte er, nicht allzuweit von seinem Ziele abzuschweifen, obgleich er im Grunde recht enttäuscht war, daß Susanne die Frage einer Heirath zwischen ihm und ihrer Schwester so überaus gelassen aufgenommen hatte. Es entging seiner Empfindlichkeit nicht, daß sie die Ehre einer solchen Verbindung für eine gegenseitige schätzte, ohne im geringsten seine hohe Geburt und die geopferten Ueberlieferungen seines Hauses dabei in Betracht zu ziehen. Doch überwand er rasch diesen Rückfall in alte, eben gerügte Vorurtheile und sagte ganz unbefangen:

„Und was ist nun Ihre Meinung in der Hauptfrage? Glauben Sie, daß ich das liebe, kleine Mädchen fragen darf, ohne einen Korb zu gewärtigen?“

Susanna reichte ihm die Hand. „Sie sind besser, als Sie sich manchmal den Anschein geben, es zu sein. Wenn es Ihnen recht ist, will ich im Vertrauen mit Dina sprechen. Dieses Anerbieten schon sagt Ihnen, wie sehr die Erfüllung Ihrer Wünsche den meinigen entspricht.“

„Nehmen Sie aufrichtigen Dank, gnädigste Gräfin,“ rief Snarre freudig erleichtert. „Ich sehe Ihr Anerbieten als ein großes Geschenk an, das ich Ihnen nie werde vergelten können. Und Fräulein Dina glücklich zu machen, ist mein redlicher Wunsch. Ich leugne nicht, daß sie einen guten Einfluß auf mich übt, jeder Mensch hat eine Doppelnatur. Ich erkenne die meine, das ist schon etwas. In meiner Jugend ließ man mich eben immer nur in einen einzigen Spiegel schauen, und da sah ich allein mich selbst, die Welt gruppirte sich um mich, nicht ich war ein Theil des Ganzen. Daß dem in Wirklichkeit nicht so ist, davon habe ich bei meiner jüngsten geschäftlichen Unternehmung täglich Gelegenheit, mich in einer Weise zu überzeugen, die mir das Leben nicht gerade erheitert und einen Ausbruch schlechter Laune gelegentlich wohl verzeihlich macht. Alten ist nicht mein Mann, ich habe das gleich erkannt, und nur aus Rücksicht auf seinen Schwager und seine Frau habe ich ihm die Stellung gegeben. Aber es geht nicht länger so, am liebsten wäre ich ihn mitsammt den Werken los. Ja, wenn Tromholt nach da wäre!“ – –

Snarre schwieg plötzlich. Es war das erste Mal, daß Tromholts Name von ihm genannt wurde, und die schmerzliche Wirkung, die er auf Susanne herausbrachte, konnte ihm nicht entgehen.

„Doch wozu jetzt von Geschäften reden!“ fuhr er daher in raschem Uebergang fort; „also es bleibt dabei, liebe Frau Gräfin, Sie legen ein gutes Wort für den bösen Aristokraten bei der kleinen Bürgerin ein?“

„Gewiß, ich halte Wort, Herr Graf. Sie hören bald von mir,“ entgegnete Susanne und in ihren Mienen kam die Herzlichkeit ihrer Gesinnung zum Ausdruck.
(Schluß folgt.)




Karl Peters.

Im Jahre 1883 lebte in London ein deutscher Privatgelehrter, ein Doktor der Philosophie, Karl Peters, der in der Millionenstadt volkswirthschaftlichen Studien oblag. Er nahm einen regen Antheil an den Berichten, welche über die neue koloniale Bewegung in seiner Heimath durch die Presse veröffentlicht wurden, mußte aber mit Bedauern wahrnehmen, daß die in solchen Dingen erfahrenen Engländer über den Mangel an Unternehmungsgeist und Thatkraft bei den Deutschen spotteten.

Karl Peters.
Nach einer Photographie von Carl Günther in Berlin.

Andererseits konnte er sich aber der Erkenntniß nicht verschließen, daß die Engländer zu ihrem absprechenden Urtheile eine gewisse Berechtigung hatten. Gab es damals doch in Deutschland noch genug einflußreiche Männer, welche meinten, es genüge, das Volk zunächst über koloniale Fragen nur aufzuklären, um später erst, im 20. Jahrhundert, mit der praktischen Kolonisation zu beginnen.

Peters dachte anders, und, von dem Drange erfüllt, seine Anschauungen über die kolonialpolitische Aufgabe Deutschlands zur Geltung und womöglich zur praktischen Ausführung zu bringen, begab er sich nach Berlin. Dort aber belächelte man in maßgebenden Kreisen den jugendlichen Eifer des noch nicht dreißigjährigen Heißsporns und nahm seine Vorschläge nicht für ernst. Aus England hatte er einen fertigen Kolonisationsplan mitgebracht, nach welchem er über den Sambesi, Schire und Nyassasee nach Mittelafrika vordringen wollte. Als nun die Regierung seine Eingabe, in welcher er seine Pläne auseinandergesetzt und um staatliche Förderung gebeten hatte, unbeantwortet ließ, setzte er sich mit Leuten von kolonialfreundlicher Gesinnung in Verbindung, und es gelang ihm schließlich, eine „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ ins Leben zu rufen, welche den Zweck verfolgen sollte, auf dem Hochplateau von Südafrika deutsche Ackerbaukolonien zu gründen, was sich aber sehr bald als unausführbar erwies. – Trotz dieses Mißerfolges gewann Peters später den Vorstand seiner Gesellschaft für Erwerbungen in Ostafrika. Er erhielt den Auftrag, nach Usagara, welches Stanley in seinen Werken so sehr gepriesen hatte, zu reisen und dort Land für deutsche Kolonisten zu erwerben.

Die Aufgabe war nicht so leicht, denn die Engländer und der Sultan von Sansibar hätten nimmer unthätig dem Vorgehen der Deutschen zugesehen, wenn ihnen dieses bekannt geworden wäre. Die Erwerbung mußte darum im geheimen vorbereitet werden. Dazu kam, daß man nur über geringe Mittel verfügte. Die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ hatte mit Mühe 65 000 Mark zusammengebracht; das war gerade Geld genug, um eine größere Expedition nach Afrika auszurüsten, aber doch aller Erfahrung nach zu wenig, um damit eine Kolonie zu begründen. Peters trat jedoch nicht zurück.

Er und seine Begleiter suchten die öffentliche Meinung auf falsche Spur zu leiten, gaben vor, daß sie nach Westafrika abgedampft seien, und reisten in Wirklichkeit unter angenommenen Namen nach Sansibar. Sie erschienen dort am 4. November 1884 und gaben sich Engländern gegenüber als Mitglieder einer wissenschaftlichen Expedition aus.

„Vor drei bis vier Monaten werden Sie nicht abreisen können,“ sagte ein befreundeter deutscher Kaufmann in Sansibar zu Peters, indem er auf die Schwierigkeit der Ausrüstung einer Karawane hinwies. Peters reiste aber bereits am 9. November nach Saadani ab. Freilich war die Ausrüstung so mangelhaft, daß er sein Leben aufs Spiel setzte; aber nur ein rasches Handeln konnte in diesem Falle von Erfolg begleitet werden. Schon am 17. Dezember kehrte er krank und erschöpft nach Bagamoyo zurück; aber er brachte 14 Verträge mit Negersultanen mit, bei denen er die deutsche Flagge gehißt hatte, und ein Gebiet, so groß wie das Königreich Bayern, war für Deutschland gesichert!

Dies war die erste That Peters’ auf afrikanischem Boden.

Nachdem er nach Berlin zurückgekehrt war, erhielt er den kaiserlichen Schutzbrief für seine Erwerbungen und sandte eine Anzahl von Expeditionen aus, welche verschiedene Gebiete im Norden und Süden von Usagara unter die Oberhoheit der „Deutsch-ostafrikanischen Gesellschaft“ brachten, die jetzt an Stelle der „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ trat. Dieser fieberhaften Thätigkeit in Abrundung des Gebietes setzte die internationale Feststellung der Interessensphären ein Ende und die Deutsch-ostafrikanische Gesellschaft konnte sich endlich der

[637] Verwaltung und Ausbeutung des Gebietes widmen. – Peters und seine Beamten hatten in dieser Beziehung weniger Glück. Bei der Uebernahme der Zollverwaltung in den Häfen brach der Araberaufstand aus und Wißmann wurde zur Wiederherstellung der Ruhe und Herbeiführung geordneter Zustände vom Deutschen Reiche als Kommissär nach Deutsch-Ostafrika gesandt. Peters selbst wandte sich einer anderen Aufgabe zu.

Er übernahm die Führung der deutschen Expedition zur Rettung Emin Paschas. Ohne Zweifel trug er sich dabei mit neuen Plänen für die Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes in Ostafrika. Er wollte Uganda und die Aequatorprovinz dem bereits Erworbenen angliedern oder wenigstens dem ausschließlichen Einflusse Englands entrücken – aber die Zeit des Flaggenhissens war vorüber, afrikanische Besitzfragen sollten nicht mehr auf afrikanischem Boden, sondern zwischen den Kabinetten in Europa entschieden werden, und so waren Peters’ Kämpfe fruchtlos. Der Expedition legten zuerst die Engländer Schwierigkeiten in den Weg; Peters wußte sie aber schließlich zu überwinden.

