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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[133]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Das Eulenhaus.
Hinterlassener Roman von E. Marlitt.       Vollendet von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Auf leisen Sohlen huschte Claudine vollends die mit einem Purpurteppich belegten Stufen hinunter; am Portal stand der alte Diener ihres Vaters, Friedrich Kern, jetzt in herzoglicher Livree, und sein ehrliches Gesicht zog sich vor Freude in tausend Falten. Sie nickte ihm freundlich zu und eilte hinaus. Mit einem erleichternden Aufathmen sank sie in die seidenen Kissen des Wagens; sie hatte sich gefürchtet wie ein Kind, es könne ihr noch jemand auf dem Korridor, auf der Treppe entgegen treten, jemand! Nein, Gott sei Dank! sie saß allein in dem fürstlichen Wagen, und der Wagen trug sie ihrer Heimath zu, ihrer eigensten Heimath! O, niemals hatte sie eine solche Sehnsucht nach dem einfachen kleinen Stübchen empfunden wie heute. Eine Weile überließ sie sich dem Gefühl, ohne zu denken; dann öffnete sie plötzlich das Fenster und fuhr sich über die Stirn; dieser Duft der parfümirten Wagenkissen machte alte peinvolle Erinnerungen aus der Residenz lebendig. Es war das Lieblingsparfüm des Herzogs; der schwere süßliche Geruch pflegte aus all seinen Kleidern zu strömen, ihn stets zu umgeben wie eine Wolke; es hatte ihr oft Schwindel verursacht, wenn Se. Hoheit mit ihr im Tanze über das Parkett geflogen war. Sie ballte plötzlich die Hand und alles Blut strömte ihr zum Kopfe. Nichts in der Welt macht Vergangenes so lebendig wie der Geruch.

Sie öffnete auch noch das andere Fenster und saß im Zugwind, den die rasche Fahrt schuf, die Lippen auf einander gepreßt und thränenfunkelnden Auges. Sie war doch wieder über diese Schwelle gegangen, gezwungen worden, darüber hinweg zu treten! Was hatte ihr die Flucht genützt? Nichts! Garnichts! Wollte er sein Wort wahr machen, er werde sie überall zu finden wissen?

Die Gedanken verwirrten sich hinter ihrer Stirn; sie kam sich schlecht, kam sich gesunken vor; hätte sie nicht die Hand der fürstlichen Frau zurückweisen müssen, so schroff wie Beate es gethan? – Ach, Beate! Wie schritt die so eben und klar ihren Weg! Und da schimmerten eben die Fenster des Neuhäuser Wohnhauses aus dem Geäste der Linden; eine plötzliche Sehnsucht nach der aufrichtigen schlichten Weise ihrer Kousine erfaßte sie – nur ein Wort von ihr hören, nur aus ihren Augen lesen, ob sie denn wirklich etwas


Kinderlust. Originalzeichnung von Ed. Ravel.

[134] so Unrechtes gethan? Sie zog die seidene Schnur, die um den Arm des Dieners befestigt war, und befahl, nach dem Neuhäuser Schlosse zu fahren.

In dem weiten Hausflur kam just Beate daher, das klirrende Schlüsselbund in der Hand und hinter sich ein Mädchen, das einen Stoß frisch aus dem Spinde genommenen Leinenzeuges trug.

„Wie, Du bist das?“ rief Beate mit ihrer lauten Stimme, daß es sich schallend an den Wänden brach. „Herr des Himmels, wo kommst Du denn heute Abend noch her?“

Claudine stand unter der schwankenden, schmiedeeisernen Hängelampe; aus dem schwarzen Spitzentuch, das sie um den Kopf trug, sah ihr Gesicht fast marmorbleich hervor. „Ich wollte Dir guten Abend sagen im Vorüberfahren,“ sprach sie.

„Ei, da tritt ein! Woher kommst Du? Sicher aus Altenstein, Deiner feierlichen Toilette nach? Ich hatte eigentlich die Absicht, Euch heute aufzusuchen; aber da begegnete mir in der Nähe Eures Hauses die Berg mit der Kleinen, und rathe, wer noch im Wagen saß? Herr von Palmer! Na, das machte mich neugierig, ich pfiff dem Kutscher und bat um die Erlaubniß, bei dem schlechten Wetter gleichfalls unsere Equipage benutzen zu dürfen. Die beiden Herrschaften waren natürlich sehr entzückt, wie mir schien. Höre, Claudine, auf Liebesgeschichten verstehe ich mich schlecht, mir fehlt jegliche Erfahrung, aber – hier, ich lasse mich darauf köpfen, die werden ein Paar.“

Sie hatte während dieser Erzählung die Kousine in die Wohnstube geleitet und in einen der steifen mit braunem Rips bezogenen Lehnstühle gedrückt. „Aber, sag’ doch,“ rief sie von der andern Ecke des Zimmers her, wo sie am Nähtischchen Schere, Zwirn und Nadel suchte, „kommst Du von Altenstein? Und ist der herzogliche Wagen etwa draußen? Ja? – Aber, mein liebes Kind, dann schicken wir ihn doch fort? Unser Lorenz macht sich ein Vergnügen daraus, Dich nachher hinüber zu fahren.“ Sie warf einen Blick auf den Regulator über dem Sofa, der zwischen den Porträts ihrer Eltern hing. „In fünf Minuten halb Zehn; bis zehn Uhr kannst Du doch bleiben?“ Und schon war sie am Glockenzug neben der Thür und rief ihre Befehle dem herbeieilenden Hausmädchen zu.

„Hast Du Lothar nicht gesehen?“ fragte sie dann; „der Jäger des Herzogs war hier, um ihn nach Altenstein zu citiren. Dich haben sie wohl auch holen lassen?“

Claudine nickte.

„Du machst ja ein recht erbauliches Gesicht dazu, Schatz!“ sagte Beate lachend und setzte sich zum Nähen zurecht.

„Ich bin nicht ganz wohl; ich wäre lieber daheim geblieben.“

„Warum sagtest Du das nicht ehrlich?“

Claudine wurde roth. „Ich glaubte es nicht sagen zu dürfen – die Herzogin schrieb so liebenswürdig.“

„Na ja, Claudinchen, eigentlich kannst Du es auch nicht,“ erwiederte Beate und wichste den Faden, mit dem sie eben einen abgerissenen Henkel an ein grobes Leutehandtuch nähte. „Sie sind doch immer sehr gütig gegen Dich gewesen,“ fuhr sie fort, „und diese kleine Herzogin ist trotz ihrer Exaltation doch eine Seele von einer Frau – und so krank! Nein, weißt Du, es wäre geradezu eine Unart, wolltest Du ihr nicht ein so geringes Opfer bringen. Wenn Du Dir etwa Sorgen machst, daß Eure Wirthschaft unter Deiner Abwesenheit leide, so beruhige Dich nur, Kindchen, das übernehme ich.“

Sie stand bei diesen Worten auf und machte sich wieder am Nähtisch zu schaffen, als wollte sie Claudine nicht ansehen.

„Du bist so freundlich,“ murmelte das Mädchen. Auch die Ausrede, daß sie ihre Pflicht daheim nicht lassen könne, ward ihr genommen. Es war, als ob sich alles gegen sie verschwöre.

„Aber Du hast mir noch nicht gesagt, war Lothar in Altenstein?“ fragte Beate zurückkommend.

„Er spielt mit Sr. Hoheit L’hombre.“

„O Jemine, das soll immer sehr lange dauern! Wer sind denn die Anderen von der Partie?“

„Vermuthlich der Adjutant oder der Kammerherr und – irgend Einer, vielleicht Palmer.“

„Ah – der! Richtig! Er sagte, er habe es eilig, als er sich von mir im Wagen verabschiedete. Ich bot ihm an, nach Altenstein zu fahren, aber er dankte, er sei gerade auf einem Spaziergang begriffen gewesen – bei diesem Regen, Claudine – als er Frau von Berg getroffen habe. Er ziehe es vor zu gehen. Auch gut, sagte ich und ließ ihn laufen. Mich amüsirte nur das Gesicht der guten Berg, als ich in den Wagen schneite; würde sie zufällig einen Schierlingsbecher statt der Milchflasche des Kindes bei der Hand gehabt haben, ich hätte dran glauben müssen. Kutscher und Kinderfrau erzählten mir nachher, Herr von Palmer sei schon öfter ‚zufällig‘ mit Frau von Berg zusammengetroffen, und die Letztere fügte hinzu: ‚Dann sprechen sie jawohl Welsch‘ – womit sie ‚französisch‘ meint – ‚denn ich verstehe kein Wort.‘ Aber mein Gott, da kommt ja Lothar schon; sieh doch den Hund!“

Der prachtvolle Hühnerhund hatte sich erhoben und stand nun wedelnd vor der Stubenthür; ein rascher elastischer Schritt näherte sich und gleich darauf trat der Baron ein. Er sah einen Moment ganz bestürzt auf Claudine, die sich erhoben hatte und ihr Spitzentuch wieder über den Kopf band.

„Ah! Meine gnädige Kousine,“ sagte er, sich verbeugend, „und ich glaubte Sie noch in den Altensteiner Salons. Se. Hoheit brachen die Partie so plötzlich ab, daß ich annahm, Sie wollten noch ein gemüthliches Abendstündchen bei der Frau Herzogin verleben. Hoheit hatten übrigens entschiedenes Unglück im Spiel,“ fuhr er fort; „indessen, das nahm er sichtlich für ein gutes Zeichen, er ist abergläubisch, wie alle großen Geister. Wenigstens nannte er mich mit Vorliebe heute Abend ‚Vetter‘, und das geschieht immer nur, wenn das Barometer sehr hoch steht.“

Er hatte bei diesen Worten den Hut aus der Hand gelegt und streifte die Handschuhe ab.

„Gieb mir einen Trunk ehrlichen kühlen Bieres, Schwester,“ bat er dann mit veränderter Stimme; „dieser süße französische Sekt und diese süßen Cigaretten sind mir entsetzlich zuwider. Aber wollen Sie schon fort, Kousine?“

„Bleib’ doch noch!“ sagte Beate, und zu Lothar gewendet, fügte sie hinzu: „Sie ist freilich nicht ganz wohl, aber da die Herzogin ihr den Wagen gleichsam in die Stube schickte, blieb ihr nichts weiter übrig, als hinzufahren.“

Herr von Gerold lächelte und nahm das schäumende Glas, das ein Diener ihm brachte. „Allerdings,“ sagte er und trank.

Claudine, die während seines Sprechens aufgestanden war und das Tuch um ihre Schultern gezogen hatte, ward, als sie dieses Lächeln sah, bleich wie der Tod. Und plötzlich stand sie vor ihm, hochaufgerichtet und stolz.

„Allerdings,“ wiederholte sie mit zuckender Lippe, „ich konnte die Aufforderung Ihrer Hoheit nicht zurückweisen. Ich bin heute zu ihr gegangen und werde morgen wieder gehen und übermorgen und alle Tage, wenn Hoheit es befiehlt! Ich weiß, ich handle auch im Sinne Joachim’s, wenn ich einer Kranken ein paar Leidensstunden verkürzen helfe; sei es nun die Herzogin oder das arme Weib, welches Tagelöhnerdienste in unserem Garten versieht.“

Sie hielt plötzlich inne, aber es war, als thäte sie sich Gewalt an, um nicht weiterzusprechen.

„Laß den Wagen vorfahren, Beate,“ bat sie dann, „es ist hohe Zeit, ich muß heim.“

Einen Moment war das Lächeln von seinem Antlitz gewichen, jetzt aber zuckte es schon wieder um seinen Mund. Er verbeugte sich tief und wie zustimmend. „Gestatten Sie, daß ich Sie begleite,“ sagte er nun und griff nach seinem Hut.

„Ich danke Ihnen, ich möchte allein sein!“

„Ich bedaure, daß Sie meine Gegenwart noch eine Viertelstunde ertragen müssen, aber ich lasse Sie nicht allein fahren.“

Sie faßte Beate um den Hals und küßte sie.

„Was hast Du?“ fragte diese. „Du zitterst ja?“

„O nichts, Beate.“

„Also laß es mich wissen, Claudine, wenn Du nicht daheim bist; ich hole mir dann die Kleine.“

Und wieder fuhr sie in den schweigenden Wald hinein. Sie lehnte in der Ecke des Wagens, ihr Kleid hatte sie dicht an sich gezogen und mit ihrer Hand fest in die Falten gegriffen, als wollte sie irgend etwas zerdrücken, um ihre innere Empörung zu beschwichtigen. Neben ihr saß Lothar; der Schein der Wagenlaterne streifte seine Rechte, an welcher der goldene breite Ehering blitzte; sie ruhte unbeweglich, als schlafe Der, dem sie gehörte. Kein Wort ward geredet in diesem lauschigen, seidengepolsterten kleinen Raum, der zwei Menschen abschloß von dem [135] Unwetter und den Schrecken der Nacht. In dem Herzen des Mädchens wogte ein Sturm von Zorn und Schmerz; was glaubte dieser Mann von ihr, was war sie in seinen Augen?

Sie vermochte es nicht auszudenken, denn schreckhaft klangen ihr die eigenen Worte in die Ohren: „Und morgen werde ich wieder hingehen, und übermorgen und alle Tage!“

Nun war der Würfel gefallen; was sie gesagt, das that sie, und sie that das Rechte.

Sie beugte sich vor; Gottlob! Dort schimmerte das Licht aus Joachim’s Fenster; nun hielt der Wagen und der Schlag wurde aufgemacht. Baron Gerold sprang hinaus und bot ihr die Hand zum Aussteigen. Sie übersah es und ging der Pforte zu. Mit einer stolzen Wendung des Kopfes streifte sie ihn noch einmal, und da glaubte sie beim Scheine der Laterne, die der alte Heinemann mit hoch erhobenem Arme hielt, zu sehen, daß er ihr mit einem bekümmerten Ausdruck nachschaue. Aber das war wohl nur Einbildung gewesen, hervorgerufen durch das Schattenspiel. Pah! Lothar bekümmert, um sie bekümmert!

Sie kam fast athemlos in das Haus, und hinter sich hörte sie das Rollen der Equipage, mit der er nach Neuhaus zurückkehrte.

„Sie schlafen schon alle,“ wisperte der alte Mann, indem er seiner Herrin die Treppe hinaufleuchtete, „nur der gnädige Herr arbeiten noch. Die Kleine hat bei Fräulein Lindenmeyer gespielt, und dann haben wir Erdbeeren mit Milch gegessen; es ging alles wunderschön. Das gnädige Fräulein brauchen garnichts mehr zu thun, von rechtswegen.“

Sie nickte ihm zu mit ihrem ernsten blassen Gesicht und schloß die Thür ihres Stübchens hinter sich; dort sank sie auf den ersten besten Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht – und so saß sie lange, lange.

