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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[361]

No. 21.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Lora-Nixe.

Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Am andern Morgen erschien Ravensburgk frühzeitig am Brunnen. Er war mit außergewöhnlicher Sorgfalt gekleidet, trug eine Rose im Knopfloch und hatte die röthlichen Bartspitzen in zwei horizontale Linien gedreht. Die Badekapelle in ihrem mit vergoldeter Kuppel gedeckten Pavillon hob eben ein neues Musikstück an.

„Die Ouverture zum ‚Tannhäuser‘ von Richard Wagner,“ sagte achselzuckend Baron Pölz. „Warum spielen sie nicht ein Ballet aus ‚Wilhelm Tell?‘“

„Wie kann man von dem Revolutionär etwas aufführen?“ bemerkte Frau von Tromsdorf. „Fifi verabscheut Wagner.“

„Und diesen hirnverrückten Wirrwarr, der gegen die Gesetze des Generalbaß verstößt, nennt man Zukunftsmusik!“ schalt der Professor einer musikalischen Akademie.

„Ueberall zerbrochene Ketten,“ sprach Ravensburgk, aufmerksam zuhörend. „Wenn es wahr ist, daß in erleuchtete Geister die Zukunft ihr Bild vorauswirft, so stehen wir vor einer großen Wende der Zeit.“

Ein alter Intendant, der hauptsächlich Ausstattungsopern aufführte, schüttelte den Kopf. „Ich denke, das gesunde Urtheil unseres Publikums wird diesen mittelalterlichen Unsinn verwerfen.“

„Wenn es nicht eher die tanzenden Nonnengeister und mädchenanbeißenden Vampyre verwirft, um sich dem Tannhäuser zuzuwenden, der wie Ahasver, Don Juan und Faust die Jahrhunderte überdauert,“ entgegnete Ravensburgk. Und beklommen setzte er hinzu. „Zweifelhaft ist nur, ob sich immer eine Elisabeth findet, die Erbarmen mit dem armen Gestrandeten fühlt.“ Er ging grüßend weiter.

Während er scheinbar ziellos den Weg zum Lora-Ufer hinab schlenderte, überflog sein scharfer Blick den einsamen Pfad, der dasselbe entlang führte. Jetzt sah er durch die Blätter der Silberpappeln und Weiden ein rosenrothes Schirmchen schimmern.

Mit lautlosem Schritt trat er näher und stand neben Hedwig, welche an dem Geländer lehnte und den Wellen nachschaute, die in den Lora-Grund hinabrauschten. Sie seufzte tief.

„Warum seufzen Sie?“ fragte er mit seiner klanglosen Stimme.

Sie fuhr ein wenig zusammen. Dann antwortete sie aufrichtig: „Ich wollte, ich wäre daheim.“

„Man muß nicht zu viel auf einmal verlangen,“ verwies Ravensburgk mit halbem Ernst, während er mit ihr weiterging. „Der ist schon glücklich zu preisen, der überhaupt ein Daheim hat.“

„Ein Heim kann sich jeder Mensch gründen,“ entgegnete Hedwig, „wenn er

Neckereien.0 Nach dem Oelgemälde von Alexander Rontini.

[362] nur versteht mit den Verhältnissen zu rechnen, in die ihn das Schicksal gestellt hat.“

„Nein,“ widersprach Ravensburgk herbe, „nicht jeder vermag es.“ Und in leichterem Tone fuhr er fort: „Ich könnte Ihnen eine Geschichte erzählen von einem jungen Lieutenant, der weniger hatte als seine Gage, da dieselbe zum Theil dem Lieferanten seiner Uniform verpfändet war. Sein Vater lebte mit den jüngeren Kindern auf einem Gut, das unter Sequester stand und kaum mehr gab als das Dach, unter dem die Familie sich barg. Es ist zwar in derselben ein Hausschatz vorhanden, ein prächtiges Silbergeschirr, aber dieses ist, laut Testament eines Urgroßonkels, unveräußerlich. Nur wenn die Familie ein glänzendes Fest geben sollte, würde es aus den Kisten genommen und benutzt werden können. Es hat Tage gegeben, an denen den jungen Officier der wirkliche Besitz eines silbernen Tellers vor den Klauen gemeiner Wucherer gerettet hätte; es gab auch eine Zeit, wo ihn sein Antheil an dem Silberschatz zu einem glücklichen Mann machen konnte, der auch die Güter besitzen durfte, welche das Leben veredeln und verschönen. Aber das Testament bestand einmal, und ein Mensch, der nicht das Hemd auf dem Leib sein eigen nennt, wird von keinem vernünftigen Vater zum Schwiegersohn erwählt.“