Endlich konnte er den Tana aufwärts marschieren – er schlug sich tapfer durch das Land der Massai durch; lange Zeit war er wie Stanley ganz verschollen, und man erinnert sich, wie sich monatelang die Nachricht von seinem Tode behauptete. Nach vielen Mühen kam er endlich in die Nähe der Aequatorprovinz, mußte aber hier erfahren, daß Emin bereits abgezogen war; dann wandte er sich nach Uganda; aber was er hier auch zur Befestigung der Stellung des Christenkönigs Muanga gethan, welche Verträge er auch abgeschlossen haben mag – er handelte nicht im Sinne der deutschen Politik, welche Uganda England überließ. Unter diesen Umständen konnte die letzte Expedition Peters keine direkten praktischen Erfolge haben.

Als Führer und Afrikareisender hat sich aber Peters ausgezeichnet bewährt. Mit geringen Kräften hat er das erreicht, was von vielen als unmöglich dargestellt wurde, und vor allem bewiesen, daß der Weg über das Massailand zum Entsatze Emins besser war als die von Stanley gewählte Kongoroute.

Als er vor Jahresfrist todt gesagt wurde, sind auch seine Gegner seinen Verdiensten um die Gründung der deutsch-ostafrikanischen Kolonie gerecht geworden. Freilich ist die Sturm- und Drangperiode der kolonialen Tätigkeit bei uns vorüber; die Grenzen unserer Kolonie sind festgestellt. Die Aera einer ruhigeren ausbauenden Arbeit hat begonnen und dieses schwierige Werk wird viele Kräfte erfordern. Hoffen wir, daß Karl Peters, der nach seiner Heimkehr dem Kaiser persönlich Bericht über seine Thätigkeit abstattete, auch unter diesen neuen Verhältnissen Gelegenheit finde, seine Erfahrung und Thatkraft zum Besten des Vaterlandes zu verwenden. *




Lindenberg und seine Strohhutindustrie.

Mit Zeichnungen von H. Kaufmann.

Wie alle jene Gewerbe, welche sich in den Dienst der Mode gestellt haben, ist auch die Strohhutindustrie nervös und raschlebig. Ja, sie ist es um so mehr, als auch das jeweilige Wetter einen oft ganz unberechtigten Einfluß ausübt. Nach einigen Sonnentagen im zeitigen Frühjahr kommen die Aufträge nur so in die Fabrikcomptoire hereingeschneit, und wenn dann einige Regentage folgen, werden sie nur zu häufig mit demselben Eifer wieder zurückgenommen, als ob es nie mehr aufhören würde, zu regnen.

Diese unsicheren Zustände sind wohl die Ursache, daß sich die Strohhuterzeugung hauptsächlich in den Großstädten festsetzte. Der Fabrikant muß in engster Fühlung mit der modemachenden „fashionablen“ Welt bleiben, und nur die großen Verkehrsmittelpunkte gestatten ihm, die Vortheile des guten Wetters möglichst schleunig auszunützen und die Nachtheile der schlechten zu verringern. Dresden, Breslau, Köln, Frankfurt, Berlin, Hamburg, Stuttgart sind die Hauptorte der deutschen Strohhutindustrie.

Aber es kommt auch das Entgegengesetzte vor. Im Erzgebirge, im Schwarzwald, im schlesischen Gebirge und besonders im bayerischen Allgäu finden wir weitabgelegene Ortschaften, in welchen Strohhüte in großen Mengen erzeugt werden. Man verfertigt hier ziemlich viel Stapelsachen, d. h. vielbegehrte Hutformen, die sich meist einer besonderen Kleidsamkeit rühmen dürfen. Es sei hier nur an zwei solcher Stapelformen erinnert, die eine ganze Reihe anderer Hutmoden überdauert haben und die daher wohl jeder Dame bekannt sein werden: es ist das die Pamelaform und der Florentiner Schäferhut. Aber auch die laufenden Moden lassen immer gewisse Typen erkennen, für welche ein größerer, länger andauernder Absatz vorauszusehen ist. Das sind, neben den Männer- und Kinderhüten, welche weniger in der Mode wechseln, die Artikel, welche für die Herstellung abseits der Verkehrsmittelpunkte geeignet sind. – Der weitaus bedeutendste aller Strohhutorte ist Lindenberg im Allgäu, welches heute den Lesern im Bilde vorgeführt wird.

Wo sich die Vorberge der Alpen nach dem Bodensee herabsenken, unweit Lindaus, liegt der saubere freundliche Markflecken mit seinen vielen neuen, hübschen, meist aus Holz gebauten Häusern auf einer rauhen, gegen Norden offenen Hochebene ausgestreut. Das Klima bannt in solchen Höhenlagen die Bewohner beinahe die Hälfte des Jahres an den wärmenden Kachelofen, und auch hier wie überall unter ähnlichen Verhältnissen hat man schon zu Urväterzeiten eine gesellige Arbeit ergriffen, um sich damit über die langen Winterabende hinwegzuhelfen. Ursprünglich fertigte man hier nur ein grobes Geflechte, das zu großen Schutzhüten vernäht wurde, wie sie die Bauern gern zur Erntezeit tragen; die Strohhuterzeugung bildete eben nur eine Nebenbeschäftigung der Bewohner. Heute aber ist Lindenberg einer

[638] der wichtigsten Erzeugungsorte für Strohhüte und als solcher weltbekannt geworden. Es zählt etwa 30 größere und kleinere Strohhutfabriken (im ganzen besitzt das Allgäu deren etwa 45, welche sich außer Lindenberg auf die Ortschaften Goßholz, Scheidegg, Heimenkirch, Oberstaufen, Simmerberg und Opfenbach vertheilen), und man spricht davon, daß im Vorjahr allein von Lindenberg aus über zwei Millionen Menschen unter den Strohhut gebracht worden sind; wenn wir in Betracht ziehen, daß etwa 8 Monate lang an 800 Strohhutnähmaschinen unaufhörlich schnurren und surren und 66 hydraulische Pressen Strohhüte ausformen, so dürfen wir diese Zahl eher als zu niedrig ansehen. Das kleine Lindenberg nimmt unter rund 1500 bayerischen Postorten etwa die 80. Stelle ein, was bei seiner Einwohnerzahl von nur 2200 einen riesigen Verkehr bedeutet.

Naturbleiche.

Die auffällig rasche und eigenartige Entwicklung Lindenbergs fällt mit zwei wirtschaftlichen Vorgängen zusammen, welche sich ihrem Wesen nach schroff gegenüberstehen. Der eine war die Ende der siebziger Jahre erfolgte Zollerhöhung auf ausländische Strohhüte, der andere dagegen eine wichtige Erweiterung des Welthandels durch die Einfuhr chinesischer Strohgeflechte. Einerseits war England, welches allein als Einführer von Strohhüten in Frage kam, sehr bald auf unserem deutschen Strohhutmarkt durch die Zölle unmöglich geworden, andererseits aber hätte unser eigenes Gewerbe die Vorliebe des deutschen Volkes für den Strohhut nicht befriedigen können, wenn nicht die Herren Zopfträger weit hinten in Asien mit ihren unglaublich billigen Geflechten zu Hilfe gekommen wären. Allgäu, Schwarzwald und Erzgebirge zusammen können mit ihren etwa 30 000 Flechtern in einem Winter nicht die Menge liefern, welche in Shanghai in einer einzigen Woche nach Europa verfrachtet wird. Die menschenüberfüllten Provinzen Petschili, Schantung und Honan im Nordosten Chinas liefern das Geflecht in Mengen, als wenn es dort fertig wüchse, nach den Vertragshäfen, von wo es meist als Ballast sieben Meere durchschwimmt; und etwa sieben Mal wechselt es den Besitzer, ehe es sich in Hutform auf dem Kopf einer Schönen in einem europäischen Spiegel erblickt. Trotz dieses Wanderns von Hand zu Hand aber ist es immer noch so billig, daß kein europäisches Geflecht, es sei denn das allergeringste, im Preise mit dem chinesischen in den Wettbewerb eintreten kann. Man hat berechnet, daß ein chinesischer Flechter unmöglich mehr als 10 Pfennige den Tag verdient, und dabei glauben diese Leute doch noch, daß sie in einem „himmlischen Reich“ wohnen.

Unsere Flechter haben durch die Einfuhr aus China leider schwere Ausfälle in ihrem Verdienst gehabt, aber dennoch überwiegt der wirthschaftliche Vortheil bei weitem den Nachtheil. Der Strohhut würde niemals ohne China der große Volksartikel geworden sein, der er heute ist. Das unschöne und auch ungesunde Kopftuch der Frauen aus dem Volke ist für die Sommerszeit mehr und mehr zurückgetreten, die Magd auf dem Feld, die Hökerin auf dem Markt schmückt sich mit einem billigen Strohhut, und auch die Handwerker, die im Freien arbeiten, wie die Landleute machen mehr und mehr Gebrauch davon; sie arbeiten ja sonst schon im Schweiße ihres Angesichts und warum sollen sie diesen Schweiß noch unnöthig vermehren, wo ihnen die Strohhutindustrie so billige „Sonnenschützer“ zur Verfügung stellt?