„Er ist nicht besser als die Anderen,“ sagte sie endlich und schickte sich an zu Bette zu gehen; „auch er glaubt nicht mehr an Frauenehre, an Frauenreinheit!“

Was hatte sie ihr genutzt, ihre Flucht? Glaubte nicht gerade Er – Er das Schlimmste von ihr? Sein Lächeln – die Reden heute Abend – hätten es ihr gezeigt, auch wenn sie es nicht schon längst gewußt. O, die ganze Welt mochte denken von ihr, was sie wollte – wenn nur ihr Herz, ihr Gewissen rein blieb! Sie allein würde dafür sorgen, daß sie den Blick nicht niederzuschlagen brauchte.

Sie preßte die Lippen auf einander. Wohl, sie würde ihm zeigen, daß eine Gerold selbst den trübsten schlammigsten Weg zu gehen vermag, ohne sich auch nur die Schuhsohlen zu beschmutzen! Und sie schaute hastig dorthin, wo sie den Stern zwischen dem Geweihe des Hirsches wußte; ihretwegen würde sein Glanz nie verbleichen!

Sie erhob sich, zündete Licht an und blickte sich in ihrem Stübchen um; wie sah es hier aus! Die Spuren ihres Seelenkampfes, ihrer in Unordnung gerathenen Gedanken zeigten sich erschreckend deutlich in dem sonst so zierlichen Raum; dort die Schrankthür weit geöffnet, auf der Kommode Schleifen, Nadeln, Kämme in wirrem Durcheinander, verschiedene Kleider auf Bett und Stühlen; alles spiegelte so klar die Stunde der Unentschlossenheit wieder, die sie durchlebt hatte, ehe sie nach Altenstein fuhr. Planlos hatte sie die Sachen aus den Behältern genommen und sie immer wieder hingeworfen; sie wollte nicht, nein, sie wollte nicht gehen und fand doch nicht den Muth, sich mit einer Lüge entschuldigen zu lassen. Draußen hatten die Pferde ungeduldig gescharrt vor der fürstlichen Equipage und eine Viertelstunde nach der andern war verstrichen, bis Joachim zuletzt kam: „Aber, Schwester, bist Du noch nicht fertig?“

Da war sie gegangen.

Sie begann aufzuräumen; wie erleichtert athmete sie auf, als wieder Ordnung um sie herrschte. Ja, es war nun überhaupt alles geordnet; sie selbst hatte die Entscheidung getroffen in einem Moment des Zornes, des bittersten Wehes. Aber war es wirklich das Rechte?




Frau von Berg saß in ihrem Zimmer im Neuhäuser Schlosse am Schreibtisch. Die Thür zum Nebenraum stand offen; dort wohnte das Kind mit einer Wärterin. Vor den Fenstern rauschte der Regen hernieder und winkten die nassen Zweige der Linden; die Dame hatte sich in ein dickes wollenes Tuch gehüllt und schrieb; die Erregung mochte wohl ihre Feder führen; denn diese jagte förmlich über das starke krêmefarbige Papier und die Buchstaben waren so merkwürdig klein und flüchtig; eine eigenthümliche Schrift, die an zierliche Katzenpfötchen erinnerte.

Sie war außerordentlich schlechter Laune, und als eben Beatens laute Stimme vom untern Hausflur bis hier herauf scholl, machte sie eine Faust und sah zornfunkelnd zur Thür hinüber. Wer stand ihr denn dafür, daß dieser Hausdrache nicht, kraft seines Amtes, wieder einmal bei ihr eindrang, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung hier oben? Ebenso, wie sie gestern, kraft ihrer Autorität, in den Wagen gedrungen war und eine gemüthliche Plauderstunde gestört hatte. Und das Schlimmste blieb eben, daß man hier so machtlos war. Der Herr Baron hatte ja kaum noch Augen für sein Töchterlein, und wo diese Augen waren, das wußte sie nur zu genau. Gestern Abend hatte er sie ja noch bei Nacht und Nebel nach dem Eulenhause begleitet!

Sie blickte durchs Fenster; dann nickte sie, als ob ihr etwas Besonderes einfalle, und schrieb weiter:

„Ich habe bereits gestern Prinzeß Thekla in meinem wöchentlichen Bericht über das Befinden ihres Enkelkindes verschiedene Andeutungen gemacht, die nach allem, was ich Ihnen schon meldete, Prinzeß Helene in einen ihrer bekannten Wuthanfälle versetzt haben werden. Es ist kaum glaublich, wie sehr diese junge Dame zur Eifersucht neigt; nun, ich erzählte Ihnen ja öfter davon.

Uebrigens, mein bester Palmer, hörte ich gestern Abend im Vorübergehen an dem Wohnzimmer – ich kam aus der Plättstube, wo ich einen Disput mit dem Hausmädchen hatte – Sie glauben nicht, wie man sich ärgern muß in diesem gottbegnadeten Musterhaushalt, wenn man einmal etwas Außergewöhnliches verlangt – ich hörte also im Vorübergehen, wie das Gänschen, ci-devant Schwan, ihrem allergetreuesten Verehrer mit erhobener Stimme erklärte, daß sie die Absicht habe, jeden Tag nach Altenstein zu pilgern! Somit hätte sich ja Ihre Prophezeiung als wahr erwiesen. Wie sagten Sie doch noch? ‚Es giebt kein besseres Mittel, einen schüchternen Liebhaber um den letzten Rest gesunder Vernunft zu bringen, als ein wenig Versteck mit ihm zu spielen.‘ Darauf wäre ich nie gekommen! Sie sagen freilich, der Herzog ist abgekühlt – tant mieux! Erlauben Sie mir aber, vorläufig noch einige geringe Zweifel an dieser ‚Abkühlung‘ zu hegen; ich glaube den Allergnädigsten besser zu kennen.

Morgen hoffe ich Sie zu sehen. Mademoiselle Beate hat nämlich großes Reinmachen angesagt. Sie pflegt sich dabei ein weißes Kopftuch umzubinden und mit einem langen Besen die Ahnenbilder abzustäuben. Es ist ein Festtag dann; es giebt Kartoffelklöße mit Backobst zum Diner; ah, es ist ein idyllisches Leben hier! Lange halte ich es nicht mehr aus, mein Bester, die Versicherung gebe ich Ihnen. Sorgen Sie, daß man nicht ewig hier bleibt; dann hört auch meine Gefangenschaft auf. Lassen Sie Cholerabacillen im Brunnenwasser sein auf Altenstein, oder setzen Sie einige Dutzend Ratten und Mäuse in die allerhöchsten Zimmer; lassen Sie den seligen Oberst oder die schöne Spanierin spuken gehen oder den Blitz einschlagen: mir einerlei was, wenn es nur die Einwohner hinaustreibt und ich die Dächer der Residenz wiedersehe; ich kann in dieser Kuhstallluft nicht athmen.“

Sie brach hier wieder ab und wandte den Kopf nach dem Nebenzimmer, wo ein erbärmliches Kinderweinen erklang. Ein bitterböser Ausdruck überflog das volle weiße Gesicht der Lauschenden. „O Gott, ich wollte, daß –“ murmelte sie und erhob sich.

„Frau von Berg, die Kleine ist sehr unruhig,“ berichtete die Kinderfrau.

„So geben Sie ihr doch Milch; mein Gott, sie wird Hunger haben; was ist’s denn weiter!“

„Sie nimmt nichts, gnädige Frau.“

„So tragen Sie das Kind umher; es muß sich beruhigen.“

„Ich darf das Kindchen nicht herausnehmen, so lange es in dem nassen Umschlag liegt; der Arzt hat’s extra –“

Frau von Berg schleuderte die Feder auf den Tisch und rauschte in das Kinderzimmer.

„Ruhig! Ruhig!“ rief sie mit ihrer gellenden Stimme und klatschte, an das Bett tretend, in die Hände; ihre Augen sahen so drohend aus, so geradezu wüthend, daß das Kind verstummte, um nach ein paar Sekunden desto lauter zu schreien. Es klang so ängstlich, so hilfesuchend, dieses Weinen, daß die Kinderfrau

[136]

Eine Razzia in Kaukasus
Nach dem Oelgemälde von J. v. Perez.
Photographie im Verlage von Viktor Angerer in Wien.

[137] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [138] von der Spiritusmaschine, wo sie das verordnete Süppchen kochte, herzustürzte, und daß draußen auf dem Korridor plötzlich Schritte erklangen und Baron Gerold im nächsten Moment auf der Schwelle stand.

„Ist Leonie krank?“ war die erste Frage, und seine verdüsterten Augen suchten das Kind im Bettchen, das jetzt seine Aermchen verlangend nach ihm ausstreckte, aber auch ruhig ward.

Frau von Berg war verlegen, aber sie blieb standhaft am Fuße des Bettchens. „Nein,“ erwiederte sie, „nur hungrig oder eigensinnig.“

„Aber es war nicht das Schreien eines eigensinnigen Kindes,“ sagte er kurz und bestimmt.

„Nun, es ist auch möglich, daß sie sich nicht wohl fühlt,“ erklärte die schöne Frau; „es ist mir schon längere Zeit vorgekommen, als vertrage die Kleine die Luft hier nicht; man denke auch, von dem weichen lauen Klima der Riviera nach dem deutschen Waldklima, in diese kühle scharfe Bergluft!“

Er sah sie ernsthaft an.

„Meinen Sie?“ fragte er. Und dieser Tonfall trieb ihr das Blut in die Wangen, sie fürchtete längst seinen Sarkasmus. „Ich bedaure nur,“ fuhr er gelassen fort, „daß das arme Kindchen da von dem ersten Arzte Nizzas direkt in diese scharfe kühle Luft verwiesen wurde. Es muß sich nun leider schon daran gewöhnen; denn vor der Hand liegt Nizza so wie so außer Frage, da sein Vater gegenwärtig gezwungen ist, hier zu bleiben. Im Uebrigen, meine liebe Frau von Berg, scheint ihm die ‚kühle, scharfe‘ Luft dennoch recht gut bekommen zu sein; gestern sah ich, wie das Kind lebhaft durch das Zimmer rutschte und sich an jenem Stuhl dort völlig allein aufrichtete.“

Frau von Berg zuckte unmerklich die Schultern.

„Was will das heißen für ein zweijähriges Kind?“ sagte sie.

„Bleiben Sie logisch, gnädige Frau; es ist hier davon die Rede, ob das Kind Fortschritte im Befinden gemacht hat oder nicht. Das Alter der Kleinen gehört nicht hierher. – Ich möchte Ihnen jetzt noch eine Mittheilung machen, die Sie vermuthlich interessiren dürfte. Ihre Durchlauchten, Prinzeß Thekla und Helene, werden in allernächster Zeit auf einige Wochen nach Neuhaus kommen, um sich persönlich von dem Befinden ihrer Enkelin zu überzeugen. Woher mag doch Ihre Durchlaucht wissen, daß der Reitenbacher Arzt mein Kind jetzt behandelt? Haben Sie keine Ahnung?“

Frau von Berg wechselte die Farbe. Sie blieb jedoch ruhig und zuckte die Achseln.

„In meinen verschiedenen Schreiben an Ihre Durchlaucht habe ich nichts davon verlauten lassen,“ fuhr er fort und trat von dem Bette an das Fenster; „ich liebe nicht das Hineinreden in die Anordnungen, die ich treffe. Außerdem – Prinzeß Thekla ist Homöopathin und hat alle Taschen voll Kügelchen und Tropfen. Haben Sie wirklich keine Ahnung, Frau von Berg?“

Sie schüttelte den Kopf. „Keine!“ antwortete sie.

Er achtete auch schon nicht mehr darauf; er preßte plötzlich die Stirn an das Fensterkreuz und starrte auf die Chaussee, die sich wie ein weißer leuchtender Streifen am Walde dort drüben hinzog. Da kam ein herzoglicher Wagen im schnellsten Tempo gefahren; ein Frauenantlitz ward einen Moment hinter der Spiegelscheibe des Fensters sichtbar, dann war die Equipage verschwunden. – Claudine fuhr nach Altenstein!

Als er sich umwandte, sah er seltsam bleich aus. Frau von Berg musterte ihn mit einem bösen Lächeln um den Mundwinkel; auch sie hatte den Wagen gesehen. Er bemerkte es nicht; er trat zu dem Bettchen des Kindes, das jetzt schlief, und betrachtete das kleine kränkliche Geschöpf lange Zeit.

Frau von Berg ging mit leisem Schritt in das Nebenzimmer. Er blieb stehen und allmählich legte sich ein harter bitterer Zug um seinen Mund. Die alte Kinderfrau hinter dem blauverhangenen Bettchen sah ihn starr an – der Herr mochte wohl das arme Kindchen gar nicht leiden, weil es seiner vergötterten Frau das Leben gekostet, als es geboren ward? Ja, ja, es kam das öfter vor, daß so ein Würmchen es entgelten mußte! Armes Ding, so ein unschuldiges Geschöpfchen, das bestimmt ist, stets mit vorwurfsvollen Augen angesehen zu werden; armes Ding!

Und plötzlich wandte sich der Mann dort am Bettchen und ging mit schnellen Schritten hinaus. Die Alte duckte sich scheu und hielt die Hände über das fest schlummernde Kind; sie meinte, die Thür müßte krachend ins Schloß fliegen, so desperat hatte er ausgesehen. Gott sei Dank! Er schloß sie zwar hastig und fest, aber die Kleine schlief weiter.

(Fortsetzung folgt.)




Nachdruck verboten.     
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Vom Nordpol bis zum Aequator.
Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Wanderungen der Säugethiere.


Wanderlust in dem uns verständlichen Sinne theilt mit uns kein anderes Thier, nicht einmal der Vogel, den wir um die göttliche Gabe der länderdurcheilenden, meerüberbrückenden Schwinge beneiden. Sorgenlos und frei wie der Wanderbursch, welcher auszieht, um fremder Länder Art und Sitte kennen zu lernen, wandert kein Thier; denn mehr noch als wir hängt es an der Scholle; fester als menschliches Heimweh binden es Gewohnheit oder Trägheit an die Stätte seiner Geburt. Schickt es sich an, diese Stätte zu verlassen, so gehorcht es zwingender Nothwendigkeit, so thut es dies regelmäßig in der Absicht, kommendem Elende zu entrinnen. Noth und Elend aber ist nur zu häufig das Geschick, welches die freudlose Fremde ihm bereitet, und so erfährt es kaum anderes als Wanderweh.

Dies gilt für die wandernden Fische wie für die ziehenden Vögel, insbesondere aber für die Säugethiere, welche zeitweilig Wanderungen unternehmen. Wenige unter ihnen thun letzteres mit derselben Regelmäßigkeit wie Fische und Vögel; alle aber thun es aus denselben Gründen. Sie wandern, um bereits fühlbar gewordenem oder doch drohendem Mangel sich zu entziehen, und ihre Reisen erscheinen daher eher als eine Flucht vor dem Verderben als ein Bestreben, glücklichere Gefilde zu erreichen.