Er wehte sich Kühlung mit dem Battisttuch zu, das wie Halskragen und Manchetten lila umsäumt war, und fuhr fort: „In diesem Fall war es nichts mit der Gründung eines traulichen Heims. Ja, wenn er so klug gewesen wäre wie seine jüngeren Brüder, die, ohne viel zu fragen, die Töchter aus der Spinnerei sich holten, welche von den Steinen der alten Ravensburgk erbaut worden war! Aber er hatte als der Aelteste noch die letzten Jahre seines Großvaters verschönt, der mit ihm jeden Tag vor der Frühstücksmilch seine sechzehn Ahnen rekapitulirte und einen Fehler dadurch bestrafte, daß er den kleinen Burschen mit dem Schürzchen ‚Er‘ nannte. Er war als Page am Hofe aufgewachsen, wo er mit zehn Jahren um seines alten Namens willen sich stets erkoren sah, den höchsten Damen die Schleppe zu tragen. Gefühle und Ansichten lassen sich nicht wechseln wie ein zu eng gewordenes Kleid. Wenn die, welche über den wüsten Ravensburgk den Stab brechen, wüßten, was er gelitten hat, ehe er so wüst wurde, sie würden vielleicht so milde urtheilen – wie Sie.“

Er hatte gelassen gesprochen, dazwischen mit der ihm eigenen süffisanten Art die Gräfin Scultizka gegrüßt, die in einer roth ausgeschlagenen Eselsequipage, das Gebetbuch in der Hand, den Rosenkranz um das Handgelenk geschlungen, zur Messe nach der Waldkapelle fuhr. Und doch schnitten seine Worte tief in Hedwig’s Herz.

„Aber das Schicksal hat zurückgegeben, was es Ihnen früher entzog,“ erwiderte sie in tröstendem Tone. „Längst ist die Sequestration ihres Gutes aufgehoben. Und Sie haben eine Stellung, die Ihren Neigungen entspricht.“

„Glauben Sie, daß es nicht zu spät ist, ein neues Leben zu beginnen?“ fragte Ravensburgk, und der Klang seiner Stimme konnte seine tiefe Bewegung nicht verleugnen.

Hedwig schwieg bestürzt. Es kam ihr eine Ahnung, daß sie vor eine Entscheidung gestellt werden sollte.

Mit mühsam beherrschtem Tone fuhr Ravensburgk fort: „Glauben Sie, daß ein edles weibliches Wesen sich noch der Mühe unterziehen würde, einem Mann wie ich bin die Hand zur Umkehr zu reichen? Glauben Sie, daß die vergötternde Liebe und Dankbarkeit eines viel verkannten Menschenherzens wieder Liebe erwecken könnte? Vom Mitleid zur Liebe soll ja nur ein kleiner Schritt sein für hochherzige Frauenseelen.“

„Würde Ihnen Mitleid genügen?“ fragte Hedwig, leise den Kopf schüttelnd.

„Wer weiß!“ entgegnete er fast demüthig.

In Hedwig’s Herzen stieg Georg’s Bild auf. Trotz der bitteren Enttäuschung, die er ihr durch sein launenhaftes Benehmen bereitet hatte, wirkte die Erinnerung an ihn wie eine Erlösung. Was würde er für grimmige Augen machen, wenn ihm Mitleid statt Liebe gezollt werden sollte! Sie wußte auf einmal, was das allein Rechte war.

