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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]

Halbheft 17.   1890.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Ein Mann.

Roman von Hermann Heiberg.
(2. Fortsetzung.)

Auf der Treppe seines Schlosses Snarre stand in der Frühe Graf Tycho Esbern-Snarre und schaute hinab auf den Gutshof, von dem eben Arbeitswagen, Gutsknechte und Mägde sich in Bewegung setzten. Fast überall, wohin das Auge sich wandte, war Thätigkeit; Arbeitspferde mit widerstrebend schleppendem Gang wurden aus dem Stall gezogen, eine Heerde Schafe setzte sich eben, von einem Schäferhunde zu Paaren getrieben, in Bewegung, Kühe, die ein Hirtenbube mit lautem Peitschenknall lenkte, folgten. Brüllen und Meckern der Thiere durcheinander, Bewegung und Leben, bis alles der Ordnung sich gefügt hatte und zuletzt nur ein weißer Spitzhund, seinen Empfindungen durch absatzweises Bellen Ausdruck verleihend, mitten auf dem Hofe stehen blieb.

„Morten! Morten!“ rief der Graf, ins Schloß zurücktretend, und ein alter Mann mit kahlem, unbeweglichem Gesicht, aber trotz der strengen Züge mit freundlichen Augen und ehrerbietiger Miene trat in eine große, von der Frühsonne beschienene Halle, brachte auf einer silbernen Platte eine dampfende Kaffeekanne von demselben Metall und begab sich mit einem „Zu Befehl, Herr Graf!“ an den Frühstückstisch, an dem er die letzten Anordnungen traf.

Graf Snarre, ein Mann von zierlichem Wuchs mit einem blonden Henri quatre und einem sehr aristokratischen Aeußern, das auch in der Kleidung zum Ausdruck gelangte, nahm Platz und durchschnitt mit einer gewissen langsamen Umständlichkeit ein Stück Landbrot, ließ sich von Morten den heißen, feinen aromatischen Duft ausströmenden Kaffee einschenken und griff dann nach Eiern, die in einer goldverzierten Schüssel auf grobkörnigem Salz lagen. Während er die Schale eines derselben mit einem Löffel zerschlug, sagte er: „Was giebt’s Neues, Morten?“ – und „Nun, was giebt’s Neues, seitdem ich fort war?“ wiederholte er, als jener nicht gleich antwortete.

„Viel und wenig, Herr Graf!“ erwiderte Morten und drehte nach seiner Gewohnheit den Hals mit rascher Bewegung zur Seite. Es machte den Eindruck, als ob ihn ein schmerzliches Nervenzucken dazu veranlasse. Vielleicht war’s wirklich so.

„Gestern hörte ich, daß die neuen Herrschaften auf Limforden eingetroffen seien, Graf Utzlar mit seiner jungen Frau.“

„So! so! Und was sonst?“

„Ich wüßte nichts, Herr Graf.“

„Gut also, dann gehe! Vorher bringe mir aber noch Feldstock und Handschuhe und Cigarren aus der großen Kiste, die auf meinem Schreibtisch steht!“

Nach diesen Worten neigte Graf Snarre leicht den Kopf und griff nach der eben von einem anderen Diener gebrachten Zeitung, in die er sich vertiefte, während er den Rest des Frühstücks zu sich nahm.

Als Graf Snarre eine halbe Stunde später auf seinem gewohnten Morgenspaziergang eben das Weichbild des Gutshofes überschritten hatte, hörte er Pferdetrappeln und sah, als er das Auge erhob, Richard Tromholt vor sich.

Das Burschenschaftsdenkmal in Jena. Von Prof. Donndorf.
Nach einer Photographie von Hofphotograph C. Bräunlich in Jena.

[518] „Ah, Herr Direktor Tromholt! Willkommen auf Snarre! Und so früh? Was verschafft mir die Ehre, denn ich darf wohl annehmen, daß Sie mich besuchen wollen?“

Tromholt neigte zustimmend den Kopf. „Allerdings, Herr Graf, ich wollte mir die Erlaubniß nehmen, Ihnen aufzuwarten! Aber ich sehe, daß ich augenblicklich störe. Ich bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten! Mit Ihrer Genehmigung reite ich aufs Gut und warte, bis Sie Zeit für mich haben.“

„Wohl, ganz recht!“ gab Graf Snarre zurück. „Aber nur insofern, als meine Rappen mit dem Ihrigen nicht Schritt halten können und der schon so heiß ist, daß es besser scheint, Sie bleiben im bisherigen Tempo! Ich folge Ihnen unmittelbar! Also, ich bitte, auf Wiedersehen in einer Viertelstunde!“

Nach diesen Worten winkte er ihm freundlich mit der Hand, und Tromholt setzte sein Pferd wieder in Trab.

Eine Stunde später saßen sich Graf Snarre und Richard gegenüber, und es war nur natürlich, daß der inzwischen bekannt gewordenen veränderten Verhältnisse der Ericiusschen Familie und des jungen Ehepaars in erster Linie gedacht ward.

„Ich hörte jüngst bei meiner Anwesenheit in Kiel von Ihrem tathkräftigen und erfolgreichen Eingreifen, lieber Direktor! Vom Himmel ist der Familie ein Mann wie Sie gekommen. Nun, und wie steht alles? Limforden wird nicht verkauft? Sie arbeiten weiter, und – die ganze Familie wird nach dem Gute ziehen?“

„Zunächst nur Graf Utzlar mit seiner Gemahlin, die schon eingetroffen sind,“ entgegnete Richard. „Später hat Frau Ericius die Absicht, zu folgen. Sie gedenkt den schönen Besitz in Kiel zu verkaufen, und es ist recht so!“

„Und sonst bleibt alles, wie’s war? Wie geht’s Herrn von Alten? Ich hörte, daß er sich mit Ihrer Frau Schwester verlobt hat, und sage Ihnen meinen besten Glückwunsch. Bleibt er auf Limforden?“

Richard zuckte die Achseln. „Eigentlich komme ich seinetwegen, aber ohne sein Wissen, Herr Graf. Ich sehe voraus, daß seines Aufenthalts dort nicht mehr lange sein wird unter den neuen Verhältnissen. Und kurz und gut: ich wollte mir die Anfrage erlauben, ob Sie nicht für Alten eine Stellung hätten.“

Graf Snarre dachte einen Augenblick nach, reckte den zierlichen Körper und drehte an dem blonden Schnurrbart. Dann, ohne eine unmittelbare Antwort zu ertheilen, sagte er:

„Man möchte viele Maulbeerbäume haben, um allen zum Pflücken zu verhelfen. – Wann würde Herr von Alten zur Verfügung stehen, und – denkt er schon an Heirathen?“

„Ja, sobald er eine gesicherte Stellung hat. Unter dem Grafen aus Limforden zu bleiben, – ich muß ihm beipflichten, – wird unmöglich sein. Alten ist einmal nicht lammfromm, sondern wie ein Rassepferd, das gelegentlich ausschlägt.“

„Ich hätte Limforden gekauft, wenn’s zu haben gewesen wäre,“ warf der Graf hin. „Dann hätte alles beim alten bleiben können.“

Hierauf erwiderte Tromholt nichts. Er redete nicht gern über Dinge, die nicht spruchreif waren.

Plötzlich fuhr der Graf fort: „Und Sie, lieber Direktor, wollen unter allen Umständen bleiben? Für Sie hätte ich jederzeit eine Verwendung.“

Tromholt blickte fast ein wenig überrascht empor. „Ich bleibe!“ entgegnete er kurz, fast etwas rauh und dadurch weitere Fragen abschneidend. Nun war’s an dem Grafen, Tromholt befremdet anzublicken, aber er forschte nicht weiter, ging auf ein anderes Thema über und sagte:

„Die junge Gräfin soll schön, sehr schön sein und mit liebenswürdiger Offenheit Eigenartigkeit verbinden. Ich bin sehr begierig, sie kennenzulernen.“

Tromholt zuckte unmerklich zusammen.

„Ja, – eine ungewöhnliche Frau!“ gab er kurz bestätigend zurück. „Uebrigens haben die Herrschaften die Absicht, Ihnen ehestens ihre Aufwartung zu machen. Auch meiste Schwester würde sehr glücklich sein, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Herr Graf. Freilich wird sie zunächst auf den Vorzug verzichten müssen, da sie nach Hamburg zurückgekehrt ist.“

„In der That? Sehr liebenswürdig, sehr ehrend!“ rief Snarre mit weltmännischer Verbindlichkeit. „Da möchte ich mir einen Vorschlag erlauben: Kommen Sie übermorgen alle zu mir zum Essen! Ich bin ein Feind jeder überflüssigen Förmlichkeit und verzichte daher besonders gern auf jeden vorhergehenden feierlichen Besuch!“

„Ich werde nicht verfehlen, Ihre gütige Einladung zur Kenntniß der Herrschaften zu bringen, Herr Graf,“ erwiderte Tromholt. „Ich für meinen Theil nehme dankend an. Vielleicht überlegen Sie inzwischen mit Ihrer gewohnten Güte, ob für Herrn von Alten auf Ihren Besitzungen ein Posten frei oder zu schaffen ist. Ich kann aus meinen Erfahrungen bestätigen, daß es einen pflichttreueren Mann nicht giebt.“

Graf Snarre lächelte und sah Tromholt mit einem eigenen Ausdruck in den Mienen an. Dann sagte er mit großer Wärme:

„Nun, ich werde sehen! – Uebrigens ein erstaunlich selbstloser Mann sind Sie doch, Herr Tromholt; immer denken Sie nur an die andern, an sich selbst zuletzt. Ich möchte sagen, Sie kommen selbst kaum zum Bewußtsein, viel weniger zum Genuß Ihres Daseins.“

Richard Tromholt schüttelte den Kopf. „Doch Herr Graf! Ich finde, daß thätige Menschenliebe und Pflichterfüllung glücklich machen. Ich übe sie indessen aus innerer Nothwendigkeit, ein Verdienst ist nicht dabei.“

„Und ein Weiberfeind sind Sie zudem. Es ist das einzige, was ich nicht begreife!“ fiel Snarre ein. „Für mich ist die Welt ohne Frauen ein Land ohne Sonne, Luft und Wald. Haben Sie nicht schon ähnliches empfunden?“

Tromholt antwortete nicht; er machte nur eine ausweichende Bewegung. Wenige Minuten später trennten sich die Herren.




7.

„Du warst heute nicht ganz im Recht Herrn von Alten gegenüber, Leo,“ sagte die junge Frau Susanne einige Tage später zu ihrem Manne, als sie zusammen uns die Nachmittagsstunde den Kaffee einnahmen. „Ich wollte es Dir noch sagen.“

Sie sah in ihrer Jugend und schlanken Schönheit, angethan mit einem weißen Sommerkleid, ohne jeglichen Schmuck bezaubernd aus. „Such’s morgen gutzumachen, ich bitte Dich!“ fuhr sie mit liebenswürdiger Eindringlichkeit fort. „Wir sollen doch mit ihm leben und müssen Eintracht halten. Was meinst Du, wenn wir zum Herbst Frau von Gunar einlüden, dann kann sich das Brautpaar sehen. Ich gönn’s ihnen von Herzen.“

Dem Grafen Utzlar, der mit ausgestreckten Beinen in einem Schaukelstuhl mehr lag als saß, schien der Vorschlag nicht sehr genehm. „Wir sind selbst kaum recht warm hier, und Du denkst schon an Gäste; das ist nicht sehr schmeichelhaft für mich,“ erwiderte er, den Rauch seiner Cigarette kunstvoll zu zierlichen Ringen gestaltend. „Warum müssen es denn aber gerade die Verwandten unserer Untergebenen sein, die Braut dieses Alten, der mir überdies im höchsten Grad zuwider ist, fortwährend den Standesgenossen gegen mich herauskehrt und dabei vergißt, daß er nichts weiter ist als mein Gutsinspektor? Und Du nimmst noch Partei für ihn wie für den andern. Das ist so einer Deiner kleinbürgerlichen Züge, Sanne, die Du Dir abgewöhnen mußt. Wenn die Gräfin Utzlar Gäste empfängt, so wählt sie ihre Gesellschaft unter Standesgenossen. Graf Snarre zum Beispiel gefällt mir ausnehmend, ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle.“

„Und eben nur Edelleute hältst Du Dir gleichberechtigt?“ entgegnete Susanne, in ihrem Stolz verletzt; „Alten, trotz seines Adels, ist es Dir nicht, weil er eben arbeitet, arbeitet für uns, für Dich. Ich aber, weit entfernt, mich meiner bürgerlichen Abkunft zu schämen, fühle mich gehoben, einer Familie anzugehören, welche die Arbeit groß gemacht hat, und nur nach seinen Leistungen schätze ich den Mann.“

„Da komm’ ich Dir wohl sehr klein vor? Du bist ausnehmend artig heute, Sannchen.“

Susanne überhörte diese in spöttischem Ton hingeworfene Bemerkung. „Sieh Dir doch den Grafen Snarre an,“ fuhr sie, sich ereifernd, fort. „Er ist ein Edelmann, aber er arbeitet, für sich, für seine Interessen allerdings. Und keine geringeren Männer sind in meinen Augen Herr von Alten und Richard Tromtholt, die sich in unserem Dienst abmühen.“

„Und denen wir,“ warf der Graf spitzig ein, „das wenige verdanken, was von unserem großen Vermögen noch übrig gebliehen ist.“

„Leo!“

„Nun ja! Wer hätte gedacht, daß Euer Prokurist, der ja auch Euer vollstes Vertrauen besaß, der auch so eine Art Tugendspiegel war wie dieser Tromholt, Richard Tromholt, wie Du ihn vertraulich nennst, sich als gemeiner Dieb und Betrüger entlarven [519] würde? Wenn das die beiden anderen nicht sind, umso besser, aber nicht übelnehmen darfst Du mir, nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, wenn ich ihnen auf die Finger sehe, ja Du solltest mich darin unterstützen, anstatt mir jeden Tag Anweisung zu geben, wie ich mich ihnen gegenüber zu verhalten habe.“

„Leo!“ rief die Gräfin abermals entrüstet. „Du. Du wagst es, einen Richard Tromholt – –?“

„Nun ja,“ unterbrach er die vor Erregung Stockende, „einen Richard Tromholt, wenn Du darauf bestehst, daß ich ihn bei seinem Vornamen nenne, ihn so gut wie die anderen! Uebrigens weißt Du, daß Du in neuerer Zeit etwas oft von dem Direktor sprichst? Wenn ich überhaupt eifersüchtig werden könnte auf solche Leute – – –“ eine verächtliche Handbewegung schloß den Satz.

„Auf solche – Leute?“ – – Susanne hielt inne, das Blut, das ihr noch eben in die Wangen getreten war, wich jäh zurück. Sprach sie wirklich so oft und so warm von Tromholt, daß ihr Gatte solchen Verdacht auch nur im Scherz äußern konnte? Ja, er hatte recht, und mehr noch, als sie von ihm sprach, dachte sie in der letzten Zeit an ihn.

Nicht das Mitleid mit ihm, dessen Leben sie einst durch ihren Uebermuth gefährdet hatte, den sie verschmäht hatte, obwohl er sie liebte, nicht der Dank für das, was er für sie und die Ihrigen in unermüdlicher, aufopfernder Sorge gethan, nicht das allein war’s, was sie an ihn denken ließ, nein, halb unbewußt verglich sie ihn mit dem, um den sie ihn verschmäht, an seinem Charakter, seiner Persönlichkeit sogar maß sie die des eigenen Gatten.

Jener war ein Mann, ein Mann im edelsten Sinne des Wortes, und was war Utzlar? Der Schleier, der ihr Auge, ihre Sinne einst verhüllt und ihr Utzlar in seiner weltmännischen Sicherheit als einen Mann nach ihrem Geschmack hatte erscheinen lassen, war längst gefallen. Aus dem vornehmen Kavalier hatte sich nur zu bald der hochmütige Aristokrat, der blasierte Genußmensch, der die Arbeit als Nebensache ansah, ja in manchen Augenblicken sogar der rohe Egoist herausgeschält. Sie hatte sich von ihm geliebt geglaubt, und mehr und mehr kam sie zu der beschämenden Erkenntniß, daß sie ein Opfer der Berechnung geworden war. Sie kämpfte gegen diese Erkenntniß mit ihrem ganzen Stolz, sie wollte es nicht zugeben, suchte sich selbst darüber hinwegzutäuschen, und da stand immer wieder er vor ihr, er, Richard Tromholt!

„Bist Du fertig?“ fragte der Graf. „Ist der Traum zu Ende?“

„Zu Ende – ja, ich glaube –.“ Sie sprach es fast tonlos vor sich hin.

„Du bist ja ganz tragisch, Sannchen,“ spottete Utzlar, „es muß wohl ein schwerer Traum gewesen sein. Pah, Träume sind Schäume, und die Wirklichkeit hat recht.“ Und indem er die Cigarette wegwarf, auf sie zutrat und den Arm um ihre Hüfte schlang, fuhr er in schmeichelndem Ton fort: „Komm, setz Dich zu mir und laß uns plaudern! Oder wollen wir ausfahren? Du siehst, ich bin zu allem bereit.“

„Leo,“ flüsterte sie, „Leo, ich möchte fort von hier!“

„Ja wohin denn, Kind? An die Riviera, nach Monte Carlo, da denk’ ich mir’s jetzt auch lustiger als hier. Aber was willst Du, unsere Kasse gestattet’s nicht, Dein unvergleichlicher Direktor giebt uns kein Geld dazu.“

„Nicht dorthin,“ sagte sie abwehrend. „Fort, an einen anderen Ort, wo Du eine Stellung, eine Thätigkeit findest, die Deinen Anlagen entspricht.“

„Ja, Närrchen, was soll ich denn anfangen anderswo? Einem Utzlar taugt nicht jedes Geschäft. Hier sitzen wir ja ganz bequem. Geh, laß doch die Grillen!“

„Es ist mehr als eine Grille, Leo,“ erwiderte sie, „ich fühle es, mein Lebensglück hängt davon ab, daß Du wieder ein Amt, eine Stellung, eine feste Thätigkeit findest. Der Müßiggang hier zerstört unser Glück.“

„Der Teufel auch, wo denn?“ rief Utzlar, dessen Geduld zu Ende ging.

„Gleichviel wo, bei der Armee, und wenn das nicht sein kann, dann in Gottes Namen bei der Marine!“

Jetzt verlor Graf Utzlar alle Fassung, er stieß sie fast rauh zurück. „Also bei der Marine?“ brach er hervor, „damit ich Jahre lang auf der See herumfahre, während Du mit Deinem Direktor das Gut besorgst! Der Gedanke ist nicht übel, wahrhaftig nicht übel für eine junge Frau, die drei Monate verheirathet ist. Ein richtiger Operettengedanke, den ich der strengen Bürgertugend einer geborenen Ericius, einer Schwärmerin für die Arbeit, kaum zugetraut hätte. Darauf also läuft es hinaus, Dein schönes soziales Programm?“

Susanne war fassunglos, Thränen traten ihr in die Augen, Thränen der Scham und der Empörung. Da drang ein wilder Lärm vom Gutshof herauf, Menschen sprangen durcheinander, sie riefen nach Tromholt, nach dem Direktor, und „Feuer! Es brennt!“ scholl es dazwischen. Utzlar sprang empor und verließ eilends das Zimmer.

Es brannten draußen zwei Gebäude, Tromholts Wohnhaus und eines der großen Arbeitsanwesen. Auf Utzlars hastige Frage nach der Ursache ward ihm aus der Mitte der erregten Masse die Antwort, man vermuthe, es sei der rothe Peter Jeppe von Trollheide gewesen, der den Brand angestiftet habe.

Da es sich um zwei ziemlich weit auseinanderliegende Gebäude handelte, waren die für die Löschung zu treffenden Anstalten doppelt schwer zu bewerkstelligen, auch thaten die in den Brunnen gelegten Schläuche keine ausreichenden Dienste.

Als Leo auf Tromholt zutrat, der noch bleich von der Aufregung, aber mit größter Ruhe seine Anordnungen zur Rettung des Arbeitshauses traf, empfing er von diesem auf seine Fragen nur sehr kurze Antworten.

Ja, als dann gerade ein Balken im Dachstuhl sich löste, herabfiel und einen gefahrbringenden Feuerregen in die Höhe trieb, eilte Tromholt ohne Entschuldigung fort, um nach den in das Haus eingedrungenen Arbeitern zu sehen.

Die Folge war, daß Utzlar mit einem Ausdruck verbissenen Zornes in den Mienen zurücktrat. Er, er war doch der Herr auf Limforden, und Tromholt behandelte ihn wie irgend einen Beliebigen. Vernunft und Einsicht, die ihm sagen mußten, daß in einer solchen Lage Empfindlichkeit über die Vernachlässigung einer Form wahrlich nicht am Platze sei, daß es sich um die wichtigsten Dinge, um Rettung von Menschenleben und Eigenthum, handelte, kamen nicht zur Geltung. Des Mannes Gedanken richteten sich auch gar nicht auf das Unglück, sondern nur die Ueberlegung nahm von ihm Besitz, wie er Tromholts Platz einnehmen und womöglich dessen Anordnungen durchkreuzen könnte.

Als Alten, der mit Hilfe von Arbeitern einen Schlauch in den See gelegt hatte, eilend herangelaufen kam, rief ihn der Graf mit herrischer Stimme an. Er mußte seinen grenzenlosen Aerger und Unmuth an jemand auslassen, und dieser war ihm gerade der rechte.

„Es ist unglaublich, daß dergleichen vorkommen kann!“ hob er an. „Bei genügender Aufsicht in den Arbeiterhäusern erscheint es doch unmöglich, daß am hellen Tage ein Strolch sich einschleicht und einen Brand anstiftet!“ –

„Sie wollen gütigst Ihre Vorwürfe an die dafür verantworliche Person richten, Herr Graf! Ich bin Oberinspektor für die Gutsangelegenheiten; mit den Werken und Arbeitshäusern habe ich nichts zu thun. Die Aufsicht ruht übrigens in den denkbar besten Händen –

Ach, Tromholt, ein Wort! Können wir den Schlauch nun anlegen?“ wandte er sich dann an Richard, als dieser, das Gesicht entstellt von Ruß und Qualm, eben herantrat.

Das schlug nun dem Faß völlig den Boden aus.

„Ich muß bitten, daß Sie sich einer geziemenden Sprache befleißigen!“ knirschte Utzlar. „Das nur zunächst! Das Weitere werden Sie morgen hören!“ –

Damit wandte er sich ab, richtete seine Schritte nach dem Hause von Tromholt und ertheilte, um seinem Drange nach Autorität Luft zu machen, hier Anordnungen, die sich entweder von selbst verstanden oder als zwecklos erwiesen. –

„Was giebt es denn?“ fragte Tromholt und blickte Alten im höchsten Grade überrascht an. Die Muskeln in Altens Gesicht zuckten und seine Hände hatten sich unwillkürlich geballt. Er berichtete erregt, was geschehen war.

Als er geendigt hatte, schüttelte Tromholt mit einem Ausdrucke schmerzlichen Unwillens den Kopf. Nichts war so bezeichnend für Utzlars Charakter als dieser Vorgang.

Im weiteren Verlauf des Abends traf Hilfe vom Gutshof Snarre ein, auch der Graf erschien in einem Zweigespann und begab sich, nachdem er von Tromholt und Alten erfahren hatte, daß jegliche Gefahr vorüber sei, ins Schloß.

„Sagen Sie, ich bäte um Verzeihung, wenn ich so spät störe, aber ich möchte mich doch nach dem Befinden der Frau Gräfin

[520]

Vollmondfest im Fetischgrund.
Zeichnung von Franz Leuschner.

[521] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [522] erkundigen!“ – erklärte er dem Diener, der sich verbeugte und davoneilte.

Graf Snarre mußte recht lange im Vorzimmer warten, bevor ihm ein Bescheid wurde. Die Herrschaften hatten sich ihre Wohngemächer in dem hinteren Bau eingerichtet, von dem man auf den Park und seitwärts nach dem Gutshof sah. Der Vorderbau mit der großen Treppe enthielt jetzt die Gesellschaftszimmer und wurde für gewöhnlich nicht bewohnt.

Als nach dem Fortgang des Dieners Ruhe eintrat, hörte Graf Snarre nebenan deutlich die von diesem abgestattete Meldung und des Dieners Entfernung durch die Thür nach dem Flur.

Er erwartete nun, daß Utzlar ihm sogleich selbst öffnen und entgegeneilen würde, aber alles blieb zunächst still. Zuletzt drang jedoch heftiges Sprechen an sein Ohr, und sogar einzelne Sätze wurden deutlich vernehmbar.

„Ich kann doch mit meinen verweinten Augen nicht erscheinen. Empfange Du den Grafen!“ –

„Ach, Albernheiten! Raffe Dich auf!“

Snarre hätte sich nach dieser Zeugenschaft bei einem ehelichen Zwiste nur zu gern entfernt, er schwankte auch, ob es nicht am richtigsten sein würde, wieder zu gehen. Aber während er noch überlegte, bald aufstand und dann doch wieder abwartend sich niederließ, öffnete Utzlar mit einem „Pardon, Pardon, hochverehrter Herr Graf!“ die Thür und erging sich in vielen Entschuldigungen.

„Nein, nein, ich habe Ihre Verzeihung einzuholen, daß ich störe“ – entgegnete Snarre artig. „Mich leitete aber aufrichtige Theilnahme für die gnädige Frau, die natürlich das unerfreuliche Ereigniß sehr erregt habe wird.“

Der Zufall wollte es, daß in diesem Augenblick der Diener erschien und den Herrn des Hauses im Auftrage des Herrn Tromholt bat, sich herabbemühen zu wollen. Seine Anwesenheit sei erforderlich.

Da Utzlars Eitelkeit dadurch geschmeichelt ward, fragte er den Gast mit einem Blick, ob er ihn entschuldigen wolle.

„Aber so ernste Dinge gehen doch vor!“ rief Snarre zuvorkommend und ehe Utzlar mit Worten anheben konnte. „Ich bitte Sie dringend, der Aufforderung Folge zu geben, und leiste, mit Ihrer Erlaubniß, der gnädigen Frau Gesellschaft, wenn sie mich empfangen will.“

„Meine Frau ist unpäßlich und hat sich zurückgezogen, Herr Graf. Indessen werde ich sehen, ob sie Sie dennoch empfangen kann. In jedem Fall bitte ich, daß Sie Platz nehmen! Gleich bin ich wieder zu Ihrer Verfügung.“

Nach diesen Worten verbeugte sich Graf Utzlar und eilte fort.

Kaum waren einige Minuten verflossen, als die Thür zum Nebengemach sich aufthat, und Susanne erschien. Ihre Augen trugen deutliche Thränenspuren. Sie trat rasch und trotz des hilflosen Ausdruckes, der ihr holdes Angesicht noch mitleiderregender erscheinen ließ, entschlossen auf Snarre zu und sagte zu seinem ungemessenen Erstaunen:

„Als ich jüngst bei Ihnen war, Herr Graf, zeigten Sie mir in den kurzen Stunden unseres Zusammenseins eine warme Antheilnahme und betheuerten, daß es Sie danach verlangte, dieselbe zu bethätigen. Nun, ich brauche einen Freund, der schweigen, rathen und für mich handeln kann. Wollen Sie dieser Freund sein und mit der That beginnen in diesem Augenblick?“ –

„Gnädige Frau! Frau Gräfin!“ rief Snarre mit deutlich ausgeprägter Ueberraschung. „Ja, gewiß!“ fuhr er fort, ergriff des schönen, tief erregten Weibes Hände und küßte sie ehrfurchtsvoll. „Ich bitte, sprechen Sie! Was es sei, Sie finden mich bereit, für Sie zu handeln.“

„Nun,“ kam es zitternd aus dem Munde der Frau, – „so hören Sie! Ich will mich von Utzlar trennen, unter allen Umständen wieder trennen. Ich ersticke unter den unnatürlichen Verhältnissen, ich sterbe, – sterbe, – ich kann nicht mehr –“

Mit immer höher gesteigerter Befremdung hörte Graf Snarre, was Susanne sprach. Aber er erging sich in keinen Fragen und Ausrufen, sondern gab ihr nur in ruhigem Tone Antwort.

„Ist Ihr Entschluß unumstößlich?“ fragte er. „Leitet Sie nicht nur eine heftige vorübergehende Erregung? Sie begreifen, daß ich um Ihretwillen frage, meine gnädige Frau. Es ist ein Schritt von so großer Tragweite, daß der Freund auch die Pflicht hat, seine Bedenken zu äußern.“

„Nein, nein, nein!“ rief Susanne stürmisch und hart. „Alles ist überlegt. Mein Entschluß ist unabänderlich!“

„Wohl! Was soll ich thun?“ fragte Snarre. „Soll ich Sie nach Kiel geleiten? Darf ich Ihnen einen Aufenthalt in meinem Schlosse anbieten? Meine Tante, die Gräfin Snarre, die gestern bei mir eingetroffen ist, wird sich eine besondere Freude daraus machen, Sie unter ihren Schutz zu nehmen. Entscheiden Sie!“

„Ja, nehmen Sie mich zunächst mit sich! Von dort werde ich sogleich meiner Mutter schreiben. Ich will Utzlar nicht wiedersehen! Ich will nicht! Alles ist aus zwischen uns! Er hat mich in unwürdiger Weise behandelt, er hätte mich geschlagen ohne Ihr Dazwischenkommen.“

Die Augen der Frau waren groß und weit und ihre Mienen verstört. Empörung, Zorn und Scham wirkten solchergestalt auf sie ein, daß ihr ganzer Körper bebte und die Arme sich nachträglich wie zu einer Abwehr erhoben.

Graf Snarre war sprachlos für Augenblicke, aber rasch sich wieder fassend sagte er:

„Wohl, so kommen Sie gleich, gnädige Frau! Mein Fuhrwerk steht noch angespannt. Ich biete Ihnen meinen Schutz, und niemand soll es wagen, Sie aufzuhalten. Dennoch aber wollen wir jedes Aufsehen zu vermeiden suchen. Ich geleite Sie hinab bis zum Park. Dann gehen Sie voraus; am Ausgang warten Sie. In zehn Minuten bin ich dort.“ –

Noch schwankte Susanne einen Augenblick. Blitzschnell zogen die Gedanken durch ihr Gehirn. Sie sah ihre Mutter vor sich, das Bild ihres Vaters stieg vor ihr auf, Kiel mit seinen Bewohnern, die reden und verdammen würden. Auch Utzlar, ihr Mann, Alten und – Tromholt – –

Tromholt! Wie würde er triumphieren, daß sie sich um ihr Glück betrogen! – Aber nein, nein, gerade er würde der mildeste, gerechteste, gütigste sein. Er war ja ein Mensch, ein wahrhaft edler, alles verzeihender Mensch!

Und so legte denn die Frau entschlossen ihren Arm in den des Grafen Esbern-Snarre und schritt über den Flur die Treppe hinab.