Ich möchte unter den Wanderungen der Säugethiere weder die Ausflüge, welche Erweiterung des Verbreitungsgebietes bezwecken, noch die gewöhnlichen Streifzüge, welche der Nahrung halber geschehen, sondern einzig und allein jene gemeinschaftlichen Reisen verstanden wissen, welche einzelne Säugethiere in regelmäßiger oder unregelmäßiger Folge weit über die Grenzen ihres Heimathsgebietes hinaus, also in die Fremde oder zu Oertlichkeiten führen, auf denen sie eine ihnen fremdartige Lebensweise annehmen müssen, und welche sie, ebenso wie die Fremde, verlassen, sobald ihnen dies möglich geworden ist oder möglich erscheint. Derartige Reisen entsprechen noch am meisten den regelmäßigen Wanderungen der Fische und Vögel, und Kenntniß derselben fördert auch die Kunde, welche wir von jenen besitzen.

Ausflüge über die Grenzen zeitweiliger Aufenthaltsorte hinaus werden von allen Säugethieren und zwar aus verschiedenen Beweggründen unternommen. Einzelne, insbesondere alte Männchen, sind zum Umherschweifen geneigter als die Weibchen und die Jungen derselben Art, verlassen daher oft ohne erkennbare Ursachen ein Wohngebiet, um ein anderes aufzusuchen; jüngere Männchen gesellig lebender Arten werden von den ältesten Häuptern des Verbandes geradezu vertrieben und zum Auswandern gezwungen; Mütter mit ihren Kindern durchstreifen gern die Umgebungen des Geburtsortes der letzteren; die verschiedenen Geschlechter wandern, um sich zu finden und zu vereinigen. Gelegentlich solcher Ausflüge entdeckt das Thier irgendwo einen ihm besonders zusagenden Wohnort, ein nahrungsreiches Gebiet, ein schützendes Dickicht, eine zum Schlupfwinkel geeignete Höhlung, verbleibt hier längere oder kürzere Zeit und besiedelt endlich das neue Kanaan. Erfahrene Jäger wissen, daß auch ein gänzlich ausgeschossenes Revier früher oder später von außen her Zuzug erhält und unter günstigen Umständen von neuem bevölkert wird; und alle haben erfahren, daß ein Fuchs- oder Dachsbau, welcher nicht leicht zerstört werden kann, immer und immer wieder Bewohner findet, so [139] unnachsichtliche Verfolgung letztere auch erleiden mögen. Wie bei dem Wilde, auf dessen Kommen und Gehen oder Erscheinen und Verschwinden Tausende achten, verhält es sich auch bei anderen Säugethieren, welche minder scharf beaufsichtigt werden. Ununterbrochenes Aus- und Einwandern läßt sich nicht in Abrede stellen. Gerade hierdurch erfolgt, falls nicht die Elemente es verhindern oder der Mensch und andere Feinde erfolgreich eingreifen, allmählich fortschreitende Erweiterung des Verbreitungsgebietes einer bestimmten Art.

Unsere Vorfahren theilten ihre Behausungen bis zu Ende der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit der Hausratte und kannten die Wanderratte nur vom Hörensagen, wenn überhaupt. Erstere war eine Ratte mit vielen, aber doch nicht allen Untugenden ihres Geschlechtes. Sie bewohnte unsere Hausböden, fraß von unserem Getreide, unserem Speck, unseren Vorräthen überhaupt, zernagte Thüren, Dielen und Hausgeräthe, polterte des Nachts gespensterhaft durch alte Schlösser und sonstige spukbegünstigende Gebäude, verursachte manchen Aerger, manchen Schreck, bestärkte in manchem Gemüthe Gespensterfurcht und Aberglauben: aber es ließ sich doch wenigstens mit ihr leben, mindestens mit ihr auskommen. Eine tüchtige Hauskatze hielt sie im Schach, ein geschickter Kammerjäger wußte ihr zu begegnen. Da erschien ihre furchtbarste Feindin, und ihr Stern begann zu erbleichen.

Im Jahre 1727 sah man Scharen von Wanderratten, welche entweder geradeswegs von Indien oder von hier aus über Persien gekommen sein mußten, die Wolga überschwimmen, und bald erfuhr man, welche Heimsuchung Europa betreffen sollte. Flüssen und Kanälen folgend, gelangte die Wanderratte in Dörfer und Städte, nahm, dem Menschen und der Hauskatze zum Trotz, unsere Wohnungen von unten her ein, erfüllte Keller und Gewölbe, stieg nach und nach bis zum Dachboden empor, vertrieb nach langen und unerbittlich geführten Kämpfen ihre Verwandte, machte sich zur Herrin in unserem eigenen Hause und zeigte uns tausendfach, was eine Ratte vermag; denn sie bekundete und bethätigte alle Untugenden ihrer Sippschaft, spottete jeglicher Anstrengung von unserer Seite, sie zu vertreiben und behauptete siegreich das Feld, welches wir ihr mit Hilfe von Katze und Hund oder mittels Schlageisen und Falle, Gift und Geschoß bisher vergeblich streitig zu machen suchten. Fast zu derselben Zeit, in welcher sie über die Wolga schwamm, im Jahre 1732, erreichte sie Europa noch auf einem zweiten Wege, indem sie von Ostindien aus zu Schiffe nach England reiste. Nunmehr begann sie ihre Weltwanderung. In Ostpreußen erschien sie bereits im Jahre 1750, in Paris drei Jahre später; Mitteldeutschland eroberte sie sich um das Jahr 1780, setzte sich hier jedoch, wie überall anderswo, zunächst nur in den Städten fest und nahm, gleichsam von diesen aus, erst nach und nach das flache Land ein. Ihr schwer erreichbare, das heißt nicht an Flüssen gelegene Dörfer besiedelte sie erst in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts: in meiner Knabenzeit war sie in meinem Heimathsdorfe noch unbekannt und die auch hier gegenwärtig von ihr verdrängte Hausratte in unbestrittenem Besitze der Oertlichkeiten, in denen jetzt ausschließlich sie gefunden wird. Zu manchen einsamen Gehöften gelangte sie noch später, nicht vor der Mitte unseres Jahrhunderts; aber noch immer setzt sie ihren Siegeslauf fort. Nicht zufrieden, Europa entdeckt und erobert zu haben, zog sie, und zwar bereits zu Ende vorigen Jahrhunderts, zu neuen Fahrten aus. In den von ihr bereits besiedelten Häfen schwamm sie vom Ufer aus nach den Schiffen, kletterte an Ankerketten, Tauen und anderen ihr passend erscheinenden Leitern an Bord, bezog den dunklen, schützenden Raum, durchreiste in den Fahrzeugen alle Meere, landete an allen Küsten und bevölkerte von ihnen aus alle Länder und Inseln, soweit solche ihr erwählter Schutzherr oder gezwungener Ernährer, der gesittete und in festen Wohnungen hausende Mensch, in Besitz genommen. Gegen unseren Willen haben wir ihr geholfen oder doch ihr es ermöglicht, die großartigste Gebietserweiterung durchzuführen, welche jemals einem dem Menschen nicht unterthanen Säugethiere gelungen ist.

Ein anderes Beispiel für derartige Ausflüge ist der Ziesel, ein im ganzen Osten Europas und in Westsibirien häufiger, zur Familie der Eichhörnchen und insbesondere zur Unterfamilie der Murmelthiere zählender, schädlicher Nager von der Größe des Hamsters. Albertus Magnus hat ihn in der Nähe von Regensburg beobachtet, wo er gegenwärtig nicht mehr vorkommt, wogegen er wiederum neuerdings in Schlesien eingewandert ist. Vor vierzig oder fünfzig Jahren kannte man ihn dort nicht; Ende der vierziger oder anfangs der fünfziger Jahre aber erschien er, ohne daß man ergründen konnte, woher er gekommen, und nunmehr drang er langsam weiter nach Westen vor. Auch seine Wanderungen begünstigt mittelbar der Mensch, da das Thier, wenn auch nicht an das bebaute Feld gebunden, in diesem die zusagendsten aller von ihm besiedelten Wohnsitze findet.

Genau dasselbe gilt für mehrere Mäusearten, welche mit der Umwandlung des Bodens zu Feld sich weiter verbreiten oder ihr Wohngebiet vergrößern. Andererseits schmälert der Mensch auch wiederum zusagende Wohnsitze verschiedener Säugethiere durch Entwaldung, Entsumpfung und sonstige Umänderung gewisser Strecken und bewirkt dadurch sicherlich weit mehr als durch unmittelbare Verfolgung Auswanderungen der früher auf jenen Strecken seßhaft gewesenen Thiere der ersten Klasse. Denn auch für sie, die Säugethiere, gilt das Grundgesetz, daß geeignete Wohnstätten trotz des willkürlich und meist roh und grausam eingreifenden Menschen früher oder später besiedelt werden.

Von solchen Ausflügen lassen sich die Streifzüge der Säugethiere, behufs zeitweiliger Verbesserung ihrer Lage, wohl unterscheiden. Sie werden wahrscheinlich, wenn nicht von allen Arten, so doch von einzelnen Gliedern aller Familien der Klasse unternommen, währen längere oder kürzere Zeit, führen in mehr oder minder entlegene Gebiete, können daher selbst das Gepräge wirklicher Wanderungen annehmen, enden jedoch nach geraumer Frist und bringen das wandernde Säugethier endlich wieder zu den ursprünglichen Wohnsitzen zurück. Die Absicht oder die Hoffnung, bessere Weide- beziehentlich Jagdgründe auszunutzen, eine zufällig sich darbietende Gelegenheit zur behaglichen Gestaltung des Lebens rechtzeitig wahrzunehmen, dürfte als ihre hauptsächlichste Ursache hingestellt werden können. Solche Streifzüge finden statt jahraus, jahrein in allen Gürteln der Breite und Höhe, selbst in Gefilden also, welche jederzeit wesentlich dieselben Bedingungen zum Leben gewähren. Das Säugethier beginnt und vollendet sie einzeln oder in Trupps, Gesellschaften und Herden, je nachdem es sonst mit seinesgleichen zu leben gewohnt ist, verfolgt dabei oft mit mehr oder weniger Regelmäßigkeit dieselben Straßen, erscheint auch wohl annähernd zu derselben Zeit auf bestimmten Stellen; immer aber sind es zufällige Umstände, welche es leiteten und führten.

Wenn die Früchte der heiligen Feige und anderer die Tempel der Hindu umgebenden Bäume ihrer Reife sich nähern, sehen die Brahmanen, welche Tempel und Bäume pflegen, mit salbungsvoller Erbauung der Ankunft ihrer vierbeinigen Götter entgegen. Und nicht vergeblich: denn sie erscheinen gewiß und wahrhaftig, die zu Gottheiten erhobenen Wesen, Hulman und Bunder, zwei Affenarten, um die im frommen Wahn für sie gepflanzten und behüteten Bäume ihrer leckeren Früchte zu entledigen und außerdem in benachbarten Gärten und auf nahe gelegenen Feldern zu rauben und zu plündern, so lange beides lohnt. Und sie verschwinden wieder, zur Betrübniß ihrer Verehrer, zur Freude aller übrigen Bewohner Indiens, deren Besitzthum sie in rücksichtsloser Weise schädigten, nachdem sie hier wie dort nach ihrer Weise geerntet haben. Wenn im Innern Afrikas die Körner des dortigen Nährgetreides, der Durra oder der Mohrenhirse, sich härten, steigt unter Führung und Leitung eines in allen Lagen des Lebens erfahrenen und geprüften, würdigen und erfindungsreichen Pavians die Herde, welcher er mit dem gerechtfertigten Stolze eines Führers und Stammvaters vorsteht, von dem Gebirge hernieder, um zu untersuchen, ob Vetter Mensch auch in diesem Jahre so freundlich gewesen, das nährende Korn auszusäen. Oder es naht gleichzeitig unter nicht minder ausgezeichneter Führung die Meerkatzenbande dem Saume der Waldungen, um den rechten Zeitpunkt zu ergiebiger und so viel als möglich ungestörter Brandschatzung des Feldes nicht zu versäumen. Wenn in der Pflanzung des südamerikanischen Landwirths die goldene Orange im dunklen Laube glüht, finden sich oft, von weither kommend, die Rollaffen ein, um die Frucht mit dem Besitzer zu theilen.

Auch andere Pflanzenfresser führt die Hoffnung, den täglichen Bedarf mit leichterer Mühe zu erwerben, zu Oertlichkeiten, in Gegenden und Gefilde, welche sie sonst meiden; Kerbthierräuber ziehen den zeitweilig hier oder dort häufiger auftretenden Kerfen nach und große Raubthiere folgen den pflanzenfressenden Arten ihrer Klasse, insbesondere den Herden [140]

des Menschen. Mit dem Wanderhirten der Steppen Afrikas zieht der Löwe von Ort zu Ort; an die Sohlen der geschlagenen heimwärtsflüchtenden Heere Napoleon’s hefteten sich die russischen Wölfe, den unglücklichen Flüchtlingen bis in das mittlere Deutschland nachfolgend. Fischottern unternehmen Landreisen, um von einem Flußgebiete in ein anderes zu gelangen; Luchse und Wölfe durchstreifen im Winter zuweilen auffallend weite Strecken. Durch derartige Reisen tritt eine Veränderung oder Verschiebung der Aufenthaltsorte ein; eine Wanderung im eigentlichen Sinne des Wortes aber findet gleichwohl nicht statt. Auch ist es nur in Ausnahmefällen die Noth, welche wir als treibende Ursache aller wirklichen Wanderungen anzunehmen haben, vielmehr ein augenblicklich zur Geltung kommendes Verlangen, welches derartige Streifzüge veranlaßt.

Anders verhält es sich bei denjenigen Säugethieren, welche jährlich mehr oder weniger zu derselben Zeit ihren Aufenthaltsort verändern und unter Umständen ziemlich weit entlegene Gebiete aufsuchet, von denen aus sie wiederum zu einer bestimmten Zeit nach ihren früheren Wohnsitzen zurückkehren. Sie wandern; denn sie ergreifen nicht eine zufällige Gelegenheit, sondern gehorchen bewußt oder unbewußt zwingender Nothwendigkeit.

Grund und Ursache aller wirklichen Wanderungen der Säugethiere ist in erster Reihe ein bestimmt ausgesprochener, entschieden sich geltend machender Wechsel der Jahreszeiten. In Ländern eines ewigen Frühlings finden eigentliche Wanderungen nicht statt, weil die Nothwendigkeit hierzu nicht vorliegt. Der Sommer muß dem Winter gegenüberstehen, gleichviel ob letzterer durch Frost und Schnee oder durch Gluth und Dürre regiere; der Mangel muß mit dem Ueberflusse wechseln, wenn das träge Säugethier zum Reisen, zum Wandern sich entschließen soll.

(Fortsetzung folgt.)


Vom Cirkus.
Plaudereien von Oskar Justinus. Frei nach Aufzeichnungen von L. Grey. Mit Originalzeichnungen von C. W. Allers.