„Nein,“ sagte sie mit weicher Stimme, in die ihre Theilnahme für Ravensburgk hinein klang, „Mitleid kann einem charaktervollen energischen Mann auf die Dauer nicht genügen. Es ist auch nicht das Gefühl, mit dem sich ein Heim gründen läßt. Tiefe Liebe deckt vielleicht auch den Schleier über eine dunkle Vergangenheit. Aber ohne dieses göttliche Gefühl würde für beide Theile nur Beschämung aus dieser Verwechselung der Gefühle entspringen.“

Es war, als hätte sein Fuß gestockt. Aber im nächsten Augenblick schritt er so leicht und elegant wie immer weiter. „Mit solchen hoch gespannten Ansichten vereinsamt man im Leben,“ sagte er endlich herbe.

„Das Schicksal fürchte ich nicht,“ antwortete Hedwig in sicherem Tone. „In dem Altenhaus auf Grundleben ist Niemand verlassen gestorben.“

Ravensburgk lachte unmuthig auf. „Es könnte Ihnen genügen, Ihr Leben lang nichts weiter zu thun, als zwischen den zwei Drachenköpfen der Dachtraufe am Altenhaus in die langweilige Ebene zu schauen?“

„Wer sechs Geschwister hat, von denen das jüngste noch im Laufstühlchen herum rennt, braucht keine Sorge um eine nützliche Beschaftigung zu tragen,“ entgegnete Hedwig warm; „und vor den Drachenköpfen fürchte ich mich nicht. Wohl aber,“ fügte sie leise hinzu, „vor dem Drachen der Lüge, der die Menschen verleitet, sich und Andere zu betrügen.“

Sie sah bittend zu ihm auf. Sein finsterer Blick verging vor den Thränen, die in ihren Augen standen, vor dem wehmüthigen resignirten Zug um den lieblichen Mund.

Er bot ihr die Hand mit einem Lächeln, das wie der Abglanz längst vergangener Jugend die düsteren Züge verschönte, und sagte mit einer Stimme, die tief aus dem Herzen kam: „Nun, Freunde bleiben wir auf jeden Fall!“

Während Hedwig diese Entscheidung traf, sprengte von der andern Seite Georg Aufdermauer nach Jungbrunnen hinein.

In den finster hingebrüteten Tagen und schlaflosen Nächten der letzten Zeit war ihm der Gedanke gekommen, die Neigung zwischen Hedwig und Heino sei eine Vetternliebe, die in der Kinderstube zu beginnen und mit dem Eintritt in das Leben zu enden pflegt. Die Beiden hatten sich ja gar nicht um einander gekümmert, als er mit ihnen zusammen gewesen war.

Er fühlte sein Gewissen als Freund nicht mehr belastet durch seinen Wunsch, das reizende Kousinchen Heino’s für sich zu gewinnen.

Und was vielleicht die alten Perückenstöcke, die Eltern, in ihrer aristokratischen Beschränktheit geplant hatten, darum brauchte sich ein vernünftiger Mann nicht zu kümmern, wenn es ihm gelang, diese Vorurtheile bei dem liebenswürdigen Mädchen durch seine persönlichen Vorzüge zu besiegen. Im Gegentheil! Das war eine gute That.

Er erinnerte sich mit Vergnügen ihres Erröthens bei seinem Anmarsch, ihrer Verwirrung, als er die Laufgräben gegen die Festung eröffnete; und von neuem Muth beseelt, beschloß er noch einmal einen Streifzug zu unternehmen, bevor er sich gänzlich aus dem Felde schlagen ließ.

Er kam zunächst als Entsatz für den Geheimen Medicinalrath, den Frau von Blachrieth seit einer Stunde blockirt hatte, um ihm alle Mängel und Tücken seiner Quelle zu klagen. Der würdige Herr benutzte Georg’s Ankunft zu seinem Rückzug, indem er ihr mit wichtiger Miene die Weisung gab, morgen einen Becher weniger zu trinken.