Vom Hofe herüber drang eben noch das Geräusch der thätigen Arbeiter, Brandgeruch erfüllte die Luft, und die Qual, welche das Innere der Frau erfüllte, ward erhöht durch die Gedanken an das, was drüben geschehen war. – – –


*               *
*

Als Utzlar nach einer Abwesenheit von fast einer halben Stunde wieder ins Schloß trat, das Wohnzimmer öffnete und sich vergeblich nach seiner Frau und Snarre umsah, trat ihm der Diener entgegen.

„Meine Frau, die Gräfin – der Graf Snarre – wo sind sie?“ fragte er verwundert.

„Die gnädige Frau ist mit dem Herrn Grafen Snarre gegen den Park zu gegangen, und eben hörte ich von dem Aufseher Peter, daß – sie in dem Wagen des Herrn Grafen abgefahren seien. Er hat sie einsteigen sehen. Ich glaubte, der Herr Graf wüßten –“

„Bist Du toll?“ rief Utzlar erbleichend. „Meine Frau nach – Snarre –“

Aber er sprach nicht weiter, beherrschte sich und eilte in den Hof hinab. Seine mit Absicht vorsichtig angestellten Ermittelungen ergaben, daß der Graf beim Herrenstall gesehen worden sei und, da der Kutscher nicht anwesend war, sich selbst auf den Bock seines Wagens geschwungen habe. Er hätte zurückgelassen, sein Diener solle später mit den Knechten und den Spritzen nachfolgen.

Nun war also wohl kein Zweifel mehr! Susanne hatte sich mit Graf Snarre auf und davongemacht, und die Veranlassung war er, Utzlar, selbst gewesen! Einen solche Schritt hatte der Mann doch nicht für möglich gehalten! Ja, einen Augenblick glaubte er, es müsse sich alles wieder gutmachen lassen. Aber wenn er sich dann wieder erinnerte, was geschehen war, schwand jeder Zweifel. Sie hatte sich von ihm losgesagt für immer!

Was war nun zu thun? Utzlar mochte, wollte sich anfänglich die Folgen nicht ausdenken! Und dann redete doch seine berechnende Natur auf ihn ein und schuf Vorstellungen, die ihm die Dinge in einem veränderten Licht erscheinen ließen. Wenn Susanne wirklich gehen wollte, wohlan! Aber sie sollte ihn entschädigen. Er würde Abstandsgeld verlangen! Und sobald alles sich abgewickelt hätte, würde er eine andere und eine reichere Frau finden! War er hier nicht in seinen Voraussetzungen schmählich betrogen worden?

Aber wenn man sich weigerte, ihm Entschädigung zu zahlen, oder die Möglichkeit dafür nicht vorhanden war? Utzlar wußte, [523] daß nur durch Arbeit, Sparsamkeit und Fleiß Limforden und Trollheide allmählich eine sichere Rente abwerfen konnten. Die Kieler Firma war noch gebunden, selbst der Erlös aus dem Verkaufe des Hauses konnte keineswegs ganz in den Händen der Witwe bleiben.

Sehr peinlich war Utzlar anfänglich der Gedanke, daß Einzelheiten bezüglich dieses Zerwürfnisses in die Oeffentlichkeit dringen könnten. Susanne würde erklären, er habe sie mißhandelt. Aber auch das war ihm schließlich gleichgültig. Er würde leugnen! Und zu verwundern war es nicht, daß er sich hatte hinreißen lassen! – Sie hatte wieder in rücksichtslosester Weise Tromholts Partei genommen, als er ihr von dem Zwischenfall berichtete, und sich auch ganz auf Altens Seite gestellt. Noch mehr! Sie hatte mit schmerzbewegter Stimme ihm ein Bild seiner selbst vorgehalten und noch einmal die Forderung gestellt, dem Müßiggang zu entsagen, Limforden zu verlassen und wieder in die Marine einzutreten. Falls dies an sich ausgeschlossen sei, möge er sich in einem Gesuch unmittelbar an den Kaiser wenden und die Gründe für seine Bitte darlegen.

Zuletzt hatte sie sich vor ihm in die Höhe gereckt und gerufen. „Ich glaubte, einen Mann geheirathet zu haben, und sehe, daß –“

Da hatte er sie unterbrochen und ihr in besinnungsloser Heftigkeit ein vor Zorn ersticktes: „Schweige, ich befehle es!“ – zugerufen, und als sie ihm erwidert, sie sei keine Sklavin, hatte er sie am Arme gepackt und ihr mit Gewalt den Mund verschlossen. Er war außer sich in diesem Augenblick, er hätte sie vielleicht geschlagen, wenn Snarre nicht gekommen wäre. Aber er hatte es nicht gewagt: das Aeußerste, was ihr ein Recht zur Trennung gegeben hätte, war nicht geschehen, und die Gesetze waren streng in diesem Punkt. Das Recht war auf seiner Seite, und wenn er nicht wollte – – – Ah! Dieser Snarre, er hatte nicht übel Lust, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Aber Geduld, keine Uebereilung, er würde seine Rache schon nehmen. So sann Graf Utzlar, während er eine Flasche Bordeaux trank und einige Cigaretten rasch in Dampf verwandelte.

Schließlich legte er sich schlafen. Sein letzter Gedanke war, es sei in der That nichts unverständiger, als sich vor der Zeit aufzuregen. Er wollte die Dinge an sich herankommen lassen und seine Bedingungen stellen, und wenn die Familie Ericius diese erfüllte und darüber zu Grunde ging, was scheerte ihn das? Sie hatte es so gewollt. Es gab nur einen berechtigten Standpunkt in der Welt, den des Egoismus. Alles übrige war Thorheit!




8.

Die Nachricht von Susannens Flucht erweckte in Richards Brust nicht das freudige Gefühl, das man von einem Manne hätte erwarten können, der den Gegenstand seiner wenn auch hoffnungslosen Liebe aus solchen Fesseln befreit sieht.

Wie sie sich von ihnen überhaupt hatte umstricken lassen können, war ihm ein Räthsel, und dann, was half’s ihm, daß sie frei war? Der Hoffnung, sie selbst zu besitzen, hatte er längst entsagt. Daß sie ihn nicht lieben konnte, hatte sie ihm mit genügender Deutlichkeit erklärt und bewiesen, und das Recht, sich ihren Freund zu nennen, das er als natürlichen Entgelt in Anspruch genommen, auch das hatte sie ihm nun geraubt.

Daß sie den Entschluß zur Flucht, wenn auch plötzlich, so doch nur auf Grund einer Reihe schwerster Erfahrungen gefaßt haben könne, war ihm klar; um so tiefer kränkte es ihn, daß sie nicht ihn, den einzigen Menschen, von dem sie wissen mußte, daß er jederzeit für sie einzutreten bereit war, sondern einen Fremden, den sie kaum erst kennengelernt, den Grafen Snarre, zum Vertrauten gemacht hatte, und bei aller Hochschätzung, die er sonst für den Grafen empfand, konnte er ein Gefühl brennender Eifersucht nicht unterdrücken. Hatte sie gefürchtet, daß er ihr Vertrauen mißdeuten könnte? – An all die anderen zarteren Beweggründe, die Susanne veranlaßt habend konnten, sich in ihrer Herzensnoth nicht an ihn zu wenden, dachte der sonst so kluge Mann in seiner ersten Erregung nicht.

Er sagte sich nur, daß all seine Mühe, ihr zu dienen und wenn nicht ihr Gatte, so doch der erste nach diesem, ihr Freund zu sein, umsonst gewesen, daß er ihr nichts war als eben ein Diener, den man bezahlte wie die anderen. So hatte es der alte Ericius gehalten, und sie war seine richtige Tochter. Wozu sich länger plagen um einen Preis, der doch nie zu erringen war!

Selbst die Arbeit brachte ihm nicht mehr den gewohnten Trost. Er sah Vergangenheit und Zukunft im dunkelsten Licht, und die durch den Brand entstandene Geschäftsstörung, die mancherlei Sorgen und Wirrnisse, die das Ereigniß mit sich brachte, trugen nur dazu bei, seine trübe Stimmung noch mehr zu verdüstern. Vergebens suchte ihn Alten aufzuheitern. Er sprach von Aufgabe seiner Stellung, er war matt, zum Tode matt.

Als aber dann Frau Ericius, der ihre Tochter von Schloß Snarre aus die Katastrophe und deren Veranlassung in einem ausführlichen Brief gemeldet hatte, sich schriftlich an ihn wandte, um seinen Rath und Beistand in der bereits eingeleiteten Scheidungsklage zu erbitten, gewann er plötzlich wieder neues Leben und sein altes Pflichtgefühl regte sich.


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Susanne und Graf Snarre waren sich durch die besonderen Verhältnisse in wenigen Stunden näher getreten als sonst Menschen in Wochen und Monden, und die Nachwirkung der ungeheuren Erregung über das Geschehene und das Vertrauen, das die junge Frau in ihren Beschützer setzte, ließen sie in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes auf dem Schloß kaum einmal zu dem Gedanken gelangen, daß ihr Verweilen daselbst trotz der Anwesenheit der Verwandten des Grafen, der alten Gräfin Snarre, sich mit den herkömmlichen Auffassungen in Widerspruch befinden könnte. Als sie endlich nach einem Aufenthalt von einigen Tagen ihrem Wunsche Ausdruck gab, nach Kiel zurückzukehren, machte ihr Graf Snarre die Mittheilung, daß Tromholt ihm geschrieben habe, er werde nach wiederholter Rücksprache mit Utzlar nach Snarre kommen, um über das Ergebniß seiner auf Wunsch der Frau Ericius geführten Verhandlungen mit ihm zu berichten.

Bevor aber Tromholt eintraf, hatte Snarre eine Unterredung mit Susanne, die ihn über ihre Stellung zu Tromholt, Susanne aber über des Grafen Gefühle für sie aufklärte.

Die Gräfin Snarre hatte sich wegen eines leichten Unwohlseins nach dem Abendessen zurückgezogen, und Snarre war neben seinem schönen Gast um so lieber allein zurückgeblieben, als er unter dem Eindruck stand, daß dann Susanne leichter zu dem vertraulichen Ton des ersten Tages zurückkehren werde. Ihre Schönheit, ihr ungekünsteltes Wesen, ihre ernste Liebenswürdigkeit hatten wie mit einem Zauberschlage eine starke Neigung für sie in seinem Innern geweckt, und die sich ihm durch die Verhältnisse aufdrängende Zurückhaltung machte ihn nur noch unruhiger und leidenschaftlicher.

Bisher fand er für seine Hoffnungen wenig Ermunterung. Susanne sah ihm, wenn sie mit ihm sprach, mit jener ruhigen Unbefangenheit, die jedes andere Gefühl als das eines freundschaftlichen Vertrauens ausschließt, in die Augen. Trotzdem drängte es ihn heute, sich ihr in anderer Weise zu nähern.

„Wie denken Sie sich die Zukunft, verehrte Frau Gräfin?“ hub er nach einer kurzen Einleitung an. „Werden Sie in Kiel bleiben, oder haben wir, wenn auch später, Aussicht, Sie in Limforden wiederzusehen? Ich muß gestehen –“ hier stockte Snarre und veränderte den Ton seiner Stimme, „daß ich mir nicht ausdenken mag, Sie nun ganz wieder missen, von den Rechten der Freundschaft, die Sie mir eingeräumt haben, keine Vortheile mehr ziehen zu sollen.“

Susanne, welcher der veränderte Ton nicht entging und die aus den letzten Worten die Absichten Snarres ahnen mochte, erwiderte mit einem Anflug von Schwermuth:

„Nach Limforden werde ich, auch wenn alle jetzt noch bestehenden Hindernisse beseitigt sind, schwerlich zurückkehren. Es sind weniger die peinlichen Erinnerungen der jüngsten Zeit, die mir den Aufenthalt dort verleiden, als die Gegenwart eines Mannes, dessen Anblick wie ein schwerer Vorwurf auf meine Seele drückt, eines Mannes, dem ich viel Leids angethan habe, ohne daß er dadurch in seinen großmüthigen Bemühungen für mein Wohl im geringsten zu erschüttern gewesen wäre, dessen Freundschaft, ja dessen Achtung ich nun aber für immer verloren zu haben fürchte.“

„Ich verstehe nicht ganz,“ sagte Snarre, befremdet aufblickend.

„Ich meine Tromholt,“ fuhr Susanne freimüthig fort. „Ich fühle, daß er das erste Anrecht hatte, von mir in einer so wichtigen Lebensfrage, wie sie mein Zerwürfniß mit Graf Utzlar ist, ins Vertrauen gezogen zu werden. Ich habe es unterlassen, obwohl ich weiß, daß ihn die Umgehung seiner Person schwer kränken [524] muß, daß er die Gründe, die mich dazu bewogen, bei aller Vorurtheilslosigkeit, die sonst sein Wesen kennzeichnet, kaum richtig würdigen wird. Es war ein Gefühl der Scham, des Trotzes, das mich hinderte, ihn, gerade ihn in die grausamen Enttäuschungen einzuweihen, die diese Ehe mir bereitet hat. Und doch hätte ich es thun sollen, thun müssen, es bedrückt mich, daß ich es unterließ.“

Sie schwieg in einer Art von schmerzlicher Verwirrung, und es entstand eine peinliche Pause.

„Ich begreife, Frau Gräfin,“ hub Snarre endlich an.

„Sie sagten?“ unterbrach ihn Susanne hastig, wie aus einem Traum erwachend.

„Daß es für Sie peinlich ist, einem Mann von so hochachtbarer Gesinnung, wie es Herr Tromholt ist, Grund zu einem Mißverständniß gegeben zu haben, und doch glaube ich, daß er sicherlich über jede kleinliche Auffassung Ihrer Handlungsweise erhaben ist. Tromholt ist ein Mann, der alles begreift und mit seiner edlen Seele auch alles verzeiht.“

„Ja, er ist ein seltener Mann,“ fiel Susanne mit fast stürmischer Wärme ein, dann aber legte sie die Hand über die Augen und fuhr schwermüthig sinnend fort. „Und doch, Herr Graf, giebt es etwas, das auch er nicht begreifen wird, wie – wie ich es selbst kaum begreife – –“

Susanne machte eine Bewegung, als ob sie einen Gedanken zu verscheuchen strebe, und sprach dann in ruhigem Tone weiter:

„Doch zu etwas anderem! Ich sehe, daß ich mich in Kiel werde einzurichten haben, obschon mir nach dem Vorgefallenen nichts schwerer sein kann, als dorthin zurückzukehren. Das ist’s ja auch was mich neben allem Uebrigen so sehr bedrückt. Ich werde keine Heimath mehr haben – –“

Susanne brach abermals ab und starrte vor sich hin.

„Und das Haus Ihres Freundes,“ wagte Snarre, dem der Augenblick für seine Werbung günstig schien, zu sagen, „das Haus, das Ihnen eine Zuflucht bot, die es Ihnen heute und immer bietet: dieses mein Haus – und das Ihrige, wenn Sie so wollen – vermöchte es nicht, Ihnen die Heimath zu ersetzen?“

Er suchte bei seinen Worten ihr Auge, sie aber sah ihn groß an und erwiderte mit ruhigem Ernst und einer Bestimmtheit, die ihn verwirrte: „Ich schwieg schon vorher, Graf Snarre, als Sie von einer Entbehrung sprachen, die Sie erleiden würden, wenn ich fortginge. Auch jetzt möchte ich lieber einer Antwort ausweichen. Sie wissen, daß ich Ihnen für Ihre Güte, namentlich für das zarte Wie Ihrer freundschaftlichen Hilfe von ganzem Herzen dankbar bin, und daß ich nicht zu den Naturen gehöre, die Menschen nur benutzen und sie nach Laune wieder abschütteln. Aber ich bitte, beschweren Sie mein Gemüth nicht durch neue Erregungen. Ich ergreife die Hand des Freundes,“ – Susanne betonte das Wort – „und möchte sie halten dürfen fürs Leben!“

Sie streckte ihm ihre Rechte entgegen und erbat durch ihre Blicke, was sonst noch ihr Mund sprechen wollte. Und da beugte sich der Mann mit fast demüthiger Unterwerfung herab, berührte leise mit seinen Lippen ihre Hand und verließ langsamen Schrittes das Gemach.


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„Wer ist da?“ klang’s schroff aus Richard Tromholts Munde.

„Peter Elbe aus Trollheide!“ erwiderte die alte Marieken schüchtern und zog sich zurück.

Nun trat der alte Mann mit dem langen Haar und der Jacke mit den silbernen Knöpfen in Richards Arbeitszimmer. Er sagte nichts, er verbeugte sich und blieb an der Thür stehen wie ein lebloses Bild.

„Was ist? Gutes oder Böses auf Trollheide? Es giebt genug von dem letzteren hier!“ stieß Tromholt heraus und winkte dem Alten, sich niederzulassen.

„Nein, – nichts in Geschäften, Herr!“ gab der Alte mit zitternder Stimme zurück. „Ich komme in persönlichen Angelegenheiten. Dieser Tage war ich in Mückern –“

Er stockte.

„Nun, laßt hören, Peter Elbe!“ gab Tromholt milder zurück und lehnte sich tiefer in den Stuhl. Ein kleiner Vogel zwitscherte in seinem Bauer; auf den Fensterbänken lag der Sonnenschein, und etwas Friedliches war ausgebreitet in dem Raum, in welchem der Mann mit dem sorgenvollen Herzen saß.

„Herr – Herr –“ kam es bebend aus des Alten Munde. „Wo ist meine Tochter Ingeborg? Mein altes Herz ist mürbe. Ich bin am Ende!“

Nun ahnte Tromholt alles, was geschehen war. Er erhob sich langsam, stellte sich vor seinen Untergebenen hin, legte die Hände auf seine Schultern und sah ihn mit traurigen Blicken an. „Glaubt Ihr an Gott, Peter Elbe?“ fragte er weich.

„Ja, Herr! Ich glaube an Gott, und ich glaube auch, daß er alles Böse straft. Mag der Mensch noch so geheime Wege einschlagen, es giebt einen hellen Tag, der bringt’s ans Licht.“

„Ihr seid ein alter Mann, ein braver Mann!“ sagte Tromholt. „Aber Ihr habt die Augen eines Blinden. Kommt, setzt Euch! Ich weiß, was Ihr wollt. Antwort soll Euch werden, ohne daß Ihr fragt. Ich will Euch die Beschämung ersparen.“

Und nachdem sich Peter Elbe, ohne daß diese Worte Eindruck auf ihn gemacht zu haben schienen, finsteren Blickes und seine Kappe in den Händen hin und herzerrend, niedergelassen hatte, sagte Tromholt: „Ihr kommt, um mit mir zu hadern! Euer Herz ist voll Zorn und Hitze, und am liebsten wäret Ihr wie ein unbesonnener Knabe mir an die Brust gesprungen, um Rechenschaft von mir zu fordern für das Schicksal Eures Kindes. Ihr hörtet auf die Stimme der Menge, die lästert und hetzt, und weil sie im Durchschnitt gemein ist, glaubt Ihr, alles sei Schmutz auf dieser Welt. Aber es giebt auch reine, ungetrübte Bäche mit hellem Wasser. Ihr fragt, wo Eure Tochter Ingeborg ist. Uebergabt Ihr mir Euer Kind, da Ihr Euch an mich wendet? Nein! Wie kommt Ihr also zu solcher Frage? Hört! Ihr redetet ihr zu, den Kapitän zu heirathen, obwohl Ihr wissen konntet, daß sie ihn nicht liebe; aber Ihr dachtet an Euch, nicht an sie. Weil’s Euch Wunsch war, sollte es für sie Gebot sein! Euch selbst trifft die Schuld an dem, was geschehen – nein, halt! Ich rede jetzt! Nachher könnt Ihr sprechen.

Im letzten Augenblick, da sie wußte, daß Larsen ein Schurke sei, entfloh sie. Sie fürchtete ihn und Euch. Sie fürchtete ihren Vater, hört Ihr, bei dem sie doch alles finden sollte, was ihr Herz trösten konnte. Sie ging nicht aufs Schiff. Sie kam in derselben Nacht auf Umwegen nach Limforden, fiel vor mir nieder und rief: ‚Schütze mich, hilf mir!‘ Ich sagte: ‚Wie viel Herzeleid bereitest Du Deinem alten Vater!‘ Da weinte sie bitterlich. Und doch verlangte sie, daß ihr Vater nichts erfahre! Sie fürchtete sich! Ich sag’s noch einmal!“

Und nun erzählte er dem Alten alles, was inzwischen mit seiner Tochter geschehen war bis auf den Tag, da er sie aus Larsens Händen befreit und im Hause der Frau Ericius untergebracht hatte.

„So, nun sprecht Ihr, Peter Elbe! Aber vorher noch eins! Das Mädchen hat sich unter meinen Schutz gestellt, und Anrechte auf sie habt Ihr so lange verwirkt, bis Ihr sagt: ‚Ja, Herr, ich trug auch Schuld. Und ich will’s wieder gutmachen!‘“

Der alte Elbe stand eine Zeit lang sprachlos und ließ das greise, zitternde Haupt auf die Brust sinken. Als er’s wieder erhob, standen schwere Thränen in seinen Augen, und schluchzend klang es aus seinem Mund: „Können Sie es mir vergessen, Herr Direktor?“

„Ja, ich kann’s, und noch mehr!“ erwiderte Tromholt milde, indem er ihm die Hand, nach der Elbe schüchtern getastet hatte, hinreichte. „Ich fühle und fühlte mit Euch, und wenn Ihr nicht selbst zu mir gekommen wäret, wäre ich zu Euch gekommen und hätte trotz Eurer Tochter Bitten und Verbot Euch alles gesagt. Nur die Arbeit, die Sorgen und Lasten hier ließen mich nicht dazu gelangen.“ –

Noch lange saßen die beiden Männer beisammen. Als sie sich trennten, war’s Nachmittag geworden. Dann hielt der Wagen vor der Thür, und Tromholt fuhr nach Snarre.

Draußen an der Grenze des Parks begegnete ihm Graf Utzlar, der eine Cigarre rauchte und mit seinem Stock auf die jungen Erlenbüsche hieb, die am Uferrande des Baches standen. Er wußte, wohin Tromholt fuhr, und grüßte, wenn auch ein wenig die Farbe wechselnd, wie ein wohlwollend aufgelegter Gebieter seinen Diener grüßt.

Bald waren sie sich aus den Augen entschwunden. Als Richard in Snarre anlangte, stand der Graf zufällig auf der Freitreppe vor der Thür und fütterte die Tauben. Sobald er des Gastes ansichtig wurde, trat er ihm höflich entgegen und geleitete ihn nach seinem Arbeitszimmer, das mit der anstoßenden Bibliothek die ganze rechte Seite des Schlosses von der Halle aus einnahm.

„Nun, was bringen Sie?“ fragte er gespannt, nachdem Tromholt sich niedergelassen und die ihm angebotene Cigarre abgelehnt hatte. „Ich bin außerordentlich begierig!“

Tromholt aber sagte: „Ich hoffte eigentlich, von Ihnen oder

[525]

Zur Galerie.
Nach einem Gemälde von Klein-Chevalier.

[526] vielmehr durch Sie Neues von der Gräfin zu hören, die wohl zweifellos Nachrichten von ihrer Mutter erhalten hat. Bei uns stehen die Dinge wie vordem. Graf Utzlar besteht auf seiner Forderung, die, wie die Verhältnisse liegen, unerfüllbar ist. Frau Ericius hat mich zwar mit unbeschränkter Vollmacht, die Verhandlungen zu führen, ausgerüstet, allein – –“

Tromholt stockte in einiger Verlegenheit.

„Könnten Sie denn im Nothfall die Summe sofort anschaffen?“ fragte der Graf, für den Tromholt nach Susannens Bekenntnissen ein Gegenstand ganz besonderen Interesses war.

„Nein! Wir haben sie nicht,“ entgegnete Tromholt kurz.

„Und was ist nun Ihre persönliche Ansicht in der Sache?“

„Wenn die Gräfin will, muß das Opfer gebracht werden –“

„Recht so!“ entgegnete Snarre, „und wenn – wenn –“

Er unterbrach sich, zog an seinem Schnurrbart und sah Tromholt an, als ob er ihm weiterhelfen solle.

„Sie meinen, Herr Graf?“

Snarre hätte gern gesagt: ‚Verfügen Sie über meine Kasse!‘ Aber das Gespräch mit Susanne hatte ihm seine frühere Unbefangenheit geraubt, und sein Zartgefühl sträubte sich gegen einen Vorschlag, der hätte mißdeutet werden können.

Um so angenehmer war er überrascht, als Tromholt, nunmehr das Schweigen brechend, anhob: „Erlauben Sie mir einmal ein offenes Wort, Herr Graf! Würden Sie gegebenenfalls helfen, Frau Susanne von dem Burschen zu befreien, der drüben in Limforden noch immer den Herrn spielt und seine Laune in Ermangelung eines besseren Gegenstandes an den Parkbüschen ausläßt, die er mit seinem Spazierstock bearbeitet?“

„Ja!“ rief Graf Snarre lebhaft, indem er aufsprang und dicht vor Richard hintrat. „Befreien will ich sie so bald wie möglich. Aber eines, Tromholt, versprechen Sie mir: die Gräfin darf nie etwas davon erfahren, daß ich es war, der die Summe vorstreckte, niemals, verstehen Sie? Unter dieser Bedingung steht Ihnen das Geld heute noch zur Verfügung, und ich verzichte ein für allemal auf Kapital und Zinsen.“

Tromholt war über die rückhaltlose Gewährung seiner kaum angedeuteten Wünsche ebenso überrascht wie erfreut, aber das Geld als Schenkung für Susanne entgegenzunehmen, dagegen sträubte sich sein Inneres doch.

Er setzte dies auch dem Grafen mit ruhigem Ernst auseinander, behielt sich bezüglich eines Anlehens seine Entschlüsse vor und bat schließlich, der Graf möchte ihn bei Susannen anmelden lassen, mit der er vor ihrer Abreise nach Kiel, die, wie der Graf ihm mitgetheilt, schon am nächsten Tag stattfinden sollte, Rücksprache nehmen müßte.

Snarre beeilte sich, seine Bitte zu erfüllen, und da der abgeschickte Diener mit der Nachricht zurückkehrte, die Frau Gräfin befände sich im Park, so ging er selbst, sie von Tromholts Anwesenheit zu benachrichtigen.

Richard blieb indessen in des Grafen Zimmer, betrachtete die Bilder an den Wänden ohne tieferes Interesse und war so ganz seinen Gedanken hingegeben, daß er Susannens Eintreten überhörte.

Nun wandte er sich um.

Wie schön sie war! ‚Sei mein Weib!‘ hätte er ihr auch jetzt wieder zurufen mögen, ‚sei mein, und ich will alles vergessen, denn mein Leben hat kein anderes Ziel, als dich!‘ Aber er bemeisterte sich, ihre Antwort von damals kam ihm wieder in den Sinn, und je heftiger die Bewegung war, ist die ihn ihr Anblick versetzte, desto kälter und förmlicher war die Verbeugung, mit der er sie nun begrüßte.

Susannen entging Tromtholts tiefe innere Bewegung nicht.

„Sie wollten mich sprechen, Herr Tromholt,“ begann sie mit bebender Stimme, „und Sie erfüllen damit nur meinen eigenen Wunsch, ein Bedürfniß, das ich lange schon empfand und dem ich vielleicht früher hätte Ausdruck verleihen sollen.“

Tromholt verbeugte sich abermals, diesmal fast noch gemessener.

„Tadeln Sie, was ich gethan habe? Begreifen Sie meine Handlungsweise?“

„Nein, ich tadle sie nicht, Frau Gräfin. Ich begreife alles vollkommen.“

Tromholts Mienen veränderten sich nicht, als er dies sagte, nichts rührte sich in seinem Gesicht.

„Es sind geschäftliche Angelegenheiten, derentwegen Sie mich zu sprechen wünschten, wie mir Graf Snarre sagte. Vor allem aber drängt es mich, Ihnen zu danken mit tief bewegtem Herzen, daß Sie, mein unvergleichlicher Freund, sich abermals meiner annehmen. O, ich bitte – sehen Sie mich nicht so ernst, so strafend an! Ich weiß alles, was Sie sagen wollen, und habe auf alles ein Wort, das Sie besänftigen, das Sie versöhnen muß.“

Tromholt wurde es schwer, sich dem Eindruck dieser rührenden Sprache zu entziehen, aber er hatte sich vorgenommen, der Frau, die ihn nicht lieben konnte, auch nicht durch eine Miene zu verrathen, daß noch etwas von den alten Gefühlen in seiner Brust lebte.

„Sie sind so gütig, wie Sie stets waren, Frau Gräfin. Ich danke Ihnen für Ihre Worte. – Erlauben Sie, daß ich jetzt das Geschäftliche berühre! – Graf Utzlar besteht trotz mehrfacher Verhandlungen auf der geforderten Summe. Das Geld werde ich beschaffen. Ich fand jemand, der es darlehnsweise hergeben will. Es fragt sich jetzt nur, und das ist der Hauptzweck meines Kommens, ob Sie, ob Ihre Frau Mutter damit einverstanden sind.“

Susanne war in einen Stuhl gesunken. Ein Heer widerstrebender Gefühle bewegte ihre Brust. Sie hörte kaum, was er sagte, und als er geendet hatte, brachen die Thränen fluthend aus ihren Augen.

„Gnädige Frau, Frau Gräfin!“ rief Tromholt, von seiner Bewegung gegen seinen Willen fortgerissen.

„Es ist nichts,“ erwiderte sie sanft, seine Hand erfassend, „denken Sie nicht böse von mir, Tromholt, ich bitte Sie darum, ich kann alles ertragen, nur den Verlust Ihrer Achtung nicht!“

Sie sah ihm mit einem so flehenden Blick in die Augen, daß es ihm bis ist die Seele drang.

Einen Augenblick kämpfte Tromholt, dann sagte er weich, aber in demselben Ton der bisherigen Zurückhaltung: „Glauben Sie, Frau Gräfin, in dieser für uns beide ernsten Stunde: ich bin derselbe, der ich war, seitdem ich Ihnen zum ersten Male gegenübertrat, und werde es bleiben. An meiner Achtung, meiner Freundschaft zweifeln Sie nie! Alles andere aber ist ausgelöscht ein für allemal, und obgleich es unzart erscheinen mag, dies zu berühren, ich sage es, weil ich will, daß unsere Freundschaft frei von falscher Sentimentalität sei. Was Sie auch thun und beschließen, ich achte Ihre Gründe wie Ihre Handlungen, und mein aufrichtigster Wunsch ist, daß sie zu Ihrem Glück dienen. Was in meiner Kraft steht, will ich thun, Sie glücklich zu machen. Sie schulden mir keinen Dank dafür, denn daß ich es thun darf, das – das eben ist mein Glück, auf jedes andere habe ich verzichtet.

Wundern Sie sich nicht darüber, auch ich habe ein Herz, und leicht ist mir der Verzicht nicht geworden.