Lindenberg, welches meist billige und mittlere Sorten erzeugt, hat einen großen Vorteil aus der Chinaeinfuhr gezogen, denn etwa 70% aller jetzt hier verarbeiteten Geflechte sind von schlitzäugigen Mongolen gefertigt worden. – Wir wollen einmal unsere sommerliche Kopfbedeckung auf ihrem Werdegang begleiten! Bereits beim Aussäen des Getreides, welches das Stroh liefern soll, muß auf den künftigen Strohhut Rücksicht genommen werden. In Italien und der Schweiz hat man es dabei gar nicht auf die Körnerfrucht abgesehen, man schneidet den Halm schon vor der Reife des Kornes ab – das giebt dann freilich einen feineren und widerstandsfähigeren Strohhut als das grobe ausgereifte Chinastroh. Das Flechten selbst ist eine gleichförmige Arbeit, eine Art Klöppeln ohne Klöppelsack, bei dem sich die Fäden nach oben statt nach unten richten. Der Muster, die durch Zusammenarbeiten von matten und glänzenden, naturfarbigen und gefärbten Strohsorten und durch eigenthümliche Flechtweise hergestellt werden können, giebt es eine Unzahl. Unter 2000 Mustern führt der Reisende eines halbwegs großen Geflechthauses nie bei sich. In Lindenberg selbst wird wenig mehr geflochten, nur hier und da sieht man noch ein Großmütterchen hinter dem Ofen ihren „Boschen“ flechten, während im Erzgebirge und Schwarzwald die Flechtstuben mit ihren lebhaften Gesprächen, der großen Geselligkeit, den „langen Nächten“ und dem Uebermuth der zuschauenden jungen Burschen ihre ganze ureigenthümliche Poesie bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. – Auf das Flechten folgt das Bleichen und Färben des Strohes, so weit es diese Prozesse nicht schon ungeflochten durchgemacht hatte. Das Färben geschieht in der Weise, daß man das Stroh in einem Kessel unter Zusatz der Farbstoffe so lange kocht, bis es den richtigen Ton erhalten hat. Das Bleichen aber erfolgt auf zweierlei Art. Die eine wird durch unser obenstehendes Bildchen veranschaulicht. Es ist die sagenannte „Schweizer“- oder Naturbleiche; die Strohbänder werden wie das Leinengewebe auf den Rasen gebreitet, von Zeit zu Zeit begossen, und die Sonne übt ihre bleichende Kraft. Diese letztere aber sucht man neuerdings durch eine chemische Behandlung zu ersetzen und nennt das dann die „englische“ Bleiche.

Verfrachtet.

Wenn wir von der Seide absehen, so dürfte kaum ein Gewebestoff zu finden sein, welcher leuchtendere Farben annähme, als das Stroh; wie in einem tropischen Urwald schimmert’s und leuchtet’s in einem Strohhutmagazin; freilich bleibt der strohfarbene Bleichhut dem sommerlichen, schmetterlingsartigen Wesen, das der Strohhut haben soll, am treuesten; aber sein Glanz ist ein sehr vergänglicher, und aus diesem Grunde werden gefärbte Strohhüte wahrscheinlich nie wieder vom Markt verschwinden.

Zum Nähen der Strohhüte an der überaus rasch arbeitenden Strohhutnähmaschine gehört ein sehr geübtes Augenmaß und eine [639] rasche, kunstfertige Hand. Die Näherin näht zuerst mit der Hand einen sogenannten „Butzen“ aus dem Ende eines Geflechtstückes. Dieser bildet meist die Mitte des Hutdeckels, und um ihn herum wird nun an der rastlos auf- und niederschießenden Nadelstange Reihe an Reihe genäht bis zum äußersten Rand des Hutes. Die Hand der Näherin muß sehr geschickt das Zuführen des Geflechts leiten, welches sie von einem seitwärts stehenden drehbaren Gestelle abwickelt, und dabei hat sie fortwährend den entstehenden Hut zu wenden und zu drehen, um auch die vorgeschriebene Form herauszubekommen. Nur auf Augenblicke unterbricht die Näherin das Nähen auf der mit nervösem Zittern wie rasend arbeitenden Maschine und stülpt den fertigen Theil des Hutes über eine Holzform, die den zukünftigen Hut darstellt, um sich auf diese Weise zu versichern, daß sie die Maße richtig eingehalten hat. Je verwickelter die Form, desto schwieriger ist das Nähen. Da müssen oft Ausladungen des Kopfes oder des Randes mit sogenannten Einlegern „herausgeholt“ werden. Besonders schwierige Formen werden teilweise oder auch ganz mit der Hand genäht.

Eine große Errungenschaft ist es, daß auch für die Strohhutfabrikation die Nähmaschine dienstbar gemacht werden konnte. Die Arbeiterinnen sind dadurch einer mühseligen Stichelei enthoben, die ihnen nur zu oft die Finger bluten gemacht hat.

Zum Appretiren der Strohhüte, welches nunmehr folgt, wird ausschließlich Gelatine verwendet. Weiße Strohhüte werden, um eine möglichst helle Farbe zu gewinnen, geschwefelt. Zu dem Ende bringt man die Ware nach der Appretur in den Schwefelkasten, die Hüte werden auf einen Rost gebreitet, unter welchem in einem ausgehöhlten Stein Schwefelblüthe verbrannt wird. Je nach der Beschaffenheit der Ware dauert das Schwefeln längere oder kürzere Zeit.

Dem roh genähten Hut fehlen selbstverständlich noch die feinen, gefälligen Linien und Schweifungen. Diese giebt man ihm an den Ziehformen und den hydraulischen Pressen. Die ersteren sind gußeiserne, hohle Hutköpfe, die durch Stichflammen dauernd in einem heißen Zustand erhalten werden. Man zieht die Hüte über diese heißen Formen und bringt sie dann in die ebenfalls erhitzte Preßform, die in die Presse eingesetzt wird. In den Hut legt sich ein Gummibeutel, der auch annähernd eine Hutform darstellt, die Presse wird geschlossen, und nun wird mittels eines Druckwerks Wasser in den Gummibeutel gepumpt. Dadurch wird der Hut ausgeformt, und bald darauf verläßt er „blank und eben“ den metallenen Kern. Bei dieser Behandlung, die ihrer Natur nach mit dem Plätten zu vergleichen ist, muß der Hut bald feucht und bald trocken sein, sie erfordert gleichermaßen viel Uebung und ist schwieriger, als es hier nach dieser flüchtigen Beschreibung erscheinen mag.

Jetzt kommt der äußere Schmuck. Die Garniererinnen nehmen sich nun des Hutes an, doch betrifft das meist nur Männer- und Kinderhüte, das Garnieren der Damenhüte ist ja ein eigenes weitverbreitetes Gewerbe, bei welchem die persönlichen Wünsche noch eine große Rolle spielen und das wohl nie eine großindustrielle Umformung zu fürchten hat.

Neuerdings sind die Bänder der Strohhüte zu einem ausgesprochenen Modeartikel geworden, die männliche Jugend schenkt ihnen nicht weniger Aufmerksamkeit wie z. B. dem Shlips. Und warum auch nicht? Ein schmuckes gemustertes oder doch farbiges Hutband kommt noch ganz anders zur Geltung als etwa ein schwarzes, und die Jugend hat ja das schöne Vorrecht, sich zu schmücken und Lebensfreude zur Schau zu tragen.

Der Strohhut ist ein leichter Patron, in verpacktem Zustande gehört er zum sogenannten „Sperrgut“ d. h. zu demjenigen, welches bei geringem Gewicht einen unverhältnismäßig großen Raum einnimmt; da ist es denn kein Wunder, wenn man auf dem Weg von der Station Röthenbach hinauf nach Lindenberg häuserhoch aufgethürmten Kistenfuhren begegnet, die sich in lustigem Tempo dahinbewegen, als gälte es eine Spazierfahrt. Auch die Postwagen sind oft hochbeladen mit Spankörben, die meistens „pressante“ Waren enthalten, welche als Frachtgut zu spät kommen würden.

Der Versand geht nicht nur nach Orten Deutschlands und der benachbarten Länder, sondern auch außerhalb Europas, wo immer es den Schutz gegen eine heiße Sonne gilt, ist das Lindenberger Fabrikat begehrt.

Ein großes Bedürfniß für das Lindenberger Strohhutgewerbe ist die Herstellung eines Schienenwegs, welcher den Marktflecken mit der 11/2 Stunden entfernten Eisenbahnstation Röthenbach verbindet. Bereits sind auch durch einen eigens hiefür gebildeten Ausschuß bei der bayerischen Regierung die einleitenden Schritte gethan worden. Mögen diese Bemühungen von einem guten Erfolge gekrönt sein; denn es ist gewiß, daß eine solche Bahnverbindung Lindenberg sowohl als den benachbarten Ortschaften zu einem lebhaften Aufschwung verhelfen würde.




Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Heiße Tage.

Erinnerungen aus der Schlacht von Noisseville am 31. August 1870.

Klar und thaufrisch brach der 31. August 1870 an, strahlend hob der feurige Sonnenball sich über dem Horizont empor und tauchte Thal und Hügel in Purpurgluth. Lachend und leuchtend breiteten die grünen Fluren und Rebenhügel Lothringens sich vor unseren Blicken aus, als herrschte tiefer Frieden und als sollten die Glocken der umliegenden Ortschaften jeden Augenblick ein Feiertagsgeläute beginnen.

Vor uns auf dem östlichen Rande des Moselthales erhob sich in guter Kanonenschußweite neben dem altersgrauen Schlosse Grimmont trotzig das große Fort von Metz „St. Julien“ und weiterhin im Südwesten Bellecroix.

Eine feierliche Stille lagerte über der Landschaft, jene Stille, die Gegenden eigen zu sein pflegt, in denen große Kämpfe stattgefunden haben. Kein Vogel erhebt dort seinen Gesang, in den Ortschaften regt sich kein Laut, der auf gewerbliche oder landwirthschaftliche Thätigkeit schließen ließe, selbst das Hundegebell ist verstummt, die Viehherden sind verschwunden und der Haushahn kündigt nicht mehr den nahenden Morgen mit lautem Rufe an.