Auch Frau von Blachrieth wendete sich sichtbar beeifert dem neuen Ankömmling zu. „Gott sei Dank, daß Sie endlich einmal wieder sich sehen lassen, Herr Hauptmann. Ich hatte mir von Ihrer Freundschaft thätigeren Antheil an uns versprochen.“

„Die Heuernte hielt mich daheim fest,“ entgegnete Georg, mit gespanntem Blick den Kurplatz überfliegend. „Wo ist Ihr Fräulein Nichte? Ich möchte auch sie begrüßen.“

„Ach, lassen Sie doch Hedwig,“ antwortete Frau von Blachrieth verdrießlich. „Sie wird mit Ravensburgk promeniren, wie jetzt immer. Um sie bin ich nicht in Sorge. Aber Heino! Ich hatte so bestimmt darauf gerechnet, daß Sie ihn von dem ewigen Dichten abziehen würden.“

„Aber das ist doch einmal sein Metier,“ erwiderte Georg ungeduldig und spähte hinüber in die Promenade.

„Ich bin ja auch nicht gegen das Dichten,“ rief Frau von Blachrieth ganz verzweifelt; „aber der Stoff ist’s, der mich ängstigt, der Stoff!“

Ist das eine verdrehte Frau! dachte Georg wüthend. Laut sagte er: „Vom Stoff verstehe ich gar nichts und werde mich niemals in etwas mischen, was mir unklar ist. Ich bitte deßhalb gehorsamst, in dieser Angelegenheit nicht auf meine Dienste zählen zu wollen. Mein Kompliment, gnädige Frau.“ Er drehte sich um und marschirte ab.

Dort drüben unter den Kastanien hatte er sie entdeckt. Im Sturmschritt eilte er vorwärts.

[363] Er kam gerade an das letzte Boskett, um hinter demselben mit anzusehen, daß Ravensburgk Hedwig’s Hand innig drückte und so weich zu ihrem empor gerichteten Antlitz niederlächelte, wie er es dem spöttischen verlebten Mann gar nicht zugetraut hätte.

Er drehte sich abermals auf dem Absatz um und eilte mit langen Schritten davon. „Satteln! wir reiten nach Haus,“ befahl er seinem Reitknecht, der eben beschäftigt war, abzusatteln. Ein paar Minuten später sprengte er seinem Haus Aufdermauer wieder zu. Was half es ihm nun, daß seine Vermuthungen in Bezug auf das Verhältniß Hedwigs zu Heino richtig gewesen waren? Er hatte zu lange Zeit gebraucht, um darüber ins Klare zu kommen. Hedwig hatte sein Fortlaufen übelgenommen, Ravensburgk war täglich von früh bis spät mit ihr zusammen gewesen, und diese verwirrte Frau, die ihn aus seinem Himmel vertrieben hatte, fand sich nun ganz leicht in die anderweitige Verheirathung der Nichte. Er hätte mit dem Kopf gegen seine Weinterrassen rennen mögen.

Nach und nach kam ein düstrer Trotz in ihm zur Herrschaft. Nun, wenn sie so einen Jeden nimmt, kann ich mich auch trösten, murrte er, während sein Pferd langsam zu seinem Haus emporstieg.

Erst als Hedwig sich wieder vollständig gefaßt hatte, kehrte sie zu der Tante zurück. Sie wollte um Alles in der Welt nicht, daß diese eine Ahnung von dem Vorgang bekam und die Angelegenheit so lange von allen Seiten beleuchtete, bis man nicht mehr wußte, wie dieselbe eigentlich beschaffen war.

„Mein Gott, wo bleibst Du?“ klagte Frau von Blachrieth ganz aufgelöst. „Es wäre mir so erwünscht gewesen, wenn Heino mit seinem Freund den Abend verlebt hätte; aber es kümmerte sich Niemand um ihn.“

Hedwig wurde ganz blaß. „Der Hauptmann? Wo ist er denn?“ und ihre Blicke suchten in dem Menschengewimmel.