Man braucht weder Wolfgang von Goethe noch Gustav Freytag zu heißen, um in seinen Kinderjahren von dem Anschauen des ersten Theaters einen mächtigen Eindruck für das ganze Leben zurückzubehalten. Aber es gab noch einen mächtigeren – wenigstens für mich, der zu jenem im Zahlenverhältnisse stand, wie vier zu zwei, insofern, als hier vierbeinige Künstler jene zweibeinigen ersetzten: die spanischen Reiter. Wenn diese – englische Reiter oder noch richtiger Bereiter ist wohl ihr allgemeiner Name – in die Stadt eingezogen, waren alle normalen Lebensbedingungen bei uns Kindern aufgehoben. Wir aßen nicht, wir tranken nicht, wir schliefen nicht. In einer fieberhaften Aufregung trieben wir uns – in normalen Zeiten oft wegen unserer Langschläferei gescholten – vom ersten Sonnenstrahl bis zum Auslöschen der quer über die Straßen hängenden Oellaternen im Freien herum. Da gab es immer etwas zu sehen: man kam stets auf seine Kosten. Bald ein Herr mit großem Künstlerhute der in einem entzückenden, von Ponies bespannten Wägelchen kutschirte, bald einige fremde Damen, die Schaufenster besichtigten und eine Sprache sprachen, die keiner von uns verstand. Dann wieder die vier weißen Pudel, welche wahre Wunder von Gelehrsamkeit sein sollten und alle Mittage spazieren geführt wurden. Endlich ein Herold auf gezäumtem hohen Schimmel, in Wappenrock und Barett, Schritt vor Schritt durch die Straßen dahinreitend, von Zeit zu Zeit in die mit buntem Gehäng gezierte Trompete blasend und den angesetzten langen schwarzen Bart mit den Fingern an das Kinn drückend. Draußen aber, auf weitem öden Platz, der sonst nur zum Drachensteigen und Schuttabladen benutzt zu werden pflegte, erhob sich das für unsere Kinderbegriffe unermeßliche Zelt, aus schmutzgrauer Leinwand, durch welche tausendfacher Lichtschein schimmerte. Aus ihrem Bereiche drang eine zauberhafte Musik von Horn, Flöte und Trommel heraus und erklang der Rhythmus von Pauke und Becken und das Getrampel der den Sand schlagenden Hufe, hörte manchmal mitten im Takte auf und fing eben so unvermittelt wieder an. Selig der, welcher bei der ältlichen Dame an der Kasse so ohne weiteres sein Billet in Empfang nehmen und hinter dem Leinwandvorhang verschwinden konnte! Beneidet wurde schon, wem es gelang, eines der vielen natürlichen oder künstlich erweiterten Gucklöcher in der Leinwand auszuspähen und in schwierigster Attitüde, hinter den beweglichen Rücken der Zuschauer ab und zu einen schüttelnden Pferdekopf hin- und wiedersausen zu sehen.

Den Zauber, den die Romantik des Cirkuslebens auf die leicht entzündbare Phantasie der Jugend und – sagen wir es getrost – auch auf die „oberen Zehntausend“ der neuntausend Einwohner zählenden Provinzialstadt ausübte, hat sie noch bis auf den heutigen Tag behalten. Allerdings ist man in seinen Ansprüchen verwöhnter geworden – man verlangt immer wieder Neues, Sensationelles: aber im Allgemeinen ist es mit dem Unterschied in den Leistungen nicht gar so weit her, und im Vergleich zu dem durch die raffinirtesten, aufregendsten Schaustellungen verwöhnten römischen Volke, bei dem sich Kaiser und Magistrate durch panem et circenses, Brot und Cirkusspiele, einzuschmeicheln suchten, sind wir ja heute noch die reinen Kinder.

Der antike Cirkus oder Hippodrom, wie sein Urbild in Griechenland hieß, war allerdings nicht ein Cirkus in unserem Sinne; vor allem war er kein Kreis, sondern als Schauplatz für Roß und Wagenrennen lang und schmal. Der Circus maximus in Rom hatte eine Breite von 130, eine Länge von 640 Metern und faßte auf seinen Marmorbänken in der späteren Zeit 385 000 Zuschauer. Die Carceres, jene Wagenschuppen, aus denen die wettfahrenden Gespanne in die Arena stürmten, waren aus Marmor; ihre kunstvollen Auslaufthore öffneten sich durch ein gemeinsames Seil in den Händen des in der Nähe thronenden Beamten. Rechts und links erhoben sich Thürme mit schmetternden Musikbanden. Die Spina, jene der Länge nach den Raum theilende niedere Wand, war aus Marmor und zeigte kunstvolle Reliefs. Die Metae, jene Zielsäulen, bei denen die jagenden Gespanne zu wenden hatten, waren aus vergoldeter Bronze. Götterbilder, Obelisken, Heiligthümer, Mastbäume und Fahnen – die vierfach bespannten Wagen, jeder in einer andern Farbe, weiß, roth, blau oder grün – dann wieder die Faust- und Ringkämpfe, die militärischen Schaustellungen, das von vornehmen berittenen Knaben ausgeführte Trojaspiel in leichter Rüstung – endlich die Schlachten, in denen tausend Bewaffnete, verschiedene Nationalitäten vorstellend und fünfzig für den Krieg dressirte Elefanten durch einander wogten: das war in der That ein Anblick für Götter. Und wirklich fühlte sich dieses Volk bei seinen Lustbarkeiten, in seiner uneingeschränkten Machtfülle und seinem launenvollen Uebermuth als Herr der Erde, die all ihren Reichthum und Glanz zu Gunsten der ewigen Stadt hingeben mußte.

Seit die letzten circensischen Spiele in ihrer Pracht und Kunstentfaltung vorübergerauscht, ist ein Jahrtausend verflossen. Das mehr auf Verinnerlichung, auf Frieden des Herzens hinzielende

[141] Christenthum hat diese auf äußeres Gepränge gerichteten Feste allmählich ausgelöscht. Man hatte ernsteren Problemen nachzujagen, als der Veranstaltung immer neuer Volksbelustigungen, und auch der in einzelnen Händen und Städten aufgehäufte Reichthum war zusammengeschmolzen. Aber, wenn auch die Stätten

Der „alte Renz“ in der Probe.

der glanzvollen Rennen und equestrischen Künste zerfielen, das Interesse für das Pferd, dieses liebste, klügste und edelste Hausthier, war niemals ausgestorben. Anstatt der Massenentfaltung war es nun die übrigens auch im alten Rom zu unglaublichster Vollkommenheit gebrachte Dressur, welche das Volk entzückte. Vielleicht waren es die Enkel jener brotlos gewordenen Cirkushelden oder Gladiatoren, die mit indischen und griechischen Gauklern über die Alpen zogen, bei Kirchenfesten und auf Jahrmärkten ihre armselige Wagenburg anhielten und in abenteuerlicher Tracht als Kunstreiter mit aufgeputzten Pferdchen, als Herkulesse und Seiltänzer das Einerlei des mühevollen Lebens erhellten. Die sogenannten Paardenspeeler, deren gelehrte Gäule mit ihren Hufen die Stunden verkünden, Zahlen rathen und Taschentücher apportiren konnten, deren Abbildungen wir auf den Volksfesten und Jahrmärkten von Ostade und Teniers begegnen, bildeten den Uebergang zu den englischen Reitern, deren Vorstelligen dem modernen Cirkus unmittelbar vorangingen.

Dieser ist ein ganz junges Kind unserer Kultur und hat noch kein Greisenalter erreicht. François Blondin, ein intelligenter und unternehmender Franzose, nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter, der die Niagarafälle auf gespanntem Seil überschritt, aber vielleicht nicht weniger kühn als dieser, hatte vor über sechzig Jahren zum ersten Male die Idee verwirklicht, die versprengten Trümmer fahrender Künstler, die bis dahin vereinzelt, auf freien Plätzen, ihr Leben fristeten, in wahrem Sinne des Wortes unter einem Dache zu vereinigen. Was bis dahin, mit


Reiterin und Klown.

armseligen Requisiten, kämpfend mit Regen, Indolenz und Chikane der Ortspolizei, in kleinen Ortschaften sich mühsam durchgeschlagen, trat nun in Blondin’s Grand cirque Olympique selbstbewußt zu einem großartigen, noch nicht dagewesenen Schauspiele zusammen, mit dem er ganz Europa durchzog, von Fürsten protegirt, von Vornehmen gehätschelt, vom Volke angestaunt. Die Pracht der Antike schien aber auch aus dem Grabe wieder auferstanden. Reitergefechte, Wagenrennen, Kampfspiele, gymnastische Produktionen, alles eingeleitet durch eine pomphafte Kavalkade der phantastisch kostümirten Truppe: das war ein Unternehmen, welches binnen wenigen Jahren seinen Erfinder, einen circensischen Napoleon, auf den Gipfel des Ruhmes und zu dem Besitze von Millionen emporhob und ihn, wie diesen, als seine Pläne ins Unermeßliche stiegen, unter seinen Trümmern begrub. Sein riesiges Material, sein kostbarer Marstall kam unter den Hammer, und nach kaum zehnjährigem Glücksrausch starb er – in einem öffentlichen Krankenhause von Brüssel.

Nach Blondin’s Vorgehen schossen Cirkusse wie Pilze in die Höhe. Brülloff, Wullenweber, Franconi, Plége, Bazola, später Wollschläger, F. Loisset, Ciniselli, Dejean, Blennow und Renz. Ein Theil dieser kühnen Unternehmer verbrannte sich wie Ikarus nach kurzem Schweben die Flügel. Wenigen war es, wie Wollschläger, vergönnt, in hohem Alter, fern den Geschäften, auf seinen Lorbeern auszuruhen. Einer steht noch mitten in der Strömung, hält mit straffer Hand die Zügel seiner zwölf dressirten Hengste, wie die seines ausgebreiteten ungeheuren Geschäftes zusammen: das ist Renz. Auf unserer Vignette sehen wir den „alten Herrn“ in der Probe sitzen und mit scharfen Augen die Leistungen eines vielleicht gerade vorgeführten Pferdes mustern. Hinter ihm sitzt sein Sohn, welcher gerade die Regie führt; vor ihm steht sein Schwiegersohn Hager, der berühmte Schulreiter, und neben Renz sehen wir seine Enkelin Klothilde Hager. So gewinnen wir hier einen Einblick in das Privatissimum eines Mannes, von dem man schon in der Kindheit erstaunlich viel hat reden hören. Er ist gewissermaßen eine mythische Person geworden, und wenn man den hohen Mann mit dem wetterbraunen Gesicht, dem energischen Ausdruck, dem starken Schnurrbart und den dunklen Augen noch so rüstig an der Arbeit sieht, will man kaum seinen Augen trauen. Wenn man im alten Rom die Kinder mit dem Rufe „Hannibal ante portas" einschüchterte, so läßt die Nachricht „Renz kommt“ die Herzen höher schlagen, aber nicht nur die der Kinder, sondern vieler Tausende, die sich für die Personalien der zwei- und vierbeinigen Künstler des Cirkus eben so warm interessiren, wie die Theaterfexe für die Besetzung einer Rolle. Die Sage hat sich bereits seiner Persönlichkeit bemächtigt. Vom Seile, das er zwischen Baumwipfeln aufspannte, vom Besitze eines alten lahmen Schimmels und einer abgetragenen Stallmeisteruniform erzählt sie. Dann soll er, lange nachdem „die Hussiten lagen vor Naumburg“, im Jahre 1840 zum ersten Male daselbst vor einer primitiven Marktbude mit Wohnwagen das Banner mit der stolzen Inschrift „Cirkus Renz“ haben flattern und herzzerreißende Locktöne durch eine als Reliquie bis heutigen Tages verwahrte Trompete haben erschallen lassen. Wie um die Wiege Homer’s sich sieben Städte Griechenlands stritten, so werden einst die Städte, wie Berlin, Wien, Hamburg, Breslau, Königsberg, wo seine polygonen Tempel stehen, um seine Landsmannschaft buhlen. Wie die Kaiser des weiland heiligen römischen Reiches in ihren Landen umherreisten und bald in dieser, [142] bald in jener getreuen Stadt Hof hielten, so wechselt er mittelst neunzigachsigen Extrazügen – deren Kosten jedesmal etwa 20.000 Mark betragen – fortwährend sein Quartier, und sein Marstall von 160 edlen Rossen und die Schar der Künstler und der Troß der Diener finden das Vaterland, wo es ihnen gut geht.

Uebrigens steht Deutschland wie überhaupt in Bezug auf Vergnügungs-Veranstaltungen nicht etwa in erster Reihe. Frankreich, dem die Erfindung gebührt, besitzt in seinem grand hippodrom de Paris ein Etablissement, welches dem alten Rom Ehre gemacht hätte. Eine Societät von Kapitalisten und Sportsmen hat es errichtet und verwaltet es. Mehr als 20.000 Zuschauer versammeln sich in dem oblongen, mit verschwenderischer Pracht erbauten und ausgestatteten Riesenbau, in welchem blendende Ausstattungsstücke von antikem Gepräge in Scene gehen. Außerdem fesseln drei großartige Cirkusinstitute die Pariser, und ein Cirque Noveau verwandelt nach berühmten Mustern seine Manege in ein großes Wasserreservoir, in dem Wasserspiele und nautische

Sportsmen.

Pantomimen aufgeführt werden. Natürlich konnte dieser Ruhm des Nachbarreiches das klassische Land der Pferdezucht, England, nicht schlafen lasten, und so hat denn eine große Societät das Terrain des berühmten alten Opernhauses Royal covent garden mit glänzendem Erfolg zu einem grand international circus hergerichtet, welcher von der Elite der Londoner Gesellschaft besucht wird. Ein Olympia-Hippodrom á la Paris bildet neben ihm seit diesem Jahre die greatest attraction. Wie aber alle Vergnügungs-Veranstaltungen jenseit des Oceans eine Dimension ins Ungeheure annehmen, so hat auch Barnum’s Cirkus und grand Roman Hippodrom seine sämmtlichen europäischen Geschwister übertroffen. Dieses kolossalste Etablissement der Gegenwart beherbergt einen Marstall von 300 der edelsten Pferde, eine Menagerie von 200 der seltensten Thiere und eine Truppe von fast 1000 Personen. Dieser von der ganzen Union abgöttisch verehrte Fürst der Reklame und aus kleinsten Anfängen zum Krösus aufgestiegene Selfmademan hat auch die fliegenden Cirkusse erfunden, die er auf Blitzzügen durch die Union jagt, in etwa 300 cirkusdurstigen Mittelstädten seine Zelte binnen wenigen Tagen aufschlagend und nach der Vorstellung wieder abbrechend, um einige hundert Meilen weiter dasselbe Manöver zu wiederholen. Neben ihm bereisen die Riesencirkusse Forepaugh, Robinson, Wilson das cirkuslustige Universum.