Der Kampf bei Colombey-Nouilly am 14. August hatte diese Gegend in Schweigen gehüllt; nur vorübergehend wurde dasselbe durch das Rasseln anrückender Artillerie oder den flüchtigen Hufschlag einzelner Kavalleriepatrouillen unterbrochen.

Auf den Bivouacplätzen umher herrschte bei uns mit dem ersten Sonnenstrahl emsige Thätigkeit. Geschäftig kochten die Mannschaften ihren Kaffee in offenen Kochgeschirren an den lustig qualmenden Kochlöchern; schmeckte der edle Trank dann auch etwas räucherig, was schadete das, es war eben „Mokka à la guerre“. Wasser- und Holzkommandos marschirten ab und kamen an, und die Fouriere bereiteten die Verteilung der Tagesrationen vor.

Bei unserem Bataillon herrschte eine besonders lebhafte Thätigkeit. Excellenz von Bentheim, unser Divisionskommandeur, wollte die an diesem Tage nicht auf Vorposten befindlichen Bataillone sehen; zu ihnen gehörten auch wir, und da hieß es denn blitz und blank erscheinen. Ein jeder wollte vor dem beliebten Kommandeur so viel wie nur möglich „glänzen“, deshalb diese Ameisenthätigkeit; es blitzte und funkelte denn auch an Gewehren, Helmen und Knöpfen etc. mit den Thautröpfchen im Grase um die Wette; endlich rückten wir zur Paradeaufstellung ab.

Auf die Minute galoppirte Excellenz mit seinem Stabe heran, die Ehrenbezeigungen wurden erwiesen und mit einiger Verwunderung sahen wir den General mit seinem Gefolge statt nach dem rechten Flügel der Aufstellung geradeswegs auf unsere Fahne zureiten. Diese, deren Schaft in dem heißen Kampfe am 14. August durch eine feindliche Kugel zerschmettert worden war, trug noch die erste kunstlose Bandage, ein paar fingerdicke Eisenstäbe mit einem Strick fest über die Bruchstelle geschnürt. Unmittelbar vor der Fahne hielt der General, und den Helm abnehmend, rief er mit weithin tönender Stimme: „Vor dieser Fahne nehme ich meinen Helm ab, brave Dreiundvierziger!“

Einen Augenblick hielt das ganze Gefolge entblößten Hauptes vor dem präsentirenden Bataillon, ein Augenblick höchster Anerkennung für dasselbe, dann nahm die Parade ihren Verlauf; nach derselben schwenkten die Bataillone zum großen Quarreé ein, der Feldgottesdienst begann.

[640] Unter Hinweis auf den mörderischen Kampf und glänzenden Sieg am 14. sprach unser Divisionspfarrer ergreifende Worte und schloß mit einem Gebete für die braven Gefallenen, die ihre ferne Heimath, die Ihrigen nicht wiedersehen sollten, sowie um Trost und Ergebung in den Willen des Allmächtigen für die Hinterbliebenen und die an ihre Schmerzenslager gefesselten Verwundeten.

Es war eine tiefernste und ergreifende Feier, die auf einen jeden sichtlichen Eindruck machte. Waren doch so viele liebe Kameraden am 14. August im heiligen Kampfe für König und Vaterland aus unseren Reihen gerissen worden und hatten ihr Leben freudig verblutet, in der Gewißheit, einen entscheidenden Sieg mit errungen zu haben!

Wir rückten nach unserem Lagerplatze ab, doch nicht lange sollte unsere gehobene Stimmung, unsere Ruhe dauern; Bazaine erinnerte uns sehr bald an die rauhe Wirklichkeit und den Zweck unserer Anwesenheit vor den als uneinnehmbar gerühmten Werken der stolzen Festung.

Die zweite Division befand sich in leichtem Gefecht mit dem Gegner, auch wir gingen vor. Das Feuer verstummte jedoch bald und dichte Rauchwolken zeigten uns an, daß die Söhne des sonnigen Frankreich mit allem Ernst an das Mittagsessen dachten.

Trotzdem verblieben wir in der Gefechtsstellung.

Es war vier Uhr nachmittags geworden, eine Zeit, in der die Besatzung der Festung Metz und die Truppen Bazaines gern „anzufangen“ pflegten, und mit Spannung sahen wir dem Kommenden entgegen, als sich plötzlich das Fort St. Julien uns gegenüber in eine weiße Rauchwolke hüllte; sausend und zischend stob die erste Salve, wohl aus allen Geschützen des Forts, heran und fast gleichzeitig eröffnete die feindliche Infanterie ihr Feuer gegen unsere Division bei Noisseville, Servigny, Poix und Failly. Unter dem Schutze dieses Feuers setzten sich die feindlichen Kolonnen gegen unsere Stellung in Bewegung.

Ein furchtbarer Kampf entspann sich nun. Bazaine wollte mit seiner Uebermacht den Durchbruch nach Nordost erzwingen, um nach Sedan zu entkommen; wäre ihm dieser gelungen, weiß Gott, wie der Krieg geendet hätte. Unserer, der ersten Division war hauptsächlich die ehrenvolle Ausgabe geworden, diesem Vorhaben einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Immer neue Massen stürmten gegen die von uns besetzten Ortschaften heran, doch unerschüttert hielten die schwachen Besatzungen ihre Stellungen. Salve ans Salve krachte den gegnerischen Kolonnen entgegen und ein sprühendes Schnellfeuer knatterte ohne Unterbrechung. Unsere Artillerie war mit etwa 10 Batterien zwischen Servigny und Poix aufgefahren und unterhielt ein wahres Schnellfeuer gegen die Angreifer. Truppen des vierten französischen Armeecorps rückten trotzdem unaufhaltsam gegen die genannten Orte heran, welche je von zwei Bataillonen des 1. und 41. Regiments besetzt waren. Doch vergebens waren alle Anstrengungen, der feindliche Angriff scheiterte gänzlich. Das mit tödlicher Sicherheit abgegebene Schnell- und Salvenfeuer der Königsberger Grenadiere und Musketiere ließ die Stürmenden keinen Boden gewinnen und richtete namenlose Verheerungen unter ihnen an. Jeder Erfolg war diesem mit maschinenartiger Sicherheit abgegebenen Feuer gegenüber unmöglich.

Zur Unterstützung der Dorfbesatzungen ließ General von Bentheim im entscheidenden Augenblicke das zweite Treffen, Ostpreußischcs Grenadierregiment Nr. 3 und 1. Jägerbataillon, vorgehen. Dieser wie aus dem Exercierplatze ausgeführte Stoß traf den Gegner unerwartet, seine schon ermattenden Truppen zogen sich unaufhaltsam zurück.

Unser Bataillon – das 1. des 43. Regiments – hatte gleich zu Anfang des Kampfes den Befehl erhalten, zur Deckung der Artillerie Aufstellung zu nehmen. Wer sich je in einer solchen Stellung befunden hat, weiß, welche Bedeutung sie für die Truppe und den einzelnen Mann hat. Während die Kameraden im lebhaften frischen Kampfe ihre Kräfte mit dem Gegner messen, im Bereiche des feindlichen Feuers unthätig dazustehen, erfordert keinen geringen Grad von Selbstbeherrschung und Nerven von Stahl, denn man hat Muße genug, Berechnungen darüber anzustellen, ob und wo die heransausende Granate in die Kolonne einschlagen und wer ihr zum blutigen Opfer fallen wird. Es gehört dazu hoher moralischer Muth und eine Mannszucht, wie sie, Gott sei Dank, der deutschen Armee eigen und in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Auch unsere Leute fühlten die Wucht der gefährlichen Lage, besonders die jungen Mannschaften, doch bald siegte der heitere Juqeudmuth, und die in jeder Truppe vorkommenden „Karnickel, die immer anfangen“ und denen der Humor nie fehlt, machten auch hier bald ihre Kraftscherze bei heransausenden Granaten wie „Kapp weg!“ oder „Karl, duck di, Steen kömmt“ etc. Endlich bei hereinbrechender Dunkelheit erhielten auch wir den Befehl zum Vorgehen und mit kräftigem Hurrah schwärmten unsere Schützenzüge dem abziehenden Gegner nach. Das Bataillon ging zwischen Servigny und Noisseville im Vallieresgrunde vor, während der dritte Schützenzug links davon, als Flankendeckung des Bataillons, gegen Noisseville avancirte.

Nur ein matter Dämmerschein herrschte noch, als wir uns durch ein großes Rebenfeld gegen Noisseville hin durchzuarbeiten suchten. Immer tiefer sank die Nacht herab, das Feld lag schwarz wie Tinte vor uns, wir machten Halt und stellten unser nur von einzelnen Rotten abgegebenes Feuer ganz ein. Vom Dorfe her blitzte noch dann und wann ein Gewehrschuß auf, und mit scharfem Pfiff beschrieb das Geschoß jedesmal einen hohen Bogen über uns fort. Ein Witzbold sprach sofort das geflügelte Wort aus: „Die Franzosen wollen Löcher in die Nacht schießen, damit es ein wenig Heller werde.“

Endlich stellten auch unsere Gegner das Feuer ein. Nur von Servigny, wo unser zweites und Füsilierbataillon in Gemeinschaft mit der ersten Brigade in Thätigkeit waren, knatterte unausgesetzt das Gewehrfeuer herüber, und von unserem Bataillon hörten wir aus dem Ballieresgrunde einige Salven heraufkrachen.