Aber mein Wille ist stark, stärker als das schwache Herz, und er hat es bezwungen. Und nun, Frau Gräfin, nach diesem Bekenntniß lassen Sie uns scheiden, ohne Unmuth, ohne Groll in ruhiger, wunschloser Uebereinstimmung. Meine Sorge soll sein, daß Sie Ihre volle Freiheit so schnell wie möglich wieder erlangen, und dann, dann hoffe ich, werden für Sie wieder glückliche, heitere Tage zurückkehren. Niemand kann es aufrichtiger wünschen als ich.“

Seine Stimme bebte bei den Worten, er verneigte sich tief, drückte noch einmal die Lippen auf ihre Hand und entfernte sich rasch, während Susanne wie vernichtet zusammenbrach.


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Tromholt hatte den Grafen Snarre nicht mehr gesprochen, er war sofort nach der Unterredung mit Susannen nach Limforden zurückgekehrt. Er befand sich in einer ungeheuren inneren Erregung. Die Scene hatte ihn mehr angegriffen, als er sich gestehen wollte; der übernatürliche Zwang, den er seinen Gefühlen auferlegt hatte, rächte sich an ihm, und all seine Willenskraft konnte ihn nicht vor der Erkenntniß schützen, daß er Susannen liebe, mehr denn je, und daß alle seine Bemühungen, diese Liebe zu bekämpfen, vergeblich sein würden, wenn er nicht eine Trennung herbeiführte. Aber sein Entschluß, jedes fernere Zusammentreffen mit ihr zu vermeiden, war nicht durchführbar, so lang er in ihrem Dienst stand. Darum wollte er der Qual ein Ende machen und, sobald das letzte Geschäft besorgt, sobald sie frei war, Limforden für immer verlassen, sich fern von ihr, in fremdem Land eine neue Stellung gründen.

Wie diese Angelegenheit am schnellsten zu ordnen sei, darüber sann er jetzt nach, und er mußte sich gestehen, daß die einfachste Lösung eben in der Annahme des Geldes liege, das Snarre in so großmüthiger Weise angeboten hatte. Allein diese einfachste Lösung war ihm gerade die peinlichste. Des Grafen erregtes Wesen, als er ihm das Angebot gemacht hatte, kam Tromholt [527] nun wieder in den Sinn. Was konnte Snarre veranlaßt haben, was berechtigte ihn dazu, eine solche Summe an eine Aufgabe zu wenden, die nicht die seinige war? Des Grafen vornehme Gesinnung, seine bekannte Galanterie reichten nicht hin, Tromholt dieses Räthsel zu erklären. Es mußte etwas anderes sein, und nichts lag näher als die Annahme, daß der Graf selbst Absichten auf Susannens Hand habe.

Ob sie ihm wohl ein Recht dazu gegeben hatte? – Nein, das war nicht möglich, aber – er hatte ihr vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an große Aufmerksamkeit erwiesen, er hatte sich an jenem Tag, an welchem der Bruch mit Utzlar stattfand, man konnte wohl sagen, just zur rechten Zeit, als ob er gerufen wäre, in Limforden eingefunden. – Des Brandes wegen? Wohl möglich, aber thatsächlich war sie unter seinem Schutze entflohen, hatte unter seinem Dach eine Zuflucht gefunden, seine Gastfreundschaft genossen. Immer klarer wurde es Tromholt, der sich dieser Waffe gegen seine immer wiederkehrende Schwäche selbstquälerisch bediente, daß zwischen den beiden ein wenn auch noch unausgesprochenes Einvernehmen bestand, und daß er auch hier nur ein Werkzeug war, anderer Pläne zu fördern.

Ein großer Schmerz, eine blinde Eifersucht überkam ihn bei dem Gedanken. Auch Susannens Benehmen, ihre Erregung bei seinem Anblick, ihre scheinbare Zerknirschung und die Milde, die Demuth, mit der sie ihm begegnet war, schienen ihm jetzt eine Absicht zu verbergen – Haß gegen sie beide regte sich in seiner Brust.

Lange konnte indessen eine solche feindselige Stimmung bei Richard Tromholt nicht anhalten. Bald genug siegten die Vernunft und sein Edelsinn. Die Vernunft sagte ihm, daß eine Verbindung Snarres mit Susannen allerdings der beste und sicherste Ausweg aus allen Wirrnissen, ja daß sie das einzige Mittel sei, nach den schweren Schicksalsschlägen, welche die Familie Ericius betroffen hatten, deren Ansehen in jeder Beziehung wiederherzustellen und die letzte große Unternehmung des verstorbenen Ericius vor dem Untergang zu bewahren. Er konnte dem Charakter, der Thatkraft und der ritterlichen Gesinnung des Grafen Snarre seine Anerkennung nicht versagen. Snarre war zudem sehr reich und seit lange bemüht, seinen Besitz auf praktische Weise zu vergrößern. Wie, wenn der Graf Limforden kaufte? Dann war ja alles in der besten Ordnung, Utzlar abgefunden und er, Tromholt, frei! Alten kannte seine Stellung behalten und Bianca heimführen. Alle waren sie glücklich, und er, nun, er würde sein Glück in einer neuen selbständigen Thätigkeit finden, soviel als ihm eben vom Schicksal beschieden war, gleichviel wo!

(Fortsetzung folgt.)


Vollmondfest im Fetischgrund.

(Zu dem Bilde S. 520 u. 521.)

Nicht weit vom deutschen westafrikanischen Schutzgebiet Togo liegt Aschanti, jenes Negerreich, in welchem trotz der vielfachen Berührungen mit europäischen Händlern und christlichen Missionaren der Fetischglaube in voller Blüthe steht. Als wir vor kurzem die Bismarckburg im Adeliland schilderten, konnten wir schon darauf hinweisen, daß auch in Togo Fetischpriester und -priesterinnen das große Wort führen, daß auch dort berühmte heilige Orte wie z. B. Peren vorhanden sind, und daß man überall geheiligte Stätten, Fetischhaine etc. findet. Der Maler Franz Leuschner führt uns in seinem Bilde, das wir heute den Lesern der „Gartenlaube“ bieten, an einen solchen geheiligten Ort, an den Fetischgrund am Sióflusse in der Landschaft Gamé.

Was uns zunächst beim Anblick dieses Bildes fesselt, das ist die Natur, die eigenartige Landschaft, der üppige tropische Wald, gegen den das Häuflein Menschen am Flußufer völlig verschwindet. Nicht jeder von unsern Lesern wird diese Landschaft sich zu deuten verstehen, und darum möchten wir gleich einige erklärende Worte über Zeit und Ort vorausschicken:

Wir haben hier einen winterlichen Wald, eine afrikanische Winterlandschaft vor Augen. Die regenlose Trockenzeit herrscht gerade; auf den Ebenen und an den Berghängen, wo sich die Savannen (Grasebenen) ausdehnen, ist alles verdorrt unter den sengenden Strahlen der Sonne, die Pflanzenwelt schläft, bis sie der Regen wieder zu neuem Leben erweckt. An den Flußläufen aber, die zwar bedeutend zusammengeschrumpft sind, doch immerhin, von unterirdischen Quellen gespeist, spärlich zum Meere rinnen, ist der Boden feucht genug, um Bäumen und Sträuchern auch in der Trockenzeit die belebende Feuchtigkeit zuzuführen. Nur einige wenige Bäume haben ihr Laub abgeworfen und stehen mit kahlen Aesten da, weil auch sie in ihrem Lebenslauf einer Ruhepause bedürfen; die meisten aber grünen immerfort und gedeihen in der ewigen Wärme und der ewigen Feuchtigkeit üppig und schnell wie in einem Treibhause. Diese günstigen Wachsthumsbedingungen zaubern an den Flußläufen Streifen Urwaldes hervor, welche wie Galerien sich über die Wasserrinnen wölben. Mitten in einem solchen Walde ist unser Fetischgrund gelegen.

Man genießt hier noch einen verhältnißmäßig freien Ueberblick, denn der Grund ist eine Lichtung, auf welcher vor Jahren eine Negeransiedlung stand. Das Dorf wurde verlassen, die leichten Hütten wurden von den Insekten und Würmern zerfressen; sie vermoderten bald und der Wald nahm wieder die ihm entrissene Bodenstrecke für sich in Anspruch. Junges Unterholz sprießt überall empor, und bald wird auch dieser Grund ebenso ungangbar sein wie die benachbarte Wildniß.

Den Anfang derselben erblicken wir rechts auf unserm Bilde. Der um diese Zeit kaum ½ Fuß tiefe Sió kommt träge aus einem dunklen Tunnel geflossen. Dringen wir weiter in diesen Spalt hinein, so finden wir, daß der Fluß wohl eine Viertelmeile lang in einem wirklichen Tunnel sich den Weg bahnt. Hohe Ufer und mächtige Baumstämme bilden seine Wände und die feste Decke ist im Laufe der Zeiten aus den Trümmern des Waldes entstanden; Baumriesen fielen altersmorsch quer über den Fluß, dazwischen legten sich Aeste und Zweige, und so bildete sich eine Brücke, welche durch das Lianengewirr verstärkt wurde; darauf fielen welke Blätter und verwesten und vermoderten jahraus jahrein, bis der Fluß vom Walde überwölbt wurde und so zu sagen unterirdisch zu Thale rann.

Der Sió kommt von den Agomebergen, und nachdem er die Küstenebenen durchflossen hat, verliert er sich in den Küstensümpfen von Bagida; während der Regenzeit schwillt er mächtig an und überschwemmt die benachbarten Niederungen. Jetzt ist sein Ueberschwemmungsbett trocken und auf dem weichen Flußsande am Fuße eines Seidenwollbaumes hat sich am frisch angezündeten Feuer eine Negerschar niedergelassen.

Die Sonne ist bereits untergegangen und der Schein der in diesen Breiten nur wenige Minuten dauernden Dämmerung erleuchtet noch magisch die Wipfel der Bäume, während im Waldgrunde bereits die Nacht anbricht. Ueber dem Walde aber steigt der blasse Vollmond empor, und ihm gilt der festliche Tanz, zu dem sich die Neger rüsten.

Der schwarze Sohn Afrikas ist ein Heide, dem die Natur von Geistern belebt erscheint. Die Leute des Ewe-Stammes, um die es sich hier handelt, glauben zwar an ein höchstes Wesen, welches „Mawu“ heißt: dieser Hauptgott ist wie der Jan Kompune der nahen Aschanti der Schöpfer der Welt. Aber er steht so hoch über den Menschen, daß diese gar nicht wagen, zu ihm zu beten, ihn anzurufen; denn sie sagen sich, Mawu sei viel zu heilig und habe viel wichtigere Dinge zu thun, als daß er sich um so winzige Wesen wie die Menschen kümmern könnte. Auch ist er so liebenswürdig, nicht einmal Opfer von ihnen anzunehmen, da er ja doch viel reicher ist als alle Menschen zusammen. Es giebt aber außer Mawu noch eine ganze Anzahl untergeordneter Götter, Fetische, welche „Edrô“ heißen und gern die Vermittlerrolle zwischen Mawu und den Menschen spielen. Leider sind nicht alle diese Edrô, welche in besonderen Flüssen, Wäldern oder Bergen wohnen, gut; neben Engeln giebt es in der Glaubenslehre der Neger auch böse Dämonen, die habgieriger Natur sind und viele Opfer verlangen. In dem Kampf mit diesen bösen Geistern, in der Furcht vor Zauberern und Hexen bringt der Neger sein Leben dahin, ja diese Teufel stellen auch der Seele des Gestorbenen nach, wenn sie nach dem Verlassen des Körpers die weite Reise zu Gott unternimmt. Darum wird auch nach dem Tode vornehmer Leute in den Negerdörfern mehrere Tage lang ein fürchterlicher Lärm gemacht, um die Teufel zu vertreiben. Der Mond spielt in diesen Vorstellungen auch eine hervorragende Rolle, und die Veranstaltungen, durch welche die bösen Geister aus der Nähe der menschlichen Wohnungen fortgescheucht werden, sollen gerade an Voll- und Neumondtagen am wirkungsvollsten sein. An diesen Tagen halten darum die Priester feierliche Umzüge in den Dörfern, wobei die Einwohner sie durch einen wahren Höllenlärm unterstützen. Nun sind die Bösen vertrieben, die Luft ist rein und die Bevölkerung kann sich der ungetrübten Freude hingeben.

Singen, Tanzen und Trinken, das sind überall die Hauptvergnügen, die auf den Festprogrammen aller Völker stehen, und um dieses Programm auszuführen, zieht die Negerschar, sei es auf einen freien Platz vor dem Dorfe, sei es an einen Ort, der einem guten Fetisch geweiht ist. An berauschenden Getränken fehlt es nicht im dunklen Welttheil; im Westen liefert die Oelpalme den Palmwein, und die Lust zum Tanzen ist dem Afrikaner angeboren. Er ist darin unermüdlich, und selbst Karawanenträger tanzen oft die Nacht durch und begnügen sich mit zwei Stunden Schlaf.

Die Lieder, die bei solchen Festen vorgetragen werden, sind mehr als prosaisch, und viele Barden begnügen sich mit geistreichen Augenblicksdichtungen, wie „Der Mond scheint hell“ oder „Das Schaf ist groß“. Und die Musik, bei der die Trommel als das Hauptinstrument gilt – nun, sie ist eben afrikanisch.

Aber wirkungsvoll können die Negertänze werden, und die Scene, die sich, wenn die Geister reger werden, in unserem Fetischgrunde abspielen wird, können wir uns denken!

Düster ragt die schwarze Waldmauer, während der Mond die Wipfel der Bäume mit silbernem Licht übergießt, Myriaden von Glühwürmern durchziehen die Luft; stiller Friede herrscht in der Natur, im Fetischgrunde aber erreicht die Tanzlust den Höhepunkt; die Männer bilden einen äußeren, die Frauen einen inneren Ring, Fackeln werden geschwungen, die Pauke dröhnt und ein rasender Rundtanz beginnt, ein wahrer Hexensabbath, erleuchtet vom rothen Schein des Feuers und von dem weithin stiebenden Funkenschauer der Fackeln. So geht es fort, bis die Natur ihr Recht verlangt und die Tänzer müde heimwärts ziehen. Das Vollmondfest ist zu Ende; verlassen ist wieder der Fetischgrund, in dem jetzt die Nachtgeister schweben.
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Zur 75jährigen Jubelfeier der deutschen Burschenschaft.

Von Georg Winter.


Das fröhliche und doch zugleich ernste Fest, welches in diesen ersten Augusttagen die alten und jungen Burschenschafter aller deutschen Universitäten in dem anmuthigen Musensitze an der Saale, dem poesieumwobenen Jena, begehen, ist nicht nur für das deutsche Universitätsleben von Bedeutung, es ist zugleich ein nationales Erinnernngsfest für das ganze deutsche Volk. Das geistige Leben an den deutschen Hochschulen ist zu allen Zeiten in gewissem Sinne ein Spiegelbild des deutschen Volkslebens gewesen; alle großen geistigen Bewegungen, von Huttens und Luthers Tagen bis auf unsere Zeit, sind entweder unmittelbar von den deutschen Hochschulen ausgegangen oder haben doch in ihnen einen lebhaften Widerhall, gleichsam den geistigen Brennpunkt gefunden. Niemals aber ist das in höherem Maße der Fall gewesen als in jener großen Entwickelungs- und Erziehungsperiode, deren das deutsche Volk bedurfte, ehe es sich zur nationalen Einigung hindurchrang, in den Jahrzehnten nach den Freiheitskriegen, da der von den Regierungen mit Hohn zurückgewiesene und mit allen Mitteln der Gewalt niedergehaltene nationale Einheitsgedanke trotz aller Bedrückungen in den Besten des Volkes fortlebte und erstarkte und so die feste ideale Grundlage wurde, auf welcher der größte Staatsmann unseres Jahrhunderts den hehren Bau der deutschen Reichseinheit errichten konnte, indem er den im Volke lebenden idealen Kräften den festen Rückhalt der staatlich-politischen Macht hinzugesellte. Daß an dieser Vorbereitungsarbeit, an dieser Erweckung und Erhaltung des nationalen Gedankens der vor nunmehr 75 Jahren auf der Hochschule zu Jena gegründeten deutschen Burschenschaft ein hervorragender Antheil gebührt, daß in ihr das von den bestehenden Gewalten mit rücksichtsloser Strenge verfolgte nationale Einheitsstreben die hauptsächlichste Zufluchtsstätte fand, wird heute von keinem gerecht urtheilenden Geschichtschreiber mehr geleugnet. Nur über Maß und Bedeutung dieses Verdienstes der in den Burschenschaften zusammengefaßten studierenden Jugend Deutschlands kann jetzt noch Meinungsverschiedenheit obwalten. Während mancher eifrig schwärmerische Verehrer der burschenschaftlichen Bestrebungen geneigt ist, das dereinst inmitten der Aufregung des Kampfes um den nationalen Gedanken gesprochene kühne Wort: „Die Geschichte der deutschen Burschenschaft ist die Geschichte des deutschen Volkes“ vollkommen wörtlich zu nehmen, fehlt es auf der andern Seite auch heute noch nicht an solchen, welche in der leidenschaftlichen Theilnahme der studierenden Jugend an der Frage über Sein oder Nichtsein der deutschen Einheit nur ein Ueberschreiten der den akademischen Kreisen gezogenen Grenzen erblicken, welche nur das Ueberschwängliche der in ihrem Grundtriebe edlen und idealen Bewegung wahrnehmen wollen und daher mehr oder minder geneigt sind, in der alten Burschenschaft einen Bund von radikal politischen Verschwörern zu sehen.

Scheidler als Student.
Nach einem der „Arminia“ gehörigen Bilde.

Ohne alle Frage aber muß es doch jetzt, da wir auf die Gründung der deutschen Burschenschaft als auf ein längst vergangenes Ereigniß zurückblicken, da wir die Einheitsentwickelung von ihrem verwirklichten Zielpunkte bis zu ihrem Ausgange übersehen können, möglich sein, zu einer gerechten geschichtlichen Auffassung über die Bedeutung der Burschenschaft für die Entwickelungsgeschichte des deutschen Nationalbewußtseins zu kommen. Zu diesem Zwecke müssen wir den Leser bitten, sich mit uns die Haupterscheinungen dieser Geschichte des nationalen Gedankens zu vergegenwärtigen.

Kein anderes der neuzeitlichen Kulturvölker hat einer so langen und kämpfereichen Erziehung bedurft, um zur staatlichen Einheit zu gelangen, als das deutsche. Wohl hatte die Zerrissenheit und Ohnmacht des einst in der alten Kaiserzeit so mächtigen Vaterlandes schon lange vor dem Beginne unseres Jahrhunderts einzelne erleuchtete Geister mit Scham und Entrüstung erfüllt. Schon im 17. Jahrhundert hatte Samuel von Pufendorf in patriotischem Schmerze die deutsche Reichsverfassung für ein eines großen Volkes unwürdiges „Monstrum“ erklärt. Aber das Streben nach einer Besserung dieses Zustandes war doch eben nur in wenigen vorhanden; die Masse des Volkes hatte sich durch jahrhundertelange Gewöhnung in die Ohnmacht und Zerstückelung des Gesammtvaterlandes hineingefunden. Es fehlte ihr vor allem an einem gemeinsamen geistigen Besitzthum, nachdem die große Errungenschaft Martin Luthers in kleinlichen theologischen Zänkereien verzettelt worden war. Erst im 18. Jahrhundert erwuchs dem zertretenen und von allen anderen Nationen als Spielball der Politik benutzten Volke in der reichen Blüthe der Litteratur jenes gemeinsame Besitzthum, das ihm gemangelt hatte. Zu gleicher Zeit aber bildete sich in dem von einem genialen Herrscher geleiteten preußischen Staate der Grundstock einer staatlichen Macht, an die sich eine nationale Entwickelung hätte anlehnen können.

Die beiden Grundelemente einer solchen, ein großer, gemeinsamer geistiger Besitz und die Machtmittel eines kräftig sich regenden Staatswesens, waren vorhanden, aber sie fanden noch nicht die gemeinsamen Berührungspunkte, die ein Zusammenwirken hätten ermöglichen können. Wohl regte sich auf beiden Seiten eine Ahnung von der inneren Zusammengehörigkeit, von dem nationalen Kern, welcher beiden gemeinsam sei. Der junge Goethe äußerte, durch die großen Heldenthaten Friedrichs sei der deutschen Litteratur erst ein nationaler Lebensinhalt gegeben worden, und lebhaft schildert er in seinen Lebenserinnerungen die Begeisterung, welche in weiten Kreisen seiner Vaterstadt für den großen Preußenkönig herrschte. „Wir waren Fritzisch gesinnt; denn was ging uns Preußen an?“ In diesen Worten liegt doch ohne Frage eine Ahnung der Erkenntniß, daß das Wirken und Schaffen Friedrichs des Großen nicht bloß Preußen, sondern der ganzen Nation zu gute komme. Auch Friedrich selbst hat von seinem nationalen Beruf, wie von der Bedeutung eines gemeinsamen literarischen Besitzes für die politische Entwickelung des deutschen Volkes ein klares Bewußtsein gehabt. Wohl hat er, der die bestimmenden Einflüsse seines Lebens vor dem Morgenroth der neuen Litteratur in sich aufgenommen hatte und infolgedessen naturgemäß ein Verehrer der Litteratur des westlichen Nachbarvolkes geworden war, dem neuerwachenden geistigen Leben keine Beachtung und Theilnahme gewidmet, aber in seiner Schrift „Ueber die deutsche Litteratur“ vergleicht er sich selbst mit Moses, der nur von fern das gelobte Land habe schauen dürfen, und spricht die Zuversicht aus, daß nach ihm eine Zeit kommen werde, in der es auch dem deutschen Volke vergönnt sein werde, Großes und Edles auf litterarischem Gebiete zu leisten. Daß diese Zeit, als er dies niederschrieb, bereits längst angebrochen war, hat er nicht geahnt. Zum ersten Male erscheint uns hier jener tragische Zug in unserer nationalen Entwickelung, daß die beiden großen Grundformen derselben, die nationale geistige Bewegung und die in der Bildung begriffene politische Macht, unverstanden nebeneinander hergehen.

Den großen, wenn auch sehr unfreiwilligen Dienst, eine erste Annäherung dieser beiben Wurzeln der deutschen Einheit zu ermöglichen, hat Napoleon I. dem deutschen Volke geleistet. Der frevelhafte Plan einer auf der Vernichtung bez. Unterdrückung der einzelnen Nationalitäten aufgerichteten Weltherrschaft rief einen nationalen Gegenschlag hervor, welchem der gewaltige Verächter der geistig sittlichen Kräfte des Volkslebens erlegen ist. Die furchtbare Schmach der Fremdherrschaft verlieh der bisher rein litterarisch-geistigen Bewegung die Fähigkeit, sich in eine sittlich-politische zu verwandeln. Aus dem gemeinsamen litterarischen Besitz wurde ein stark ausgeprägtes, klar erkennbares Nationalbewußtsein, [529] welches jetzt zum ersten Male die Massen des Volkes ergriff. In einem leidenschaftlichen Kampfe voll innerer Kraft und Wahrhaftigkeit wurden die schmählichen Fesseln der Fremdherrschaft gebrochen. In diesem heiligen Kampfe erwachte das Bewußtsein der nationalen und politischen Zusammengehörigkeit ganz Deutschlands zu einer Kraft und Stärke, die sich nie mehr völlig unterdrücken ließ.

Die Kämpfer aber, die zum heiligen Streite hinauszogen, meinten in demselben nicht bloß die Unabhängigkeit des engeren Vaterlandes von fremder Willkürherrschaft zu erringen, sondern auch die innere Selbständigkeit und staatliche Einheit des Gesammtvaterlandes. Indem sie ihr Alles, Gut und Blut, einsetzten für die gemeinsame Sache, glaubten sie, gestützt auf die Versprechungen der Fürsten, denen sie ihre Selbständigkeit wiedererringen halfen, sich ein Anrecht darauf erworben zu haben, an den staatlichen Angelegenheiten des geeinten Vaterlandes selbstthätigen Antheil zu nehmen. Hatte doch der große Kampf selbst gezeigt, was eine lebendige Theilnahme aller an den Geschicken des Vaterlandes vermöge. Niemals vielleicht im Verlaufe der ganzen Weltgeschichte war die Macht sittlicher Ideen in so greifbarer Gestalt zu Tage getreten, als in diesem heiligen Kriege. Mußten die, die ihn geführt hatten, nicht glauben, daß auch die Fürsten aus den Erfahrungen der Vergangenheit eine Lehre ziehen und einsehen würden, daß ein wahrhaft nationaler Staat in gewaltigen äußeren Gefahren nur bestehen könne, wenn er getragen sei von der lebendigen Theilnahme der Gesammtheit?

Die Gründer der Burschenschaft „Arminia auf dem Burgkeller“.
Nach einem der „Arminia“ gehörigen Bilde von C. Bräunlich.

Mit froher Zuversicht kehrten die Kämpfer in die Heimath zurück, hoffnungsvoll und gespannt harrten sie der Lösung der großen, die Zukunft des deutschen Volkes entscheidenden Frage, welche soeben auf dem Wiener Kongresse verhandelt wurde. Und welches war die Antwort auf jene Frage? Nur zu schnell ward es vergessen, daß die großen kriegerischen Erfolge der ungestümen Begeisterung verdankt wurden, mit der sich das ganze Volk wie Ein Mann erhoben hatte. In den Kreisen der hohen Diplomatie, in der Fürst Metternich die alles beherrschende Stellung einnahm, gewöhnte man sich sehr bald an eine spöttische Verkleinerung jener Volksbegeisterung. Nicht sie, die vielmehr nur geschadet habe, sondern der Gehorsam des Heeres gegen die angestammten Fürsten habe den großen Erfolg gezeitigt. Sehr bald erscholl das Metternichsche Wort von der „verruchten Idee einer deutschen Einheit“. Mit Recht ging ein Sturm der Entrüstung durch das ganze Volk, als das Ergebniß der Wiener Verhandlungen bekannt wurde. Hoch und niedrig, die Besten des Volkes, waren einig in dieser Empörung. Der alte Blücher fluchte und wetterte auf die „verfluchten Diplomaten“, die alles wieder verdorben hätten, was das gute deutsche Schwert geschaffen habe. Die Entrüstung der treuen Patrioten war nur zu berechtigt. „Man muß es gestehen,“ so urtheilt Heinrich von Sybel in seinem großen Geschichtswerke über die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., „niemals ist einem großen, mit frischem Siegeslorbeer gekrönten Volke eine kümmerlichere Unverfassung auferlegt worden, als es damals dem deutschen Volke durch die Bundesakte geschah. Die mächtigen Gedanken, welche Preußens Wiedergeburt und damit Deutschlands Befreiung vorbereitet hatten, waren hier in ihr Gegentheil verwandelt.“ Der nationale Einheitsgedanke, der soeben erst im Kampfe mit der Fremdherrschaft mit ursprünglicher Gewalt erwacht war, wurde von den deutschen, zunächst nur für ihre Gebiete und Rechte besorgten Fürsten zurückgewiesen, ja, wo er sich zeigte, verdächtigt und verfolgt. Aufgabe des deutschen Volkes mußte es sein, ihn zu bewahren und trotz aller Verfolgungen und Bedrückungen in faßbarer und durchführbarer Form den Nachkommen zu überliefern.

Diese schwierige und große Aufgabe, ohne deren Lösung die dereinstige Verwirklichung der nationalen Einheit selbst mit den größten Machtmitteln niemals gelungen wäre, ist es, der sich die deutsche Burschenschaft von Anbeginn an mit vollem Eifer und voller Begeisterung gewidmet, an deren Lösung sie unter den schwierigsten Verhältnissen, unter der drohendsten Gefährdung des persönlichen Daseins jedes einzelnen, in hervorragendster Weise mitgewirkt hat. Durch die Begründung der deutschen Burschenschaft wurde dem nationalen Gedanken in den Kreisen eine Stätte bereitet, die dereinst berufen sein sollten, als Lehrer, Geistliche, [530] Aerzte und Richter des Volkes thätigen Antheil an seinen Geschicken zu nehmen. Vergegenwärtigen wir uns, wie diese Gründung sich vollzog, wie die Burschenschaft der Aufgabe, die sie sich bei ihrer Begründung stellte, gerecht wurde.

Die studierende Jugend Deutschlands hatte, so sehr auch sie gleich dem deutschen Volke vorher in kleinstaatlicher Sonderthümelei begriffen war, doch sogleich beim Beginn des großen Befreiungskampfes mit heiligem Eifer zu der nationalen Sache gestanden. Alle Spaltungen und Parteiungen waren vergessen; nicht bloß an den Hochschulen des preußischen Staates, in welchem die Wogen der Begeisterung am höchsten schlugen, sondern auch an denen der Kleinstaaten, deren Fürsten zum Theil noch mit dem korsischen Eroberer verbündet waren, strömten die Studenten in hellen Scharen den Fahnen zu, welche zur Vertreibung und Besiegung der Fremdherrschaft entrollt wurden. In Jena trat mehr als die Hälfte aller Studierenden dem Lützowschen Freicorps und anderen mit größter Schnelligkeit sich bildenden Freiwilligenscharen bei. Mitten im Feldlager hielten sie an ihren akademischen Gebräuchen fest und sangen wohl am Vorabend der Schlacht mit andächtiger Begeisterung die weihevollen Klänge des Landesvaters. Hier lernten sie in ernster Stunde die Unterordnung der Persönlichkeit mit allen ihren Interessen und Bestrebungen unter eine große, gemeinsame Sache. Alle waren sie erfüllt von dem frohen und stolzen Bewußtsein, eine große Zeit mit durchlebt, an ihrem Theile mitgewirkt zu haben an einer großen und heiligen Aufgabe.

Von solchen Gesinnungen durchdrungen, kehrten sie in die Universitäten, in die Hörsäle zurück. Hier aber fanden sie sich plötzlich von dem alten Treiben, das sie in den großen vergangenen Stunden für überwunden gehalten hatten, umgeben, hier fanden sie wieder jene alten Landsmannschaften, welche, auf dem Grundsatz der engeren Landesangehörigkeit der Mitglieder beruhend, so recht ein Abbild der Zerklüftung und Zerspaltung des Volkes waren. Noch herrschten die alten, rohen Sitten, der Pennalismus und die Renommistrei, das traurige Erbtheil vergangener Jahrhunderte, in denen unter dem politischen Elend der Nation auch in der studierenden Jugend ein freier Gemeinsinn sich nicht hatte entwickeln können. Jetzt aber war in dem großen einheitlichen Gefüge des Heeres, welches den Fremdherrscher zu Boden geworfen hatte, jener Geist der Spaltung überwunden, das Gefühl der Zusammengehörigkeit im Volke mächtig geweckt worden. Mußte das nicht auch auf das akademische Leben zurückwirken? Durfte in jener großen Zeit der alte Geist der Zerfahrenheit bestehen bleiben, wie er in den bisherigen geselligen Vereinigungen der Hochschulen seinen Ausdruck gefunden hatte?