„Wie soll ich das wissen?“ erwiderte Frau von Blachrieth ärgerlich. „Wahrscheiulich ist er wieder fort.“

Hedwig spähte in alle Gänge.

Vergebens. Nirgends zeigte sich die hohe Gestalt. War der noch fernher klingende Hufschlag der Galopp des starken Eisenschimmels, den er zu reiten pflegte?

„Wir wollen nun auch gehen,“ fuhr Frau von Blachrieth verdrießlich fort. Dort kommen diese – wie heißen sie doch? Ich will nicht, daß sie sich mir vorstellen lassen, und mag auch Heino nicht in Verlegenheit bringen. Er braucht doch nun einmal ein Modell zu seiner Dichtung. Mein armer Sohn! Er ist übel dran, daß er in seiner nächsten Umgebung nur der alltäglichsten Prosa begegnet.“

Um das vergötterte Kind nicht anklagen zu müssen, verhehlte die alte Dame geflissentlich den wahren Grund ihrer Verstimmung: die Sorge, Heino könne eine Mesalliance eingehen, und rückte mit weiblicher Verschlagenheit die ganze Angelegenheit in ein anderes Licht, wobei noch ein versteckter Vorwurf Hedwig traf.

Diese ging, ohne den Angriff zu bemerken, mit zitternden Knieen nach Haus, sank in einen Fauteuil und schloß die Augen. Es wurde hohe Zeit, daß die Vergnügungsreise, welche die Tante ihr gütig angeboten hatte, zu Ende ging.

„Mein Gott, was fehlt Dir?“ rief Frau von Blachrieth und strich mit ihren nervösen Händen über Hedwige Gesicht.

„Nur ein paar Stunden Ruhe bedarf ich,“ sagte diese sanft, aber entschieden, und zog sich in ihr Zimmer zurück.

Frau von Blachrieth und Leonore waren wie Mond und Sonne. Die Erstere verschwand, wenn die Letztere erschien.

Heino spielte die Rolle des Morgensterns. Er geleitete das aufsteigende Tagesgestirn.

„So heiß es auch ist,“ sagte er, „es hilft nichts, ich muß heute nach Burg Falkeneck. Ich verschob den Ausflug immer wieder, um einen kühlen Tag abzuwarten; aber ich komme nicht vorwärts. Ich muß Anregung, Stimmung sammeln, unmittelbare Eindrücke haben. Ich fühle tief, wie der wirkliche Schauplatz der Ereignisse, wenn er auch in Trümmern liegt, auf meine Phantasie wirken muß. Der Blick auf Wald und Fluß herab wird immerhin ein ähnlicher sein wie der, den der sehnsüchtige Liebhaber, die nixenhafte Hausfrau genossen.“

„Nehmen Sie uns mit,“ bat Leonore. „Ich kenne jedes Winkelchen der Burg und könnte Ihnen eine zuverlässige Führerin sein.

„Welch ein entzückender Gedanke. gemeinsam mit Ihnen an dem Werk zu arbeiten!“ rief er.

Das angeschlagene Thema fluthete weiter.

„Eine Kahnfahrt nach Falkeneck,“ jubelten die Damen.

Heino widersprach entsetzt. Er sehnte sich, endlich einmal mit Leonoren allein zu sein.

Aber die allgemeine Begeisterung ließ sich keinen Damm entgegen setzen. Die Stunde der Abfahrt wurde verabredet.

„Herr von Ravensburgk, werden Sie auch von der Partie sein?“ rief Baron Pölz dem Vorüberschreitenden zu.

„Wohin?“ fragte dieser.

„Nach Falkeneck, Herr von Blachrieth sucht Inspirationen,“ lautete die Antwort.

„Wozu?“ fragte Ravensburgk.

„Zu meiner Dichtung,“ erwiderte Heino.