Vor uns herrschte eine unheimliche Ruhe, der Nachtwind rauschte und raunte, flüsterte und zischelte in dem Laube der Weinstöcke, schlief ein und begann im Augenblick wieder sein heimliches Flüstern. Ein leises Knarren der Rebstöcke an den Pfählen war wohl durch den Wind verursacht. Wir strengten unser Sehvermögen an, um etwas in dieser Dunkelheit zu erkennen, doch vergebens, nur unmerklich hob der Himmel sich von dem Rebengelände ab, uns schmerzten die Augen vor Anstrengung, sehen konnten wir aber trotzdem nichts. Und dennoch – waren unsere hochgradig angespannten Nerven nur daran schuld, oder war es Wirklichkeit – schien etwas in der Dunkelheit vorzugehen, das sich unseren Blicken entzog. Das Rauschen, Knarren und Flüstern in den Weinstöcken schien eigenthümlich zugenommen zu haben, während der Wind an Stärke abnahm. Wieder setzte der Wind etwas stärker ein, es knackte und rauschte vor uns, auch als der Lustzug aufhörte.

Da durchzuckte den ganzen Schützenzug wie ein elektrischer Schlag die halblaute Warnung des Zugführers: „Achtung!“ Jeder glaubte in demselben Augenblicke eine eigenthümliche Bewegung in den Weinstöcken bemerkt zu haben, krampfhaft umspannte jede Faust das schußfertige Gewehr. Da knistert’s und raschelt’s in den Büschen und klingt wie verhaltenes Keuchen hervor, dann „kroch es heran, regt’ hundert Gelenke zugleich“. „Dreißig Schritte, Schnellfeuer!“ donnert das Kommando des Zugführers, und die letzten Silben werden schon vom Prasseln der Schüsse verschlungen.

Ein Wuthgeheul und Schmerzgeschrei mischt sich mit unserem salvenartigen Feuer, eine schwarze langgestreckte Masse erhebt sich im Feuerschein der Schüsse über die Weinstöcke, doch nur einen Augenblick, die Wirkung unseres Feuers ist zu furchtbar! Dann taucht die Masse wie eine verrinnende Woge in der Finsterniß unter, und das Geräusch brechender Weinstöcke zeigt uns den wilden Rückzug der Gegner an.

Leise rauschte der Nachtwind, und flüsternd schwangen und schwebten die Ranken der Weinstöcke über den Gefallenen.

Bald rief uns ein Hornsignal zum Bataillon, mit den, wir bis zur Höhe östlich von Servigny zurückgingen.




Es war eine für die Jahreszeit recht kalte Nacht, vom 31. August zum 1. September 1870, dichte Nebel stiegen auf und hüllten Himmel und Erde bald in eine Dunstmasse. Unser Bataillon brachte infolge der Nähe des Gegners, welcher Noisseville noch besetzt hielt, die Nacht unter dem Gewehr zu, jeden Augenblick bereit, den Kampf mit dem etwa hervorbrechenden Gegner aufzunehmen.

Feuer durften nicht angezündet werden, und wir froren um so mehr, als niemand mehr einen Schluck „Liebeskümmel“ in der

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Bei der Nähmaschine.   An der Presse.   Appretur.
An der Ziehform.   Garnieren.

Strohhutfabrikation in Lindenberg.
Zeichnung von Hans Kaufmann.

[642] Feldflasche hatte. Geraucht durfte ebensowenig werden, um das Aufflammen der Zündhölzchen zu vermeiden. Ein etwas boshafter Musketier meinte freilich, das Verbot wäre ergangen, damit der Duft des edlen „Vorpostenkanasters“ den Franzosen unseren Standpunkt nicht verrathe.

Unter diesen Umständen erwarteten wir mit Ungeduld den Morgen. Endlich zeigte sich im Osten ein röthlicher Streifen am Horizonte, der Tag brach an, für viele von uns zum letzten Male. –

Kaum begann die Sonne den dichten Nebel etwas zu zerstreuen, als unser Regiment den Befehl erhielt, zum Angriff auf Noisseville vorzugehen und es zu nehmen. Unser Bataillon bildete das erste Treffen, als zweites folgte das Füsilier- und zweite Bataillon. Rechts von uns ging noch das erste Bataillon vom Regiment „Kronprinz“ 1. Ostpreußisches Nr. 1 und links das 4. und 44. Regiment, das letztere gegen die neben Noisseville an der Chaussee gelegene Brauerei vor. Schnell hatten die Bataillone Treffenabstand genommen und wir marschirten den Vallieresgrund hinab, um möglichst unbemerkt hervorzubrechen.

Als wir etwa in der Höhe von Noisseville angekommen waren, erfolgte das Signal: Schützen schwärmen! Im Laufschritt ging’s den südlichen Abhang der Schlucht empor; vor uns lag das uns vom vergangenen Abende wohlbekannte Rebenfeld, dahinter Noisseville.

Schon seit einiger Zeit hatte unsere Artillerie ein heftiges Feuer gegen das Dorf eröffnet, unausgesetzt sausten die Granaten durch die Luft über uns hinweg und schlugen krachend in die Gebäude, nur sehr schwach wurde dieses Feuer von feindlicher Seite erwidert.

Ohne zunächst einen Schuß abzugeben, suchten wir so schnell als möglich durch die Weinranken hindurch und näher an das Dorf heranzukommen. Auch von dort her fielen nur ganz vereinzelte Gewehrschüsse. Sollte man unsere Annäherung bei dem noch immer nicht gefallenen Nebel und zwischen den hohen Weinstöcken noch nicht bemerkt haben?

So schnell, als es uns möglich war, hatten wir uns nun dem Dorfe bis auf etwa vierhundert Schritte genähert, als ein wildes Gewehrfeuer gegen uns eröffnet wurde, dessen Schüsse meistens zu hoch gingen. Wir nahmen nun das Feuer ebenfalls auf; da unsere Gegner aber gedeckt standen und aus den Häusern heraus, hinter Barrikaden etc. hervorfeuerten, so wurde das Feuer unsererseits zunächst nur von einzelnen Schützengruppen unterhalten.

Obgleich bei unseren Leuten schon mehrere Verwundungen vorgekommen waren, trieb der Humor doch seine Blüthen.

„Du,“ ruft ein Musketier seinem Freunde zu, „heute ist Prüfungsschießen nach Kopfscheibe, man hübsch rausgeschossen!“

„Na ob,“ erwidert der Angerufene, „man ohne Sorge!“

Dabei feuerten beide so kaltblütig, als ständen sie tatsächlich auf dem Scheibenstande und nicht im heftigen Kugelregen einem erbitterten Gegner gegenüber.

Bis jetzt hatte die Artillerie der Forts geschwiegen. Nachdem der Nebel aber gänzlich gefallen war, nahm auch sie das Feuer auf. Ein dumpfer Donner erschüttert plötzlich die Luft, und vom Fort St. Julien saust es mächtig heran. „Granate!“ rufen die Führer der Schützenzüge, einen Augenblick danach erfolgt unter schneidendem Zischen ein dröhnender Schlag, so furchtbar, daß der Boden erbebt und zu schwanken scheint; vor uns in geringer Entfernung werden Erde und Steine hoch emporgeschleudert. Die nächsten Schützengruppen haben sich platt zu Boden geworfen, eine Sekunde athemloser Spannung vergeht, dann kracht’s, als ob der Erdball voneinander gerissen wäre, eine Garbe von Feuer, Pulverdampf und Erde schießt haushoch empor, und mit ohrzerreißendem Pfeifen fahren die Sprengstücke der Granate schwersten Kalibers auseinander. Diesesmal ging die Gefahr ohne blutige Opfer vorüber.

Inzwischen war unser Bataillon an die Schützenlinie herangerückt, nun hieß es wieder: Schützen avanciren! Vorwärts ging’s, sprungweise, sich niederwerfend und feuernd, eine dämonische anscheinend ordnungslose lange Kette. Rechts und links pfiffen und zischten die feindlichen Geschosse, immer öfter; je näher wir herankamen, ließ sich der dem Ohre des Soldaten bekannte knackende Ton der einschlagenden Geschosse hören, und lautlos oder mit einem unterdrückten Schmerzenslaut sanken die Getroffenen zusammen. Die Lage war sehr ernst geworden; noch einmal hielten wir vor dem Dorfe am Rande eines Wiesenstreifens und feuerten in knieender Stellung. Jedes Fenster, jede Schießscharte und die hier mündende Dorfstraße wurden unter ein vernichtendes Feuer genommen. Der kurze Doppelschlag der Tambours tönte hinter uns im zweiviertel Takt, wie eine Fluthwelle rückte das Bataillon mit zur Attake rechts genommenem Gewehr heran; der letzte Akt des blutigen Dramas begann!

Wie ein bisher geschlossener Vorhang zogen die Schützen sich rechts und links auseinander, um dem anstürmenden Bataillon Platz zu machen, und schlossen sich ihm an. Ein donnerndes Hurrah, sich immer erneuernd, erschütterte die Luft und übertönte das Knattern der Schüsse, wie eine Lawine stürzte die Sturmkolonne gegen das Dorf an. Ein wüthendes Feuer krachte uns entgegen, aus Fenstern, Dach- und Kellerluken, aus Scharten und hinter Verhauen hervor. Sinnverwirrend war das Knattern der Schüsse, das Rasseln der Trommeln und die dröhnenden Hurrahs der Stürmenden. Aber die verzweifeltste Gegenwehr war hier vergebens; in kürzerer Zeit, als das Niederschreiben dieser Zeilen erfordert, waren die ersten Verhaue erreicht, eingerissen oder übersprungen, wobei unsere Leute, ebenso wie im nachfolgenden Kampfe, eine herkulische Kraft entwickelten.