Diese Nomadenzüge in sogenannten „american tents" haben einige englische Unternehmer, Meyers, Sanger, Merkel, in einem gemäßigteren Tempo auch für Europa nachgeahmt. Ja, man kann fast sagen, daß in der ganzen Welt „das Wandern ist des Cirkus Lust“, als wenn etwas von der raschen Beweglichkeit des Pferdes auch auf die Besitzer übergegangen wäre. So wechselt Salomonski zwischen Moskau und Odessa, Ciniselli zwischen Petersburg und Warschau, Schumann zwischen Stockholm und Kopenhagen. Nancy hat seine stabilen Cirkusse in Lyon, Genf und Marseille, Wulff, Herzog und Corty-Althoff vagiren durch die deutschen Gaue und Cirkus Carré – dem Wortlaute nach die praktische Lösung der Quadratur des Cirkels – alternirt zwischen Wien, Köln, Brüssel, Antwerpen und Amsterdam. Krembser hat vor einiger Zeit – am blauen Strand der Spree – nicht weit entfernt von Renz’ maurischem Kunsttempel einen neuen Cirkus ganz aus Wellblech errichtet, und nun locken die Sirenentöne zweier „Circen“ die Berliner in ihre lichten Räume, ohne daß diese die Vorsicht gebrauchen, sich gleich Odysseus die Ohren mit Wachs zu verstopfen.

Ich möchte keinen Cirkus haben, und wenn man mir ihn schenkte. Ein Theaterdirektor ist schon ein geplagter, von Sonnenschein und Regen, von Laune und Konkurrenz abhängiger Mann: aber er wird oft aus der Schatulle eines Mäcen oder der Gemeinde subventionirt, und wenn es einmal nicht weiter gehen will, spricht er mit seinen Leuten und spielt mit ihnen auf Theilung. Die Pferde lassen aber nicht mit sich sprechen und sich nichts an ihren Rationen kürzen: ein Marstall ist ein fressendes Kapital in des Wortes verwegenster Bedeutung. Man hat kaum eine Vorstellung von den Kosten eines solchen Unternehmens. Der Tagesetat von 2000 Mark ist nicht zu hoch gegriffen. Der Bau einer Holzrotunde kostet bis 20.000 Mark; die Steuern, die Beleuchtung, die Police gegen Feuersgefahr – alles, was möglich ist, wälzt die Gemeinde, in der er Gastrecht genießt, auf seine Schultern – ein sorgenvolles Brot mit unberechenbaren Chancen. Drum – wie es im schönen Volksliede heißt – „drum möchte ich ein Renz nicht sein!“ Und doch – und doch! Wie fließen die Einnahmen, wenn das Gebotene die Neugier zu reizen, wenn es sich zum sensationellen Ereignis herauszubilden weiß, das jeder gesehen haben will und muß! 5000 Mark Abendeinnahme ist sicher; der große Cirkus Renz soll bei total ausverkauftem Hause das Doppelte ergeben. Da ist die Chance vorhanden, in wenigen Monaten Reichthümer zu sammeln. Und dann die Stellung in den Grenzen seines Reiches! Der Direktor ist von seinem Personal geachtet: denn er hat von klein auf angefangen und er versteht das Metier von Grund aus besser als einer. Er ist gefürchtet: denn er herrscht souverän und seine Leute zittern nicht minder vor dem Blitze aus seinem Auge, als die vierfüßigen Künstler ihm auf den Wink pariren. Es giebt keinen Widerspruch gegen sein Wort – keinen Appell gegen seinen Spruch. Le cirque c’est moi, liegt auf seinen stolzen Zügen, wenn er sich noch, aus besonderer Rücksichtnahme, zur Vorführung einer equestrischen Glanznummer herbeiläßt. Er ist ein Fürst von Gottes Gnaden – nur das P. T. Publikum, welchem er seine Reverenz macht, erkennt er über sich an – „ich möchte drum ein Renz wohl sein.“

Ein Cirkusdirektor hat neben sich zwei ausführende Minister: den des Innern – den Arrangeur, den Leiter der Proben und Vorstellungen – den Regisseur; den des Aeußern – seinen Geschäftsführer – im Englischen „Manager“ – den wichtigsten Mann neben seinem Chef. Er entwirft den Feldzugsplan, baut die Cirkusse, schließt die Kontrakte, inserirt und organisirt, beaufsichtigt Sekretäre und Kassirer; er ist die ausführende Hand des Allgewaltigen und stets zu seiner Seite, wenn ihn nicht ein Geschäft, eine Auseinandersetzung mit den Behörden die Besichtigung einer schneidigen Parforcereiterin einmal auf einige Tage nach Petersburg oder nach Madrid entführt hat.

In das mit riesigen Plakaten und bunten Bildern beklebte Vestibül, durch welches die drei Mächtigen plaudernd promeniren, rauschen jetzt, gedämpft durch den schweren Vorhang, welcher die ringförmig um den Mittelkreis gelagerten Stallungen abschließt, die taktmäßigen Töne des Orchesters und erdröhnen die Beifallssalven der animirten Menge. Ich bin heute so glücklich, mich nicht mehr auf den verstohlenen Blick durch die Ritze der Leinwand beschränken zu müssen – ich bin einer von den Beneideten, der sich ein Billet kauft und in die lichtdurchflimmerte Riesenrotunde eintreten darf.

Man tritt gewissermaßen in einen Krater, dessen Boden die mit gelbem Sande bestreute Manege und dessen lebendige Wände die tausendköpfige, bis zur Decke ringsum ansteigende Menge [143]

bildet, von welcher, was unten geschieht, in lautem Jubel oder hellem Lachen widerhallt. Eine bildschöne Brünette im kurzen luftigen Kleide, hoch zu Roß, bedankt sich eben nach allen Seiten mit dem Ausdrucke so holder Ueberraschung, als ob ihr diese Ehre zum ersten Male in ihrem Leben passirt sei. Der Klown, der ihr den Reifen beim Sprung gehalten, macht ihr ein Kompliment und scheint zufrieden mit der Leistung seiner Partnerin. Auch der Schimmelhengst Almansor, der eigentlich weiter nichts zu thun hatte, als an der Manege herum zu traben und das Panneau zu tragen, von welchem die kleine Französin ihre Reifensprünge exekutirt hatte, zeigt einen sichtlich befriedigten Ausdruck um die Nüstern. Ich weiß nicht, ob dieser von dem gesättigten Ehrgeiz herrührt – und die Hälfte des Beifalls nimmt er für sich in Anspruch – oder von der anheimelnden Aussicht, nach seinem Stall zurückkehren und bis zur morgigen Probe um zehn Uhr Vormittags unbehelligt träumen zu dürfen.

Die Manege hat sich geleert. Jetzt springen rothgekleidete Manegediener, das Gros der bedienenden Künstler in ihren Galauniformen nebst einigen Klowns in ihren barocken Kostümen hervor und stellen sich wie zur Bewillkommnung in Spalier nächst dem Eingange auf. Die Kapelle intonirt ein verheißungsvolles Präludium und tausend Köpfe recken ihre Hälse nach den zurückgeschlagenen Vorhängen der Manegeeingänge aus. -

Das nächste Mal davon. Die Vorstellung verspricht nach dem Programm sehr interessant zu werden. Dann will ich in der Pause wie einer der echten oder Talmisportmänner mit den langen Ueberziehern, den rothgestreiften Kravatten und der Hufeisennadel, das Stöckchen in der Hand, ein wenig in den Stallungen umherwandeln und versuchen, ob ich von dem Künstlervölkchen in seinem Interieur einen Blick zu erhaschen vermag. Was ich da sehe und erfahre, davon will ich treulich Bericht erstatten.

(Schluß folgt.)




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Josias.
Eine Geschichte aus alter Zeit von Fanny Lewald
(Fortsetzung.)

„Du weißt,“ hub Josias an, „daß wir Courvilles aus dem Bièvrethale stammen, wo unser Vorfahr Claude François Courville auf schönem Grundbesitz lebte. Ohne von Adel zu sein, war unsere Familie angesehen Die Herren vom Hofe hatten, wenn die königlichen Jagden sich bis in unsere Gegend erstreckten, zum Oefteren einen kurzen Halt vor dem stattlichen, schloßartigen Hause gemacht und sich es gefallen lassen, wenn ihnen in dem trefflichen Wein und den köstlichen Früchten, die unsere Weinberge und Gärten erzeugten, eine Erfrischung geboten wurde. Die Courvilles waren glückliche Leute gewesen auf ihrem Grund und Boden. Sie hatten auch in der Kaufmannschaft, in der Robe und in der Verwaltung ihre nahen Verwandten gehabt; aber die ganze Familie hatte sich dem Katholicismus abgewendet und eines schönen Tages hatte man die Hugenotten vertrieben. Da hatte es ein Ende gehabt mit all dem Frieden und mit all der Herrlichkeit auch in Beau Champ.

Seiner Umsicht und einem Zusammentreffen günstiger Umstände hatte unser Stammvater es zu danken, daß er ein immerhin beträchtliches Vermögen retten konnte, und nachdem er in Preußen die neue Heimath gefunden und die Verhältnisse des Landes kennen gelernt, hatte er, in Frankreich an die Nähe einer großen Stadt, an die Nähe von Paris gewöhnt, sich fünf Meilen von Berlin in der Mark angekauft. Die adlige Familie, welcher das Schloß gehört, hatte durch eine neue reiche Erbschaft im Bayreuthischen sich veranlaßt gefunden, den alten Besitz um des neuen willen aufzugeben, und mein Vater hatte im Andenken an Beau Champ sein Schloß Schönfelde getauft.

In Schönfelde sind die Courvilles von Vater auf Sohn ansässig geblieben, und unter ihrer aus Frankreich mitgebrachten Kenntniß der verbesserten Landwirthschaft, hatte sich Schönfelde zu einer Art von Musterwirtschaft herausgebildet, in welcher namentlich die Pflege des Obstes und die großen Anpflanzungen von Maulbeerbäumen die Aufmerksamkeit erregten, als man ein Jahrhundert später, von Seiten der preußischen Regierung, die Seidenerzeugung im Lande einzuführen und zu fördern beabsichtigte.

Als mein Vater das Gut von seinem Vater, bald nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, überkam, hatten wir gen Osten hin die königliche Domäne Benwitz, gen Westen hin Schloß Dambow zu Nachbarn, welch letzteres einem Grafen Dubimin, Major von den Ziethen’schen Husaren, gehörte, der es aber bis dahin selten bewohnt, weil der Dienst ihn fern hielt, und weil die schöne Gräfin, die er geheirathet, als er ein Mann in der Mitte der Dreißig gewesen, die Freuden des Hoflebens nicht entbehren mochte.

Mit einem Male jedoch erschien der Graf mitten im Winter des Jahres siebzehnhundertfünfundsechzig plötzlich in Dambow. Seine Wagen, seine Pferde, sein alter Wachtmeister langten mit ihm an Es wurde alles auf sein Verweilen eingerichtet; nur die Gräfin kam nicht mit, und nicht der Sohn, den sie anderthalb Jahre vorher in ihrer bis dahin kinderlosen Ehe geboren hatte und über den damals, als die Nachricht von Berlin gekommen, in Dambow unter des Grafen Leuten große Freude gewesen war.

Sonst war der Graf, wenn er einmal während der Kriegsjahre für kurze Zeit einen Urlaub erhalten, als ein leidenschaftlicher Jäger und lebenslustiger Herr immer gleich von großer Gesellschaft umgeben gewesen. Es war dann hoch hergegangen. Der ganze Adel von den Nachbargütern war geladen worden; die Jagdfrühstücke, die Mittagbrote, die Abendfeste hatten einander abgelöst. Von früh bis in die Nacht war es ein glänzendes Leben gewesen; diesmal blieb alles still. Der Förster fragte vergebens nach des Herrn Befehlen. Der Graf gab kaum Acht auf die Berichte über den Wildstand; er rührte keine Flinte an. Man wußte nicht, was man davon zu denken hatte. Aus dem Wachtmeister war nichts herauszubringen und die Bedienten ließen sich auch nicht viel vernehmen über das, was den Grafen so verwandelt hatte. Trotzdem wußte man es doch bald, daß er seinen Abschied genommen, daß er seine Frau und seinen Sohn verstoßen habe. Erklären konnte man sich das nicht, bis sechs, acht Wochen später der Verwalter von der königlichen Domäne, der in Berlin gewesen war, die Nachricht mitbrachte, daß der Graf ein Duell gehabt habe. Sein Gegner, ein Sekretär der französischen Gesandtschaft , ein Vicomte von Solanges, sei an der erhaltenen Wunde gestorben. Die Gräfin Dubimin sei mit ihrem Sohne erst zu ihren Eltern, dann aber nach Frankreich in die Bretagne gegangen, da der Vicomte vor seinem Tode ihr und ihrem Sohne seinen ganzen liegenden Besitz und sein Vermögen verschrieben. Der Graf habe die Trennung seiner Ehe eingeleitet und dabei darauf angetragen, daß der Gräfin und ihrem Sohne die Führung seines Namens verboten würde.

Was daneben noch weiter über die Gräfin und die näheren Umstände dieses Ehescheidungsprozesses verlautete, war traurig genug für den Grafen und zum Wiederholen nicht geeignet. Es konnte sich damals aus den Andeutungen jeder seinen Vers machen und machte sich ihn auch.

Wer irgend den Grafen näher kannte, der beklagte ihn. Er war ein tapferer Soldat gewesen, hatte sich Ehre und Ruhm erworben durch seinen Muth, durch seine bis zur Tollkühnheit gehende Verwegenheit, und er hatte eben deshalb bei dem Könige, der solche rasche Entschlossenheit, der die Husarenstreiche liebte, in großer Gunst gestanden. – Eben dieser Gunst und der Rücksicht aus die französische Gesandtschaft schrieb man es also zu, daß das Duell und die ganze traurige Scheidungsangelegenheit möglichst in der Stille abgehandelt und dem Grafen die lange Festungsstrafe in eine kurze Haft verwandelt worden war, nach welcher er seinen Abschied gefordert und sich auf sein Gut zurückgezogen hatte.

Ueberall gab man ihm Recht. Man sagte, er habe gehandelt wie er mußte, und nun sei eben alles in Ordnung. Er jedoch vermochte die schwere Kränkung seiner Ehre und die verrathene Liebe nicht zu verwinden. Aus dem lebensfrohen Officier war ein finsterer Mann, man sagte ein Menschenfeind geworden. Er



[144] besuchte niemand; und wenn man ihm Sonntags in der Kirche begegnete, sah man’s ihm an, wie versunken er in sich war, und daß er an seinen alten Bekannten und an nichts mehr Anteil nahm, obschon er in allem Geschäftlichen seine Schuldigkeit that und seinen Leuten nach wie vor ein gnädiger guter Herr geblieben war. Nur mit meinem Vater hielt er noch einigen Verkehr. Das stammte aus ihrer Kinderzeit.

So mochten drei Jahre verstrichen sein, als der König einmal in unsere Gegend kam, und als wolle er seinem früheren Major und Günstling öffentlich eine Ehrenerklärung geben, ließ er ihm die Nachricht zugehen, daß er bei ihm vorzusprechen denke, wenn er die Domäne Benwitz besucht haben werde, die ein gewisser Kräutner seit langen Jahren bewirthschaftete, und schlecht bewirthschaftete. Es war um die Zeit überhaupt die Rede davon gewesen, daß der König die bisherige Verwaltung seiner Güter nicht zweckentsprechend finde, daß eine andere Einrichtung mit den Domänen gemacht werden solle.