Diese Eindrücke waren es, welche auf die aus dem Felde Zurückkehrenden mit zwingender Gewalt einstürmten. Sie wurden durch die politischen Enttäuschungen, die man erntete, verstärkt. Der Gegensatz zwischen den Idealen, für welche man gekämpft hatte, und der Wirklichkeit, welche man im staatlichen wie im akademischen Leben vorfand, war zu schroff, als daß er nicht zu einem Versuch der Ausgleichung, zu dem Bestreben, die Wirklichkeit dem Ideale entsprechend umzuwandeln, hätte führen müssen. Diesem Bestreben verdankte die Burschenschaft ihre Entstehung.

Die Mehrzahl der aus dem Felde zurückkehrenden Studierenden verschmähte es, in die alten landsmannschaftlichen Verbindungen, denen sie zum Theil vor ihrem Auszuge in den Krieg angehört hatten, wieder einzutreten: sie wollten den Sinn für ein gemeinsames Vaterland, das Streben, diesem mit allen Kräften zu dienen, wie sie es im Felde bewährt hatten, in ihr akademisches Leben mit hinübernehmen. Zu diesem Zwecke wurden zunächst die von Jahn mit Recht so warm empfohlenen körperlichen Uebungen auch auf der Hochschule beibehalten: es bildete sich noch im Winter 1814/15 eine Wehrschaft, eine Art akademischen Landsturmes, der die im Felde erlangten körperlichen Fertigkeiten zu bewahren und nicht allein durch Turnen, sondern auch durch Exercieren, Schießen, Anlegen von Schanzen und förmliche kleine Gefechtsübungen zu pflegen bestimmt war. Der Wunsch der eifrigsten dieser Jünglinge ging aber dahin, für diese Bestrebungen eine feste Ordnung zu finden, die, wenn möglich, die ganze Studentenschaft umfassen sollte. Eine kleine Zahl von ihnen, sämmtlich aus dem Felde zurückgekehrte Freiwillige, meist Lützower Jäger, trat zu diesem Zwecke mit den Leitern der vier in Jena bestehenden Landsmannschaften, von denen drei mehr oder weniger zu den neuen Bestrebungen hinneigten, in Verbindung, sie entwarfen einen Satzungsentwurf für die neue Vereinigung, die den Namen „Burschenschaft“ führen sollte, und erließen endlich am 10. Juni 1815 einen öffentlichen Aufruf an alle ehrenwerthen Jenenser Studenten, sich am 12. Juni vormittags 9 Uhr auf dem Markte zu Jena zu versammeln. Von den 11 Unterzeichnern dieses Aufrufs, die man als die eigentlichen Begründer der Burschenschaft ansehen kann, nennen wir den stud. Karl Horn aus Neustrelitz, der noch im Jahre 1858 dem 300jährigen Jubiläum der Universität Jena als ehrsamer Pastor beiwohnte und dort eine begeisterte und begeisternde Rede über das, was die Burschenschaft von 1815 Hohes und Heiliges erstrebte, gehalten hat, ferner Heinrich Niemann und den späteren Professor Scheidler aus Gotha, von denen freilich heute keiner mehr unter den Lebenden weilt. Am 12. Juni fand dann, wie angekündigt, die große Studentenversammlung statt, welche, von 113 Theilnehmern besucht, den Grund zu der Jenenser Burchenschaft legte. Die Landsmannschaften Vandalia, Thuringia und Franconia, die den Beschluß gefaßt hatten, sich aufzulösen, erschienen zum letzten Male mit hochgehaltenen Fahnen, die sich dann später zum Zeichen der Auflösung senkten. In feierlichem Zuge bewegten sich die Versammelten vom Marktplatze durch die Saalgasse, das Saalthor und über die Brücke zum Gasthause „Zur Tanne“. Hier wurde zum ersten Male das Arndtsche Bundeslied „Sind wir vereint zur guten Stunde“, zu dem stud. theol. Hanitsch die schöne, seitdem immer und immer wieder gesungene Melodie komponirt hatte, angestimmt und dann nach einer begeisterten Ansprache Horns die Gründung der Jenenser Burschenschaft vollzogen, die entworfene Verfassung vorgelesen und angenommen. Als Sinnbild der Vereinigung wurden die Farben Schwarz=Roth=Gold gewählt. Sie sollten hinfort das Banner werden, um das sich alle Anhänger des nationalen Gedankens Jahrzehnte hindurch geschart haben. Zum ersten Male erklang dann das ergreifende deutsche Einheitslied „Was ist des Deutschen Vaterland“, zu dessen Arndtschem Texte der stud. theol. Cotta aus Ruhla die Melodie komponirt hatte. Den Schluß bildete ein erster allgemeiner burschenschaftlicher Kommers mit feierlichem Landesvater.

Seit den Augusttagen von 1883 steht, von Professor Donndorf in Stuttgart gefertigt, aus dem Eichplatze zu Jena das Denkmal, welches diesem erhebenden Abschnitt deutscher Geschichte gewidmet ist. Auf hohem Sockel, an welchem die Widmung und die Bilder von Horn, Riemann und Scheidler angebracht sind, erhebt sich überlebensgroß, aus carrarischem Marmor, die Gestalt eines Burschen in der Tracht der Gründungstage.

Was politisch aus dem Wiener Kongresse durch das Uebelwollen der von Metternich geleiteten Diplomatie vereitelt wurde, eine Einigung für die große gemeinsame Sache des Vaterlandes, hier in Jena gelang es, in engerem Rahmen zwar, aber getragen von der jubelnden Zustimmung der Theilnehmer. Die Absichten und Bestrebungen der Begründer der Burschenschaft gingen ohne alle Frage auf hohe und ideale Ziele: auf gründliche wissenschaftliche und sittliche Ausbildung, Reform des akademischen Lebens im Sinne einer freien Gemeinsamkeit; über allem aber schwebte die große Idee des gemeinsamen Vaterlandes, in dessen Dienste alle durch die akademische Reform erreichten Erfolge verwerthet werden sollten, ohne daß man dabei zunächst an ein unmittelbares Eingreifen in das staatliche Leben gedacht hätte. Vielmehr galt es vor allem, die Mitglieder der neuen Vereinigung während ihres akademischen Lebens mit dem Geiste der Stifter zu erfüllen, Verständniß für den nationalen Gedanken in ihnen zu erwecken, damit sie dereinst, wenn sie ins praktische Leben eingetreten wären, alle ihre Kräfte und Fähigkeiten in zielbewußtem Dienste für das Vaterland aufwenden könnten.

Daß dieses Vaterland, um für alle Zeiten vor der Wiederkehr schmachvoller Fremdherrschaft gesichert zu sein, eine einheitliche, alle Kräfte zu seinem Dienste vereinigende Gestaltung erhalten müsse, galt dabei trotz der bitteren Erfahrungen, die man soeben auf dem Wiener Kongresse machte, als selbstverständliche Voraussetzung. In welcher Weise diese Voraussetzung verwirklicht werden sollte, darüber waren die Mehrzahl oder wohl sämmtliche Begründer der Burschenschaft, die diese Verwirklichung als Ziel aufstellten, ebenso im Unklaren wie die anderen Patrioten, die in dem Streben nach dem Ziel mit ihnen einig waren. Nur daß es anders werden müsse als bisher, darüber war man einig. Den meisten schwebte wohl als Ziel der nationale Einheitsstaat vor, aber die nothwendige Folge desselben, die Thatsache, daß derselbe nur durch eine [531] Vernichtung der Einzelstaaten erreicht werden könne, machte man sich so wenig klar, daß diese „Unitarier“ sicher in Entrüstung gerathen wären, wenn man ihnen zugemuthet hätte, sich ihrem Ziele zunächst durch Entthronung ihrer Landesfürsten zu nähern. Aus dieser Unklarheit über den Weg zum Ziele wird man aber der studierenden Jugend gewiß keinen Vorwurf machen dürfen. Theilte sie dieselbe doch mit den gereiften Männern der Zeit, selbst mit denen, welche sich berufsmäßig mit politischen Fragen beschäftigten. Noch hielt die staatsrechtliche Lehre mit ganzer Schroffheit an dem starren Begriff der vollen landesherrlichen Hoheit fest. Danach konnte es nur einen Einheitsstaat oder einen rein völkerrechtlichen Bund der in voller Selbständigkeit verharrenden Einzelstaaten geben. Einen Staat über Staaten, einen zusammengesetzten Staat, kurz den Bundesstaat kannte man noch nicht, obwohl er, wenn auch in namenlos verrotteter und verworrener Gestalt, schon in den Formen des alten Reiches bestanden hatte. Eben diese Form aber hatte, ihre Fehler für ihr Wesen haltend, dereinst Samuel von Pufendorf für ein Monstrum erklärt!

Die Frage der Zukunft schien also zu lauten: Einheitsstaat oder Bund der vollkommen selbständig verbleibenden Einzelstaaten? Da der letztere mit dem erwachten Einheitsbewußtsein unvereinbar erschien, so war es erklärlich, daß die meisten Verehrer des nationalen Gedankens der Lehre vom Einheitsstaate anhingen. Was alsdann mit den Einzelstaaten werden solle, vollends gar, wie in dem Einheitsstaate der verhängnißvolle Dualismus zwischen Preußen und Oesterreich überwunden werden solle, diese Frage sich zu stellen, daran dachten die Begründer der deutschen Burschenschaft ebensowenig wie die sonstigen politischen Führer der Nation. Diese Frage zu beantworten, die Theorie des zusammengesetzten Bundesstaates gleichsam wieder zu entdecken, das war die Aufgabe des nächsten Geschlechts, die Aufgabe, welche mit der der Erziehung des Volkes zur Einheit zusammenfiel.

Einstweilen war es bei aller Unklarheit über die Wege zum Ziel doch schon von großer Bedeutung, daß dieses Ziel selbst nicht mehr bloß von einzelnen geahnt, sondern voll einer großen Vereinigung der Besten der deutschen Jugend klar und scharf aufgestellt war, daß diese Vereinigung danach strebte, in ernster wissenschaftlicher und sittlicher Selbstzucht sich zur Mitarbeit an der Erreichung dieses Zieles vorzubereiten. Denn daran kann doch heut kein Zweifel mehr sein: nicht in dem, was die Burschenschaft als Studentenverbindung selbsthandelnd leistete, liegt ihre eigentliche Bedeutung für die Geschichte des deutschen Volkes, sondern in dem erziehlichen Einfluß, den sie auf ihre Mitglieder ausübte, in dem Geiste, mit dem sie ihre Mitglieder in der Studentenzeit durchdrang und den diese mit hinübernahmen ins praktische Leben, in welchem sie die Ideen zu verwirklichen strebten, die sie in der Universitätszeit in sich aufgenommen hatten. Aus der Burschenschaft ist ein großer Theil der Männer hervorgegangen, die dann die Lehrer, Erzieher und Führer ihres Volkes auf dem Wege zur staatlichen Einheit geworden sind. In diesem Idealismus, mit dem die Burschenschaft den nationalen Gedanken hochhielt, hegte und pflegte, liegt ihr größtes, ihr unbestreitbares Verdienst.

Die Ideen der neuen Vereinigung fanden begeisterte Zustimmung und schnelle Verbreitung, nicht bloß in Jena, sondern auch an den andern deutschen Hochschulen, wo ihnen zum Theil schon durch die Bestrebungen des Turnvaters Jahn vorgearbeitet worden war. In Jena umfaßte die Burschenschaft sehr bald wirklich den größten Theil der Studentenschaft, die alten Landsmannschaften lösten sich, wie wir sahen auf: eine Zeit lang hat es in der That in Jena außer der Burschenschaft keine studentische Vereinigung gegeben. Die akademischen Behörden wie der hochherzige, national- und freigesinnte Großherzog Karl August, der große Freund Goethes, duldeten die Burschenschaft nicht nur, sondern sahen ihr Wachsen und Gedeihen besonders gern. Denn sehr bald machte sich der sittlich ideale Einfluß derselben auf das akademische Leben deutlich bemerkbar. Das gesellige Leben wurde zugleich edler und freier, das wissenschaftliche Streben der Studenten, ihre Ehrerbietung und Verehrung gegen ihre akademischen Lehrer wuchsen zusehends. Und Karl August wäre der letzte gewesen, der den nationale Gedanken, der in der Burschenschaft lebte, mit Mißtrauen betrachten oder gar hätte unterdrücken wollen, wie das sehr bald die anderen deutschen Regierungen, namentlich Metternich, von ihm verlangten. War er doch der erste unter den deutschen Fürsten, der seinem Volke das Versprechen einer freisinnigen Verfassung voll und ganz erfüllte!

So konnte sich die Burschenschaft zunächst frei und ungehindert entwickeln, so konnte sie sich auf die andern Hochschulen verbreiten, so konnte schon zwei Jahre nach ihrer Gründung der Gedanke auftauchen, der erstrebten Einheit der gesammten Jugend der deutschen Hochschulen einen äußeren Ausdruck zu geben und so wenigstens an einem Punkte des deutschen Lebens die ideale Einheit zu verwirklichen. Es ist bekannt, daß das in dem vielberufenen und mit Unrecht verdächtigten großen Wartburgfeste, das von einem Zeitgenossen als „ein Silberblick deutscher Geschichte und als ein Blüthendurchbruch unserer Zeit“ bezeichnet wurde, geschah.

In der That war es ein Fest voll idealen und nationalen Schwunges, voll hingebender Begeisterung für das gemeinsame Vaterland, das hier auf der altehrwürdigen Burg gefeiert wurde. Mit voller Absicht hatte man gerade diesen Ort und gerade den 18. Oktober für die Feier ausgewählt. Erblickte man doch mit Recht in der Wartburg eine geheiligte Stätte großer nationaler Erinnerungen. Hatte doch hier dereinst zur Zeit der ersten Blüthe der deutschen Nationallitteratur der kunstsinnige Landgraf Hermann von Thüringen die Edelsten unld Besten der Dichter- und Sängerschar um sich vereinigt, hatte doch hier drei Jahrhunderte später der große Reformator eine Zufluchtsstätte gefunden, von dem die größte befreiende Geistesthat der neueren deutschen Geschichte ausgegangen ist. Hier wollten sich die Burschen der deutschen Hochschulen zusammenfinden, um die Erinnerung an jene befreiende Geistesthat feierlich zu begehen. Den 18. Oktober aber hatte man gewählt als Gedächtnißtag an die befreiende Völkerschlacht bei Leipzig, in der Deutschlands Stämme zum ersten Male seit langer Zeit zu einem großen Zweck vereinigt sich in deutlich ausgeprägtem Einheitsbewußtsein gefunden hatten.

So kamen sie denn in den Tagen vor dem 18. Oktober 1817 aus allen Theilen Deutschlands, besonders zahlreich natürlich aus demt nahe gelegenen Jena, zusammen, die frischen, begeisterten Burschen der deutschen Hochschulen, um ein echt vaterländisches Fest zu begehen. Metternich freilich und die von ihm beeinflußten reaktionären Regierungen, die jedes Streben nach nationaler Einigung mit finsterem Haß beobachteten, standen dem Feste voll Mißtrauen gegenüber; sie hatten eifrig versucht, den Großherzog Karl August zu einem Verbot desselben zu veranlassen.

Aber der hochherzige Fürst war weit entfernt davon, sich diesem Ansinnen zu fügen. Im Gegentheil, er gab nicht nur die erbetene Erlaubniß, er beauftragte die Behörden, der akademischen Jugend vertrauensvoll sämmtltche Räume der Wartburg zur Verfügung zu stellen, er ließ für das Festmahl seine Fischteiche öffnen und schenkte sogar zu dem geplanten Freudenfeuer Holz aus seinen Forsten und eine Summe Geldes zur Bestreitung der Kosten.

Und wahrlich, sie verdienten das Vertrauen, welches der edle Fürst ihnen schenkte! Das Fest verlief in voller Ordnung und durchaus würdig. Hochangesehene Lehrer der Jenenser Hochschule wie der Hofrath Fries und der große Naturforscher Oken waren mit herübergekommen, um an der Feier theilzunehmen. Der letztere hat in seiner Zeitschrift „Isis“ berichtet, daß alle Anwesenden durch das Erhebende und Großartige der Feier zu Thränen gerührt wurden. Am Morgen des 18. Oktober bewegte sich der stattliche Zug, die Studierenden der verschiedenen Hochschulen zu zwei und zwei ohne jede landsmannschaftliche Gliederung, von der Stadt hinauf zur allehrwürdigen Feste. Dort wurde im großen Wartburgsaale, nachdem die Versammelten den Choral „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ gesungen hatten, von dem mit dem Eisernen Kreuze geschmückten stud. theol. Riemann eine patriotische Festrede gehalten, die, voll vaterländischer Begeisterung, alle Anwesenden zu jubelndem Beifall hinriß. Darauf sprachen noch Oken und Fries anerkennende und ermunternde Worte zu der akademischen Jugend. Dann löste sich die Versammlung im Burghofe auf. Am Abend wurde auf dem der Wartburg gegenüberliegenden Wartenberge ein Freudenfeuer angezündet, um das sich die Festtheilnehmer in froher Jugendlust gruppirten. Hier war es dann, wo noch am späten Abend, nachdem die Jenenser Professoren und die Mitglieder des Festausschusses sich bereits entfernt haten, von einigen wenigen Festgenossen unter Führung des Berliner Studenten Maßmann in Erinnerung an die Verbrennung der päpstlichen Bannbulle durch Luther jenes von schäumendem Jugendübermuthe eingegebene Autodafé veranstaltet wurde, in welchem eine Reihe von politischen Schriften reaktionären Inhalts, darunter solche von Kotzebue, Schmalz und Kamptz, [532] ferner ein Schnürleib, ein „Pracht-, Prahl- und Patentzopf“ und ein großmächtiger Korporalstock verbrannt wurden. Dabei sangen die Burschen die Verse:

„Zuletzt nun rufet Pereat
Den schuft’gen Schmalzgesellen
Und drei Mal Pere-, Pereat,
So fahren sie zur Höllen!
Auf, auf, mein deutsches Vaterland,
Ihr Brüder, reichet Euch die Hand
Und schwört: So woll’n wir’s halten!“

Die ganze Scene hatte sich ohne Vorwissen des Festausschusses abgespielt. Sie war mehr die Eingebung jugendlicher Unbesonnenheit als ein Ausfluß revolutionärer Gesinnung. Mit dem großen Wartburgfeste, das in der Hauptsache vorüber war, hatte sie so gut wie nichts zu thun. Aber sie sollte für die Theilnehmer des Festes von verhängnißvoller Bedeutung werden, wenn auch die Folgen nicht unmittelbar zu Tage traten. Vor allem mußten sich die verhöhnten Verfasser der verbrannten Schriften beleidigt fühlen, und nur zu leicht gelang es, die dem patriotischen Streben der Jünglinge so wie so schon mißtrauisch gegenüberstehenden Regierungen davon zu überzeugen, daß, was das Werk weniger Unbesonnener gewesen war, kennzeichnend für das ganze Fest, für die ganze burschenschaftliche Bewegung sei. Der Grund oder vielmehr der Vorwand war gegeben, um diesen für ihr Vaterland mit überschäumender Begeisterung erfüllten Jünglingen aus ihrem patriotischen Bestreben den Vorwurf revolutionärer Gesinnung zu machen. Mit immer wachsendem Mißtrauen betrachtete namentlich Metternich das zunehmende Ansehen und die stetig fortschreitende Ausbreitung der Burschenschaft. Aber noch war es ihm nicht gelungen den preußischen Staat, der eben in der Zeit der Fremdherrschaft durch die großen inneren Reformen Steins und Hardenbergs den Grund zu einer neuen, freieren Entwicklung, auf der die Hoffnungen aller echten Vaterlandsfreunde beruhten, gelegt hatte, für seine rückschrittliche Politik und für seine feindseligen Absichten gegenüber der deutschen Burschenschaft zu gewinnen. Noch erhofften alle Vaterlandsfreunde von dem preußischen Staatskanzler, daß er für die Verwirklichung der von dem Könige seinem Volke verheißenen Verfassung kräftig Sorge tragen, dem nationalen Gedanken zum wenigsten nicht feindselig gegenübertreten werde. Die Verbindung der nationalen geistigen Bewegung mit den Machtmitteln des preußischen Staates schien sich in nächster Zeit vollziehen zu sollen.

Nach einem der „Arminia“ gehörigen Bilde.

Da wurde am 23. März 1819 der russische Staatsrat v. Kotzebue von dem unzweifelhaft mit der Burschenschaft in Verbindung stehenden Studenten Karl Ludwig Sand ermordet. Es war die verblendete, verhängnißvolle That eines einzelnen, eines von idealer Schwärmerei zu verirrtem Fanatismus gelangten Jünglings, der durch die Ermordung des verhaßten, als der russischen Spionage verdächtig angesehenen Vaterlandsfeindes eine heilige Pflicht gegen das Vaterland zu erfüllen meinte. Ohne alle Frage war die Mordtat, welche übrigens dem Ermordeten eine Bedeutung beilegte, die der nichtig oberflächliche Mann nie besessen hatte, ebenso unklug als sittlich verwerflich. Aber die Burschenschaft als solche hatte unzweifelhaft nicht das Mindeste damit zu thun. Nicht allein hatte Sand, ehe er die unselige That verübte, seinen Austritt aus der Burschenschaft erklärt, sondern die von ihm hinterlassenen Papiere lassen auch deutlich erkennen, daß er seinen Entschluß dem Freundeskreise nicht kundgegeben hatte. Nur etwa dem Führer einer radikalen Richtung innerhalb der Burschenschaft, der eine kleine Minderheit bildenden „Unbedingten“, dem Docenten Dr. Karl Follen, dessen Einfluß auf die Gesammtburschenschaft keineswegs ein hervorragender war, mag er andeutende Mittheilungen gemacht haben. Von einer weitverzweigten Mitwisserschaft oder gar Verschwörung kann jedenfalls keine Rede sein. Wohl aber wußte sich Metternich den Anschein zu geben, als glaube er an eine solche. Vielleicht ist er wirklich in seiner gespensterseherischen Furcht vor den „Umtrieben“ der Burschenschaft zu der jedenfalls verkehrten Ansicht von der Theilhaberschaft und Verantwortlichkeit der letzteren für die That gelangt. Sicher ist, daß er diese Gelegenheit benutzte, um die anderen deutschen Regierungen von der Gefährlichkeit der burschenschaftlichen Bestrebungen zu überzeugen.

Diesmal gelang es ihm zu seiner Freude auch bei Preußen. Friedrich Wilhelm III. befahl alsbald seinen Landeskindern, die Universität Jena zu verlassen, und ließ sich dann von Metternich durch die sogenannen Karlsbader Beschlüsse (August 1819) unseligen Angedenkens zu hervorragender Theilnahme an den verhängnisvollen Verfolgungen wegen „demagogischer Umtriebe“ verleiten, welche Jahre, ja Jahrzehnte lang das deutsche Volksleben vergifteten und zu Untersuchungen gegen die besten Männer des Volkes, einen Arndt und Jahn, führten. Die deutsche Burschenschaft aber wurde vier Jahre nach ihrer Gründung aufgehoben, die Theilnahme an burschenschaftlichen Bestrebungen mit schwerer Strafe, vor allem mit Ausschluß von jeder amtlichen Stellung in den deutschen Staaten bedroht. Es war der schwerste Schlag, der gegen den Bestand des nationalen Gedankens geführt werde konnte. Denn er vernichtete die Ansätze einer zweiten Annäherung zwischen der idealen Bewegung der Geister und dem Staate, auf dem die Zukunft des nationalen Gedankens beruhte. Aber voll erreicht wurde der Zweck der Maßregel doch nicht. Der nationale Gedanke ließ sich nicht mehr ertödten. Die Form der Burschenschaft wurde zerbrochen, aber mit Recht sangen die Burschen, als sie die gebotene Auflösung vollzogen, in ernster Wehmuth und doch in festem Vertrauen die Strophen des eben damals auftauchenden Binzerschen Liedes:

„Das Band ist zerschnitten,
War schwarz, roth und gold,
Und Gott hat es gelitten,
Wer weiß, was er gewollt.

Das Haus mag zerfallen,
Was hat’s denn für Noth?
Der Geist lebt in uns allen,
Und unsre Burg ist Gott!“

Der Geist, der die Burschenschaft beseelt hatte, lebte in der That in ihren Mitgliedern fort, und auch als eigentliche Vereinigung that sich die Burschenschaft bald wieder, wenn auch im geheimen, auf.

Wir Nachlebende, die wir uns der Segnungen des geeinigten Vaterlandes erfreuen, können uns kaum noch in die Zeit zurückversetzen, da es wie in dem auf die Karlsbader Beschlüsse folgenden Jahrzehnt für Hochverrath galt, von einem einigen deutschen Vaterlande zu reden. Wie viele haben nicht gleich Fritz Reuter ihr nationales Streben mit jahrelanger Festungshaft oder mit Auswanderung in die Fremde büßen müssen, von den Benachtheiligungen in der amtlichen Laufbahn ganz zu schweigen! Um so mehr aber ziemt es uns Nachlebenden, jenen für ihr Ideal begeisterten Jünglinge und Männern ein ehrendes Andenken zu wahren, die auch in dieser trüben Zeit den nationalen [533] Gedanken gehegt und gepflegt und daran gearbeitet haben, ihn im deutschen Volke zu bewahren und zu verbreiten, ja die trotz aller herben Enttäuschungen, die ihnen der preußische Staat breitet hatte, an dem nationalen Berufe desselben doch nicht irre wurden, sondern in ihrer Mehrzahl eine Einigung Deutschlands unter preußischer Spitze anstrebten. Die tüchtigsten Elemente der erbkaiserlichen Partei der Paulskirche sind aus der Burschenschaft hervorgegangen.

Aber bekanntlich brachte auch das trotz aller Irrthümer doch in seinem Streben und in seinen Idealen große Jahr 1848 der nationalen Bewegung noch nicht den starken Rückhalt der politischen Machtmittel des preußischen Staates. Ja auch noch nach der Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. trat noch einmal, zum dritten Male jener tragische Zug unserer nationalen Entwickelung, das unverstandene Nebeneinander, ja das schroffe Gegeneinander der beiden Grundelemente der staatlichen Einigung zu Tage. Der große Staatsmann, der berufen war, den nationalen Gedanken, das Ideal der alten Burschenschaft, zu verwirklichen, Bismarck, stand am Anfange seiner Laufbahn, als hochkonservativer Junker verschrieen und verketzert, im schroffen Gegensatz zu der jetzt nicht mehr von der Burschenschaft allein getragenen nationalen Bewegung. Es ist schon wiederholt ausgesprochen worden, daß in der Geschichte fast jede neue große Idee erst dann zu voller Durchführung gelangt, wenn sich ein anfänglicher Gegner derselben an die Spitze ihrer Anhänger stellt, die erst von ihm bekämpfte Idee schließlich zu der seinigen macht und sie für seine Zwecke verwerthet. So war es auch hier. Bei dem tiefgewurzelten Mißtrauen der Staatsregierungen gegen die Vertreter der liberalen Idee wäre diese sicher nicht so schnell und leicht zur Durchführung gekommen, wenn sich nicht ein konservativer Mann gefunden hätte, welcher ihre unschätzbare Bedeutung erkannt hätte. In dem seit lange und noch heute lebhaft geführten Streite, ob die deutsche Einheit durch die thatkräftige Genialität des einen Mannes oder durch die nationale und liberale Bewegung im Volke herbeigeführt worden ist, haben wieder einmal wie so oft beide Parteien recht und beide Parteien unrecht. Wie weder die Burschenschaft noch die von ihr vertretene Idee allein die Einheit Deutschlands je begründet haben würde, ebenso wenig würde dazu der starke Wille eines einzelnen, wenn auch noch so genialen Staatsmannes ausgereicht haben, wenn ihm nicht durch jene ideale Bewegung der Geister der Boden geebnet worden wäre. Und darum gebührt, ebenso wie dem großen Staatsmanne, jenen Männern Dank und verehrungsvolle Anerkennung, die in trüber Zeit mit unentwegtem Sinn auf das Ziel wiesen, welches wir heute erreicht haben.

August von Binzer.
Nach einem der „Arminia“ gehörigen Bilde.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch nicht schwer, die Frage zu beantworten, welche seit der Gründung des Deutschen Reiches so oft aufgeworfen worden ist, die Frage, welches denn jetzt die Aufgabe der deutschen Burschenschaft sei, nachdem das vornehmste Ziel, welches sie sich bei ihrer Gründung gesteckt hatte, wenn auch in anderer Form, als sie es geahnt hat, erreicht sei. Es hat nicht an Stimmen gefehlt, welche der Burschenschaft anriethen, jetzt, nachdem ihr Zweck erreicht sei, sich freiwillig aufzulösen, da ihr weiteres Bestehen eben zwecklos sei. Es will uns das ungefähr ebenso vorkommen, als wenn man einer Armee, die soeben einen großen Sieg erfochten, einen vollen Erfolg errungen hat, als wenn man etwa der deutschen Armee nach dem Siege von Sedan hätte zurufen wollen: du hast deinen Zweck erreicht, dein Gegner ist besiegt, nun lege die Waffen nieder und löse dich auf! Die einfache Folge wäre gewesen, daß die Franzosen den eben errungenen deutschen Sieg wieder rückgängig gemacht hätten.

Nein! Galt es früher, den nationalen Gedanken zu erwecken, die Mitglieder der Burschenschaft zur Mitarbeit an seiner Verwirklichung zu erziehen, so gilt es jetzt, das unter schweren Kämpfen Errungene zu bewahren! Die Aufgabe, ein erworbenes Gut zu bewahren, ist ebenso schwierig, ebenso wichtig als die, das Gut zu erwerben.

„Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.“

Ist es denn so ganz ausgeschlossen, daß der mühsam errungenen nationalen Einheit dereinst in neuen auswärtigen und inneren Erschütterungen neue Gefahren drohen? Ist es da nicht von der höchsten Bedeutung, die deutsche Jugend, auf der die Zukunft des Vaterlandes beruht, mit jener bewußten nationalen Gesinnung und Begeisterung zu erfüllen, die sie, wenn sie ins Leben eintritt, befähigt, alle ihre Kräfte zum Dienste des gemeinsamen Vaterlandes zu verwerthen? Wie wir die Hauptbedeutung der alten Burschenschaft eben in ihrer erziehlichen Wirksamkeit gesehen haben, so sehen wir die Aufgabe der jetzigen Burschenschaft darin, ihre Mitglieder zu echt nationalgesinnten Männern zu erziehen, die, gleichgültig, welcher bestimmten Parteirichtung sie sich dereinst anschließen wollen, gewillt und befähigt sind, alle persönlichen und Parteiinteressen dem Wohle des Ganzen unterzuordnen, dafür zu sorgen, daß dem Volke inmitten des Widerstreites der Parteien das köstlichste Gut nicht verloren gehe, welches ein Volk besitzen kann: die Freude am Vaterlande!

In dieser Gesinnung mögen die alten und jungen Burschenschafter in Jena das Erinnerungsfest an große, kämpfereiche Tage der Vergangenheit begehen; in diesem Sinne mögen sie sich an den Kämpfen der Vergangenheit begeistern für die hohen nationalen Aufgaben, welche dem gegenwärtigen Staate gebieterisch gestellt sind. In dieser Hoffnung rufen wir ihnen ein herzliches „Glück auf“ zu ihrem Jubelfeste zu. [1]




Madonna im Rosenhag.