Ein mörderischer Krampf Mann gegen Mann entbrannte nun in der Dorfstraße, die Bestürzung und der Schrecken war den Franzosen deutlich im Gesicht geschrieben, aber auch eine entsetzliche Wuth funkelte in ihren Augen. Ein Kampf auf Gewehrlänge, wo der Athem der Kämpfenden sich mischt, hat etwas Furchtbares. Durch den ersten Anprall wurden unsere Gegner zurück und zum Theil in die Häuser gedrängt, jedes Haus wurde zur Festung, die besonders genommen werden mußte. Das Knattern der Schüsse mischte sich mit dröhnenden Axtschlägen und Kolbenstößen, womit Thüren und Fenster eingeschlagen wurden, das Klirren springender Fenster mit dem Prasseln des an einigen Stellen aufschlagenden Feuers; Pulverdampf, Rauch und Staub verschlangen zeitweise die Kämpfenden. Ein nicht minder erbitterter Kampf tobte gleichzeitig in den mit hohen Mauern umgebenen Gärten des Dorfes, die förmliche Forts bildeten und erstürmt werden mußten. Mit dem Muthe der Verzweiflung wehrten sich die Franzosen. Durch den hartnäckigen Widerstand hinter Thüren und Mauern hatten sie unsere Leute aber erbittert, und jeder Widerstand war vergebens, endlich erlahmte derselbe; mit finsteren Blicken, aneinandergedrängt, ergaben sich diejenigen, welche noch kampffähig und nicht geflohen waren.

An eine Ordnung war bei einem solchen Kampfe bald nicht mehr zu denken; jeder Offizier oder Unteroffizier führte mit den um ihn befindlichen Mannschaften den Kampf auf eigene Faust. So war auch der dritte Schützenzug gleich im Anfange des Dorfgefechtes vom Bataillon abgesprengt worden und in eine Nebenstraße gekommen, die, wie es schien, hinter einer Reihe von Gebäuden herumführte und vollständig unbesetzt war. Im Laufschritt ging’s die Straße entlang, über eine aus Karren und Hausgeräth hergestellte, aber unbesetzte Straßensperre hinweg, um wieder auf den Kampfplatz zu kommen.

In kurzer Zeit hatten wir eine breite Hauptstraße erreicht, die nach Westen das Dorf verließ und nach Nouilly führte; wir befanden uns also ziemlich im Rücken der Dorfbesatzung. Es blieb kaum so viel Zeit, um uns zurechtzufinden, als wir schon bemerkt waren. Auf der Straße weiter hinab stand im Dorfe ein starker feindlicher Unterstützungstrupp; unser Erscheinen in seinem Rücken brachte bei demselben eine nicht geringe Verwirrung hervor, die sich wesentlich steigerte, als unsere ersten Schüsse krachten. Bald aber hatte, wie wir bemerkten, das Bemühen der Offiziere, Ordnung zu schaffen, Erfolg, und im Laufschritt mit gefälltem Gewehr stürmte die Kolonne heran. Wir feuerten, was die Läufe halten wollten, was konnten wir aber, ein schon am 14. August zusammengeschossener Zug, der auch heute wieder eine Anzahl Leute verloren hatte, hier machen! An ernsten Widerstand unsererseits war nicht gut zu denken. Wir zogen uns deshalb schnell bis zu dem erwähnten Verhau zurück und nahmen hinter demselben Deckung; die Gegner folgten, und es entspann sich ein kurzes Feuergefecht. Eben wollten wir, der Uebermacht weichend, weiter zurückgehen, als ein Hurrah in der Dorfstraße vor den Häusern erdröhnte, hinter denen wir uns befanden. Es mußte dort eine größere Abtheilung unseres Bataillons geschlossen vordringen. Hielten unsere Gegner nun noch Stand, dann mußten sie abgeschnitten [643] werden; dieses erkennend, zogen sie sich, so schnell sie gekommen waren, zurück, wir ungesäumt dahinter her, konnten sie aber nicht mehr erfassen.

In der Straße, welche in der Richtung auf Nouilly ausmündete, trafen wir mit Mannschaften unserer zweiten Kompagnie zusammen, vereint mit diesen ging’s nun den Abziehenden nach. Ohne zu halten, stürmten diese davon gegen den genannten Ort zu. Ihnen weiter zu folgen, war nicht räthlich, wir hätten uns sonst zwischen zwei Feuer gebracht, denn schon zogen Abtheilungen, welche aus den Gärten von Noisseville vertrieben waren, über das Feld, die wir nun unter Feuer nahmen.

Endlich waren aus Dorf und Gärten die Gegner hinausgeworfen, und wir glaubten, nun würde das Fort St. Julien sein Feuer gegen uns eröffnen, um uns zu verjagen. An maßgebender Stelle schien man etwas Aehnliches zu erwarten, denn wir räumten den Ort und zogen uns hinter denselben zurück. Das Fort aber schwieg, und der vollständige Rückzug des ganzen dritten französischen Armeecorps trat ein, wodurch auch die übrigen Corps veranlaßt wurden, den Rückzug gegen Metz anzutreten.

Wir besetzten das Dorf wieder und hatten nun Muße, die traurigen Folgen des Kampfes zu betrachten. Es sah in den Straßen und Häusern entsetzlich aus, unsere Verluste waren bedeutend, aber weit überwiegend war unter den Gefallenen die französische Uniform vertreten.

Zwei charakteristische Vorkommnisse mögen hier noch ihren Platz finden.

Während des Kampfes sah sich ein Unteroffizier plötzlich allein einer Anzahl Franzosen gegenüber. Kurz entschlossen rechnet er aus, daß es besser gethan sei, dem Vaterlande einen tüchtigen Vertheidiger durch geschickten, wenn auch nothgedrungen etwas beschleunigten Rückzug zu erhalten, als sich in einen ungleichen Kampf einzulassen, dessen Ausgang nicht zweifelhaft war. Dem Gedanken folgt die That; doch unerwartet sperrt eine Mauer seinen Weg, die Verfolger sind dicht hinter ihm her. Als guter Turner sucht er entschlossen mittelst Klimmzuges die Mauer zwischen sich und seine Verfolger zu bringen; schon athmet er auf, die Höhe der Mauer ist erreicht, da, hilf Himmel! fühlt er sich an einem Fuße festgehalten und herabgezerrt. Doch ein verzweifelter Ruck – und der Franzose steht mit einem erbeuteten preußischen Kommißstiefel verblüfft am Fuße der Mauer, während der bisherige Träger dieser Trophäe ihm von der anderen Seite der Mauer ein vergnügtes „bon voyage, cher camarade“ zuruft und schleunigst seine Kompagnie zu gewinnen sucht. –

Als nach dem Abzug der Franzosen ein alter Mann mit weißem Haar aus einem Keller auftauchte und unter Thränen sein in Brand geratenes Häuschen zu löschen versuchte, war er im Nu von einer Anzahl Musketiere umringt, die ihm die Löscharbeit abnahmen. In kurzer Zeit war jede Gefahr beseitigt und mit kräftigem Händedruck verabschiedeten sich die Löschmannschaften von dem Greise, seine französischen Dankworte mit einem gemüthlichen: „Schon gut, Alterchen, hat gar nichts zu sagen“ abwehrend.
C–r.


Blätter und Blüthen.

Die Rückkehr des Sultans vom Selamlik. (Zu dem Bilde S. 617.) Zu dem, was der Fremde in Konstantinopel zuerst sieht, wohin ihn auch der unentbehrliche Fremdenführer fast gewaltsam treibt, gehört der Selamlik, d. h. der alle Freitage, dem türkischen Sonntage, stattfindende Zug des Sultans zu irgend einer Moschee. Dieser Kirchgangstag des Großherrn ist zugleich der alle acht Tage wiederkehrende Paradetag der gesammten Garnison von Konstantinopel, und wenn auch die Theilnahme des Publikums nach unsern Begriffen keine lebhafte genannt werden kann, so sind doch immer Tausende von Zuschauern versammelt, die in bunten Gruppen hinter der dichten Kette des Militärs sich aufstellen oder die Hügel und Plätze in der Nähe besetzen. Die Freude an öffentlichen Aufzügen und die Neugierde scheint unter den türkischen Schönen nicht minder verbreitet zu sein als anderswo. Sie gehen zwar von der Sitte der Verschleierung des Gesichts nicht ab, doch hat man oft Gelegenheit, in die meist schön geschwungenen, melancholisch und doch wieder kindlich dreinblickenden Augen zahlreicher Frauen zu sehen, die an den Abhängen und Böschungen der Wege hocken.

Der jetzige Sultan Abd ul Hamid II. bewohnt nicht die glänzenden Paläste an den Ufern des Bosporus, sondern den ziemlich weit an den Hügeln hinaufliegenden Ildiz Kiosk. Weiß und glänzend liegen in den weiten Parkanlagen zahlreiche Gebäude, aber eine starre Mauer umzieht das Ganze, und wer nicht ein hoher Würdenträger ist, wird schwerlich hineingelangen.

In unmittelbarer Nähe, etwas tiefer, liegt die Moschee Hamidije auf einem wundervollen Platze, blendend weiß sich von dem tiefblauen Himmel abhebend. Sie wird für den Selamlik vom Sultan bevorzugt und gewährt auch in ihrer Umgebung den besten Platz für das militärische Schauspiel.

Lange bevor die Ausfahrt des Großherrn beginnt, rücken in langen Zügen die Truppen der Garnison heran, für Fremde eine hochinteressante Sammlung militärischer Typen. Die Uniformen nähern sich im Schnitt sehr den europäischen, nur der Fez, der von Generalen wie von Gemeinen gleichermaßen getragen wird, ist das nationale Abzeichen. Die Truppen, die in und um Konstantinopel liegen, sind wohl die besten des Reiches, und unleugbar ist ihr Aussehen ein kriegerisches und Achtung gebietendes, wenn auch bei näherem Zusehen die „Propretät“ nicht weit her ist.