Die Nachricht, daß der König den Grafen mit seinem Besuche beehren werde, brachte mit einem Male Leben in das stille Schloß. Es wurden Reitknechte nach rechts und links gesendet; der Koch und die Dienerschaft hatten sich zu rühren, und auch unser Gärtner wurde in Anspruch genommen, in aller Eile die Ehrenpforten errichten zu helfen, mit denen der König empfangen werden sollte. Wer es konnte, war im Lande auf den Beinen, den König zu sehen, den man schon damals den ‚großen König‛ nannte; und es hatte sich viel Volk gesammelt, als er vor Schloß Dambow vorfuhr, wo der Graf, zum ersten Male wieder in voller Uniform, seinen Herrn an seines Gartens Thor empfing.

Es war dem Grafen die Weisung ertheilt worden, daß keine weiteren Gäste einzuladen wären, und nachdem der König den Grafen huldvoll begrüßt und seine Dankbezeigung gnädig aufgenommen, hatte man sich zu dem vorbereiteten Gabelfrühstück niedergesetzt. Vorher hatte jedoch der Generaladjutant dem Grafen mit flüchtigen Worten zu verstehen gegeben, daß der König nicht sonderlich aufgelegt sei, weil er mit der Verwaltung der Domäne und dem Kräutner unzufrieden gewesen wäre. Kaum aber hatte der Adjutant das gesagt, als der König sich erkundigte, wem das Nachbargut Schönfelde gehöre, da seinem Adlerauge, trotz des raschen Vorüberfahrens, die vielen, reiche Frucht versprechenden Obstspaliere und die Alleen der kräftig emporgewachsenen Maulbeerbäume bei uns aufgefallen waren.

Der Graf hatte darauf dem Könige meinen Vater genannt, hatte berichtet, was der König sonst noch zu wissen gewünscht, und sofort war auch ein Reitknecht nach Schönfelde geschickt worden, weil der König, der auf die Refugiés viel hielt, meinen Vater zu sprechen verlangte. Der Graf war meinem Vater, als man ihn in Dambow gemeldet, entgegengegangen, hatte ihn im Voraus benachrichtigt, um was es sich wahrscheinlich handeln würde, hinzusetzend, daß der König Aerger in Benwitz gehabt und daß der Vater sich darnach zu achten habe.

Wie der Vater darauf vor dem Könige erschien – und mein Vater war ein stattlicher Mann, der sich vornehm ausnahm in der schönen Tracht von damals – wie mein Vater also ehrfurchtsvoll und würdig vor seinem Könige stand, sagte dieser: ,Er stammt von den Refugiés, wie ich von dem Grafen vernommen, und ich lobe Seine Obst- und Seine Maulbeerzucht. So wie sie bei Ihm ist, will ich sie eingeführt haben; aber der Kräutner versteht sein Metier nicht und nicht meine Intention. Er hat Benwitz verwirtschaftet und muß fort. Verkaufe Er mir Schönfelde. Ich schlage es zur Domäne, und Er soll mir beide Güter bewirtschaften nach der Weise, wie Er Schönfelde in Kultur gebracht hat.‛“

Josias machte eine kleine Pause.

„Du kannst Dir wohl denken,“ nahm er darauf wieder das Wort, „daß es kein leichtes Stück war, ein Nein! zu sagen, wenn der große Friedrich seine scharfen blauen Augen, eine andere Antwort erwartend, auf einen seiner Unterthanen gerichtet hielt. Indeß der Vater hing an seinem, an dem Familiengute. Das Gut, in das durch nahezu ein Jahrhundert beträchtliches Kapital hineingesteckt worden war, konnte auch nicht billig fortgegeben werden, und daß der König ein knapper Zahler war und sein mußte, das war jedermann bekannt, das lag in den Verhältnissen. Allein da der Vater ein großer Verehrer des Königs war, da er auch den schönen Zug fühlte, einem Hohenzollern so weit es in seiner geringen Macht stand, sich dankbar zu erweisen für den Schutz, welchen unsere Vorfahren unter dem Scepter der Hohenzollern in Preußen gefunden, so sagte er, als der gewandte und rasch entschlossene Mann, der er gewesen ist alle Zeit: ‚Majestät werden es gutzuheißen geruhen, daß ein Refugié an seinem Grund und Boden, den er unter dem preußischen Adler erworben hat, mit derselben festen Treue hält wie an seinem neuen Vaterlande und an dessen ruhmreichem Könige und Herrn! Aber wenn Dero Majestät Zutrauen zu mir fassen könnten und Dero Unterthan eine große Gnade erweisen wollten, so getraute ich mir, da Schönfelde im Stande ist und mir freie Zeit läßt, die Domäne, wenn Herr Kräutner bleibt, zu beaufsichtigen oder zu bewirtschaften, wie Dero Majestät es zu befehlen geruhen, ohne daß ich Schönfelde deshalb aufgeben müßte; denn ich möchte es vererben auf den Sohn, auf das erste Kind, das mir in dieser Nacht geboren ist, wie meine Vorfahren es vererbt vom Vater auf den Sohn.‛

Mein Vater merkte an den Mienen der Anwesenden, daß sie von Seiner Majestät etwas Ungnädiges zu vernehmen erwarteten; sie hatten sich aber geirrt. Der König war zu gerecht, um einem Manne ein gerechtes Verlangen als Verbrechen anzurechnen. Er sah meinen Vater scharf an, dann sagte er:

‚Wenn Er nicht lassen will von seiner Scholle, behalt’ Er sie. Ich will’s mit Ihm probiren! Der Kräutner soll Ordre bekommen, sich Ihm zu unterstellen. Seh’ Er, ob’s mit ihm geht. Parirt er nicht, meld’ Er’s der Kanzelei, dann geht er. Aber nehm’ Er’s mit Benwitz gleich in Angriff! Sein Schade soll’s nicht sein, wenn Er seinen König kontentirt. Also aufs nächste Jahr, Monsieur Courville! Ich werde nachsehen lassen, wo Er halten wird.‛

Damit reichte er meinem Vater die Hand, der sie ihm mit stolzer Freude küßte; und als dann der König gleich darauf das Schloß verließ, nickte er dem Vater noch einmal gnädig mit dem Kopfe, bevor der Wagen dem Auge entschwand.

Der Graf lud den Vater darauf ein, mit ihm in das Schloß zurückzukehren, um bei einem Glase Wein zu besprechen, wann der betreffende Befehl an Kräutner eintreffen könne und wie es rathsam sei, bis dahin von der Angelegenheit zu schweigen. Dabei gab ein Wort das andere. Des Grafen Herz war aufgeschlossener als seit langen Jahren. Die Gnade des Königs hatte ihn neu belebt, und weil er sich befreiten Sinnes fühlte, mochte er auch Freude bereiten, wollte er dem einstigen Spielkameraden, dem Gutsnachbar, dem der König eben die Huld erwiesen, seine freien Dienste anzunehmen, auch eine Ehre anthun; denn der Vater war nun in des Grafen Augen noch mehr gestiegen und noch ein ganz Anderer geworden als bisher.

Er fragte den Vater theilnehmend nach dem Befinden der Wöchnerin, und setzte hinzu:

‚Da Ihnen, lieber Courville, gerade an dem Tage, den wir beide in unsere Annalen einzutragen haben werden, ein Sohn geboren worden, so nehmen Sie mich, als Jugendbekannten, zu seinem Pathen an, und da ich Ihr nächster Nachbar bin, werde ich das Vergnügen haben, ihn unter meinen Augen heranwachsen zu sehen. Ein Einsamer muß sich an fremdem Glücke erfreuen lernen!‛

Mein Vater erkannte natürlich diese Ehre dankbarst an, und weil des Grafen Stimme und Rede weicher und herzlicher geklungen, als er sie je vernommen, sagte er, er hoffe, der Graf werde nicht immer einsam bleiben, und auch ihm und seinem Hause werde noch Glück erblühen und der Erbe ihm nicht fehlen zu seiner Zeit.

Der Graf schüttelte verneinend das Haupt. ,Was hin ist, ist dahin!‛ sprach er. ,Der Baum, den ein Blitzstrahl getroffen, mit dem ist’s vorbei, der trägt keine Frucht mehr!‛

,Sie irren, Herr Graf! Es kommt nur auf die Kraft des Stammes an!‛ wendete ihm der Vater ein. ‚Wenn ich die Ehre haben werde, Sie in Schönfelde zu sehen, zeige ich Ihnen einen Baum, den der Blitz vor Jahren seiner mächtigsten Aeste beraubt hat; und er hat neue Aeste getrieben und verspricht noch auf weit hinaus Bestehen und gute Frucht.‛

Der Graf nahm das wie eine gewöhnliche Bemerkung hin. Nur ein flüchtiges Lächeln glitt über sein gefurchtes, düsteres Antlitz und es war weiter die Rede nicht davon.

Vierzehn Tage darnach ward ich in der Kirche der Domäne, in welcher wir und die von Dambow eingepfarrt waren, auf den

[145]

Am Vorabend des Dorffestes.
Nach dem Oelgemälde von Professor L. Bianchi.

[146] Namen Friedrich Claudius Josias getauft und mit dem letzten Namen gerufen, welcher der des Grafen war; mit dem Namen, über den Du Dich so sehr gewundert hast, als Du noch ein kleines unnützes Ding gewesen bist.“

Und wieder unterbrach sich Josias, seiner gemächlichen Weise getreu, in seiner Erzählung. Die Sonne war untergegangen; die Luft war klar und hell; von dem Wasser und von den jenseitigen Wiesen stieg es wie ein kaum merklicher, leichter Nebel auf. Allmählich begann er silbern zu schimmern und sich zu färben, denn der Mond tauchte am östlichen Horizonte auf. Josias blickte eine ganze Weile in das sanfte Wallen und Weben des Nebels hinein.

„Sieh!“ sprach er, „wie das nahende Licht die ganze weite Fläche und den Himmel verklärt mit seinem Zauber. Ist es doch, als löste es die harten Umrisse in Duft, als höbe es das Gesetz der Schwere auf! Wie macht diese Herrlichkeit es uns empfinden, daß wir eingeboren sind in die Schönheit der Natur, daß wir zu ihr gehören, ein Theil von ihr sind! Wie fühlt man sie aufwallen im Herzen, die Anbetung dessen, der uns diese schöne Welt geschaffen hat! – Und über ein Kleines, ein paar Stunden noch, wenn des Mondes Helle unserem Auge entschwunden sein, wenn das Dunkel uns umhüllen wird, so wird trotzdem das Licht, das jetzt von ihm in unsere Seelen gefallen, fortleuchten in uns, in aller seiner Schönheit, in unverlierbarer Erinnerung, fortleben und -leuchten wie die wahre Liebe, die auch ein Gottgegebenes und also auch ein Unverlierbares, ein Ewiges ist, obschon sie uns nicht wiederkehrt wie des Mondes holdes Licht.“

Ich habe diese Worte des guten Josias nie vergessen. Ich trage sie im Gedächtniß, als hätte ich sie eben durchlebt. Mir war es zu Muthe wie in der Kirche, so fromm, so still, so hingegeben, da ich Josias mit solchem Vertrauen aus seinem tiefsten Herzen zu mir reden hörte. – Er jedoch raffte sich plötzlich aus seinen Betrachtungen empor, und seine freundlichen Augen zu mir wendend, sprach er, seine Erzählung wieder aufnehmend:

„Was ich Dir bis jetzt berichtet, habe ich natürlich nur vom Hörensagen; nun aber kann und muß ich von mir selber und von meinem eigenen Erleben reden, und mein Erinnern reicht ein gut Ende zurück. Bis ich in mein siebentes Jahr gekommen bin, flossen meine Tage vorüber, wie sie einem einzigen Kinde in begüterter Familie auf dem Lande eben hingehen, und eines besonders lebhaften Eindrucks weiß ich mich nicht zu erinnern aus meiner ersten Kindheit. Ich war von je, wie Figura noch heute zeigt, ein großer starker Bursche gewesen, hatte mit sechs Jahren an dem Doktor Hartusius einen rechtschaffenen, gebildeten Erzieher bekommen, von dem ich mit Vergnügen lernte, weil mir das nicht schwer fiel. Zu meinem achten Geburtstage hatte mein Herr Pathe, der Graf, der zum Oefteren nach mir sah und dem ich sonntäglich in der Kirche die Hand zu küssen hatte, mir ein eigenes Pferd geschenkt, und bei dem wachsenden Wohlstand meiner Eltern, bei ihrer Zärtlichkeit für mich, lebte ich als ein seelenvergnügter Junge in dem Sonnenschein ihrer Liebe und des Glücks.

Der Vater hatte dem Könige leisten können, was zu thun er sich erboten. Er hatte eine Oberaufsicht in Benwitz geführt, obschon der bisherige Verwalter ihm diese Aufgabe nicht leicht gemacht. Er hatte Obstbäume, Maulbeerbäume gepflegt, Felder- und Wiesenstand durch bessere Düngung und Wasserableitung in ihrem Ertrag gehoben, und inzwischen hatten die Maßnahmen in der Verwaltung der Domänen sich geändert.

Man hatte die Erfahrung immer mehr bestätigt gefunden, daß nichts dabei herauskam, wenn der Staat die königlichen Güter selbst bewirthschafte, hatte also beschlossen, sie in Pacht zu geben, wobei denn den Pächtern die polizeiliche Macht, die Steuererhebung und die Gerichtsbarkeit auf denselben mit dem Titel königlicher Rentmeister zuerkannt und sie also in gewissem Sinne den königlichen Beamten und den adligen Gutsbesitzern gleichgestellt wurden. Daß man meinem Vater den Antrag machte, die Domäne zu pachten, verstand sich fast ebenso von selbst wie daß mein Vater ihn annahm, besonders da der König ihm gleichzeitig als Zeichen seiner bisherigen Zufriedenheit einen Orden verliehen; und ohne daß darüber gesprochen wurde, hatte sich in der Familie und in der Gegend die Meinung festgestellt, daß auch ich, wenn ich einmal soweit sein werde, die Domäne übernehmen, daß die Hohenzollern und die Courvilles zusammen bleiben würden – wobei denn immer in Erwähnung gebracht wurde, daß ich als ein reicher junger Mann die Welt sehen und ein Leben haben würde, wie ein solcher junger Mann sich’s wünscht. Durch meiner Mutter Sinn strich daneben wohl auch der Gedanke an Adelung durch des Königs Gnade, an eine vornehme Heirath für mich in Folge der Adelung; und die Idee war im Grunde keine vermessene.

So jung ich war, so verstand ich, da ich immer unter Erwachsenen lebte, das alles ebenso gut, wie ein Kronprinz es früh verstehen lernt, daß er für den Thron geboren ist. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt! Es ist nicht gekommen, wie die Eltern es erwartet.