Roman von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)


Mit Zagen setzte Cilly eine Viertelstunde später die Pförtnerglocke des vornehm dreinschauenden Hauses in Bewegung, dessen erstes Stockwerk Wolfgang Brenckendorf bewohnte. Die bequeme Treppe konnte unmöglich die Schuld an dem ungestümen Herzklopfen tragen, welches die junge Dame beim Emporsteigen befiel, und als sie schon an der Schwelle der Eingangsthür stand, war es deutlich auf ihrem hübschen Gesicht zu lesen, wie hart sie gegen die Versuchung, noch jetzt umzukehren kämpfen mußte. Aber sie wußte ihre Beklommenheit tapfer zu überwinden, und mit ziemlich fester Stimme äußerte sie dem Diener, welcher ihr die Thür des großen Wartezimmers geöffnet hatte, ihren Wunsch, sogleich bei seinem Herrn gemeldet zu werden.

„Herr Brenckendorf ist leider augenblicklich beschäftigt,“ gab der Mann höflich zur Antwort, und ich bin streng angewiesen, mich bei der Anmeldung der Herrschaften genau an die Reihenfolge ihres Erscheinens zu halten. Wollen Sie die Güte haben, einstweilen Platz zu nehmen?“

Das klang nicht sehr ermuthigend, und der Gedanke, daß sie hier vielleicht Viertelstunden lang im Wartezimmer sich langweilen sollte, hatte für die verwöhnte Cilly etwas geradezu Empörendes. Sie sah sich um und gewahrte in einer Ecke des Gemaches einen [534] bescheiden aussehenden älteren Mann, der seiner ganzen Erscheinung nach wohl für einen Werkführer aus einer Fabrik oder für einen kleinen Handwerksmeister zu halten war. Vielleicht würde Wolfgang gar daran denken, auch diesen noch vor ihr abzufertigen! Aber es war unmöglich, daß sie das geschehen ließ!

Sie entnahm ihrem zierlichen Täschchen eine Karte und reichte sie dem Diener.

„Sagen Sie Herrn Brenckendorf, daß ich ihn nicht als Patientin, sondern in einer wichtigen und unaufschiebbaren Privatangelegenheit zu sprechen wünsche. Er wird dann gewiß eine Möglichkeit finden, mich sofort zu empfangen.“

Der Mann entfernte sich mit einer artigen Verbeugung, und wenige Minuten später trat Wolfgang wirklich auf die Schwelle.

„Guten Tag, verehrte Cousine!“ sagte er in französischer Sprache, nachdem er sich mit raschem Blick überzeugt hatte, daß sie nicht allein waren. „Sie wünschen mich auf der Stelle zu sprechen? Ist etwas so Ungewöhnliches geschehen?“

Jetzt, wo sie ihm Auge in Auge gegenüberstand, fühlte sich Cilly doch sehr verlegen. Sie fand es im Grunde sehr unartig, daß ihm die einfache Thatsache ihrer Anwesenheit nicht Veranlassung genug war, sich ihr ohne weiteres zur Verfügung zu stellen, aber sie suchte vergebens nach einer Erwiderung, welche geeignet war, ihn dies fühlen zu lassen.

„Etwas Ungewöhnliches? – Nein!“ brachte sie nur in sichtlicher Verwirrung hervor. „Aber ich glaubte dennoch – mein Besuch – der Zweck meines Kommens – es handelt sich natürlich nicht um mich, sondern um Marie – um Ihre Schwester, Wolfgang.“

„Um Marie? – Ist sie krank – oder droht ihr eine Gefahr?“

„Krank ist sie nicht, wie ich hoffe! Aber eine Gefahr droht ihr allerdings, eine große, schreckliche Gefahr! – Sie haben vielleicht keine Zeit, die Ankündigungen der Theater in den Tageblättern zu lesen –“

Ein kleines gutmüthiges Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

„Ist es das? Und darum sind Sie zu mir gekommen, liebe Cousine? – Nun wohl, solche Selbstverleugnung macht Ihrem Herzen wahrhaftig alle Ehre, und ich danke Ihnen aufrichtig dafür. Aber die eiserne Ordnung meiner Sprechstunden darf ich darum nicht durchbrechen. Werden Sie großmüthig genug sein, eine Viertelstunde auf mich zu warten?“

Wehe demjenigen, der Cilly noch vor einer Stunde prophezeit hätte, daß sie auf eine so unerhörte Zumuthung eingehen würde! Und wirklich war ihre erste Regung auch jetzt ein Verlangen, ihm ohne ein Wort der Erwiderung, nur mit einem niederschmetternden Blick, den Rücken zu kehren. Doch als sie das Gesicht zu ihm erhob, wollte ihr der niederschmetternde Blick durchaus nicht gelingen. Und zu ihrem eigenen Verdruß klang es kaum ein wenig schmollend, als sie nach kurzem Zaudern sagte:

„Können Sie mir denn nicht wenigstens den Mann da drüben opfern? Er sieht gar nicht aus, als ob er Ihnen Schätze einbringen würde.“

Obwohl der, von dem sie sprach, die Laute der fremden Sprache sicherlich nicht verstand, neigte sich Wolfgang doch näher an Cillys Ohr, während er ihr flüsternd antwortete:

„Gerade deshalb darf ich mich keiner Rücksichtslosigkeit gegen ihn schuldig machen, denn er würde eine Vernachlässigung naturgemäß viel schmerzlicher empfinden als die anderen. Aber ich habe auch noch andere Gründe, liebe Cousine, denen Sie Ihre Beistimmung gewiß nicht versagen werden. Dieser arme Mann kommt, um mich wegen seines leidenden Kindes zu befragen, seine Wohnung ist eine gute halbe Meile von der meinigen entfernt, und er muß die ganze Mittagspause, die ihm in der Fabrik gewährt wird, seinem Kinde zum Opfer bringen. Wollen Sie da noch immer, daß ich ihn ohne Noth Viertelstunden lang hier im Vorzimmer warten lasse?“

„Nein!“ sagte Cilly mit Bestimmtheit. „Kümmern Sie sich nicht weiter um mich und vergeben Sie mir, daß ich so kindisch ungeduldig war, Sie abrufen zu lassen.“

Wolfgang antwortete ihr nur mit einem freundlichen Blick und kehrte in sein Operationszimmer zurück, dem Arbeiter im Vorübergehen ein paar warm klingende Worte zurufend. Cilly hatte sich auf einen Stuhl ganz in der Nähe ihres schlichten Gesellschafters niedergelassen. Der Mann mit dem ehrlichen, viel durchfurchten Gesicht und den derben, schwieligen Händen war ihr plötzlich ein Gegenstand ganz besonderer Theilnahme geworden, und nachdem sie ihn eine kleine Weile schweigend betrachtet hatte, überwand sie ihre mädchenhafte Befangenheit sogar so weit, ein Gespräch mit ihm zu beginnen.

„Sie haben ein krankes Kind?“ fragte sie, „das sich in Herrn von – in Herrn Brenckendorfs Behandlung befindet?“

Ohne besondere Ueberraschung blickte der Angeredete auf und ergriff mit Lebhaftigkeit die Gelegenheit, seinem Herzen Luft zu machen.

„Ja, so ist es!“ erklärte er, „und mein August läge längst auf dem Kirchhof, wenn der ihm nicht geholfen hätte.“

In einiger Verwunderung schüttelte Cilly den Kopf. Ihr Vetter war doch nur ein Zahnarzt, und sie hatte noch nie gehört, daß ein solcher durch seine Kunst Menschenleben gerettet hätte. Mit theilnehmender Freundlichkeit erkundigte sie sich nach dem Leiden des kleinen August, und nun vernahm sie in breitester Ausführlichkeit, daß das Kind durch ein schweres Knochenleiden im Unterkiefer am Essen gehindert und dem Hungertode nahe gewesen sei, als Brenckendorf es allen hoffnungslosen Prophezeiungen berühmter Aerzte zum Trotz durch einen sinnreichen Apparat seiner eigenen Erfindung gerettet habe.

„Ach, Fräulein, das ist ein Mann!“ sagte er, und die Thränen der Dankbarkeit schimmerten hell in seinen Augen. „Fürsten und Prinzen müssen zu ihm kommen; bei uns armen Leuten aber, draußen in der Sandstraße, ist er wohl zwanzig Mal gewesen, und er hat es niemals eilig gehabt wie die anderen Aerzte, die am liebsten die Thürklinke gleich in der Hand behalten. Ach, und wenn er so dasaß und sich mit unserem August zu schaffen machte, immer liebevoll, immer geduldig, wie ungebärdig und starrköpfig sich der auch in seinen Schmerzen anstellen mochte, dann hat er uns oft im Stillen beschämt, mich und meine Alte, die wir als des Jungen leibliche Eltern viel weniger sanft und geduldig mit ihm gewesen waren. Und wie sein Gesicht glänzte, als August zum ersten Mal wieder ’was Festes essen konnte – ich sage Ihnen, Fräulein, die Hände hätten wir ihm küssen mögen! Ja, das ist ein Mann!“

Dem Töchterchen des Generals klopfte das Herz noch ungestümer als vorhin auf der Stiege. Sie fühlte sich glücklich und beschämt, als hätten die Lobpreisungen dieses einfachen Mannes ihr selber gegolten. Ja, wenn ein Zahnarzt solche Wunder verrichten konnte, dann hatte sie am Ende doch eine unzutreffende Vorstellung von seinem Beruf gehabt, und es kam ihr mit einem Male gar nicht mehr lächerlich vor, zu denken, daß ein Brenckendorf den Leuten falsche Gebisse machte.

Der Arbeiter wurde durch den Diener in das Sprechzimmer gerufen, und eine geraume Weile verging, ehe er dasselbe wieder verließ. Dann führte Wolfgang selbst seine junge Verwandte in das Gemach, das sie von ihrem ersten unfreiwilligen Besuche her noch so gut kannte. Er wollte sich noch einmal entschuldigen, aber durch eine bittende Gebärde brachte sie ihn schon nach den ersten Worten zum Schweigen.

„Nichts mehr davon, Vetter Wolfgang, wenn Sie mich nicht aufs neue in Verlegenheit bringen wollen. Es wäre ja geradezu unverzeihlich gewesen, wenn Sie vorhin meinem thörichten Verlangen nachgegeben hätten.“

Ritterlich artig, doch ohne jede unpassende Vertraulichkeit lud er sie zum Niedersitzen ein, und der feine Takt, mit welchem er sich gegen sie benahm, machte ihr das Vorbringen ihres Anliegens viel leichter, als sie selbst es vorher zu hoffen gewagt hatte.

Mit ernster Miene hörte er ihr zu, als sie ihm wiederholte, was vorhin schon Lothar aus ihrem Munde vernommen hatte. Sie wollte Marie sprechen um jeden Preis, sowohl um sich das Herz der Freundin zurückzugewinnen, als auch, um sie noch in der letzten Stunde ihrem Vorhaben eines öffentlichen Auftretens abwendig zu machen.

„Und warum sollte sie nicht öffentlich auftreten?“ fragte Wolfgang, da Cilly geendet hatte. „Nur durch eine solche Feuerprobe kann sie darüber belehrt werden, ob sie wirklich Talent zur Schauspielerin besitzt oder nicht.“

„Sie würden also am Ende gar nichts Außerordentliches darin finden, wenn Marie eine berufsmäßige Schauspielerin würde?“

„Ganz und gar nicht – sofern sie nur die genügende Begabung dazu besitzt. Ja, ich muß bekennen, daß ihr Entschluß mich mit der lebhaftesten Freude erfüllt hat.“

[535] „Mit der lebhaftesten Freude? – Ach, das ist unmöglich!“

„Gewiß! Das Leben unter dem Theatervölkchen, und wäre es auch nur von kurzer Dauer, ist sicherlich besser als irgend eine andere Schule dazu angethan, mein Schwesterchen von allem aristokratischen Hochmuth und von allen Brenckendorfschen Vorurtheilen gründlich zu befreien. Da hat man seinen eigenen Stolz und schaut mit dem Lächeln mitleidiger Ueberlegenheit auf alle die kleinen Sterblichen herab, die da meinen, sich auf ihre Geburt, auf ihren Reichthum oder auf ihre Gelehrsamkeit etwas einbilden zu können. Und gerade, weil in der eigenthümlichen Selbstüberschätzung dieses Standes etwas so ungeheuer Lächerliches liegt, wird Marie – wie ich von ihrem klaren Blick und von ihrem offenen Sinn mit Sicherheit erwarte – endlich das rechte Verständniß für die Lächerlichkeit jeglichen Hochmuths, er nenne sich nun Künstlerstolz oder Standesbewußtsein, gewinnen.“

Cilly schaute vor sich nieder. Sie fühlte sich getroffen; aber sie war doch nicht beleidigt, und es drängte sich ihr nicht wie sonst eine trotzig spöttische Erwiderung auf die Lippen.

„So halten Sie gewiß auch mich für recht hochmüthig?“ fragte sie plötzlich, die dunkeln Augen zu Wolfgang erhebend. Er lächelte ein wenig und zuckte mit den Achseln.

„Unsere neuerliche Bekanntschaft ist eine so flüchtige geblieben, verehrte Cousine, daß ich mich jedes Urtheils enthalten möchte. Und überdies – was kann Ihnen daran gelegen sein?“

„Das ist deutlich!“ meinte sie, indem sie sich erhob. „Aber vielleicht thun Sie mir dennoch ein wenig unrecht. Man braucht wohl nicht nothwendig erst unter die Schauspieler zu gehen, um sich von seinen Vorurtheilen heilen zu lassen. – Doch – um den eigentlichen Zweck meines Hierseins nicht zu vergessen – Sie werden sich also bei Marie für mich verwenden?“

„Ich werde es versuchen! Aber wenn die ablehnende Haltung meiner Schwester, wie ich vermuthe, nicht so sehr aus Groll und Mißachtung als aus dem Wunsche entspringt, nicht Unfrieden zu stiften zwischen Ihnen und Ihren Angehörigen, so werden meine Bemühungen wahrscheinlich von geringem Erfolge sein.“

Cilly warf den Kopf zurück und schürzte die frischen Lippen.

„Sagen Sie ihr in diesem Falle, das sei eine überflüssige Sorge! Meine Angehörigen werden inzwischen längst erfahren haben, wie wenig ich ihr Verhalten gegen Marie gutheiße. Sie werden mir also schreiben, nicht wahr?“

„Wie Sie es befehlen, verehrte Cousine!“

Sie machte eine kleine Bewegung, als ob sie ihm zum Abschied die Hand reichen wollte, da er sich aber gar so förmlich verbeugte, zog sie dieselbe wieder zurück und that ein paar Schritte nach der Thür. Doch auf dem halben Wege blieb sie wieder stehen:

„Warum nennen Sie mich denn immer ‚verehrte Cousine‘, und nicht einfach ‚Cilly‘? Sind Sie mir noch böse von – nun, von neulich her? Kann ein Mann wirklich so nachtragend sein?“

„Aber ich denke gar nicht daran, Ihnen böse zu sein,“ versicherte Wolfgang aufrichtig. „Meine Bemerkungen über einen Ihrer besten Freunde mußten Sie ja in der That reizen.“

Sie wandte das Köpfchen mit einer raschen Bewegung, als ob sie ihm hastig erwidern wollte, daß Prinz Lamoral längst aufgehört habe, einer ihrer besten Freunde zu sein. Aber jene unerklärliche Scheu, deren sie noch immer nicht ganz Herrin geworden war, mochte sie im letzten Augenblick daran hindern, es auszusprechen. Ihren Blick auf ein kleines, an keineswegs auffälliger Stelle befindliches Wandbrett heftend, sagte sie vielmehr ganz unvermittelt: „Was für ein merkwürdiges Buch haben Sie da? – Ist es erlaubt, es auzusehen?“

Er hatte den bezeichneten Gegenstand von seinem Platze genommen und vor sie hin auf den Tisch gelegt.

„Ein Album für Photographien,“ sagte er, „die Erinnerungsgabe eines amerikanischen Freundes.“

Dies Album hatte in der That sicherlich nicht seinesgleichen; denn der obere Deckel bestand in der Hauptsache aus einem Stück gewöhnlichen, an der Oberfläche fast verkohlten Holzes. Aber er war von einer prächtig gearbeiteten Umrahmung aus massivem Golde umgeben und trug in seiner Mitte einen Lorbeerkranz aus demselben kostbaren Stoffe.

„Wie sonderbar!“ meinte Cilly kopfschüttelnd. „Knüpft sich an dies halb verbrannte Holz etwa eine eigene Geschichte?“

„Es stammt aus den Trümmern des ‚Grand Hotel‘ in Chicago, das vor etwa Jahresfrist ein Raub der Flammen wurde. Die Tochter meines Freundes und ich, wir waren zufällig die letzten, welche das brennende Gebäude lebend verließen. Zum Gedächtniß an diese Fügung überraschte der Vater mich mit dem eigenartigen Geschenk.“

Er schien willens, das Buch nach dieser Erklärung wieder an seinen Platz zu bringen; doch Cilly legte in demselben Augenblick ihre Hand darauf und öffnete den Deckel.

Da stand auf dem ersten weißen Blatte in den festen Zügen einer Manneshandschrift in englischer Sprache:

„Dem todesmuthigen Lebensretter meines einzigen Kindes als ein winziges Zeichen meiner unauslöschlichen Dankbarkeit
 Norbert Stanhope.“

Darum also waren Sie ‚zufällig der letzte‘, welcher das brennende Gebäude verließ?“ fragte Cilly, und in dem Blick, welcher Wolfgangs Antlitz traf, war ein Leuchten freudigen Stolzes. „Sie wissen Ihre Großthaten sehr bescheiden zu umschreiben, Vetter Wolfgang.“

„Es war wirklich nicht so weit her mit dieser Großthat,“ erwiderte er treuherzig, während seine Wangen sich höher rötheten. „Aus einem sehr gesunden Schlafe erwachend, sah ich mich in jener Nacht von undurchdringlichen Rauchmassen umgeben und fühlte mich dem Erstickungstode so bedenklich nahe, daß ich ohne viel Zaudern und Ueberlegen nach dem nächsten rettenden Ausgang suchte. Aber es ist schon unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht ganz leicht, sich in einem amerikanischen Riesenhotel zurechtzufinden, um wie viel weniger, wenn dies Hotel an allen vier Ecken bis zum Dach hinauf in Flammen steht. So gerieth ich denn sehr gegen meinen Willen statt in das Treppenhaus in ein Gemach, auf dessen Fußteppich ich eine anscheinend leblos hingestreckte weiße Gestalt erblickte. Hätte ich sie nun etwa da liegen lassen sollen? Ich denke, es giebt keinen Menschen in der ganzen Welt, der damals etwas anderes gethan hätte als ich, indem ich die leichte, weiße Gestalt in meine Arme nahm und sie gleichzeitig mit mir selber zu retten suchte. Sie sehen also, daß ich mich keineswegs wie die Helden in den Jugendschriften todesverachtend in Rauch und Flammen gestürzt habe, um ein Menschenleben dem Tode zu entreißen, sondern daß die Sache sich ganz einfach und natürlich zugetragen hat.“

„Und Herr Norbert Stanhope – ist es etwa jener sogenannte Bonanzakönig, von dem man öfters in den Zeitungen liest?“

„Allerdings, es ist derselbe.“

„Sie müssen sehr auserlesene Freundschaften gehabt haben jenseit des Oceans!“

„Mr. Stanhope wurde mein Freund erst infolge jenes nächtlichen Abenteuers; denn bis dahin hatte er wohl kaum etwas von meinem Dasein geahnt. Ich lag noch an meinen Brandwunden im Krankenhause danieder, als mir dies Album überreicht wurde. Es enthält fünfzig Blätter und auf jedem Blatte lag eine Tausenddollarnote; Mr. Stanhope hatte mich fürstlich belohnen wollen. Nun, ich machte ihm natürlich nach meiner Wiederherstellung einen Besuch, um mich für das Album zu bedanken und das Geld zurückzugeben. Und was mich sogleich zu dem viel verkannten Manne hinzog, war der feine Takt, mit welchem er es ohne weiteres annahm und sich wegen seines Mißgriffs entschuldigte. Auch er mochte Gefallen an mir finden, und so geschah es denn, daß ich bald ein täglicher Gast seines Hauses wurde und mir allgemach sogar das Recht erwarb, mich Mr. Norbert Stallhopes Freund zu nennen.“

Cilly hatte das Widmungsblatt umgeschlagen. Vor ihr lag die meisterlich ausgeführte Photographie einer jungen Dame von großer Schönheit.

„Ah,“ sagte sie mit einem Ausdruck lebhaftester Ueberraschung, „ist dies das Mädchen, dem Sie das Leben retteten?“

„Ja, liebe Cousine, Miß Viktoria Stanhope.“

„Und da der Vater Ihr Freund ist, werden Sie sie natürlich heirathen!“

Mit einer merkwürdigen, anscheinend durch nichts begründeten Heftigkeit hatte sie diese Worte hervorgestoßen. Wolfgang aber schüttelte mit einem gedankenvollen Blick auf das Bildniß der schönen Amerikanerin den Kopf.

„Nein, das werde ich nicht,“ sagte er, „wenn ich auch nicht leugnen will, daß ich mich eine Zeit lang recht ernstlich mit dieser Hoffnung getragen habe; denn Miß Viktoria ist ebenso gut und liebenswürdig, als sie anmuthig ist.“

[536] „Nun, und dieses Muster aller weiblichen Tugenden hat Ihnen doch nicht etwa einen Korb gegeben?“

„Ich ließ es nicht dazu kommen, weil ich vernünftig genug war, einzusehen, daß die Tochter des unermeßlich reichen Bonanzakönigs nicht die für mich geeignete Gattin sei. Eine nach Millionen bemessene Mitgift würde ich niemals angenommen haben und aus meinen eigenen Mitteln hätte ich ihr nicht die Fortdauer jener Freuden und Genüsse des Lebens gewähren können, an welche sie so sehr gewöhnt worden war, daß sie nur mit dem Bewußtsein, ein Opfer zu bringen, darauf hätte verzichten können.“

„Und Sie thaten unzweifelhaft sehr recht daran, solchen Erwägungen Gehör zu schenken,“ versicherte Cilly mit drolliger Altklugheit und zugleich mit einem etwas verdächtigen Eifer. „Ein Arzt muß eine Gattin haben, welche Verständniß besitzt für seinen schweren Beruf, – eine Frau, welche voll Theilnahme ist für seine Kranken, wenigstens für die armen und unglücklichen unter ihnen.“

„Aber, theuerste Cousine, ich bin ja gar kein Arzt,“ fiel ihr Wolfgang mit einem Anflug gutmüthigen Spottes, hinter welchem sich seine Bewegung indessen nur noch mühsam verbarg, in die Rede, „und unter den Leuten, welche zu mir kommen, um sich falsche Gebisse anfertigen zu lassen, pflegen nur sehr selten Arme und Unglückliche zu sein. Meine zukünftige Gattin, da wir doch nun einmal von dieser sehr nebelhaften Persönlichkeit reden, wird nach dieser Richtung hin leider wenig Gelegenheit zur Bethätigung ihrer Theilnahme finden.“

„Warum bemühen Sie sich so angelegentlich, Ihre guten Seiten vor mir zu verbergen? Ich weiß, daß Sie nicht bloß Geheimräte und Banquiersfrauen behandeln, denen man ellenlange Rechnungen machen kann, sondern daß Sie auch edlere Dinge thun. Haben Sie denn den kleinen August vergessen, den Sie durch Ihre ärztliche Kunst am Leben erhalten haben?“

„Ums Himmelswillen, wie kommen Sie zu dieser unheimlichen Wissenschaft? Der gute Meister Krause hat doch nicht etwa draußen im Vorzimmer geplaudert?“

„Er hat mir nichts Schlechtes von Ihnen erzählt, Vetter Wolfgang!“

„Dafür bin ich ihm allerdings sehr verbunden; aber ich werde mir’s doch entschieden ausbitten, daß er künftig den Mund halte. Der Himmel bewahre mich vor der Kundschaft, die mir dadurch ins Haus gelockt werden könnte! – Nein, mein verehrtes Fräulein Base, nicht das ist es, was ich von meiner künftigen Gattin hoffe und erwarte! Aber soll ich Ihnen einmal ein Bild von meinem Ideal entwerfen?“

„O bitte! Da bin ich außerordentlich gespannt!“

„Nun wohl! – Erstens: sie muß hübsch sein! Das ist zwar nicht die Hauptsache, aber doch unerläßlich!“

„Naturlich! Wer würde Ihnen auch zumuthen, eine Häßliche zu heirathen! Wahrscheinlich schwärmen Sie für zarte Blondinen vom Schlage der Miß Viktoria Stanhope,“

„Nicht unbedingt! Um die Haarfarbe werde ich mich sicherlich wenig kümmern, wenn sie nur zu allem Uebrigen stimmt. Aber die inneren Eigenschaften – da fangen die Schwierigkeiten an.“

„Nun? Ich bin wirklich sehr neugierig. Was verlangen Sie also von Ihrer idealen Frau?“

„Sie muß liebenswürdig sein im eigentlichen Sinne des Wortes, das heißt, nicht bloß unter dem Einfluß irgend einer angenehmen Stimmung oder in der Gesellschaft fremder Leute, sondern auch in der Abgeschlossenheit ihrer vier Wände und inmitten jener kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens, die so leicht dazu verführen, unliebenswürdig zu werden. Und sie muß heiter sein, von jener echten Herzensheiterkeit, die wie heller Sonnenschein über ihre ganze Umgebung hinstrahlt, auch die unvermeidlichen trüben Stunden freundlich durchleuchtend und keinen häßlichen Schatten duldend in ihrer eigenen Seele wie auf den Stirnen derer, welche sie liebt. Weiter verlange ich nichts, denn wer liebenswürdig und heiter ist, der ist auch gut und wahrhaftig. Ueber kleine Fehler und Unarten wollte ich daneben herzlich gern hinwegsehen; denn ich halte mich eben auch nicht für ein Muster aller menschlichen Vollkommenheit. Sie dürfte gelegentlich ein wenig kratzen, wenn ihr zu wenig oder zu viel geschehen ist, dürfte mich mit den dunkeln – oder meinetwegen auch himmelblauen – Augen anfunkeln wie ein sprungbereites Kätzchen, wenn diese Augen nur wieder nachher in verdoppelter Liebe und Zärtlichkeit aufleuchten können. Sie dürfte –“

Abwehrend erhob Cilly die Hand.

„Halten Sie ein!“ sagte sie, und es klang um so trauriger, weil es scherzhaft klingen sollte. „Ich will nicht in Ihre Herzensgeheimnisse eindringen, und Sie sind im Begriff, mir eines zu verrathen. So schildert man kein Ideal, sondern ein leibhaftiges Wesen, das man bereits kennt und liebt! – Es ist spät geworden – adieu, Herr Vetter!“

Diesmal gab sie ihm nun wirklich die Hand; aber er hielt diese schmale, feingeformte Hand in der seinigen gefangen wie ein scheues Vögelchen.

„Wollen Sie das Bild jenes leibhaftigen Wesens sehen, nach welchem ich mir mein Ideal gestaltet habe, jenes Ideal, das mich zweimal über den Ocean begleitete, und das doch wohl schließlich allein die Schuld trug an meinem Verzicht auf eine Werbung um Miß Viktorias Liebe?“

Cilly wollte verneinen, aber schon hatte Wolfgang, ohne ihre Hand freizugeben, das Blatt mit dem Bilde der Amerikanerin umgeschlagen. Sie schaute nur ein ganz klein wenig von der Seite nach dem Album hin; dann aber stieß sie einen allerliebsten Schrei aus, riß sich los und flüchtete ein paar Schritte in das Zimmer hinein. Was sie da gesehen hatte, war ihr eigenes Bild, ein Kinderbild aus der Zeit, da sie einen Sommer hindurch mit ihren Brüdern bei dem Oheim von Brenckendorf auf Besuch gewesen war.

„Nein, das ist häßlich, Wolfgang,“ rief sie, „einen so garstigen Scherz verzeihe ich Dir nie!“

Es geschah wohl nur in der so überraschend geweckten Erinnerung an die Kinderzeit, daß sie ihn plötzlich duzte; jedenfalls funkelten ihre Augen jetzt ganz so, wie es Wolfgang vorhin seinem Ideal in Ausnahmefällen gestattet hatte.

„Aber es ist durchaus kein Scherz, verehrte Cousine! Dies liebe, reizende, kratzige Kind aus meiner Jugenderinnerung und Sie, die Tochter des kommandierenden Generals – die holdselige Knospe und die voll erblühte, von gräflichen und prinzlichen Schmetterlingen umflatterte Rose – ich denke ja gar nicht daran, sie mit einander zu verwechseln. Wir sprachen eben nur von meinem Ideal, und ich wollte Ihnen das irdische Vorbild zu demselben zeigen.“

„So? Also heute habe ich keine Aehnlichkeit mehr mit dem lieben, reizenden Kinde?“

„Zuweilen nur zu große! Ich möchte mitunter die Augen schließen, Cilly, um diese Aehnlichkeit nicht zu sehen.“

Das klang nicht mehr wie Spott, und so war es denn wohl auch etwas anderes als Zorn, was Cillys Wangen plötzlich mit so tiefem Roth überhauchte, Als ein Bild der lieblichsten Verwirrung stand sie mitten im Zimmer, und nachdem es wohl eine Minute lang so still gewesen war, daß sie den Schlag ihrer Herzen vernehmen konnten, sagte Cilly leise:

„Es wäre mir viel lieber, wenn Du sie gerade dann offen halten wolltest.“

„Cäcilie!“

Die lange zurückgedrängte Bewegung brach so mächtig aus seiner Brust, daß er es unwillkürlich vermied, sich des gewohnten Kosenamens zu bedienen, welcher in der That schlecht zu dem tief ernsten, leidenschaftlichen Ton seines Ausrufs gepaßt haben würde.

„Cäcilie!“ wiederholte er und nahm ihre beiden Hände, die sie ihm willig überließ. „Habe ich Dich wirklich recht verstanden?“

Da schmiegte sie sich zärtlich und hingebend an seine Brust, sah unter Thränen lächelnd zu ihm auf und flüsterte:

„Ich glaube – ja!“

„Und Du willst mein sein – meine Braut – mein Weib? Die Gattin eines einfachen Mannes, dessen Beruf Dir noch vor kurzem als ein Gegenstand des Spottes erschien?“

„O, wenn Du mir gut bist, Wolfgang, so sprich nie mehr von meinen alten Thorheiten! Ich war ein verwöhntes, unwissendes Mädchen; aber ich bin es nicht mehr, die Liebe hat mir die Augen geöffnet – die Liebe zu Dir! Denn daß Du es nur weißt: ich liebte Dich schon an dem Tage, da Du mich im Deinen Armen hier herauf getragen hast, und nur mein Trotz, mein hochmüthiger Stolz waren es, die sich dagegen auflehnten, so daß ich es mir selber so wenig gestehen wollte als einem anderen!