Vor dem Thore des Palastes versammeln sich die Generale und in einem unmittelbar daran gebauten Pavillon die höheren Civilbeamten, die Mitglieder der fremden Gesandtschaften, sowie Fremde, die durch irgend eine Empfehlung Zutritt erhalten haben. Es werden Thee, Kaffee und vorzügliche Cigaretten herumgereicht, und man genießt auf diese Weise das Schauspiel auf die denkbar angenehmste Art.

Bevor der Sultan den Palast verläßt, erscheint in prächtigen und reichgeschirrten, aber leider geschlossenen Wagen eine Anzahl Damen des Palastes; man sieht nur eine Wolke von Tüll und hie und da ein blitzendes Auge. Sie sind umringt von Eunuchen, meist tiefschwarzen Negern in schwarzem Gehrock, gleichen Beinkleidern, weißer Weste und Lackstiefeln, während ein glänzend gekleideter Stallmeister voranreitet. Sobald der Sultan selbst erscheint, ertönt ein Signal, und in weitem Umkreise rufen die Truppen ihrem Gebieter den Gruß zu. Unter präsentirtem Gewehr und mit geneigtem Kopfe stehen die tiefgebräunten Gestalten da, während feierlich und gemessen der offene Wagen mit dem Beherrscher der Gläubigen vorüberzieht.

Wie die meisten Türken hat Abd ul Hamid nichts Bewegliches und Lebhaftes in seinem Wesen. Leise neigt er das Haupt, mehr mit den Augen als mit der Bewegung des Kopfes grüßend; dennoch macht es den Eindruck, als wenn er alles sähe oder wenigstens alles zu sehen bemüht wäre. Häufig sitzt der vielgenannte Held von Plewna, der greise Osman Pascha, ihm im Wagen gegenüber – neben dem Herrscher zu sitzen, verbietet wohl die höfische Vorschrift.

Die religiöse Uebung oder der Gottesdienst währt nur etwa zwanzig Minuten, dann öffnet sich ein Fenster in der Moschee, von wo aus der Sultan den Vorbeimarsch der Truppen abnimmt. Ist dieser vorüber, so besteigt der Herrscher meist einen andern Wagen, um, selbst kutschirend, in schnellerer Gangart zurückzufahren. Das letztere ist eigentlich der interessanteste und, wenn man will, erheiterndste Theil des Schauspiels. Sämmtliche nicht in der Front stehenden Offiziere und Generale schließen sich der Equipage des Sultans an, und man kann sich kaum eines Lächelns erwehren, wenn man die reichbesternten und zum Theil wohlbeleibten Herren sich bemühen sieht, mit den trabenden Pferden Schritt zu halten. Schweißtriefend und erschöpft langen sie oben am Thore des Palastes an, um noch einen tief ergebenen Gruß dem Herrscher nachzusenden; dann ist das Stück zu Ende.
H. L.

Etwas vom „Bohnenlied“. Ueber den Ausdruck „Das geht übers Bohnenlied“ haben sich schon viele und darunter sehr gelehrte Leute die Köpfe zerbrochen. Binder im „Sprüchwörterschatz der deutschen Nation“ meint, der Spruch beziehe sich auf ein altes schweizerisches Spottgedicht, das in den allerstärksten Ausdrücken über die Sittenverderbniß der damaligen Geistlichkeit loszog. Wackernagel dagegen behauptet, unter dem „Bohnenlied“ seien alte deutsche Lieder zu verstehen, die mit dem Kehrreim schlossen: „Nun geh mir aus den Bohnen“, und die also die Aufforderung enthielten, sich zu trollen. Eine neue und gar nicht unglaubliche Deutung giebt Drück in der „besonderen Beilage des Staatsanzeigers für Württemberg“. Er nimmt an, daß bei dem früher viel verbreiteten, meist am Dreikönigstag gefeierten Bohnenfest auch Lieder gesungen worden seien, die, dem Wesen dieser aus den römischen Saturnalien entsprungenen Lustbarkeit entsprechend, an Derbheit und Ausgelassenheit das Menschenmögliche geleistet hätten. Der Leser, der vielleicht eine der bildlichen Darstellungen eines solchen Bohnenfestes mit seinem Bohnenkönig und seiner Bohnenkönigin zu Gesicht bekommen hat, wird dies gerne glauben. Wenn nun heute einer sagt: „Das geht übers Bohnenlied“, so heißt das: „Hier ist das Aeußerste noch überboten“.

Wie alt übrigens der Ausdruck ist, mag man daraus entnehmen, daß schon in einem Fastnachtsspiel des 15. Jahrhunderts die Worte sich finden

„Dieser Sach bin ich fast müd,
Es ist mir übers Bohnenlied.“

Und als dem Herzog Christoph von Württemberg, welcher von 1550 bis 1568 regierte, der Stadtbaumeister von Stuttgart einen Entwurf zur Ueberwölbung des die Stadt mit üblen Dünsten durchströmenden Nesenbaches vorlegte und dabei die merkwürdige Ansicht verrieth, das Wasser habe die natürliche Tendenz, bergauf zu fließen, da schrieb der Herzog an den Rand: „Das wäre doch übers Bohnenlied!“ Und der Herzog hat recht.
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Die Sitten der guten Gesellschaft sind nicht immer so einfach, daß es für jemand, der noch nicht Gelegenheit hatte, gesellschaftliche Erfahrungen zu sammeln, stets leicht wäre, das Richtige zu treffen. Bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Ländern weichen die bei den gleichen Gelegenheiten üblichen Bräuche und Formen oft weit von einander ab, ja verkehren sich in das gerade Gegentheil – und nicht einmal eine Wanderung in die Fremde braucht man anzutreten: im eigenen Vaterlande sind nach der Eigenart der Stämme und Gegenden die [644] geselligen Formen grundverschieden, ja sie ändern sich vielfach schon, wenn man aus den Städten nur in die benachbarten Orte kommt. Da giebt es denn gerade für diejenigen, die am eifrigsten bemüht sind, Verstöße gegen das Uebliche zu vermeiden, der Sorgen genug, und die Redaktionskorrespondenz der „Gartenlaube“ könnte von ergötzlichen Verlegenheiten berichten.

Eine junge glückliche Braut fragte elf Monate vor ihrer Hochzeit an, welchen Platz an der Seite ihres Bräutigams sie bei der Trauung einzunehmen habe – an der rechten oder an der linken Seite; ihr „sehr verständiger“ Bräutigam behaupte: an der rechten, als der Ehrenseite, ihre Mutter aber: an der linken, um schon mit dem Platze die Stellung der Frau ihrem Gatten und Herrn gegenüber anzudeuten. Ein junger Norddeutscher fragte ganz empört kurz an: „Ist es erlaubt, Spargeln mit den Fingern zu essen? Das ist ja barbarisch!“ Und eine kleine neugebackene Hausfrau verlangte Entscheidung, ob sie ihr Dienstmädchen mit „Du“ oder „Sie“ anreden solle.

Wir wollen diesen Dreien den Gefallen thun, ihre Fragen an der Hand eines hübschen Buches von Marie Calm, das den Titel „Die Sitten der guten Gesellschaft“ (Stuttgart, J. Engelhorn) führt, kurz zu beantworten. Der vorsorglichen und etwas ehrgeizigen Braut giebt Marie Calm den Trost, daß die Braut in den meisten Gegenden bei der Trauung an der rechten Seite des Bräutigams stehe; eine feste allgemeingültige Regel aber giebt es nicht, und man thut deshalb gut, sich vorher nach dem besonderen Brauch der Gegend an geeigneter Stelle – am besten vielleicht bei dem Geistlichen, der die Trauung vollziehen soll – zu erkundigen. – Der Spargelfreund mag sich beruhigen: die Sitte erlaubt es allerdings, die köstlichen Stangen mit den Fingern zu essen. Der Gebrauch stammt aus England, wo man die langen dünnen Spargeln nicht ißt, sondern nur aussaugt. Unsere dicken, fleischigen Braunschweiger Spargeln, die man wirklich verspeist, gestatten auch die Benutzung der Gabel und selbst des Messers. – Die „Dienstmädchenfrage“ löst unsere Beratherin mit der energischen Erklärung: „Die Herrin wird das Mädchen mit ,Sie‘ anreden und nicht mit dem ,Du‘, das noch in vielen Häusern Sitte ist und welches, da das frühere familienhafte Verhältniß nicht mehr damit verbunden ist, das Mädchen unter die Bettlerin stellt, die uns um ein Almosen anspricht und die wir doch ,Sie‘ nennen.“

Wir möchten glauben, daß selbst gesellschaftlich Bewanderte noch manches Belehrende in dem anziehend geschriebenen Buche finden dürften, wenngleich Takt und Erfahrung bei älteren Personen die Theorie ja vielfach grau erscheinen lassen. Vor allem aber möge das junge Volk, das eben erst in die Gesellschaft eingetreten ist oder eingeführt werden soll, sich die Rathschläge einer erfahrenen und feinfühligen Dame gefallen lassen; es fährt dabei nur gut, lernt manches, was es noch gar nicht näher beachtet hat, und – spart das Porto für umständliche Briefe an die gefälligen, aber auch recht viel beschäftigten Redaktionen!**      