Um die Zeit nun, von welcher ich eben jetzt geredet, ging ich einmal mit Herrn Hartusius auf dem Wege nach Dambow spazieren. Er war ein feiner Mann, denn auf seine Manieren hielt man damals mehr als heut zu Tage. Er hatte eine gründliche Bildung genossen, in Leipzig und Weimar eine Weile unter den dortigen Schöngeistern gelebt und war von Gellert an Herrn Professor Ramler nach Berlin empfohlen worden. Durch diesen war er in unser Haus gekommen, sehr zur Befriedigung meiner Mutter, die eine poetische Seele hatte. Er machte sehr hübsche Verse, verfaßte auch alle die Gedichte, welche ich bei feierlichen Anlässen im Hause und zum Neujahr für meinen Herrn Pathen abzuschreiben und herzusagen hatte, und meine beiden Eltern besaßen an dem philologisch und ästhetisch gebildeten Manne einen sehr angenehmen Hausgenossen und verläßlichen Freund. Ihm verdanke ich meine eigene Freude an der Poesie und meine frühe Bekanntschaft mit unserer schönen Litteratur.

An dem Abende also waren wir noch nicht lange auf dem sonst stillen und einsamen Wege einhergeschritten, als wir uns vor einem Haufen von Leuten befanden, die sich zwischen den beiden letzten Wagen der Dambower Gerstenernte laut durch einander sprechend und wirr durch einander schreiend hin und her bewegten.

Die Binderinnen waren von den Wagen herunter, die Knechte von den Pferden gesprungen; es waren Leute aus dem Dorfe dazu gekommen, zu sehen was da vor sich gehe, und wie wir dann auch in gleicher Absicht herangetreten waren, hatten wir keine Mühe zu erkennen, um was es sich dort handelte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Ein muthiger deutscher Reisender. Die eben veröffentlichten „Erinnerungen an Gustav Nachtigal“ von Dorothea Berlin (Berlin, Gebrüder Paetel) geben uns ein Lebensbild des wackeren Mannes, großentheils nach seinen eigenen Aufzeichnungen und Mittheilungen: wir lernen den wissenschaftlichen Forscher zugleich als einen Berichterstatter von unverwüstlichem Humor kennen, der die afrikanischen Zustände mit feinster Laune zu schildern weiß.

Eine seiner kühnsten Thaten wird uns durch das Werk wieder in die Erinnerung zurückgerufen: es ist ein Besuch in Wadai im Jahre 1873. Eine Reise nach diesem Staate wurde damals für absolut lebensgefährlich gehalten: waren doch zwei deutsche Reisende, v. Beurmann und Vogel, dort die Opfer ihrer muthigen Unternehmung geworden; der erste war schon an der Grenze des Landes, der letztere in der Hauptstadt selbst erschlagen worden. Nach ihnen hatte nur G. Rohlfs 1866 den Versuch machen wollen, Wadai kennen zu lernen; er hatte deshalb ein Schreiben an den Sultan gerichtet; doch dieser hatte ihm erklärt, er könne und wolle ihn nicht beschützen. Trotz solcher wenig ermuthigenden Erfahrungen seiner Vorgänger wagte Nachtigal die Reise dorthin, ohne sich vorher bei dem Sultan anzumelden. Nur einen Empfehlungsbrief des Scheichs Omar von Bornu trug er bei sich und reiste in Begleitung eines gewöhnlichen Kaufmanns bis in das Herz des Landes.

In einer gewissen Entfernung von Abeschr, der Hauptstadt, wurde Halt gemacht und zu dem Sultan ein Bote geschickt, der ihm die Ankunft Nachtigal’s melden sollte und seine Absicht, ihn zu besuchen. Der Sultan gab hierauf keine Antwort, sondern schickte erst längere Zeit nachher einen Abgesandten mit dem Verlangen an Nachtigal, demselben seine Waffen und Pferde auszuliefern. Dieser antwortete: seine Waffen pflege er niemals abzulegen und ein Pferd habe er dem Sultan wohl zum Geschenk mitgebracht, wünsche ihm aber dasselbe persönlich zu übergeben. Als hierauf nichts Weiteres von Seiten des Sultans erfolgte, setzte Nachtigal [147] seinen Weg bis in die Hauptstadt fort und nahm daselbst Wohnung bei seinem Gastfreunde, dem Kaufmann, der ihn bis dahin geleitet hatte. Nach einigen Tagen schickte der Sultan eines Morgens um drei Uhr einen Sklaven mit dem Befehl, Nachtigal solle sofort mit seiner vortrefflichen Flinte, von welcher er gehört habe, zu ihm kommen, um auf seinem Hofe Proben von der Güte dieser Waffe abzulegen. Nachtigal ließ erwiedern, der Sultan habe ja selbst Schützen genug; er sei gekommen, um ihn und sein Land kennen zu lernen, nicht um ihm etwas vorzuschießen. Nach mehreren Tagen ließ ihn der Sultan direkt zur Audienz abholen. Der Gastfreund und der Diener nahmen traurig von ihm Abschied; denn alle hielten seine sofortige Hinrichtung für gewiß. Im Palast wurde Nachtigal in eine Art von Vorraum geführt, der von dem eigentlichen Audienzzimmer durch einen bis auf den Boden hängenden Teppich getrennt war. Unter demselben mußten diejenigen, an welche die Reihe kam, vor dem Sultan zu erscheinen, auf allen Vieren hindurchrutschen. In diesem Raume fand er eine Menge Bittsteller versammelt und setzte sich zu ihnen. Kaum hatte er sich aber niedergelassen, so erhoben sich diese sämmtlich und hockten auf der gegenüberliegenden Seite nieder: ein Zeichen, daß sie ihn als einen dem Tode Verfallenen ansahen, mit welchem in nähere Berührung zu kommen auch ihnen verhängnißvoll werden konnte. Nachtigal glaubte in der That ernstlich, seine letzte Stunde sei gekommen, und machte sich fertig, mit Anstand zu sterben; denn nichts gilt in diesen Ländern für verächtlicher, als sich im letzten Augenblicke feige zu benehmen. Mit diesen Gefühlen kroch er unter dem Vorhang durch und betrachtete dann verstohlen das Antlitz des Gefürchteten, in dem er weniger Grausamkeit als Strenge und einen hohen Grad von Intelligenz zu bemerken glaubte. Das gab ihm einen Funken von Hoffnung, und nachdem er, auf den Knieen liegend, den Kopf tief auf die Erde geneigt, unter Zusammenschlagen der Hände die vorschriftsmäßige Begrüßungsformel gemurmelt, wartete er die Anrede des Sultans Ali nicht ab, sondern nahm allen seinen Muth zusammen, sah ihm ins Gesicht und rief: „In meinem Lande kniet man nur vor Gott, nicht vor Menschen.“ Zu seinem Erstaunen brach Ali nicht in Zorn aus, sondern antwortete: „So stehe auf und setze Dich zu mir.“

Von diesem Augenblicke an hatte er gewonnenes Spiel. Nur einmal grollte der Donner noch. Der König fragte ihn, woher er komme. Nachtigal überbrachte ihm voller Freude die Grüße Scheich Omar’s und wollte sein Empfehlungsschreiben hervorziehen; der Sultan aber winkte ihm entschieden mit der Hand ab: „Laß den Brief nur stecken; was wird weiter darin stehen, als daß ich Dich nicht umbringen soll? Ich allein bin Herr in meinem Lande, und wenn ich Dich nicht tödte, so thue ich es, weil ich nicht will, nicht aber weil Scheich Omar darum bittet.“

Nach dieser Audienz stand Nachtigal unter des Sultans Schutz; ja, er gewann in solchem Maße das Vertrauen desselben, daß er es wagen durfte, nach Vogel’s nachgelassenen Papieren zu fragen; der Sultan wurde roth unter seiner schwarzen Haut; denn er fühlte, daß Nachtigal ihm nicht glaubte, als er versicherte, davon nichts zu wissen; Vogel sei zu Zeiten seines Vaters gestorben.

Unter dem Schutze Ali’s durfte der Reisende nicht bloß in Abeschr verweilen, sondern auch weite Reisen im Lande machen; er wurde von ihm mit Rath und That unterstützt und erhielt von ihm sogar ein werthvolles Empfehlungsschreiben an den Sultan von Dar For.

Es war eine muthige That von Nachtigal, daß er sich in die Höhle des Löwen wagte; so ist er der erste Erforscher des Landes Wadai gewesen. Die deutsche Reichsregierung hatte wahrlich keinen Fehlgriff gethan, als sie den entschlossenen Mann in ihre Dienste nahm. Leider wurde er durch einen allzu frühen Tod (1885) dem Vaterlande entrissen. Auf Kap Palmas stand bis vor kurzem sein palmenumrauschtes Grab. Am 17. Dezember vorigen Jahres sind die Ueberreste des großen Reisenden in einen Zinksarg gelegt und nach Kamerun übergeführt worden, wo sie in nächster Nähe des dort bereits errichteteten Denkmals ihre Stätte finden werden.
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Altes und neues. Zu den geringfügigsten und in Haus und Familie doch unentbehrlichsten Gegenständen gehört zweifellos die Stecknadel, jenes winzige Geräth, das im Einzelnen fast werthlos, in der großen Menge aber, in welcher es verbraucht wird, immerhin einen nicht zu unterschätzenden Konsumartikel bildet. Wo Metallnadeln zuerst in Gebrauch waren, ist nicht festzustellen, obwohl man nadelähnliche Gegenstände nicht selten bei Ausgrabungen aus der Bronzezeit findet. Aber sie besitzen nicht die Kleinheit und Zierlichkeit unserer heutigen Nadeln, was bei den mangelhaften Hilfsmitteln der vorgeschichtlichen Völker nicht zu verwundern ist. Um so mehr mußte es überraschen, als man bei Durchforschung der unterirdischen Tempelgänge, Grotten und Begräbnißkammern des alten, jetzt seit länger als zweitausend Jahren in Trümmern liegenden, einst so mächtigen Theben Stecknadeln fand, die eine erstaunliche Aehnlichkeit mit unseren heutigen Nadeln dieser Art haben. Sie besitzen dieselbe Länge, denselben Kopf und sind aus ähnlichem Metall wie unser Messing gefertigt: ein Beweis, wie weit die Kultur der alten Aegypter schon vorgeschritten war. Im Alterthumsmuseum des Louvre zu Paris sind 25 Stück solcher Nadeln aufbewahrt; sie sind so sauber gearbeitet, daß man über die Geduld und Geschicklichkeit ihrer Verfertiger staunen muß, wenn man berücksichtigt, daß diese Nadeln ein Alter von mehr als dreitausend Jahren besitzen.

Die Perlenfischerei im Vogtlande. Waldesrauschen, Quellengemurmel, Vogelsang, Liederklang, Biederkeit, Zähigkeit, Genügsamkeit, Betriebsamkeit: mit dieser Aufzählung ist die Summe der natürlichen Vorzüge des Vogtlandes und seiner Bewohner nicht erschöpft; denn mit den Reizen seiner landschaftlichen Schönheit hat – in der Vergangenheit allerdings mit entschiedenerem Erfolg als in der Gegenwart – der Erzreichthum seiner Berge gewetteifert. Aber auch die zahlreichen Wasserläufe dieses waldgesegneten Hochlands bergen mehr als nur den flüssigen Segen der Flur und der industriellen Betriebsamkeit, mehr als die köstliche Forelle und deren zahlreiche Sippe. Wie nach den Mittheilungen Sebastian Verso’s und den Berichten anderer vor Jahrhunderten dem Goldreichthum im Gebiete der weißen Elster und der Göltzsch mittels vielfacher Wäschereien erfolgreich nachgespürt wurde, so ist noch heutigen Tages die Perlenfischerei im Oberlaufe der weißen Elster und einer Anzahl in diese mündender Bäche unter der Oberleitung des Staates im Gange. Es handelt sich hierbei um die Flußperlmuschel Margaritana margaritifera, die Bewohnerin kalkarmer Süßgewässer mit Kieselgrund, die auch in Nordeuropa, im nördlichen Nordamerika, im bayerischen Wald und im Fichtelgebirge zu Hause ist. Noch bis in unser Jahrhundert herein waren die Perlenbänke der weißen Elster und ihrer Nebenflüßchen von ihrem Ursprung an bis herab in die Gegend von Greiz reich an Perlen und deshalb berühmt. Gegenwärtig deckt die vogtländische Perlenfischerei kaum mehr die auf sie verwendeten Kosten. Keine Gegend Deutschlands konnte sich früher eines gleichen Reichthums an Perlen in ihren Wasserläufen rühmen, wie die Gegend bei Oelsnitz im Vogtlande.

Gegenwärtig finden sich noch Perlen, abgesehen von der Elster selbst, im Mühlhausener, Schönlinder-, Tettenweiner-, Neumeier-, Tantler-, Elers-, Görnitz- und Triebelbache. Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ergab der Triebelbach ein Erträgniß von 300 000 Mark. Unter Kurfürst Johann Georg von Sachsen wurde Moritz Schmirler in Oelsnitz als kurfürstlicher Perlenfischer mit einem jährlichen Gehalte von 30 Gulden in Pflicht genommen. Der Perlenfang wurde damit ein Recht der Krone. Noch heute besitzt die Familie Schmirler (Schmerler) in Oelsnitz das Vorrecht des Perlenfanges und übt es für Rechnung des Staates aus. Die Schmirler genossen früher eines bedeutenden Rufes als Perlenfischer auch im Auslande. So wurde nach Mittheilungen „Heliander’s“ im Jahre 1734 ein Schmirler nach Dänemark, um über die dortige Perlenfischerei ein Gutachten abzugeben, berufen. Im Jahre 1694 wurden 294 große und kleine Perlen gefunden. Die größten und besten Perlen dieser Ausbeute hatten – damals! – einen Werth von 60 Thalern. Die Ausbeute sank aber, vermuthlich im Zusammenhange mit der Zunahme der Industrie und der durch diese bedingten größeren Unruhe und der Verunreinigung der Gewässer, ununterbrochen. Je versteckter und ungestörter die Muschel liegt, desto besser gedeiht sie ja und mit ihr die Perle. Als man in dem erwähnten Triebelbache einst ein Wehr aufriß, fand man auf dem Grunde desselben eine große Zahl der schönsten Perlen, deren größte den Umfang einer Muskatnuß hatte. Im Jahre 1886 wurden noch 50 helle, 28 halbhelle, 18 verdorbene und 4 Sandperlen gefunden, gegen 154 Stück im Jahre 1885. Neuerdings scheint man ernsthaft auf eine neue Belebung und eine Hebung der Perlmuschelkultur Bedacht nehmen zu wollen.

Razzia im Kaukasus. (Mit Illustration S. 136 und 137.) Während im Westen und im Centrum des Kaukasus die Civilisation seit der russischen Besitznahme Riesenschritte gemacht hat, findet man noch heute in den nordöstlichen und östlichen Provinzen Zustände, die an die schlimmsten Zeiten des Mittelalters erinnern. Besonders waren und sind es gegenwärtig noch die Daghestaner und unter diesen wieder die Avaren und Lesghier, welche sich durch Rohheit und Grausamkeit hervorthun.