[537]

Leipziger Sommergartenleben zu Großvaters Zeiten.
Zeichnung von A. Langhammer.

[538] Doch nun ist es ja überwunden, das und alles andere, was mich beunruhigt und geängstigt hat in dieser häßlichen Zeit! Nun bin ich Dein, und ich will mir rechtschaffen Mühe gehen, Deinem Ideal so nahe zu kommen, als es einem schwachen Menschenkinde nur immer möglich ist!“

Nicht länger vermochte Wolfgang an sich zu halten. Die elfenhafte, schmiegsame Gestalt zärtlich an sich drückend, verschloß er ihr die süßen Lippen, die so herzig plaudern konnten, mit einem langen, durstigen Kuß. –

Erst nach einer geraumen Weile kam ihnen die Erinnerung an die unerbittlichen Forderungen des Lebens und an den ernsten Widerstand, welcher sich ihnen unzweifelhaft entgegenstellen würde. Aber diese gewisse Aussicht hatte für Wolfgang so wenig etwas Niederdrückendes und Entmuthigendes wie für Cilly.

„Wir werden einen Kampf bestehen müssen, mein Liebling,“ meinte er, „aber wir haben keine Ursache, uns vor ihm zu fürchten. Ich fühle mich stark genug, um in der Vertheidigung solchen Besitzes selbst gegen einen kommandierenden General Sieger zu bleiben.“

„Wie sollte er auch widerstehen können, wenn er von zwei Serien gleichzeitig angegriffen wird!“ fügte Cilly in strahlender Heiterkeit hinzu. „Meine Aufgabe wird es sein, die feindliche Stellung auszukundschaften und mit kleinem Geplänkel den Hauptschlag vorzubereiten. Ist dann aber meiner Ueberzeugung nach die Stunde der Entscheidung gekommen, dann werde ich Dich rufen, und Du versprichst mir feierlich, daß nichts in der Welt Dich hindern wird, unverzüglich zu kommen, und wärest Du auch eben im Begriff, dem Schah von Persien einen Zahn zu plombieren.“

„Ich lasse ihn sitzen! Sei versichert, mein Herz, daß ich ihn sitzen lasse!“

Cilly schlang ihre Arme noch einmal um seinen Hals, dann aber flog sie behend wie ein Kätzchen zur Thür.

„Auf Wiedersehen! Auf frohes, glückseliges Wiedersehen! – Und Du darfst mich nicht hinaus begleiten, hörst Du? Da müßten wir ja aus Furcht vor Ueberraschung einen so frostigen Abschied von einander nehmen wie damals, als ich Dir so gerne - doch nein, ich sage es nicht, denn Du könntest sonst gar zu eingebildet werden! – Und noch eins: wenn Du mir Deiner Schwester wegen schreibst, mußt Du mir auch die Adresse des kleinen August mittheilen! Er steht von heute an unter meinem besonderen Schutze; denn im Grunde ist er doch an allem schuld!“

„Wenn es so ist, dann hat mir dieser arme kleine Patient das großartigste Honorar gezahlt, das ich je empfangen habe und empfangen werde. Ich werde in seiner Schuld bleiben, auch wenn es mir gelingt, ihm seine ganze Gesundheit wiederzugeben.“

Ein letzter Gruß, ein letzter zärtlicher Blick; dann schloß sich die Thür des Operationszimmers hinter dem Töchterchen des Generals.




Der Direktor Konstantin Rainer war kaum jemals in schlechterer Laune gewesen als nach dieser Generalprobe zur „Minna von Barnhelm“, die heute abend im Schillertheater zum ersten Male aufgeführt werden sollte. Publikum und Kritik hatten in der letzten Zeit eine sehr verdrießliche Zurückhaltung gegen seine Kunstanstalt beobachtet, und er bedurfte dringend eines großen, durchschlagenden Erfolges, um in dem scharfen Wettbewerb mit den anderen hauptstädtischen Bühnen wieder einen gewissen Vorsprung zu gewinnen. Gerade auf die heutige Vorstellung hatte er große Hoffnungen gesetzt, und es war begreiflich, daß ihn die Erkenntniß, sich in der künstlerischen Leistungfähigkeit einiger Hauptdarsteller empfindlich getäuscht zu haben, in eine nichts weniger als fröhliche Stimmung versetzte. Mit finster gefurchter Stirne ging er dröhnenden Schrittes an der Bühnenrampe auf und nieder, und die beiden Unglücklichen, denen in solchen Fällen stets die leidvolle Aufgabe zufiel, dem Zorn des Gewaltigen als Blitzableiter zu dienen, der Inspicient und der Souffleur, hatten bereits eine ganze Fluth unverdienter Vorwürfe stillschweigend über sich ergehen lassen müssen.

Nun trat der gefürchtete Beherrscher des Schillertheaters mit einem tiefen Seufzer an den kleinen Regietisch, der vor der ersten Seitencoulisse stand, und setzte die Glocke auf demselben schallend in Bewegung.

„Fertig zur Probe für die ‚Geschwister‘!“ tönte seine klangvolle Stimme über den weiten Bühnenraum hinweg. „Ist Fräulein von Brenckendorf etwa noch immer nicht da?“

In merklich gereiztem Tone mußte er diese Frage zum zweiten Mal vernehmen lassen, ehe ihm von Marie Antwort kam. Sie hatte in dem dunkelsten und abgelegensten Winkel hinter den Coulissen gesessen, weil sie sich ebensosehr vor den wohlgemeinten Rathschlägen ihrer neuen Berufsgenossen als vor deren dreisten Vertraulichkeiten fürchtete. Konstantin Rainer begrüßte sie nur mit einem leichten, herablassenden Neigen des olympischen Hauptes und mit einem kurzen:

„Gut! – Wir fangen also an!“

Dann trat er an das auf der rechten Seite der Bühne aufgestellte Pult, um die ersten Worte des Wilhelm, dessen Rolle er selbst übernommen hatte, zu sprechen. Es war bewunderungswürdig, mit welcher Schnelligkeit und mit wie sicherer Beherrschung der Ausdrucksmittel er sich aus dem mißvergnügten und sorgenvollen Theaterdirektor in den still zufriedenen, ruhig ernsten Geschäftsmann zu verwandeln wußte. Marie, die wieder um einen Schritt in die Coulisse zurückgetreten war, verwandte während seines ersten Monologes keinen Blick von ihm und folgte mit fast ängstlicher Spannung seinem beredten Gebärdenspiel. Bei allen früheren Proben hatte Rainer nach der Gewohnheit berühmter Schauspieler seine Rolle nur flüchtig hingesprochen und sich darauf beschränkt, seinen Partnern ihre Stichworte anzugeben. Heute zum ersten Mal spielte er den Wilhelm wirklich so, wie er ihn am Abend zu geben gedachte, und er ahnte sicherlich nicht, eine wie eigenartige Wirkung dieser Wechsel auf die junge Debütantin übte. Bis zu dieser Stunde war die Gestalt des Mannes, von dem sie nach der Vorschrift des Dichters mit so zärtlicher Wärme zu sprechen, dem sie so süße Geständnisse hingebendster Liebe zu machen hatte, nicht viel mehr gewesen als ein schattenhaftes Gebilde ihrer eigenen Phantasie, – und keine Regung mädchenhafter Scham hatte sie gehindert, den ganzen Reichthum ihres Empfindens in die Worte ihrer Rolle ausströmen zu lassen. Nun aber war das mit einem Mal ganz anders geworden! In greifbarer, lebendiger Gestalt, als ein Mensch von Fleisch und Blut stand jener Wilhelm ihr plötzlich gegenüber, und die Züge, welche er trug, waren wahrlich nicht die Züge, die ihre Einbildungskraft ihm gegeben hatte. Eine Beklommenheit, gegen die sie sich vergebens zu wehren suchte, bemächtigte sich ihrer, eine unerklärliche zagende Scheu, unter deren peinlichem Druck sie ihr erstes Stichwort versäumte, ohne es zu bemerken.

Erst als Rainer sich in unwilliger Kopfbewegung gegen die Coulisse wandte und mit einem nicht mißzuverstehenden Blick und erhobener Stimme seinen letzten Satz wiederholte, wurde sie sich ihres Fehlers bewußt; aber die Befangenheit, mit der sie jetzt ihre Auftrittsscene spielte, konnte dadurch natürlich nicht verringert werden. Durch wiederholtes Räuspern und Achselzucken gab der Direktor seine Unzufriedenheit zu erkennen; aber er unterbrach den Fortgang der Probe mit keinem Wort, bis nach der Scene zwischen Marianne und Fabrice seine Stimme plötzlich dröhnend vom Regietische her erklang: „Nein, das ist nicht auszuhalten! Man erkennt Sie ja gar nicht wieder, mein Fräulein! Ich muß Sie dringend bitten, sich die Sache nicht gar zu leicht zu machen! Den ganzen Auftritt noch einmal!“

Schweigend gehorchte Marie dem barschen Befehl, obwohl der rücksichtslose Tadel in Gegenwart so vieler neugieriger Zeugen ihr die Thränen in die Augen getrieben hatte. Rainers Kopfschütteln bewies, daß er auch jetzt keineswegs befriedigt sei, und da Marie dies Kopfschütteln sehr wohl gesehen hatte, wurde sie nur noch ängstlicher und unsicherer als zuvor.

Dann kam die letzte, entscheidende Scene, welche sie mit ihm selber zu spielen hatte, dies wunderbar zarte, unschuldsvolle Liebesgeständniß eines Mädchenherzens, das sich nur dunkel der Natur seines eigenen Empfindens bewußt ist. Konstantin Rainer gab seinen Wilhelm in dieser Scene unübertrefflich; aber je mehr sich vor Mariens Augen die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit verwischten, desto weniger vermochte sie Herrin zu bleiben über jene spröde, mädchenhafte Scheu, durch welche sie schon während der früheren Auftritte verhindert worden war, ihre ganze Seele in die Worte des Dichters zu legen. Als ihr Partner nach der Vorschrift seiner Rolle in stürmisch hervorbrechender Zärtlichkeit und Glückseligkeit die Weinende in seine Arme riß und sie mit der ganzen Leidenschaft eines wirklichen Liebhabers an seine Brust drückte, folgte Marie einem unbezwinglichen, inneren Antriebe und stieß ihn fast heftig zurück.

[539] Ganz verdutzt blickte ihr Rainer in das von wahrhaftigen Thränen überströmte Gesicht; dann aber schlug er mit der Hand auf den Tisch und rief so laut, daß alle auf der Bühne Anwesenden es nothwendig hören mußten:

„Ja, mein Fräulein, wenn Sie glaubten, daß hier Komödie gespielt würde wie in einem Mädchenpensionat, so hätten Sie wahrhaftig nicht zum Theater gehen sollen! Wir wollen die Scene wiederholen; aber ich bitte Sie dringend, nun endlich etwas mehr aus sich herauszugehen, als es Ihnen bisher gefällig war.“

„Es ist unmöglich,“ sagte sie leise, „ich habe meine Kräfte überschätzt – ich kann dies nicht spielen.“

Die Stirn des Direktors furchte sich tiefer; aber er schlug sofort einen sehr höflichen und sehr kalten Ton an:

„Sie können nicht?“ fragte er, die Arme über der Brust verschränkend. „Das ist sehr überraschend! Und warum können Sie nicht, mein Fräulein?“

„Ich vermag Ihnen den Grund nicht zu nennen; aber ich bitte Sie von ganzem Herzen: erlassen Sie es mir, heute abend aufzutreten!“

„Sie müssen eine seltsame Vorstellung von dem Geschäftsgange und von der Ordnung an einem Theater haben, daß Sie mir in letzter Stunde ein solches Ansinnen stellen können. Natürlich kann von solcher Erlaubniß nicht die Rede sein. Wir werden zu Ende probiren und Sie werden spielen, wie es Ihre Pflicht ist. Den Luxus derartiger Launen werden Sie sich vielleicht gestatten dürfen, wenn Sie einmal die erste Liebhaberin an einem Hoftheater sein werden.“

„Aber ich habe nicht mehr den Ehrgeiz, es zu werden,“ rief Marie,durch die gaffenden Gesichter der herzudrängenden Genossen aufs äußerste gepeinigt, in heller Verzweiflung. „Ich fühle es, daß ich keine Schauspielerin bin und daß ich es niemals sein werde! Sie haben kein Recht, das Unmögliche von mir zu fordern.“

Das Antlitz des berühmten Künstlers schien gleichsam zu erstarren in seiner eisernen Ruhe.

„Wir wollen doch sehen, mein Fräulein, ob ich nicht das Recht dazu habe. Ich empfehle Ihnen, nach Ihrer Heimkehr den von Ihnen unterschriebenen Vertrag durchzusehen.“

„Wenn Ihnen dieser Vertrag wirklich die Macht geben sollte, mich zu zwingen, so werden Sie aus Barmherzigkeit auf ihre Ausübung verzichten. Noch einmal beschwöre ich Sie: geben Sie mich frei!“

„Die Erkenntniß Ihrer Unfähigkeit kommt Ihnen leider zu spät. Sie werden sich erinnern, daß ich es an wohlgemeinten Warnungen nicht fehlen ließ, als Sie mich mit ebenso flehentlichen Bitten um Aufnahme in meine Gesellschaft bestürmten. Damals hatte ich herzlich wenig Lust, Ihnen zu willfahren; aber ich war leichtsinnig genug gewesen, auf dem Bazar mein Wort zu verpfänden, und die Welt weiß, was Konstantin Rainers Wort bedeutet. Nun habe ich mich wochenlang mit Ihnen abgemüht, Ihr Auftreten ist seit acht Tagen angekündigt, und ich muß unabänderlich darauf bestehen, daß Sie Ihren Verpflichtungen gewissenhaft nachkommen.“

Eine namenlose Bitterkeit quoll in Mariens Herzen auf, als sie daran dachte, wie ganz anders damals Rainer an ihrem Verkaufstische gesprochen hatte; aber sie fühlte doch, daß er in seinem Rechte sei, und sie war auch zu stolz, sich noch weiter durch nutzlose Bitten zu demüthigen.

„Gut,“ sagte sie, ihre Thränen trocknend und das gesenkte Köpfchen mit festem Entschluß erhebend, „ich werde heute abend spielen; doch ich fürchte, daß ich nicht die Kraft dazu haben werde, wenn diese Probe noch länger währen soll.“

Der Direkor zuckte mit den Achseln und sah auf seine Uhr.

„Meinetwegen!“ warf er nachlässig hin. „Gehen Sie nach Haus und bemühen Sie sich, etwas ruhiger zu werden. In diesem Zustande würden Sie wohl ohnedies blutwenig lernen.“

Ohne sie zu grüßen, wandte er ihr den Rücken und ging davon. Die jugendliche Naive des Schillertheaters, welche Marie bisher keines Blickes gewürdigt hatte, eilte jetzt mit allen Anzeichen zärtlichster Theilnahme auf sie zu. Sie mochte wohl in der letzten Viertelstunde erkannt haben, daß von dieser Nebenbuhlerin keine Gefahr zu besorgen sei. Aber die brillantengeschmückte Hand, die sie ihr mit einem süßlich ermuthigenden Wort entgegen streckte, blieb unberührt. Marie von Brenckendorf dankte nur mit einem stummen Neigen des Köpfchens und verließ raschen Schrittes die halbdunkle Bühne.

Gedemüthigt und beschämt, mit niedergeschlagenen Augen, als dürfte sie niemand mehr gerade ins Antlitz sehen, eilte sie ihrer Wohnung zu. Wohl hatte sich ihre Erregung gesänftigt; aber die ruhigeren Erwägungen, denen sie jetzt Gehör geben mußte, waren wenig geeignet, die trüben Schatten aus ihrer Seele zu verscheuchen. Sie mußte ja dem Direktor fast Dank dafür wissen, daß er ihrer Bitte um eine sofortige Entlassung nicht Gehör gegeben hatte. Die bescheidene Geldsumme, mit welcher sie nach Berlin gekommen war und welche sie während der letzten Jahre fast unberührt erhalten hatte, war jetzt für den Miethzins und die Einrichtung ihrer kleinen Wohnung fast draufgegangen. Die von Rainer bewilligte Monatsgage, welche seiner eigenen Versicherung nach für eine Anfängerin außergewöhnlich hoch war, mußte fortan hinreichen, alle ihre Lebensbedürfnisse zu bestreiten. Ihr Fortfall würde sie in die peinlichste Nothlage versetzt haben; denn es stand unumstößlich fest in ihrem Herzen, daß sie ihres Bruders Beistand unter keinen Umständen annehmen dürfe.

Sie fühlte sich tief unglücklich unter dem zermalmenden Druck dieser Erkenntniß. Alle ihre Rachegedanken waren ja längst verflogen, und nur wie an etwas völlig Unbegreifliches erinnerte sie sich noch an ihren kurzen, thörichten Wahn, daß ihr an der Seite Engelberts von Brenckendorf die Blume des Glückes erblühen könnte. Sie empfand das Ende des phantastischen Traumes jetzt viel mehr als eine Befreiung denn als eine Schmach, und um so schwerer mußte sie unter dem Bewußtsein leiden, sich freiwillig in eine Sklaverei begeben zu haben, die ihr nach den heutigen Erfahrungen fürchterlicher erschien als jede andere. Was bedeutete die schwerste und mühseligste Arbeit ums tägliche Brot neben dieser entwürdigenden Preisgebung ihrer Seele, neben diesem widerwärtigen Gaukelspiel mit den reinsten und heiligsten Empfindungen ihres Herzens!

Und als ob es nicht genug sei an den quälenden Vorwürfen ihres eigenen Gewissens, klangen ihr auf diesem Heimwege unaufhörlich Lothars warnende und bittende Worte im Ohre nach. Er wußte ja nicht, wie nahe daran er gewesen war, mit seiner treuherzig schlichten Beredsamkeit, mit der unwiderstehlichen Sprache seiner klaren, guten Augen all ihren trotzigen Stolz zu brechen; er wußte ja nicht, welchen schweren Kampf sie bestanden hatte, um endlich doch noch die Kraft zu dem harten, abweisenden Wort zu finden, das ihn für immer aus ihrer Nähe verbannte!

Für immer! Irgend etwas in ihrer Brust krampfte sich mit herbem, fast körperlichem Schmerz zusammen, wenn sie daran dachte, daß er nie mehr kommen würde, ihr seine Hand zu bieten, daß sie nie mehr den Klang seiner Stimme vernehmen würde, die ihr bei jenem letzten Besuche so mahnend ernst und doch so wundersam warm in das Herz gedrungen war. Sie konnte es nicht bereuen, ihn vertrieben zu haben, denn sie hatte ja nur gethan, was – wie sie meinte – eine grausame, unabweisliche Pflicht ihr gebot. Nur daran durfte sie nicht denken, daß ihn auf ihrer Schwelle eines Meuchelmörders Waffe getroffen und daß sie diesen Elenden ihren Freund genannt hatte. Daß Lothar ihr grollte, sie mußte es ja ertragen; aber daß er sie nun sicherlich von Grund seiner Seele verachtete, das war die martervollste von allen Qualen, welche sie in diesen unglückseligen Tagen bestürmten. Wie zu ihrer eigenen Peinigung bemühte sie sich jetzt, jedes seiner Worte in ihrem Gedächtniß wachzurufen. Jetzt glaubte sie an seine Uneigennützigkeit und Wahrhaftigkeit, jetzt, da es zu spät war, es ihm zu sagen, jetzt, da es keine Brücke mehr gab über den gähnenden Abgrund, der sie von ihm trennte! –

Todmüde und mit heftig schmerzenden Schläfen erreichte Marie ihre Wohnung. Die stumpfe Gleichgültigkeit in dem häßlichen Gesicht der Aufwärterin berührte sie fast wie eine Wohlthat. Diese wenigstens wußte nichts von ihrer Erniedrigung und nichts von der brennenden Scham, mit welcher das Bewußtsein jener Erniedrigung ihre ganze Seele erfüllte.

„Ich habe da draußen auf dem Gange soeben einen komischen Fund gemacht, Fräulein,“ rief die Frau, welche es in ihrem Stumpfsinn nicht beachtet hatte, daß Marie wie gebrochen auf das Sofa niedergesunken war; „der Himmel mag wissen, wie sich das Ding da hinter den Schrank verirrt hat!“

Ohne Theilnahme erhob Marie den Kopf. Sie sah, daß es ein kleines, anscheinend sehr altes Bild war, was die Aufwärterin [540] in der Hand hielt, und sie gab sich nicht die Mühe, es genauer zu betrachten.

„Der vorige Miether der Wohnung wird es vergessen haben, Frau Pahler,“ sagte sie müde, „wir wollen uns später bemühen, seine Adresse zu erfahren, damit es ihm zurückgegeben werden kann.“

„Na ja, ich stelle es einstweilen hier vor den Spiegel. Staat könnten wir ohnedies nicht damit machen. Es war lose in altes zerrissenes Papier gewickelt; ich habe es zwar schon sauber abgeseift; aber es bleibt darum doch eine scheußliche alte Schmiererei.“

Sie ging hinaus, und Marie hörte wie im Traum, daß sie draußen in der Küche geräuschvoll mit Tellern und Gläsern wirthschaftete. Nicht ein erquickender Schlummer, doch etwas wie eine stumpfe Betäubung legte sich allgemach auf ihre Sinne, und auch das that ihr wohl. Denn es brachte doch immerhin, was sie jetzt am meisten ersehnte: Empfindungslosigkeit und Vergessen!

Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als plötzlich ein ungewöhnlich lauter und schriller Klang der Wohnungsglocke dem dämmernden Traumzustande ihres Geistes ein Ende machte. Brummend schlürfte die Aufwärterin über den Gang nach vorn, um zu öffnen. Ein kurzer Wortwechsel, der nicht länger währte als eine halbe Minute, ließ sich vernehmen; dann wurde die Thür des Zimmers ungestüm aufgestoßen, und eine schlotternde Gestalt, deren gräßlich verzerrtes Antlitz kaum noch etwas Menschliches hatte, stürzte mit erhobenem Armen vor Marie in die Kniee.

„Heilige Madonna, sei mir gnädig!“ rang es sich heiser und keuchend von den leichenhaften Lippen. „Bitte für mich – bete für mich – breite Deine Arme über mich, wenn die schwarzen Teufel kommen und mich packen wollen! – Sieh, ich habe es Dir dargebracht, Dein Bild, Dein göttliches Bild! – Mit Gefahr meines Lebens habe ich es ihnen entrissen, für Dich – für Dich! – Ich habe Dich ja erkannt in Deiner Verkleidung und ich lache über die Verblendeten, die den himmlischen Glanz nicht sehen um Dein göttliches Haupt. Und die Rosen – hier sind sie – da – dort – überall! Heilige Madonna im Rosenhag, nimm mich in Deinen Schutz!“

Sein Oberkörper neigte sich vornüber und seine Stirn schlug dumpf auf den Fußboden auf.

„Allmächtiger Gott, ein Verrückter!“ schrie die Aufwärterin, welche bis dahin sprachlos auf der Schwelle der offenen Thür gestanden hatte. „Kommen Sie, Fräulein, kommen Sie, wir holen die Polizei!“

Aber Marie rührte sich nicht. Auch sie war durch das Entsetzen gelähmt worden beim Anblick des Unseligen, der den unbegreiflichen Muth hatte, sich noch einmal in ihre Nähe zu drängen, auch sie hatte beim Beginn seiner wirren Rede das Verlangen gehabt, zu entfliehen und um Hilfe zu rufen. Doch das bejammernswerthe Aussehen des Unglücklichen, der unbeschreiblich angstvolle, flehende Blick seiner tief eingesunkenen Augen hatte ihr die Lippen verschlossen. Und nun wurde das Mitleid in ihrer Seele mächtiger als die Furcht.

„Nein, Frau Pahler,“ sagte sie, „wir brauchen die Polizei nicht, wir brauchen nur einen Arzt. Ich kenne diesen Herrn und weiß, daß ich nichts von ihm zu befürchten habe. Er ist nicht wahnsinnig, aber er ist sicherlich schwer krank. Darum eilen Sie, uns eine ärztliche Hilfe zu beschaffen!“

„Und Sie wollen unterdessen mit ihm allein bleiben? Ach, Du lieber Gott, Fräulein, was haben Sie für Muth! Das thäte ich nie und nimmermehr!“

„Aber so gehen Sie doch!“ drängte Marie. „Je schneller Sie zurückkehren, desto eher wird diese entsetzliche Lage ein Ende haben!“

(Schluß folgt.)




Nachdruck verboten.     
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Meyringen und die Aareschlucht.

Von Karl Born.0 Mit Abbildungen von R. Püttner.

Pustend und keuchend windet sich das Dampfroß mit seinem langen Schweif von Wagen den Berg hinauf, die Paßhöhe des Brünig zu gewinnen. Morgens früh haben wir das herrliche Luzern am Vierwaldstättersee verlassen, sind, um diesen auch richtig zu genießen, zu Schiff nach Alpnach-Stad gefahren und haben erst dort die Bahn bestiegen, die in ununterbrochener Linie Luzern mit dem schönen Berner Oberland verbindet. Im Fluge haben wir das liebliche Unterwaldner Ländchen durcheilt und seine Reize vielfach besprochen; – nun ein Pfiff, und „Brünig“ schallt’s aus dem Munde des Schaffners.

„Zwanzig Minuten Aufenthalt. Restauration am Bahnhof!“

Flugs sind mein Freund und ich zum Wagen hinaus, um unserer Kehle irgend ein Labsal zu verschaffen; haben wir doch schon mehr als zwei Stunden den edlen Gerstensaft entbehren müssen!

Aber welches Unerhörte ereignet sich da! Gebannt vom Anblick, der sich uns bietet, bleiben wir stehen. „Schau,“ ruf’ ich aus, „da drüben das Rosenlaui mit den gigantischen Wetterhörnern, dem silberschimmernden Wellhorn und dem prächtig blauen Gletscher!“

„Wirklich ganz nett,“ sagt er, – und „magnifique“, „beautiful“ tönt’s rings um uns herum von den Zungen der verschiedensten Erdensöhne und -töchter – „aber nun zum Frühschoppen!“

Eingang in die Aareschlucht.

Bald darauf geht’s mit dem Zug bergab weiter; der steilen Thalwand entlang hat moderne Eisenbahntechnik der Fahrt den Weg geebnet; nur noch einige Minuten; schon kommen wir durch liebliche Baumgärten an reizenden Holzhäuschen vorbei, und nun hält der Zug vor dem schmucken Bahnhof Meyringen. Nach getroffener Verabredung senden wir unsere bescheidenen Gepäckstücke nach dem Hotel „Reichenbach“ voraus und machen uns alsbald an die Besichtigung des lieblichen Dorfes. Wir überschreiten die Hauptstraße, an der heimelige Wohnhäuser mit Schnitzwaren und anderer Oberländer Industrie in den zum Verkaufe eingerichteten Erdgeschossen mit schmucken Gasthöfen wechseln, und biegen in die malerische Dorfgasse ein, die mit ihrem landschaftlichen Hintergrund, gebildet von den Wasserfällen des Mühle- und Alpbaches, geradezu einzig in ihrer Art ist. Wir besichtigen die Kirche und den von ihr getrennt stehenden Thurm, der noch aus uralter Zeit stammt, beschauen vor dem Dorf die zerfallene Burg Resti, um dann von dort weg unsere Schritte quer durch das liebliche Thälchen nach dem gastlichen Hotel „Reichenbach“ zu lenken. Etwa 400 m oberhalb desselben stürzt der aus dem Rosenlaui kommende Reichenbach zum ersten Male mit fürchterlichem Getöse in die Tiefe, auf seinem Weg ins Thal noch eine ganze Anzahl von größeren und kleineren Fällen bildend, von denen besonders der unterste durch seine Schönheit weltberühmt geworden ist. Noch mehrere Bäche sollen weiter thalabwärts von den Flühen, wie zarte Schleier sich dem Auge bietend, vom Winde schaukelnd hin und her bewegt.

„Wahrhaftig,“ ruft mein Begleiter aus, „Meyringen ist mehr denn ‚Lauterbrunnen‘; es ist ‚lauter Bach‘!“

[541]

Der Schräibach.

Bald haben wir die rauschende Aare, die ihre sandigen Fluthen in wohlgeregeltem Bett pfeilschnell dem Brienzersee zuführt, überschritten, und nach einigen Augenblicken landen wir wohlbehalten unter der Pforte unseres Hotels. Kein Dutzend schwarzbefrackter Kellner mit langweiligen nichtssagenden Gesichtern schwärmen herum, uns fast die Zehen abzutreten; dafür heißen uns des Wirthes schmucke Töchter um so herzlicher willkommen. – „Gottlob!“ sagt mein Freund, „sind wir nicht in einem Haus, in dem man vor lauter Luxus, Parkettböden, Aufzügen, Kronleuchtern etc. alles hat, nur keine Idee von Ausruhen und Gemüthlichkeit.“

Das Känzeli.

„Ja, deß bin ich auch froh, aber wer kommt denn da die Treppe herunter? Ist das nicht unser Freund, der Doktor, der Geologe? Jetzt ist unser Kleeblatt erst vollzählig!“

„Das trifft sich ja herrlich! Nun mach’ ich den Cicerone und führe Euch ein wenig herum –“

„Schon alles gesehen!“ rufen wir leichthin im Bewußtsein unserer vorigen Leistungen in Naturgenuß, „kommst längst zu spät!“

„Aber das ist ja rein unmöglich in der kurzen Zeit; habt Ihr denn die Aareschlucht schon gesehen?“

„Was? Aareschlucht! Wird mir was Rechtes sein!“

„O,“ sagt er, „einzig, großartig, kolossal!“

„Na also, nach dem Essen wollen wir hingehen! Erst die Pflicht, dann das Vergnügen!“

Meyringen.

Und nun setzen wir uns gemüthlich zu Tisch und lassen uns [542] von dem Tosen des nahen Wasserfalls die herrlichste Tafelmusik machen; dann Siesta auf dem schattigen Balkon, eine feine Havanna – Herz, was willst du noch mehr?

„Doch nun voran,“ mahnt unser Doktor, „zehn Minuten und wir sind am Ort!“

Alsbald stiefeln wir lustig draus los. „Nach der Aareschlucht“ verkündet an der Hauptstraße eine gewaltige Tafel mit riesigen Buchstaben, damit kein Vorüberkommender das Wunder zu schauen versäume. Den Weg der Aare entlang aufwärts gehend, dringen wir zwischen Erlen und Weidengebüsch vorwärts, der Dinge harrend, die da kommen sollen.

Plötzlich versperrt uns ein etwa 100 m hoher Felsenriegel, quer durchs Thal gelagert, jeglichen Ausweg. Nirgends ist ein Durchgang zu erblicken, auch führt kein Pfad drüber hinauf. Erstaunt sehen wir unseren Doktor an.