Der Ehrenthurm für Friedrich Fröbel auf dem Kirchberg bei Oberweißbach in Thüringen, dessen Bau der „Thüringer Waldverein“ in die Hand genommen und zu dessen Förderung auch die „Gartenlaube“ ihre Stimme erhoben hatte (vgl. Jahrgang 1887, Nr. 48), ist nunmehr fertig gestellt und am 27. Juli feierlich eingeweiht worden. Der Thurm ist massiv aus Bruchsteinen ausgeführt, von rechteckiger Grundform, unten mit einem zweistöckigen Anbau nach Osten, der Kellerraum und Schutzzimmer bietet. Auf 181/2 Meter Höhe krönt den Steinbau ein hölzerner Aufsatz, welcher ein auf allen Seiten mit Fenstern versehenes, geschlossenes und doch die Aussicht in keinerlei Weise behinderndes Zimmer bildet. Ueber dem Eingang zum Thurme aber ist ein Medaillonbildniß Friedrich Fröbels in die Mauer eingelassen, ein Werk des Bildhauers Hercher in Rudolstadt, während der Thurm selbst von dem Architekten C. Radi in Rudolstadt entworfen und ausgeführt worden ist. Welch schöne und beherrschende Lage der Thurm hat, davon kann sich der Leser am besten eine Vorstellung machen, wenn er den Jahrgang 1887 zur Hand nimmt und dort das Bildchen S. 796 betrachtet. Es zeigt ihm das Pfarrhaus von Oberweißbach, die Geburtsstätte des Vaters der Kindergärten, und darüber emporragend den Berg, welchen Fröbel so gern erstieg, sich von seiner Kuppe aus am Anblick der aufgehenden Sonne oder an der köstlichen Fernsicht zu laben.=      

Dem „Gartenlaube-Kalender“ für 1891 auf den Weg. Sie haben eigentlich etwas Grausames, diese Kalender, die das neue Jahr vor uns heraufführen, ehe noch das alte hinuntergesunken, die gleichsam einen neuen Rock vor uns ausbreiten, den man sich anziehen soll, eh noch der alte abgetragen ist. Ich muß gestehen, ich betrachte den jeweils neuen „Gartenlaube-Kalender“, der nun seit Jahren regelmäßig so im August auf meinem Schreibtisch sich einfindet, immer zuerst mit gemischten Gefühlen: Sapperment – da liegt er schon wieder vor Dir, der Bote des neuen Jahres, und Du wolltest doch noch so viel thun im alten – und dann schwirrt mir der Kopf vor der Menge von Unterlassungssünden und halbfertigen Leistungen, die mir alle auf einmal einfallen, wenn ich das rothe Bändchen mit seinem golden leuchtenden Titel und der – ich weiß nicht, ist es richtig so oder nur schmerzhafte Einbildung – besonders deutlich leuchtenden goldenen Jahreszahl sehe, die immer um eins größer wird. Und fast mit Widerstreben gingen auch diesmal die Finger daran, den Deckel aufzuschlagen und etwas in dem Büchlein zu blättern. Mittlerweile ist mir aber doch die Erinnerung lebendig geworden, daß ich das vorige Jahr auch so dasaß und blätterte und in Gedanken eine Art Selbstparade abhielt, und daß ich dabei unversehens ins Lesen gerathen war – ich hatte mich, ehe ich mir’s selber recht bewußt geworden war, so in „Onkel Leos Verlobungsring“ vertieft, daß darüber der Ankläger in meinem Inneren ganz stille wurde, weil niemand mehr da war, der ihm zuhörte. Mit merklich geglätteten Stirnfalten betrachte ich schon auch den „Einundneunziger“; er wird mir ja wohl ähnlich angenehme Stündchen gewähren, wie sein nicht minder kritisch aufgenommener Vorfahre. Und richtig, während ich so die Blätter unter dem Daumen vor meinem Gesicht vorübersausen lasse und bald ein hübsches Bildchen, bald eine brauchbare Notiz entdecke, da fällt mir auf einmal der alt vertraute Name Heimburg ins Auge: er steht unter derselben Ueberschrift, der ich vom vorigen Jahre her ein so freundliches Gedenken bewahre: „Aus meinen vier Pfählen“. Und ich lese und lese fort – das „Flickdorchen“ der Heimburg und die anderen Erzählungen von Hans Arnold und Joachim Dürow, merke mir auch manchen Artikel zum Späterlesen – denn es ist spät geworden inzwischen – dann klappe ich das rothe Büchlein zu, und merkwürdig: die längst noch so vorwurfsvoll leuchtende Jahreszahl 1891 hat ihre Schrecken für mich vollständig verloren; nicht mehr grämlich und mißtrauisch, sondern mit behaglichem Vergnügen betrachte ich den frühen Boten eines neuen Jahrganges – ich war in ausgezeichneter Stimmung!

Nun denn, was der „Gartenlaube-Kalender“ an mir gethan hat, das möge er an Tausenden bewähren! Und somit sei ihm ein herzlich „Glück auf!“ mitgegeben auf seinen Weg! H. E.      

Für einen Volksdichter. Wohl manche unserer Leser erinnern sich noch des Lebensbildes des „märkischen Hans Sachs“ im Jahrgang 1881 der „Gartenlaube“. Dort war erzählt von einem braven Drechslermeister zu Freienwalde, der durch Noth und Armuth hindurch den köstlichen Quell der Dichtung in seiner Brust bewahrte, dem ein treues Weib zur Muse ward, die seinem Namen zu einem hohen Klange verhalf im deutschen Dichterwalde – dem Namen Karl Weise. Freilich, irdische Schätze hat sich der schlichte Handwerksmann weder mit seinen Poesien noch mit seiner fleißigen Hände Arbeit errungen. Schon damals, als jenes Lebensbild erschien, sollte es zugleich dazu dienen, dem schwer mit des Daseins Noth ringenden Manne einen Nothpfennig für das nahende Greisenalter vom deutschen Volke zu erbitten.

Und so wendet sich nun auch heute wieder ein aus den Kreisen des Handwerkerstandes hervorgegangener Ausschuß mit der Bitte um Gaben an das deutsche Volk, insbesondere an die Standesgenossen des Verewigten, um einerseits dem Dichter, der inzwischen am 31. März 1888 gestorben ist, ein würdiges Grabdenkmal, andererseits der Witwe Befreiung von der drückenden Noth des Lebens zu verschaffen. Um dieses letzteren Zweckes willen besonders unterstützt auch die „Gartenlaube“ gern jene Bitte, und es bleibt nur noch zu erwähnen, daß die Spenden von dem Vorsitzenden des Handwerkervereins zu Freienwalde a. d. O., Herrn Gustav Kramer, entgegengenommen werden. =      


Kleiner Briefkasten.

O. F. in Mannheim. Sie finden die einschlägigen Bestimmungen in der „Deutschen Wehrordnung“. § 108,3 schreibt vor, daß „Heimathsscheine, Auslandspässe und sonstige Reisepapiere Militärpflichtigen nur für die Dauer der ihnen bewilligten Zurückstellung zu gewähren sind.“ Entlassung aus der Reichsangehörigkeit aber (d. h. Genehmigung zur Auswanderung) darf nach § 27,1 nicht ertheilt werden: „Wehrpflichtigen, welche sich in dem Alter vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 25. Lebensjahre befinden, bevor sie ein Zeugniß der Ersatzkommission darüber beigebracht haben, daß sie die Entlassung nicht bloß in der Absicht nachsuchen, um sich der Dienstpflicht im Heere oder in der Marine zu entziehen.“

P. G. in Leoben. Die „Sandwiches“ haben ihren Namen nicht etwa von den Sandwichinseln, sondern von einem Lord Sandwich, der die feinschmeckenden Brötchen zuerst in London für seinen Frühstückstisch bereiten ließ. Ob dieser Lord derselbe Chef der englichen Admiralität ist, auf dessen Namen Cook 1778 die neu entdeckten Inseln in der Südsee taufte, darüber schweigt leider die Geographie, jedenfalls aber kann die Menschheit die Erfindung der Sandwichbrötchen ebenso dankbar hinnehmen, als die Entdeckung der Sandwichinseln!

Richard M. in München. Anfrage „Schistoskop“. Wir ersuchen Sie um genaue Angabe Ihrer Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.



Auflösung des Doppelräthsels auf S. 612:

Linkes Quadrat: Elsa,
unteres 0 „      : Raab,
rechtes 0 „      : Elba,
oberes 0 „      : Nero;
Diagonale 1 – 4: Esra,
     „       2 – 7: Aloë
     „       3 – 6: Baal,
     „       5 – 8: Bern.

Auflösung des Sternbildräthsels auf S. 612:

Die Namen der Thierkreisbilder liefern die zur Lösung des Räthsels
nöthigen Buchstaben, und zwar immer den so und so vielten Buchstaben
des betreffenden Namens, der durch die über dem Thierbilde stehende
römische Zahl angedeutet ist. Sind diese Buchstaben festgesetzt, so wird
beim Stern unter dem Widder begonnen und, von Stern zu Stern den
Verbindungslinien folgend, stets der durch das Bild markirte Buchstabe
abgelesen. Man erhält dann die Worte: Die Wunder des Himmels.

(Die Sternbilder heißen: Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe,
Jungfrau, Wage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann und Fische.)

Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 612:       Leinwand – Einwand.

Auflösung des Homonyms auf S. 612:       Der Aar – die Aar.

Auflösung des Zifferräthsels auf S. 612:       Bast – Stab.

Auflösung des Kapselräthsels auf S. 612:       Geld, Geduld.

Auflösung des Logogriphs auf S. 612:       Barke – Barbe – Barde.

Auflösung des Scherzbilderräthsels auf S. 612:       Kamerun.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.