„Mohammed ist der erste Prophet Allah’s, und Schamyl der zweite!“ so lautete der Schlachtruf dieser fanatischen Scharen, welche das religiöse Prinzip zum Deckmantel genommen hatten, um, von ihrem kaukasischen Ziska geführt, Tod und Verderben über die „Ungläubigen“ zu bringen.

Der letzte russisch-türkische Krieg gab den Banditen wieder einmal die erwünschte Gelegenheit, die Glieder etwas freier zu rühren, und besonders als die russischen Waffen eine Zeit lang im Nachtheil waren und als es hieß, Schamyl’s Sohn befehlige einen Haufen türkischer Freischärler, war in den daghestanschen Provinzen niemand mehr seines Lebens sicher. Gleich als fühlten sich die Barbaren gedrängt, all der durch einige Jahre niedergehaltenen Grausamkeit die Zügel schießen zu lassen, brachen sie in Abtheilungen über die tiefer gelegenen Gehöfte herein, um ihrer lang zurückgehaltenen Raublust in vollster Unbeschränktheit fröhnen zu können. – In unserem Bilde, in welchem die Gestalten und Typen meisterhaft wiedergegeben sind, sehen wir ein solches Häuflein, das wieder einmal einen guten Fang gemacht hat. Waffen, Hausgeräthe, Teppiche, Pferde, Kamele – alles ist ihnen willkommen; das kostbarste aber sind sicherlich die Weiber, die, wenn jung und schön, jede andere Beute aufwiegen. Die Gruppen der grausamen Räuber und ihrer Opfer, die Bergpferde und Kamele, die großartige Alpenscenerie des Kaukasus ringsum: alles dies ist von dem Maler zu einem stimmungs- und ausdrucksvollen Gemälde verwerthet worden.

Dichterhonorar. Der französische Komponist Lully im 17. Jahrhundert, der alle seine Texte sich von Quirault schreiben ließ, zahlte für jeden Text 4000 Franken. Doch wußte Lully, der zugleich Generalintendant des Theaters war, sein Kapital vortrefflich zu nützen; denn während der 14 Jahre seiner musikalischen Alleinherrschaft ließ er in der Großen Oper in Paris kein einziges Werk eines anderen Komponisten aufführen … Das thäte vielleicht auch noch heute gar mancher Kapellmeister – wenn’s nur ginge!

Eine neue russische Eisenbahn. Rußland macht gewaltige Anstrengungen, seine Besitzungen in Asien und Europa enger zu verbinden. Ein direkter Eisenbahnweg soll durch ganz Sibirien hindurch zur Flottenstation Wladiwostok am Stillen Ocean führen. Gegen die Länge einer solchen Riesenbahn tritt selbst diejenige der amerikanischen Pacificbahn zurück; sie wird 6400 Kilometer betragen und einen Kostenaufwand von 380 Millionen Rubel zu ihrer Herstellung verlangen. Damit dieselbe in fünf Jahren beendet werde, sollen die Arbeiten gleichzeitig an fünf verschiedenen Punkten in Angriff genommen werden. Die Bahn führt durch die fruchtbarsten Landstrecken Sibiriens und wird für Handel und Verkehr von großer Wichtigkeit sein; auch können nach ihrer Vollendung, wenn der chinesische Nachbar den Krieg erklären sollte, große Truppenmassen rasch an seine Grenze gebracht werden. Doch die Petersburger Blätter überschätzen die Bedeutung der Bahn, wenn sie meinen, dieselbe werde für die Millionen Chinas, Koreas und Japans dasselbe sein, was die Eröffnung des Suezkanals für die ganze Welt geworden ist. Dazu ist Wladiwostok nicht bequem genug gelegen, und ein Personenzug von dort nach Petersburg wird mindestens 16½ Tage brauchen.
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[148] Ein neuer Motor. Seit einigen Monaten bewegt sich in Cannstatt an manchen Tagen während der Mittagszeit auf einem eigens gelegten schmalspurigen Schienengeleise ein lustiger Wagen, in dem sich mehrere Personen fahren lassen. Das Auffällige an dieser Beförderung nach Pferdebahnmanier ist, daß weder Pferde dabei benutzt werden, noch eine sichtbare Maschine oder die dazu schon mehrfach verwandte elektrische Kraft sie bewirkt. Man sieht für den Betrieb dieses Gefährtes, das zunächst probeweise in Dienst gestellt ist, nur einen Schaffner und bei ihm einen kleinen Kasten, der im Dreitakt ein klapperndes Ticketacke hervorbringt. Hält der Wagen nach flotter Fahrt am Ziele, um an demselben Tage nicht weiter benutzt zu werden, So trägt der Schaffner jenen Kasten davon und mit ihm die ganze Maschine, welche den Wagen bewegt hat, als zöge ihn ein munteres Pferdchen.

Von Zeit zu Zeit ist auch schon ein kleiner Eisenbahnzug auf der württembergischen Bahn hingeeilt, ohne daß er eine Lokomotive vorgespannt hatte. Hohe Herren, Minister, Eisenhahndirektoren, Ingenieure haben diese Schnellfahrt mitgemacht und mit eigenen Augen sich dabei überzeugt, wie dieselbe lediglich durch jenen kleinen Apparat im Innern des Waggons, der mit den Wagenachsen durch ein Räderwerk in Verbindung gesetzt wird, zur Ausführung gelangt.

Andere Proben solcher Art sind mit Draisinen und mit gleichem Erfolg unternommen worden. Auf dem Neckar bei Cannstatt, auf dem Waldsee bei Baden-Baden vor der großherzoglichen Familie, aus dem Bodensee bei Friedrichshafen vor der Königin

Wagen mit dem neuen Motor von Daimler.

Olga, auf dem Rummelsburger See bei Berlin unter Theilnahme von Beamten des preußischen Marineministeriums, wurde mit demselben Apparat ein kleines Schraubenboot in Fahrt gestellt und machte dieselbe schnell und leicht wie ein Dampfschiff. Offenbar würde die gleiche praktische Verwendbarkeit dieses Motors auch für Luftschifffahrt stattfinden können und überall da, wo überhaupt eine mechanische Krafterzeugung, wie sie durch Dampf, Elektricität, Gas und Petroleum heut schon in verschiedenste Anwendung bei Maschinen gekommen ist, begehrt wird.

Das Eigenartige dieses neuen, des bereits überall patentirten Krafterzeugers, den der Ingenieur Daimler in Cannstatt erfunden hat, besteht in seiner überall ohne Umständlichkeit und aufs billigste zu ermöglichenden Leistungsfähigkeit. Wie er in den erwähnten Fahrten bereits hundertfache Proben überzeugend bestanden, ist er in einem kleinen Kasten enthalten, der nur Sechzig Kilogramm Gewicht hat und überall hingestellt oder sonstwie angebracht werden kann. Mit einem halben Liter Petroleum in der Stunde erzeugt er, was in der Technik eine Pferdekraft bedeutet, entsprechend vergrößert, vermag er auch nach Belieben entsprechend mehr Kraft zu liefern. Letztere wird bewirkt durch die Gasentwickelung des durch eine Lampe erwärmten Petroleums, welche sich mit der atmosphärischen Luft im Behälter vermengt und zu einer Explosion führt; genau geregelt in ihrer Wirkung, wiederholt sich dieselbe fort und fort und nimmt äußerlich vernehmbar den Charakter eines dreitaktigen Pendelschlags an.





Eine edle Frau. Oskar von Redwitz hat in seinem neuen Roman „Hymen“ (Berlin, Wilhelm Hertz) uns in Irene von Goos das Bild einer edlen Dulderin gezeichnet, welches zu den besten Charakterbildern des Dichters gehört. Dabei ist nichts von der engelhaften Färbung der „Amaranth“, nichts Süßes und Verschwommenes, wie zum Theil in dem Schauspiel „Philippine Welser“, sondern es ist alles in dieser Zeichnung schlicht und lebenswahr. Die schöne Irene, des Gesanges kundig und mächtig, ist die Tochter eines wackeren Landedelmannes; nicht gering ist die Zahl der Freier, die sich um sie bewerben; doch sie schenkt ihr Herz dem jungen Werner von Goos, dem reichsten Erben der Gegend, der, von einem längeren Aufenthalt in Paris zurückkehrend, in Irenens Vaterschloß Besuch macht, von der anmuthigen Tochter gefesselt wird und, ihrer Gegenliebe gewiß, um ihre Hand anhält. Sein interessantes Aeußere, seine hohe, von dunklem Haar umschattete Stirn, die großen tiefblickenden etwas müden Augen hatten es ihr angethan. Sein Ruf war indeß nicht der beste; Irene’s Vater und Bruder protestirten gegen diese Verbindung; doch der erstere ließ sich durch die Mutter überreden und das Ehebündniß wurde geschlossen.

Anfangs ließ sich die Ehe gut an; kleine Verstimmungen auf der Reise, besonders in der Weltstadt Paris, wo die Erinnerung an frühere Abenteuer des Gatten einmal aufdringlich sich geltend machte, glichen sich wieder aus: doch nach der Rückkehr fühlte Werner sich nicht wohl in der ländlichen Einsamkeit: er richtete Gesellschaftsabende ein, bei denen seine Frau noch durch ihren Gesang glänzte; dies schmeichelte seiner Eitelkeit. Er selbst war indeß unlustig zur Arbeit und gab sich bald dieser, bald jener Passion hin. Die Geburt des ersten Sohnes erhöhte seine Zärtlichkeit für die Gattin; doch die durch die ersten Kinderkrankheiten hervorgerufenen Störungen trieben ihn wieder aus dem Haufe. Oft verweilte er in Berlin, wo er sich allen Verirrungen der Großstadt hingab; als sein zweites Kind, eine Tochter, geboren wurde, war er nicht zu Hause. Die Lage Irene’s wurde immer trostloser, das Mißbehagen des Gatten in der engen Häuslichkeit immer fühlbarer. Noch wußte Irene nichts von den Ausschreitungen des Gatten in Berlin; ihr eigner Bruder unterrichtete sie davon. Werner selbst beichtete ihr indeß in einer Gemüthsaufwallung und sie verzieh.

Die Kinder wuchsen indeß heran, die einzige Freude der Mutter. Der älteste Sohn, Wolf, studirte in Heidelberg und widmete sich der Landwirthschaft, indem er die Güter des Vaters pachtete. Die Tüchtigkeit des Sohnes war für diesen beschämend und steigerte sein Mißvergnügen. Wolf verlobte sich mit einem reizenden Mädchen, Elisabeth, der Tochter einer Gutsnachbarin, da brach für den Vater das Verhängniß herein. Ein anderes Schloß in der Nähe hatte die Gräfin Kottberg angekauft, eine Ungarin, früher eine geistreiche, raffinirte Lebedame, jetzt von heuchlerischer Religiosität; sie hatte eine schöne, interessante Tochter Ellinor, und ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, diese mit Werner von Goos zu verheirathen. Das pikante Abenteuer erfüllte ihn mit neuem Lebensmuthe: er erglühte für Ellinor in Leidenschaft und beschloß, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Auch diesen Kelch leerte die edle Dulderin mit Resignation; ja Sie nahm die Schuld der Trennung durch den Schein böswilliger Verlassung auf sich. Werner aber gerieth immer mehr in leidenschaftliche Aufregung, gab sich dem Trunk hin und zuletzt kam der Wahnsinn über ihn, Größenwahn mit jener Körperlähmung, die ihn oft begleitet. Seine Braut stürzt sich in die Fluth; die Mutter, die sie retten will, kommt mit ihr um. Werner wird ins Irrenhaus gebracht, wo er als unheilbarer, besinnungsloser Kranker dem Tod entgegensiecht. Doch eine Pflegerin weicht nicht von seiner Seite: es ist Irene, die zu ihm zurückgekehrt ist, Wohnung genommen hat in der Anstalt und dort verweilt, bis der Tod den Gatten erlöst hat.

Gewiß … ein rührendes Frauenbild! Alle Stimmungen und Vorgänge des Romans, in dessen Mitte diese makellose, opfermuthige Irene steht, sind lebendig dargestellt und wir möchten diesen Roman für die reifste Schöpfung des Dichters halten.




Am Vorabend eines Dorffestes. (Mit Illustration S. 145.) Das muß wohl eins jener musikalisch gebildeten Dörfer Thüringens, Süddeutschland’s oder Deutsch-Oesterreichs sein, in welchem der wackere Kantor zugleich eine Generalprobe mit den beiden Solisten abhält! Die Solosänger zu seiner Linken, seine Schüler, sind gewiß die bedeutendsten Tenoristen und Bassisten meilenweit in der Runde. Anscheinend hat man zur Generalprobe gleich das Koncertlokal gewählt, denn die weiten Räume mit dem stattlichen Kamin, den Gemälden und den hohen Fenstern sehen nicht aus wie die Studirstube des alten Dorfschulmeisters. Die Probe muß übrigens trefflich von statten gehen, das sagt uns die zufriedene Miene des geistlichen Herrn, der da zur Rechten des Flügels aufmerksam lauschend sitzt, und er ist jedenfalls der Sachverständige der Gemeinde. Es beweisen dies aber auch das an die Mutter geschmiegte, andächtig horchende Kind, die lächelnde Frau am Fenster und der ernst aufblickende Mann im äußersten Winkel des Saales. Selbst des Hauses verhätscheltes Kätzchen sitzt dort behaglich am Kamin und freut sich des Spieles und Gesanges. Unwillkürlich weissagt man beim Anschauen von Professor Bianchi's anheimelnder Idylle den Teilnehmern des morgenden Festes einen hohen Genuß.




Kleiner Briefkasten.
Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.



C. Weber in Morawetz. Jahrgang 1887 der „Gartenlaube“ umfaßt nicht 52, sondern 53 Nummern; unsere Abonnenten erhielten im vorigen Jahr eine Nummer mehr als gewöhnlich.

K. R. in Lauban. Es giebt schon mehrere Sammlungen von Shakespeare-Sentenzen; in der That ist ja der große britische Dichter überreich an Gedanken, die in schlaghafter Form ausgeprägt sind. Eine neue derartige Sammlung ist „Gedankenlese aus Shakespeare’s dramatischen Werken“ von G. Mühry (Hameln, Th. Fuendling.)

L. K. in Kassel. Nicht verwendbar.

F. N. in Chemnitz. Die „Deutsche Schachzeitung“ (43. Jahrgang, Leipzig, Veit und Comp.) dürfte Ihren Wünschen am besten entsprechen. Dieses treffliche redigirte Blatt erscheint in 12 Monatsheften und kostet 10 Mark pro Jahr.

Frau E. H. in K. Die beste Auskunft wird Ihnen der Verfasser des bezüglichen Artikels, dessen Adresse aus dem Titel ersichtlich, geben können.

Georg H. in Eutin. Kaisergroschen hießen früher in Oesterreich die Dreikreuzerstücke.

M. S. in N. Ungeeignet. Das Manuskript steht zu Ihrer Verfügung.