„Was ist denn das? Wo geht’s hinaus, und wo kommt denn da die Aare her? Es ist ja nirgends die Spur von einem Loch zu erblicken!“

„Nur immer drauf los!“ ermuthigt uns der Freund, und bald stehen wir vor einem mächtigen Felsenthor, das den Einblick in eine finstere, verworrene, seltsam gewundene Schlucht eröffnet. Himmelhoch erheben sich die naßkalten Wände, oben überhängend und sich beinahe berührend, nur spärlich von Grün überkleidet. Das ist der Eingang zur Aareschlucht; mit einem geheimen Schauder betreten wir eine eiserne Galerie, die auf in den Felsen eingelassenen Stützen ruht und schon die tobende Aare unter sich hat.

Nach einigen Schritten klafft uns ein gähnender Schlund entgegen. Schwärzliche, sonderbar gestaltete und vom herabträufelnden Wasser schlüpfrig gewordene Fluhwände starren uns an, so weit unsere Augen reichen, in der Tiefe sich in einem unentwirrbaren Chaos verlierend. Wie die Zähne eines Krokodilrachens greifen die vorspringenden Felszacken ineinander, so nahe, daß unsere Ellbogen sie beiderseitig berühren können und der schmale Pfad die ganze Breite ausfüllt, und so hoch und überhängend, daß unser Auge keinen Ausweg findet und wir glauben, sie müßten über uns zusammenstürzen.

Dazu toben etwa 5 m unter dem Steg mit fürchterlichem Gebrüll die tiefdunklen Wasser der Aare. Unheimlich quallt es hier unter einem ganz unterfressenen Felsen hervor; die schwarzen Blasen glotzen uns an wie die rollenden Augen greulicher Unholde der Wassertiefe; dort reißt sie ein wilder Strudel mit sich nieder auf den Grund, um sie einige Schritte weiter unten das grause Spiel von neuem beginnen zu lassen.

„Na, was sagt Ihr jetzt dazu?“ schreit unser Doktor mit Aufbietung aller seiner Stimmmittel. – Wir verstehen ihn kaum und schütteln in stummer Bewunderung nur den Kopf; das großartige Schauspiel hält alle Sinne gefangen.

„Das ist ja die reine Pforte der Unterwelt,“ wage ich endlich zu sagen. „Die Schauer des Styx kann ich mir nicht fürchterlicher vorstellen.“

„Da soll die Aare noch mehr denn 50 Fuß tief sein, behapten die Leute, und ‚kleine Enge‘ nennen sie den Ort,“ entgegnet unser Cicerone.

„Langend und bangend in schwebender Pein“ gehen wir weiter: da öffnet sich die Schlucht ein wenig, die Felswände treten auf etwa 20 Schritte auseinander und prangen, von Moos und allerlei Pflänzchen bewachsen, in lieblichem Grün; auch einige seltenere Vögel haben sich hier eingenistet.

Immer vorwärts! Noch einmal treten die Fluhwände auf eine längere Strecke ganz nahe zusammen und bilden die „große Enge“; doch sind wir nicht mehr so ängstlich; der Mensch gewöhnt sich an alles. Dann wird die Schlucht wieder weiter bis an ihr Ende.

Gleich hinter der „großen Enge“ stürzt von der linken Felswand der „Schräibach“ in weitem Bogen in die Aare, eine angenehme Abwechslung in das Eintönige der starren Steinwände bringend. Auf der gleichen Seite mündet hoch über dem Aarespiegel eine vom Wasser längst verlassene Schlucht ein, die der Volksmund deshalb auch als „trockene Lamm“ bezeichnet.

Bereits haben wir mehr denn 1200 m zurückgelegt, und noch hat die Schlucht ihr Ende nicht ganz erreicht. Doch genießen wir schon den Ausblick auf die sonnigen Matten von Innertkirchen, hoch überragt von der schneeigen Spitze des Ritzlihornes. Der Weg geht nun vermittelst Treppen etwas in die Höhe zum sog. „Känzeli“, mit welchem Namen man eine etwas vorspringende Stegabtheilung bezeichnet, und von hier wieder abwärts, um an der Mündungsstelle, der „finstern Schlauche“, sein Ende zu erreichen. Diese „Schlauche“, die früher auch dem Abfluß des Wassers diente, war vor Anlegung der Galerie, welche beiläufig die hübsche Summe von 36000 Mark kostete, der einzige Weg, auf dem man zum Aarespiegel der großen Schlucht herniedersteigen konnte. Da wir es nun vorziehen, nicht den gleichen Weg zurück zu gehen, nehmen wir den Aufstieg über das massenhaft herumliegende halsbrecherische Geröll durch dieses finstere Loch, fürwahr, ein gutes Stück Arbeit!

Endlich gelangen wir auf die Höhe dieses Thalriegels, der „Kirchet“ genannt, und sagen mit Schillers Taucher:

„Es freue sich, wer da athmet im rosigen Licht!
Da unten aber ist’s fürchterlich!“

Auf der breiten Straße, die von Meyringen zur Grimsel führt, zu unserem Hotel zurückkehrend, bohren wir unseren Doktor an mit der Frage, wie wohl diese Schlucht entstanden sein möchte.

„In grauen Vorzeiten,“ so beginnt er, „erstreckten sich alpine Gletscher bis weit ins Land hinaus. Auch durchs Aarethal ging einer bis über Bern hinunter. Als dieser nun wie alle anderen mit der Zeit ins Schmelzen kam und allmählich verschwand, blieb hier oberhalb des ‚Kirchet‘ das Thalbecken mit Wasser gefüllt, weil ihm zunächst der Abfluß fehlte. Dasselbe erhielt von der Gletschermasse des Finsteraarhorns immer neuen Zufluß, infolgedessen das überfließende Wasser seinen Weg irgendwo über diesen Hügel nehmen mußte; solcher Wasserrinnen lassen sich mehrere nachweisen. Eine zufällig vorhandene, bedeutend weichere Gesteinschicht wurde von den Fluthen leichter angegriffen, und so ist die ganze Schlucht durch Jahrtausende lang fortgesetztes Waschen und Reiben der Aare entstanden. Kühne Männer unternahmen es, dieses Wunder der Welt zugänglich zu machen, indem sie an Seilen und Balken in der Luft schwebend die eisernen Träger in die Felswand einsetzten, über die nun der Wanderer auf sicherem Pfade dahinschreitet.“

So darüber weiter plaudernd, gelangen wir bei dem freundlichen Dörfchen Willigen auf den Saumpfad, der ins Rosenlaui führt, und statten, denselben verfolgend, dem herrlichen obersten Reichenbachfall einen Besuch ab. Welch’ ein Anblick! Wie eine Rakete steigt der mächtige Wasserstrahl zuerst mehrere Meter hoch in die Luft, um in Millionen Tropfen aufgelöst in die jähe Tiefe zu stürzen. Vom Wirbelwind entführt, schweben die Wasserstäubchen wieder aufwärts, in den Strahlen der Sonne sich zu Myriaden funkelnder Edelsteine verzaubernd. Es ist ein Bild, für das kein Maler Farben und kein Dichter Worte findet.

Den Saumpfad herab kommen Reisende aller Nationen, Damen auf gesattelten Pferden und Maulthieren, Touristen mit leichtem Ränzel auf dem Rücken, Führer und Träger mit ihrem schwerbepackten hölzernen „Räf“, ein buntes, fröhliches Durcheinander.

Wir ziehen es nun vor, uns in unser Gasthaus zurückzuziehen. Bereits ist der Nachmittag zu Ende gegangen; unser Gemüth ist nach so vielen Eindrücken der Ruhe bedürftig. Lustwandelnd ergehen wir uns im schattigen Park, das Erlebte uns noch einmal im Geiste vorüberziehen lassend oder lebhaft miteinander besprechend. –

Schon küßt die scheidende Sonne mit goldenen Strahlen die eisigen Firnen; langsam erblaßt das feurige Roth; die dunkle Nacht hält leise ihren Einzug in das liebliche Thal.

Um den kühlen Abend und die herrliche Luft zu genießen, haben wir uns noch auf der Veranda niedergelassen. Vom Dorf herüber schimmern die traulichen Lichter; das Gerassel der Rosse und Reisewagen ist verstummt. Drüben leuchten die Fälle des Alpbaches, vom magischen Lichte bengalischen Feuers beschienen, einigemale in feenhaftem Schimmer aus der Dunkelheit auf, um uns noch im Traume wie Gebilde eines Märchenlandes zu erscheinen.




[543]

Neue Aussichten für die Luftschiffahrt.

Von Dr. H. J. Klein.


Hundert Jahre sind vergangen, seit zum ersten Male ein Mensch sich in die Lüfte erhob – dennoch befindet sich die sogenannte Luftschiffahrt noch immer im Zustande der Kindheit. Ueber uns breitet sich der schrankenlose Luftocean aus, freier als das Meer, zugänglich zu jeder Zeit und durchschnitten von zahllosen lebenden Wesen; aber das Vorbild, welches uns die Natur zur Beherrschung des Luftreichs im fliegenden Vogel gegeben hat, konnte vom Menschen bis jetzt nicht nachgeahmt werden, ja selbst die Mechanik des Vogelflugs war lange genug völlig dunkel. Unsere heutige Luftschiffahrt hat sich nicht den Vogel zum Vorbilde genommen, sondern den Fisch; der Zufall, welcher die Gebrüder Montgolfier auf die Verwendung eines mit warmer, leichter Luft angefüllten Ballons brachte, blieb Herrscher, denn alle späteren Versuche klammerten sich an die Form des Ballons.

Indessen giebt es eine gewichtige Thatsache, welche beweist, daß der Mensch sich hiermit schwerlich auf dem richtigen Wege befindet. Die Natur nämlich, die große Lehrmeisterin, in deren Anordnungen sich allenthalben ein dem unsrigen unendlich überlegener Verstand, ja eine göttliche Weisheit ausspricht, hat für die Geschöpfe der Luft die Schwimmblase nicht gewählt, sondern letztere nur den Thieren des Wassers verliehen. Dies ist ein deutlicher Fingerzeig, welcher uns belehrt, daß diese Blase – also auch der mit leichtem Gase gefüllte Ballon – für die Bewegung durch die Luft ungeeignet ist und unter allen Umständen verworfen werden muß. Ob wir die Gründe für dieses Ungeeignetsein sämmtlich kennen oder nicht, ist völlig Nebensache, der Umstand, daß die Natur das Prinzip des Ballons bei den Thieren der Luft nicht angewendet hat, ist ein ganz ausreichender Beweis dafür, daß dasselbe hier ungeeignet ist. Will man also in Bezug auf die Luftschiffahrt zu wirklichen Fortschritten gelangen, so muß man zur Natur zurückkehren und den Vogelflug studieren. Der fliegende Vogel lehrt uns, daß es möglich ist, das Luftmeer ebenso vollkommen zu beherrschen wie den Wasserocean. Unsere Fluß- und Seeschiffe sind nichts anderes als mehr oder weniger unvollkommene Nachahmungen des Gesetzes, welches dem Bau des Fisches zu Grunde liegt; unsere Luftschiffer müssen ihr Vorbild im fliegenden Vogel suchen. Diese einfache Wahrheit ist in der That auch schon ausgesprochen worden, ja, man braucht nicht auf die alte Sage von dem Griechen Dädalus zurückzugreifen, um Leute zu treffen, welche es unternommen haben, mit künstlichen Flügeln zu fliegen. Der Erfolg war bis jetzt freilich immer ein kläglicher, allein, so darf man fragen, wie viele Menschen mögen wohl im Wasser umgekommen sein, ehe es dem ersten gelang, schwimmend über einen Strom zu setzen?

Aus jüngerer Zeit ist unter den Flugkünstlern der Belgier de Groof zu nennen, der vor ungefähr 16 Jahren in England Versuche anstellte. Nach dem Vorbilde der Fledermaus hatte er zwei riesige Flügel von 37 Fuß Länge und 4 Fuß Breite angefertigt, außerdem noch einen 18 Fuß langen Schweif, und das Ganze war so angebracht, daß de Groof Flügel und Schweif mit Hilfe eines Trittbrettes bewegen konnte. Von dem Luftschiffer Simmons ließ er sich, an einem langen Seile befestigt, mit empornehmen und fuhr aus mehreren hundert Fuß Höhe bequem und sicher zur Erde herab. Durch diesen Versuch kühn gemacht, unternahm der Mann einen zweiten Flug in ähnlicher Weise, wobei er zerschmettert herabstürzte. Dieser üble Ausgang kann nicht Wunder nehmen, denn jede neue Erfindung zeigt in ihrer ersten Ausführung Mängel – bei dem Luftfluge bedeutet aber jeder Mißerfolg den Tod desjenigen, der das Wagestück unternommen hat.

Der erste, welcher sich wissenschaftlich mit den Bedingungen des Fliegens beschäftigte, ist der neapolitanische Professor Borelli gewesen, von dem im Jahre 1680 zu Rom ein für die damalige Zeit vortreffliches Werk „Ueber die Bewegung der Thiere“ erschien. Er erklärte den Flug für eine zusammengesetzte Bewegung aus schnell wiederholten Sätzen durch die Luft; ein Fliegen des Menschen hält er für völlig unmöglich, weil es demselben an den dazu nöthigen Brustmuskeln mangele.

Eine fernere wichtige Untersuchung über das Fliegen stellte 1799 der berühmte Mathematiker Nicolaus Fuß in Petersburg an. Aus derselben ergab sich, daß ein kräftiger Flieger, der nur sein eigenes Gewicht zu tragen hat, wohl imstande ist, durch die bloße Kraft seiner Flügel mit immer größerer Schnelligkeit sich zu einer bedeutenden Höhe zu erheben, sowie daß ihm nach einem anhaltenden und lebhaften Flügelschlage Geschwindigkeit genug übrig bleibt, um auch ohne sichtbare Bewegung der Flügel eine Zeitlang wagrecht in der Luft fortzuschweben.

Später hat I. I. Prechtl die Forschungen über den Vogelflug fortgesetzt und nachgewiesen, wie die Geschwindigkeit und Steigkraft des Vogels von der Schnelligkeit des Flügelschlages und der Größe des Schlagwinkels abhängt. Praktischen Erfolg haben jedoch alle diese Untersuchungen nicht gehabt, weil man sich stets in der Ausführung an den Grundsatz hielt, die todte Last durch die Steigkraft eines mit leichtem Gase angefüllten Ballons tragen zu lassen. Zur Fortbewegung des Ganzen in wagrechter Richtung hat man sich dann in neuester Zeit einer Luftschraube bedient, die durch einen elektrischen Motor in Umdrehung versetzt wurde. Das berühmteste „steuerbare“ Luftschiff dieser Art ist der von den Franzofen Renard und Krebs erbaute Ballon, welcher mit einer Geschwindigkeit von 6 Metern in der Sekunde die Atmosphäre durchschnitt oder richtiger für kurze Zeit durchkroch.

Bei dieser Lage der Dinge kommt nun ein ausgezeichneter Mathematiker, Professor von Miller-Hauenfels, mit neuen Untersuchungen über das Fliegen und bezeichnet in seiner Schrift „Der mühelose Segelflug der Vögel und die segelnde Luftschiffahrt als Endziel hundertjährigen Strebens“ das mit Segeln und Luftflügeln versehene, weiter unten beschriebene Luftschiff als das wohlfeilste und beste Mittel zum Schnellverkehr von Personen und Gütern. Dieser Ausspruch ist ein sehr weittragender, und Professor v. Miller ist sich dessen wohl bewußt. Er stützt sich indessen auf physikalisch-mathematische Untersuchungen des Vogelflugs, die ihn zu dem Ergebnisse führten, daß beim Segelfluge der Vögel gar keine Schwebearbeit geleistet wird und deshalb die genaue Nachahmung dieser Flugart der segelnden Luftschiffahrt für den Verkehr im großen den Sieg über alle andern Ideen und Versuche, solchen innerhalb unserer Atmosphäre anzubahnen, sichern muß, besonders da die Theorie keine Grenze bezüglich der zu fördernden Lasten setzt.

Freilich zeigen unsere Vögel im ganzen nur eine bescheidene Größe, und man könnte den Einwurf machen, daß ja die Natur bei den großen Geiern offenbar schon an der Grenze des Möglichen angelangt sei und der schwerere Strauß seine Flügel gar nicht zum Fliegen gebrauche. Dieser Einwurf ist ohne allen Zweifel ein sehr gewichtiger, dem gegenüber theoretische Gegengründe leicht genug wiegen dürften. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß die Grenzen für die Größenverhältnisse in der Vogelwelt nicht deshalb verhältnißmäßig so eng gezogen sind, weil darüber hinaus die mechanischen Bedingungen des Fluges sich ungünstiger gestalten, sondern nur, weil alsdann infolge der nothwendig werdenden großen Flügelflächen die betreffenden Thiere nicht leicht passende Schlupfwinkel und nur schwer genügende Nahrung finden würden. In einer früheren Entwickelungsperiode der Erde wurde in der That die Luft von wahrhaften Ungeheuern durchschwirrt, deren versteinerte Reste die Paläontologie beschreibt.

Auf Grund seiner Untersuchungen kommt Professor v. Miller-Hauenfels zu einer Reihe von Folgerungen bezüglich des Kunstflugs mit Maschinen, die sehr bemerkenswerth sind. Zunächst betont er, daß der Mensch immer, der Segelvogel den größten Theil seiner Zeit auf die feste Erde angewiesen ist, daher müsse sich jener für Luftfahrten so einrichten wie dieser, d. h. er müsse ein Fahrzeug wählen, welches schwerer ist als die verdrängte Luft. „Das langdauernde Verkennen dieser einfachen Wahrheit,“ sagt er, „und der überaus langsame Durchbruch, welcher ihr leider anhaftet, weil man bis in die neueste Zeit dem unglücklichen Wahne huldigte, ausschließlich nur der Ballon mit Auftrieb habe für den Menschen das Geschäft des Vogels zu lösen, tragen die Schuld, daß die Luftschiffahrt während einer Zeit, wo Industrie und Verkehr wahrhaft reißende Fortschritte machten, ein Jahrhundert lang fast auf dem gleichen Standpunkte stehen blieb. Man übersah eben, daß der Ballon mit Auftrieb ganz andere Aufgaben habe, als größere Nutzlasten in beträchtliche Fernen zu tragen. Es ist allerdings recht gut erdacht und sehr verlockend, einen mit leichtem Gase gefüllten Ballon mit dem Luftfahrzeug derart in Verbindung zu bringen, daß die todte Last nahezu oder gänzlich aufgehoben und die zu befördernde oder Nutzlast zugleich als die für den Segelflug selbst nothwendige Belastung ausgenützt wird. Allein werfen wir wieder einen Blick auf die Vorbilder in der Natur, die stets unsere Lehrmeisterin bleiben soll, weil aus ihren Einrichtungen und Erzeugnissen überall die höchste Weisheit herausleuchtet! Wäre den Segelvögeln eine ähnliche, mit einem dünnern Medium als die Luft erfüllte Blase unumgänglich nothwendig, so hätte sie die Natur gewiß damit ausgestattet. Deshalb glaube ich, daß die Bestrebungen, die Luftschiffahrt für den Großverkehr umzugestalten, in dem gänzlichen Verzicht desselben auf den Ballon gipfeln werden.“

Was den Einzelflug anbelangt, so glaubt Prof. v. Miller-Hauenfels, daß derselbe niemals größere Bedeutung gewinnen und höchstens einmal als Sport dienen werde. Ohne sich hierbei lange aufzuhalten, giebt er den Entwurf eines Luftschiffes ohne Ballon, welches statt dessen wagrecht stehende Segel sowie Luftflügel (Luftschrauben) besitzt, die durch eine Dampfmaschine getrieben werden. Wegen der Einzelheiten muß ich den Leser auf die Schrift von Miller-Hauenfels verweisen, da dieselben hier schwer auseinanderzusetzen wären; es möge nur hervorgehoben werden, daß ein Luftschiff der in Rede stehenden Art nach der Berechnung seines Erfinders für 25 Personen eine Segelfläche von 20 Metern Länge und Spannweite, ein solches für 10 Personen ein Flugdach von 18½ Metern Länge und Spannweite erfordert. Der Berechner ist in seinen Vorschlägen sehr behutsam: wohl ist er von der Richtigkeit seiner rechnungsmäßigen Entwickelungen überzeugt und sagt selbst: „Die Sache ist vollkommen reif für die Versuche, und da die Hilfsmittel der Wissenschaft, wenn sie echte Ware und nicht Talmi sind, nicht trügen können, so wird sie es auch bald für die Einführung sein“; aber er meint dennoch, daß die Proben zunächst an einem gut gehenden Modelle ausgeführt werden sollten, an welchem man auf Grund der gemachten Wahrnehmungen so lange Abändernugen zu treffen hätte, bis dessen Flug tadellos erscheine. Die ganze Maschinerie, die man wohl als einen fliegenden Drachen bezeichnen kann, ist übrigens nicht imstande, von der ebenen Erde aufzufliegen, sondern muß von einer Höhe, die einen steilen Abfall besitzt, ihren Abflug nehmen, auf einer ähnlichen Höhe muß sie landen. Das macht wohl die Versuche etwas kostspielig, ist aber für die Ausführung kein zu großes Hinderniß, so wenig ein solches bei der Dampfschiffahrt dadurch entsteht, daß man von einer Brücke aus oder im Kahn beim Schiffe anlegen muß, oder solches bei der Eisenbahn darin zu finden ist, daß der Dampfwagen nicht jeden Reisenden unmittelbar vor dessen Hausthür absetzt. „Alles in allem genommen“, sagt v. Miller-Hauenfels, „kann man sich wohl kaum der Ueberzeugung verschließen, daß wir hier vor einem Beförderungsmittel stehen, welches, was die Schnelligkeit betrifft (20 bis 30 Meter in der Sekunde), ja selbst in ökonomischer Beziehung und gerade in dieser, dem Eisenbahnverkehre und der Wasserschiffahrt ernstlich Konkurrenz zu machen angethan ist. Es ist selbst nicht unwahrscheinlich, daß man einst mit Benutzung pelagischer Inseln für Brennstoffvorräthe den Ocean wohlfeiler und schneller überfliegen als durchschiffen werde.“ [544] Das sind weite Ausblicke, und Prof. v. Miller verhehlt sich nicht, daß die Schnitter für die reife Saat zaudern werden, daß allerdings zuletzt die Wahrheit siegen, aber der Verlauf der gewöhnliche sein dürfte: zuerst Achselzucken über den lächerlichen Phantasten, der dem Adler gleich die Luft durchsegeln wolle, und zuletzt Bewunderung irgendeines Ausländers, der die Sache in Schwung bringen werde. Hoffen wir, daß sich diese Annahmen nicht bewahrheiten, sondern daß sich auch unter uns Deutschen Leute finden, welche zur Erprobung des Miller-Hauenfelsschen Gedankens hilfreiche Hand bieten. Das ist auch der Grund, weshalb ich die Ausführungen des gelehrten Grazer Mathematikers, so weit dies in allgemein verständlicher Form geschehen konnte, dem großen Leserkreise dieses Blattes vorzuführen unternahm. Natürlich kommt alles auf die Ausführung an, denn wenn irgend wo, so gilt für das Gebiet der Luftschiffahrt die alte Wahrheit: „Probiren geht über Studieren!“


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Das „Schachdorf“ Ströbeck.

Der Schachthurm.

Wer von der alten Bischofstadt Halberstadt aus mit der Eisenbahn einen Ausflug in den Harz, z. B. nach Wernigerode, unternimmt und seine Blicke nach Nordwesten hin schweifen läßt, wird schon nach wenigen Minuten einen Kirchthurm entdecken, dessen dunkle Spitze aus der im Norden vom Huywalde begrenzten Ebene hervorragt. Bald tauchen einzelne Häuser empor, und jetzt wird ein stattliches Dorf sichtbar, das in der Nähe der Eisenbahn von Süden nach Norden am Abhange einer mit Birken bestandenen Anhöhe, dem sogenannten Hackenberge, sich hinzieht.

Es ist das Dorf Ströbeck, welches, einzig in seiner Art, seit Jahrhunderten eines großen Rufes sich erfreut, nicht nur in unserm deutschen Vaterlande, sondern weit darüber hinaus in allen civilisierten Ländern diesseit und jenseit des Oceans. Zwar ist weder ein berühmter Staatsmann oder Gelehrter aus seinen Mauern hervorgegangen, noch sind blutige, männervertilgende Schlachten auf seinen Gefilden geliefert worden, aber noch heute wird jahraus jahrein in dem sonst so friedlichen Dorfe wacker gekämpft und viele Schlachten werden geschlagen, Schlachten – auf den 64 Feldern des schwarz-weißen Schachbretts. So ist es von alters her gewesen, so wird es hoffentlich lange noch bleiben! Ströbeck ist auf der ganzen Welt das einzige Dorf, wo das edle Schach gepflegt und von alt und jung, von Männlein und Fräulein gespielt wird; und von jeher haben die Ströbecker ihren Ruf als tüchtige Schachspieler zu wahren und zu mehren gewußt.

Schon von Kindesbeinen an wird das „königliche Spiel“ erlernt, zwar nicht in der Schule, wie man früher irrthümlich annahm, sondern daheim unter der Leitung der Eltern und Geschwister; wohl aber findet alljährlich zu Ostern nach Beendigung der Schulprüfung unter den Augen des Predigers und der Lehrer, sowie des Ortsvorstandes ein Schachturnier der Kinder statt, und die aus demselben als Sieger hervorgehenden drei Knaben und drei Mädchen erhalten in Ströbeck angefertigte Schachbretter mit der Inschrift: „Zur Belohnung des Fleißes“. Ströbeck hat seinen Männer- und Frauenschachklub, und der im Gasthof „Zum Schachspiel“ einkehrende Wanderer kann des Sonntagnachmittags die biederen Ströbecker mit ernsten Mienen bei einer „Partie“ sitzen sehen und, wenn er selbst des Spieles kundig ist, wohl auch einen Gang mit ihnen wagen. Aber wehe, wenn er nicht sattelfest ist! Bald wird er in den Sand gestreckt und unter dem Schmunzeln des Gegners und der Zuschauer „matt gesetzt“.

Diese sonntäglichen Partien sind neben dem Kartenspiel gewissermaßen die Erholung von den Beschwerden und Mühen des alltäglichen Berufes; denn die Bewohner des etwa 1250 Seelen zählenden Dorfes treiben fast alle Ackerbau und erfreuen sich bei dem ertragreichen Boden mehr oder minder einer gewissen Wohlhabenheit. Daher macht denn das Dorf selbst auch einen freundlichen und stattlichen Eindruck; die Wohnhäuser und die Wirthschaftsgebäude sind massiv und in gutem Zustande, die Straßen gepflastert und sauber gehalten. Ungefähr in der Mitte des Dorfes, an der Westseite, steht die Kirche, deren Wetterfahne ein Schachbrett zeigt, während die Schule im Nordosten dicht am sogenannten „Markt“ liegt, dessen Südseite von dem „Gasthof zum Schachspiel“ begrenzt wird. An der bei diesem Gasthof nach Westen vorüberführenden Straße erblickt man einen kleinen, aus Sandstein erbauten und mit Ziegeln gedeckten, viereckigen Thurm, den sogen. „Schachthurm“, der in der Geschichte Ströbecks, wie wir unten sehen werden, eine wichtige Rolle spielte und noch heute zu den Sehenswürdigkeiten Ströbecks gehört. Ein in vieler Hinsicht so bedeutender Ort ist natürlich Post- und Telegraphenstation und Sitz eines Arztes.

Da Ströbeck zum „Harzer Schachbunde“ gehört, so wird seit 1885 alle fünf Jahre daselbst ein großer Schachkongreß in den letzten Tagen des Juni abgehalten; und auch dieses Jahr eilten von nah und fern die Jünger und Meister im Schach herbei, um in dem berühmten „Schachdorf“ im Turnier eine Lanze zu brechen.

Der geneigte Leser wird nun fragen: Wie kommt es, daß gerade in Ströbeck das Schachspiel eine so große Verbreitung gefunden und jung und alt in seinen Kreis gezogen hat? Auf diese wohlberechtigte Frage läßt sich leider nicht mit Sicherheit antworten, da die Geschichte über den Ursprung des Schachspiels in Ströbeck keinen Aufschluß giebt; nur die Sage berichtet uns zwei Begebenheiten, die wir nach den von dem Lehrer Karl Elis im Jahre 1843 herausgegebenen „kurzgefaßten historischen Nachrichten von Ströbeck“ hier wiedergeben:

„Dem Bischof Arnulf von Halberstadt wurde im Jahre 1011 vom Kaiser Heinrich II. ein vornehmer Staats- und Kriegsgefangener, der Graf Guncellin, überwiesen, damit er ihn, ohne daß es jemand erfahre, in dem alten Thurm von Ströbeck, der noch jetzt im nördlichen Theile des Dorfes steht, so lange gefangen halte, bis ihm weitere Befehle darüber zugehen würden. Vielleicht sollte der Gefangene auch durch ein großes Lösegeld die Kriegskosten vermindern helfen. Die Bauern mußten nun immer abwechselnd bei ihm Wache halten, und da sie glimpflich mit ihm umgingen, so unterhielt er sich freundlich mit ihnen, schnitzte aus Langerweile Schachfiguren, fertigte ein Schachbrett an und ward, um sich die Zeit besser vertreiben zu können, nun der Lehrer im Schachspiel, worin er Meister war. Mit Lust und Liebe ergriffen die Bauern diese Gelegenheit, ein so schönes Spiel zu erlernen, und bald kannte man im Dorfe kein anderes Spiel mehr. Als der Graf nach längerer Zeit wieder in Freiheit gesetzt wurde, schenkte er den Bauern sein Schachspiel.“

„Vadder mit Rat!“

Eine andere Ueberlieferung ist folgende: „Als Bischof Burchhard II. auf seinem Zuge gegen die Wenden im Jahre 1068 einen vornehmen Wenden gefangen nahm, ließ er ihn in den Ströbecker Zwinger sperren und den Wenden bekannt machen, daß er ihn so lange gefangen halten werde, bis sie die Friedensbedingungen erfüllt und ein ansehnliches Lösegeld geschickt hätten. Dieser vornehme Wende lehrte die Ströbecker das Schachspiel und verkürzte sich dadurch die unangenehme Zeit seiner Gefangenschaft. Nach Unterwerfung der Wenden hielt der Bischhof auf einem weißen Rosse, das die Wenden wie einen Abgott verehrten und das er ihnen genommen hatte, seinen glänzenden Einzug in Halberstadt; der Wende aber kehrte in seine Heimath zurück, nachdem er die freundlichen Ströbecker reichlich beschenkt hatte. Das Spiel wurde nun vielfach bekannt, aber man nannte die Bauern ‚Wenden‘, wohl um die Herabwürdigung dieses von den Deutschen unterjochten Slavenstammes zu bezeichnen.“

[545]

Das Schachturnier in Ströbeck.
Zeichnung von H. Lüders.

[546] Seit dieser Zeit haben die Ströbecker das Recht, jedem neuen Landesherrn, der ihren Ort berührt, auf freiem Felde auf einem Tische eine Partie Schach anbieten zu dürfen, was sie bisher auch immer gethan haben. Friedrich Wilhelm der Große Kurfürst fand bei seiner Durchreise ein Vergnügen daran, die ländlichen Schachkünstler zu prüfen, und er fand mehr als er suchte, weshalb er dem Dorfe das noch jetzt als kostbarer Schatz im Gemeindehause aufbewahrte, mit Elfenbein ausgelegte Schachbrett verehrte. Auf der einen Seite dieses Schachbrettes sind die 64 Felder des Schachspiels, auf der andern die des Kurierspiels, welches, eine Art komplizierten Schaches, 32 Felder und für jeden Spieler 8 Steine mehr enthält. Auf dem Rande des Schachbrettes sieht man Ströbeck in erhabener Arbeit mit der Umschrift:

„Daß Sereniss. Churfürstliche Durchlaucht von Brandenburg und Fürst von Halberstadt, Herr Friedrich Wilhelm u. s. w. dieses Schach- und Courierspiel am 13. Mai 1651 dem Flecken Ströbeck aus sondern Gnaden verehret und bei ihrer alten Freiheit zu schützen zugesaget, solches ist zum ewigen Gedächtniß hier aufgezeichnet.

Paul Langenstraß. B. Valentin Rieche, Richter. Andreas Bartels, Baur. Meist. Hans Ilsens. B. Valentin Langenstraß, Richter. Hans Hartmann, Baur. Meist. Renovatum Anno 1744. M. Heinrich Wilke me fecit.“

Die dazu gehörigen Figuren waren sehr werthvoll, und zwar der eine Theil von Silber, der andere von Silber mit Vergoldung; leider sind sie aber nicht mehr vorhanden, da sie durch Verleihen an das Domstift zu Halberstadt verloren gegangen sein sollen.

Auch ein anderer Fürst, Herzog Ludwig Rudolf von Braunschweig, der im vorigen Jahrhundert regierte, spielte gern mit den Ströbeckern eine Partie Schach, so bei Gelegenheit der Vorstellung einer Bauernhochzeit auf dem Schloß zu Blankenburg a. H., wo er mit dem Schulzen Söllig von Ströbeck spielte, hinter dem sein achtjähriger Sohn stand und das herkömmliche „Vadder mit Rat!“ bei einem bedenklichen Zuge rief. Der Herzog wurde infolgedessen auf den jungen Söllig aufmerksam, ließ ihn unter seiner Aufsicht erziehen und zu einem tüchtigen Geistlichen ausbilden.

So hat im Laufe der Jahre das Schachspiel in Ströbeck sich eingebürgert und bei dem regen Interesse, das man ihm entgegenbrachte, den Vorrang unter den übrigen Spielen behauptet. Die Ströbecker sind auch in der Theorie bewandert und haben sich die moderne, internationale Spielweise angeeignet, ein für die Betheiligung an auswärtigen Turnieren nicht zu unterschätzender Vortheil.[2] So möge denn das edle Spiel in dem einzigen „Schachdorfe“ fortblühen und als ein von den Vorfahren überkommenes Erbe immer in Ehren gehalten werden! _/      


  1. Von dem Fest selbst gedenken wir unseren Lesern in einer späteren Nummer ein Bild zu geben.
  2. Wer das Ströbecker Schachspiel genauer kennenzulernen wünscht, für den geben wir auf S. 548 eine der Turnieraufgaben.

Blätter und Blüthen.

Gottfried Keller †. Ein Jahr ist es her, seit die „Gartenlaube“ den Züricher Meister zu seinem 70. Geburtstag beglückwünschen konnte (siehe Jahrgang 1889, S. 474). Bald danach befiel ihn ein schweres Leiden, dem er nunmehr, am 15. Juli, erlegen ist.

Ein Zufall wollte es, daß uns gerade in diesen Tagen von einem alten Freunde und Mitarbeiter der „Gartenlaube“ einige Erinnerungen an Gottfried Keller mitgetheilt wurden, die wir unsern Lesern – als ein Wort des Gedächtnisses an des Dichters Grabe – nicht vorenthalten möchten. Der Brief lautet:

Während meines Aufenthaltes in Zürich trat ich Gottfried Kinkel nahe. Eines Tages erhielt ich von ihm ein Briefchen mit der Aufforderung, nach Zollikon, einem Dörfchen am See, in ein gewisses Wirthshaus, das einen guten Weinruf hatte, zu kommen.

Ich traf Kinkel dort mit einem kleinen Mann, der mich unter großen Brillengläsern mit tiefblickenden scharfen braunen Augen nicht sehr freundlich ansah, wobei Kinkel auf seine Weise heimlich lachte.

„Das ist Gottfried Keller, Doktor, Staatsschreiber, Poet und Züricher,“ stellte mir Kinkel den Kleinen vor.

Ich muß darauf ein so ungläubiges Gesicht gemacht haben, daß beide lachten.

„Der mit den ‚Leuten von Seldwyla‘?“ kam es unwillkürlich über meine Lippen.

„Ja, der mit den ‚Leuten von Seldwyla‘ und dem ‚Grünen Heinrich‘,“ bestätigte Kinkel – „aber um Gotteswillen, seien Sie still“ – fügte er hinzu – „wenn Sie das hier so laut aussprechen, werden wir von den Seeumwohnern bis Meilen hin alle drei massakrirt.“

So lernte ich Gottfried Keller, den von mir so hoch verehrten schweizer Novellisten, kennen.

Meine Vorstellung, die ich von der persönlichen Erscheinung des Dichters hatte, erlitt durch die Wirklichkeit einen argen Stoß.

Ich hatte mir – mit welchem Recht, weiß ich allerdings nicht – Gottfried Keller vorgestellt als einen hohen schlanken Mann mit einem melancholischen Malerkopf, und jetzt stand vor mir da ein Männchen mit einem Spitzbäuchlein, einem Eulengesicht und einem großen Busch schwarzer Haare hinter einer kahl werdenden Stirn! Ich konnte mich nur allmählich darein finden, in dieser kleinen dunkeln koboldartigen Erscheinung den großen Schriftsteller zu sehen.

Keller sprach an diesem Nachmittag wenig, er war überhaupt karg mit dem Wort – was er sagte, war vernünftig und treffend; nur eines fiel mir bei ihm auf: kam die Rede auf den Weinbau, so konnte man glauben, daß man in ihm einen erfahrenen Weinbergbesitzer vor sich hatte, sprachen wir von der Abdämmung des Sees, so erwies sich Keller hierin derartig kundig, als ob er das Ingenieurfach gründlich studiert hätte, und so zeigte der Meister der Novelle in allem, worauf das Gespräch fiel, eine außerordentliche Kenntniß der Wirklichkeit der Dinge. Litterarisches berührte an diesem Tage unsere Unterhaltung nicht.

Wir gingen, als es kühler wurde, am See entlang zur Stadt zurück, und Meister Gottfried wandelte mit kleinen Schritten einsilbig und still dahin; er hielt die Augen stets gesenkt, nur wenn ein hübsches Mädchen vorüber kam, blickte er lebhaft auf. Er schien das instinktiv zu bemerken.

Ich sah Keller längere Zeit nicht – da traf ich ihn wieder in der Tonhalle. Er saß am sogenannten Professorentisch mit Johannes Scherr und Kinkel. Diesmal winkte Scherr mich heran und stellte mich Keller vor, der so etwas von „schon einmal das Vergnügen gehabt“ brummte. An diesem Tage ward ich Zeuge einer Meinungsäußerung Kellers, die mich in hohem Grade überraschte und die für die Leser unserer „Gartenlaube“ so interessant sein dürfte, daß ich nicht umhin kann, die Worte Meister Gottfrieds, welche ein besonderes Streiflicht auf seine sonst nicht besonders milde Denkungsart hinsichtlich unserer neuesten Litteratur werfen, nach treuem Gedächtniß Ihnen mitzutheilen. Kinkel machte einen Spaß über das Anwachsen „der Schriftstellerei aus Damenfedern“ und spielte hierbei höchst ungalant auf die Retterinnen des Kapitols an.

„Was, Geschnatter!“ fuhr da Keller heftig auf – „es ist wahr – es schreiben viele,“ zürnte er in seiner breiten und harten Züricher Mundart – „und sie werden die Männer bald ins Gedränge bringen – aber, das ist eben der Teufel, sie können was. Da will ich Euch ’mal eine Geschichte erzählen, wie es mir hierbei ergangen:

Ich hörte einmal einen gewissen Autor entsetzlich auf die Marlitt schimpfen – er schrieb selbst Romane“ – setzte Keller mit einem boshaften Lächeln hinzu. „Wenn man derartig gegen jemand loszieht, muß etwas an der niedergedonnerten Person sein, dachte ich mir und ließ mir einen Band von der ‚Gartenlaube‘ kommen. Es stand die ‚Goldelse‘ darin. Nun, ich habe“, fuhr Keller sehr nachdrücklich fort, „nicht allein diese Geschichte, sondern auch noch manche andere von ihr gelesen, und zwar von A bis Z, und habe keine Langeweile verspürt, im Gegentheil, ich habe das Frauenzimmer, die Marlitt, bewundert. Das ist ein Zug und ein Fluß der Erzählung, ein Schwung der Stimmung und eine Gewalt in der Darstellung dessen, was sie sieht und fühlt – ja, wie sie das kann, bekommen wir alle das nicht fertig. Wir wollen nur nicht ungerecht sein und der Schwächen wegen, die sie auch hat, ihr das wegstreiten! Und dann noch eins!“ sprach Keller in großem Ernste weiter – „es lebt in diesem Frauenzimmer etwas, das viele schriftstellernde Männer nicht haben, ein hohes Ziel, diese Person besitzt ein tüchtiges Freiheitsgefühl und sie empfindet wahren Schmerz über die Unvollkommenheit in der Stellung der Weiber. Aus diesem Drang heraus schreibt sie. In allen Romanen, die ich von ihr gelesen habe, war immer das Grundmotiv, einem unterdrückten Frauenzimmer zu der ihr ungerechterweise vorenthaltenen Stellung zu verhelfen, ihre Befreiung von irgend einem Druck, damit sie menschlich frei dastände – und hierin besitzt die Person, die Marlitt, eine Kraft, das durchführen zu können, eine Macht der Rede, eine Wortfülle, eine Folgerichtigkeit in der Entwickelung ihrer Geschichten, daß ich Respekt vor ihr bekommen habe. – Setzt die Marlitt nicht herunter,“ schloß Keller die für ihn so ungewöhnlich lange Rede. „In dem Frauenzimmer steckt etwas von dem göttlichen Funken, und das erkennen alle an, die reinen Herzens sind, vorab die Jugend.“

„O, ich habe, kein reines Herz,“ ließ Kinkel darauf in komisch weinerlichem Ton verlauten, während Scherr bei unserem Disput sich ausschwieg. Keller schien für lange Zeit all seine Beredsamkeit erschöpft zu haben, denn er sprach den Nachmittag kein Wort mehr.

Mich aber überraschte es in hohem Grade, Gottfried Keller, den ich seiner ganzen Charakteranlage nach für einen Gegner der schriftstellernden Frauen halten mußte und dessen Frauenideal im Leben wie in seinen Dichtungen das Weib am häuslichen Herd war, als einen so warmen Vertheidiger der Marlitt auftreten zu sehen.

Ein Denkmal Victor Hugos. Die deutsche Pietät ist am thätigsten, wenn es gilt, die Todten zu ehren. In Frankreich ist das Gegentheil der Fall. Kein Dichter ist bei Lebzeiten so gefeiert worden wie Victor Hugo; dem „größten aller Menschen“ wollte man ein Denkmal errichten, das seiner seltenen Größe würdig sein sollte. Bald nach seiner mehr als fürstlichen Leichenfeier begann man eine Sammlung für dies Monument und es kamen auch bald 100000 Franken ein; doch dann gerieth die Sammlung ins Stocken. Von böser Bedeutung für sie war es, daß eine Victor Hugo-Ausstellung im Hause des verstorbenen Dichters während der großen Weltausstellung des vorigen Jahres trotz der wohlfeilsten Eintrittspreise Bankerott machte. Die Summe für das Denkmal wurde um 10000 Franken vermehrt durch den Ertrag der nach dem Tode verkauften Werke des Dichters. Doch das reicht noch lange nicht für ein würdiges Denkmal, dessen Sockel mit bronzenen Sinnbildern geschmückt werden soll. Der billigste Kostenanschlag beläuft sich auf 200000 Franken und noch ist keine Aussicht, daß diese Summe zusammenkommt. Das bewegliche Volk der Franzosen scheint sehr vergeßlich zu sein! †      

Zur Galerie. (Zu dem Bilde S. 525.) Ja, so ein Sonntagsvergnügen will verdient sein! Nicht bloß das nöthige Kleingeld dazu, nein, auch das Vergnügen selbst verlangt manchen Schweißtropfen, und vollends der zärtliche Vater, der seinen Kindern auch ihren Antheil an der geselligen Erholung gönnen will, muß sich mit einem ausgiebigen Vorrath von Selbstlosigkeit und Opfermuth wappnen.

Da steigen sie die schöne breite Treppe zum Festsaal herauf, der wackere Schlächtermeister und seine bessere Hälfte, und damit’s daheim nicht ohne mütterliche Aufsicht bleibe, haben sie auch das dreijährige Töchterchen gleich in das Konzert mitgenommen. Freilich, es ging ein [547] bißchen langsam, als die kleinen Kinderfüßchen eine der schönen breiten Granitstufen um die andere erklettern sollten, und es waren der Stufen so viele! „Heinrich, trag sie!“ lautet darum die kurze Entscheidung der stattlichen Gattin, die sich natürlich in ihrem schönen Sonntagsgewand mit derlei „staatsgefährlichen“ Unternehmungen nicht befassen kann.

Und der getreue Heinrich, der an seinem eigenen Gewicht gerade genug zu tragen hätte, fügt sich vielleicht mit innerem, jedenfalls aber ohne äußeres Widerstreben in das Unabänderliche und nimmt den kleinen Familienstolz kurzweg unter den Arm, ohne aus dessen Erziehung zu körperlicher Anmuth in Haltung und Bewegung allzuviel Rücksicht zu nehmen. Im Augenblick hat unter seiner tropfenden Stirn nur ein Gedanke Raum; „Ach, wenn wir nur erst oben wären!“ Und doch ist sein Martersteig noch nicht so bald zu Ende – denn von der Ebene des großen Saales geht’s erst noch einmal recht steil hinauf zu den bescheideneren Höhen der Galerie, Armer Heinrich!

Heinrich Kruses „Seegeschichten“ haben seinerzeit durch Frische, Lebenswahrheit und eine Marinemalerei, welche sich von allen grell aufgetragenen Farben fernhielt, vielen Beifall gefunden. Auch die „Gartenlaube“ brachte zwei dieser Seegeschichten, „Das große Schiff“ und „Die Springstange“ im Jahrgang 1872. Neuerdings ist eine zweite Sammlung dieser kleinen Dichtungen (Stuttgart, Cottasche Buchhandlung Nachfolger) erschienen, welche alle Vorzüge der ersten zeigt. Der Dichter hat sich für seine naiv anschauliche Darstellung den alten Homer zum Muster genommen; nirgends wird seine Muse überschwänglich, wenn sie auch Sturm und Meer noch so unheimlich toben läßt; überall genügt ihr der einfachste, aber bezeichnende Ausdruck. Nur setzt sie oft kräftige Lichter auf, wie sie dem Theerjackenhumor zu Gebote stehen, der sich in unserem neuen Seewesen und in den Seegeschichten eines Marryat und seiner Nachahmer entwickelt hat. Ueberall zeigt sich die genaueste Kenntniß der Schiffahrt und aller ihrer Kunstausdrücke, welche indeß nie gewaltsam herbeigezerrt werden, sondern nur gelegentlich dazu dienen, der Darstellung lebhaftere Farbe zu geben.

Die umfangreichste dieser Seegeschichten ist „Der Kalifornier“; sie umfaßt ein abenteuerlich buntes Leben diesseit und jenseit des Oceans; sie beginnt mit der Schilderung eines Schiffbruchs, den ein prächtiges amerikanisches Schiff, die „Cornelia“, erlebte; ein reicher Kaufmann in Boston hatte es gebaut und zu Ehren seiner bräutlichen Tochter „Cornelia“ genannt:

„Alles vom Besten! so hieß für den Schiffsbaumeister die Weisung.
Zwei Jahr’ wurde geklopft und gehämmert am mächtigen Schiffe,
Welches, ein Wunder der Werft, dastand auf dem Stapel, bis daß es
Endlich die Taufe bekam von der bräutlichen Tochter des Reeders,
Die ‚Cornelia!‘ rief, am Buge die Flasche zerschlagend,
Und so lief majestätisch der Rumpf in die schäumenden Wogen,
Bald auch waren die Masten gesetzt, und man schmückte das Schiff aus
So sorgfältig, als ob die ‚Cornelia‘ selber die Braut sei.
Hättet Ihr doch es gesehn, noch eh’ es die Wogen zerschellten!
Eine Kajüte, so groß, wie bei Wilms im Dorfe der Tanzsaal,
Strahlend von Marmor und Spiegeln und Gold.“

Das Schiff, vom Ganges glücklich zurückgekehrt, scheiterte, als der Lotse sich schon ganz geborgen wähnte und schlummerte, auf der Reede von Spiekerooge:

„Tiefer und tiefer schon grub in den Sand sich der mächtige Kiel ein,
Auf ihn drückte nicht nur die gewaltige Last der Fregatte,
Sondern die Ladung zugleich, und das Wasser begann schon zu sinken.
‚Schiff und Ladung verloren!‘ so dachte der Lotse mit Seufzen,
Und schon stürmt der Kap’tän ans Deck: ‚Auswerfen die Ladung!’
Kreischt er verzweifelt. Man wirft auch Ballen auf Ballen geschäftig
Ueber den Bord, doch ohne das riesige Schiff zu erleichtern;
Denn schon kracht es und neigt sich und schwankt mit den ragenden Masten
Und schlägt hin und her auf dem wohlgekupferten Kiele.
‚Masten gekappt!’ kommandirt der Kap’tän. Drei mächtige Föhren
Waren zusammengefügt zum Bau der gigantischen Masten.
Unter den Hieben der Axt kracht endlich zusammen der Großmast
Und ihm folgen dann bald mit geringerer Mühe die andern.
Alles versucht der Kap’tän, was nur ein erfahrener Seemann
Thun kann, um sich zu retten, doch alles ist völlig vergebens.
Siehe, da rennt der Kap’tän, Mitreeder des Schiffes, schon lange
Sprachlos fast vor Wuth und Verzweiflung, in seine Kajüte
Und kommt wieder heraus wahnsinnigen Blickes. Er hatte
Einen Revolver in jeglicher Hand. So sucht er den Lotsen.
‚Wo, wo steckt er, der Hund? Ich schieß’ ihn nieder!‘ so rief er.
Und wild lief er umher, und zitternd verkroch sich der Lotse
Hinter den Ballen von Reis, die grade geholt aus dem Raume;
Aber man fiel zum Glück dem Kap’tän in die Arme von hinten,
Und mein Lotse, von Furcht vor dem Tod und von Angst des Gewissens
Leblos fast, ließ nun nicht länger sich halten im Schiffe,
Sprang vom Heck und kam mit Schwimmen und Waten ans Ufer.“

Gleiche Anschaulichkeit, wie die Schilderung dieses Schiffbruchs, welche wir als Probe mittheilen, zeigt die Erzählung der Abenteuer des Kaliforniers zu See und Land, besonders in dem Goldland am fernen Ocean. In den Paradiesgefilden des gesegneten Strandes von „Adelaide“ spielt die Erzählung, welche diesen Namen trägt; sie giebt uns ein Bild von der grausamen Menschenjagd britischer Kolonisten und der furchtbaren Rache der Wilden. „Das Milchlamm“ erzählt uns von der Heldenthat eines jungen Seekadetten, welcher wegen seiner Zartheit und anscheinenden Schüchternheit diesen Namen führt; „Axel und Frieda“ ist eine Liebesidylle auf einer Kahnfahrt, die mit warmen Farben geschildert ist. Unter den übrigen Seegeschichten findet sich manches Anekdotenhafte; auch begegnen wir ein paar kleinen Erzählungen, die mit der See nichts zu thun haben, einer drolligen Legende und ein paar schnurrigen Schulgeschichten; doch alles ist wahr, natürlich, dem Leben entnommen und mit gesundem Humor dargestellt.

Leipziger Sommergartenleben zu Großvaters Zeiten. (Zu dem Bilde S. 537.) Leipzig vor siebzig Jahren mit etwa 40 000 Einwohnern und das heutige Leipzig mit einer Bevölkerung von mehr als dreimalhunderttausend Menschen – welche Gegensätze! Und doch war das damalige Leipzig nicht minder berühmt als das heutige. Seine Lage und seine geschichtliche Bedeutung, sein Handel und seine Universität, seine feingebildeten, aber thatkräftigen Bürger und seine schönen Frauen hatten ihm einen Ruf verliehen, der weit über Deutschlands Grenzen hinausging. Als eine besondere Zierde dieses alten Leipzigs aber galten die vielen schönen Gärten, die ihm mit Recht den Namen einer Gartenstadt eintrugen und auf welche die reichen Handelsherren mit hoher Befriedigung blickten. Einer derselben, der Bosesche (später Reimersche) Garten – die jetzige Königsstraße ist darauf erwachsen – begeisterte sogar einen Dichter zu den Versen:

„Mein Liebchen ist wie Bosens Garten,
Ein auserles’nes Blumenfeld,
Das hier und da viel tausend Arten
Vollkommner Schönheit in sich hält,
Ein Auszug vieler Seltenheiten,
Ein Meisterstück von Artigkeiten –“

Das Kriegsjahr 1813 hatte nur vorübergehend die Pracht dieser Gärten schädigen können. Reichenbachs (später Gerhards) Garten, Löhrs (später Keils) Garten, Breiters Wintergarten etc. gewannen wieder europäische Berühmtheit. Manche dieser Privatgärten waren im Laufe der Zeit in öffentliche Gärten umgewandelt worden, in deren Wirthschaften sich die Leipziger nach Herzenslust vergnügten.

Wie es in einem solchen Garten vor etwa siebzig Jahren aussah, das zeigt uns deutlich unser Bild. Schattige Lauben, in denen kleine Gesellschaften, ungestört von den übrigen, traulich beieinander sitzen konnten, waren in Menge vorhanden, so im „Großen Kuchengarten“, den einst Goethe besungen hatte, auf der „Funkenburg“, wo früher das Fischerstechen abgehalten wurde und auf deren vorderer Wiese sich 1823 der berühmte Seiltänzer Kolter zuerst sehen ließ.

Dort trank man auch die berühmte Gose. Sonst begnügte man sich mit Weißbier und dunkelm einfachen Bier, dem sogenannten „Raster“; aber Ende der zwanziger Jahre wurden bereits die ersten Lagerbiere, namentlich Lützschenaer, verschenkt, und bald nachher gab es sogar „Bayerisches Bier“, das aus Nürnberg eingeführt wurde. Kinder und Frauen liebten das einfache Bier mit „Musik“, d. h. mit geriebenem Brot und Zucker. Der Handwerkerstand erlustigte sich im „Posthörnchen“ und in der „Alten Burg“, die gewöhnlich die „Blaue Mütze“ genannt wurde, weil der Wirth stets eine blaue Mütze trug und eine solche auch am Eingange seines Anwesens aufhing, zum Zeichen, daß an dem betreffenden Tage Konzert stattfinde.

Nicht selten verkehrten auch Studenten dort und dann gab es öfters eine regelrechte Prügelei. In Schiegnitzens (später Kupfers) Kaffeegarten, sowie in Rudolphs Garten verkehrte gewählteres Publikum. Hier ließen auch öfters Prager Musikanten ihre heiteren Weisen erklingen. Vornehmere Konzerte fanden im „Kuchengarten“ und Donnerstags im „Hotel de Prusse“ statt.

Das Rosenthal, das früher vom feineren Publikum weniger besucht wurde, kam auch mehr und mehr in Aufnahme. Gleich am Eingange, wo sich jetzt das Restaurant Bonorand befindet, war eine Bude, in der man im Sommer schon früh um 4 Uhr Thee, Kaffee, Chokolade, Gefrorenes etc. bekommen konnte. Die Wirthin der „Eisbude“ hieß im Volksmunde die „Kalte Madam“, bei ihr versammelte sich die feine Welt. Im Frühjahre 1824 erhielt sie einen Nebenbuhler in dem Schweizerbäcker Kintschy, dem der Rath erlaubte, eine zweite Eisbude, das „Schweizerhüttchen“ während des Sommers einzurichten. Ein Jahrzehnt später begann man das Rosenthal allmählich zu dem schönen Parke umzugestalten, der heute der Stolz aller Leipziger ist. –

Die großen Leipziger Gärten haben der Neuzeit zum Opfer fallen müssen. Prachtvolle Spazierwege zieren aber jetzt die Stadt, und außer dem Rosenthale hat man die schönen Laubwälder von Leipzigs Umgegend in reizende Parkanlagen verwandelt, dem gegenwärtigen Geschlecht zu Nutz und Frommen. Mag immerhin das Alte stürzen, wenn Besseres an seine Stelle tritt! Sttz.


Kleiner Briefkasten.

{Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

A. S. am kleinen Flüßchen in Schlesien. Die "Gartenlaube" warnt doch oft genug vor all diesen Gegenmitteln. Auch das von Ihnen genannte ist Schwindel.

Gr. T. H. Die eingesandten Skataufgaben sind nicht verwendbar. Die erste läßt eine Reihe von Nebenlösungen zu, welche das Ansagen des Solo noch begründeter erscheinen lassen, als die beabsichtigte Lösung. Die zweite Aufgabe beruht auf einem Spielgebrauch, (Null mit Hereinnahme des Skat, also Nullfrage), welcher nur in ganz vereinzelten Spielkreisen vorkommt. Für die Aufgaben der „Gartenlaube“ sind die Bestimmungen der Allgem. Deutschen Skatordnung maßgebend.

A. H. in Detmold. Thatsächlich ist die Form „Sprütze“, wenn man auf die ältesten Formen des Wortes zurückgeht, die richtigere. Indessen hat sich die Schreibung „Spritze“ so sehr eingebürgert, daß es eine aussichtslose Auflehnung gegen den Gebrauch ist, wenn man heute noch „Sprütze“ schreiben will.

Fr. D. in Magdeburg. Ohne Zweifel. Nur werden sie in diesem Falle darauf gefaßt sein müssen, daß man Sie erst einer gewissen Probezeit unterwirft, ehe man Sie fest anstellt.

A. C., stud. jur. in St. G. Der „Allgemeine deutsche Sprachverein“ hat am 15. Oktober 1887 eine Preisaufgabe gestellt, deren Wortlaut folgender war: „Wie können Reinheit und Reichthum der deutschen Schriftsprache durch die Mundarten gefördert werden?“ Ohne Zweifel ist dies die Preisaufgabe, welche Sie meinen. Wir bemerken übrigens, daß die Entscheidung über die eingereichten Bearbeitungen längst (seit 6. Oktober 1889) getroffen ist.

Abonnent, Sebnitz. Ihre Anfrage ist schwer zu beantworten. Sie fragen uns, ob sich die Worte des sterbenden Goethe: „Mehr Licht!“ auf die Religion oder auf die sonstige Weltanschauung oder vielleicht nur auf das Tageslicht in seinem Sterbezimmer bezögen. Aber woher sollen wir das wissen? Goethe selbst hat keinen „Kommentar“ zu seinen Worten mehr gegeben, und noch schlimmer wird die Sache dadurch, daß ein Zeuge sogar behauptet, Goethe habe unmittelbar vor seinem Ende überhaupt nichts gesagt. Sollen wir Ihnen Worte deuten, die vielleicht gar nicht gesprochen worden sind?

G. R. in T. Provinz Hannover. Geehrte Freund und Leser! Wir bitten Sie inständig in Ihrem und unserem Interesse, schicken Sie uns keine Gedichte mehr! Sie sind ein vortrefflicher Patriot, aber kein entsprechend guter Dichter.

[548]

Allerlei Kurzweil.

Schachaufgabe Nr. 4.
2. Aufgabe für das Lösungsturnier
in Ströbeck am 30. Juni 1890.*
Von R. Dütschke in Halberstadt.
SCHWARZ
Rösselsprung. Damespielaufgabe.
Von Dr. E. S. Freund.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.
* Im Anschlusse an unserem Artikel
„Das Schachdorf Ströbeck“ auf S. 544 dieses Halbheftes
bringen wir die obenstehende interessante Aufgabe.
WEISS
Weiss zieht und gewinnt.

Scherzbilderräthsel.

Aufgabe.

Trennungsräthsel.

Vereint hat man’s wohl schon empfunden
Im Hinblick auf vergnügte Stunden;
Sieht man jedoch, den froh man wähnen
Ob großen Glückes sollt’, in Thränen,
Und fragt man ihn, warum er weint,
Spricht er getrennt was erst vereint!

Emil Root.

Die Buchstaben dieser Figur sind so zu ordnen,
daß die waagerechte Reihe ohne das Fragezeichen
eine Stadt in Hannover und die senkrechte ein
Getränk nennt. Wird hierauf an Stelle des Fragezeichens
ein bestimmter Buchstabe gesetzt, bedeutet
die waagerechte Reihe ein Organ des Menschen
und die senkrechte ein Nagetier. St.
Homonym.

Mit „die“ such’s unter den Waffen,
Mit „das“ am Strome, am Fluß,
„Die“ hat’s mit dem Feinde zu schaffen,
„Das“ stemmt sich entgegen dem Fluß.


E. Kornrumpf.
Auflösung des Kreuzräthsels auf S. 516:
1) Weichsel, 2) Stechapfel,
3) Pythagoras, 4) Bosporus
Logogriph.

Du findest mich hoch oben in den Bergen,
Den Herden biet’ ich Nahrung mannigfach;
Setz’ einen Laut mir vor: den fränk’schen Schergen
Fiel ich zum Opfer in der Zeit der Schmach;
Ans Ende noch ein „e“: in heißer Zone
Wieg’ hoch in Lüften ich die Blätterkrone.


Oskar Wilda.

Auflösung der arithmetischen Aufgabe auf S. 516:

Auflösung des Anagramms auf S. 516:
1. Storch, 2 Delhi, 3. Charade, 4. Barmen,
5. Alpen, 6. Daniel, 7. Ganges, 8. Sense,
9. Absalom, 10. Sorbonne. –
Die hinzugefügten Buchstaben ergeben: „Champignon“

Auflösung der Hieroglyphen von S.516:
Die Tugend der Geduld lernt man am besten in der Schule der Leiden.




Professor Bock’s Meine Gesundheitslehre. Ein Volksbuch in neuer Bearbeitung.
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Bock’s kleine Gesundheitslehre“ ist in den meisten Buchhandlungen zu haben. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, bestelle man unter Beifügung von 1 Mark und 20 Pf. (für Porto) in Briefmarken direkt bei der

Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.