„Warum?“

„Wohin? Wozu? Warum?“ parodirte Leonore. „Bilden Sie sich zum Fragezeichen aus?“

Ravensburgk warf ihr einen nachlässigen Blick unter den tief gesenkten buschigen Brauen zu. „Nein; aus allem Fraglichen mache ich mir nichts.“

„Ich bin an einen Punkt gekommen, wo ich nicht weiter weiß,“ vermittelte Heino.

Ravensburgk’s Lippen umspielte ein leiser Hohn. „Dann würde ich die Sache abbrechen,“ entgegnete er scharf. „Uebrigens begreife ich nicht, was Sie noch hinzudichten wollen. Der Ritter Falkeneck zog, nachdem er erfahren hatte, daß er eine Mesalliance eingegangen war, zu einer Kreuz– und Bußfahrt aus, die Nixe versank. Damit ist die Sache ganz korrekt zu Ende geführt.“

„Vor diesem Schluß graut mir,“ wendete Heino ein. „Ich möchte eine glückliche Lösung für den Konflikt finden.“

Ravensburgk schüttelte den Kopf. „Alle Nixensagen nehmen ein trauriges Ende. Von den Sirenen will ich schweigen, da sie keine deutschen Gestalten sind. Aber Loreley lockt gleich ihnen die Männer mit süßem Gesang ins Verderben, Undine löst sich in einen Bach auf, Melusine kehrt unglücklich in ihr feuchtes Element zurück, und Ilse sitzt, von Heinrich dem Finkler verlassen, traurig in Vollmondnächten auf ihrem Stein. Ganz natürlich! Die Wassergeister stammten zwar von den alten Göttern ab; aber sie waren heruntergekommen, und wer einmal in den Pfuhl hinabgetaucht ist,“ fügte er mit ausbrechender Bitterkeit hinzu, „für den giebt es kein Emporkommen mehr.“ Dann schloß er in wegwerfendem Tone: „Wenn Sie die Sage durchaus anders als bisher beenden wollen, so lassen Sie die Wasserjungfer den Erlkönig heirathen. Dann bleibt das Gelichter unter sich.“




So glänzend und wechselnd die Bilder waren, die in Jungbrunnen sich aufrollten, so unscheinbar und gleichförmig verlief das Leben in Himmelgarten.

Die Schwestern zogen am frühen Morgen aus dem gemeinsamen Schlafsaal, wo die langen Reihen schmaler weißer Betten standen, in den Betsaal, dessen weiß getünchte Wände nur ein Bild des auferstehenden Heilandes schmückte. Das Lied, mit dem sie den Tag begannen, zählte ihnen die Pflichten auf, welche sie zu erfüllen hatten, und sagte ihnen, was eine ledige Schwester zu thun habe, wenn die Frage sie verunruhige, wozu sie in Zukunft berufen sein könne. Die schlichten Schlußverse lauteten:

„Dann überläßt sie sich dem Herrn
Als seine Magd in Allem gern
Und bleibt indeß auf ihren Stand
Gerad und aufrichtig gewandt.“

Und nun begaben sich Alle an ihr Geschäft im Haushalt, in den Schulstuben und den Zimmern fur Handarbeit. Geräuschlos vollbrachte Jede das ihr obliegende Werk. Sie hießen nicht umsonst „die Stillen im Lande“.

Vor ihrem altmodischen verschnörkelteu Schreibpult saß Schwester Jakobine und sah die Schaustücke durch, welche an sie, als Vorsteherin des Schwesternhauses, kamen.

Da verlangte eine Gemeine am Rhein eine Schwester, welche das Abhaspeln der Seidenkokons verstand. Aus Schlesien kam die Anfrage nach einer in der Oekonomie bewanderten, in Thüringen wurde eine Vorsteherin für den Kinderchor gesucht. Auch ein Brief des Missionars aus Grönland war dabei, welcher eine Lebensgefährtin begehrte, die „nach Jesu Ruf und Gnadenwahl bereit war, vereint mit ihm durchs Jammerthal zu wallen“.

[364] Gesammelten Geistes prüfte sie die Gaben der ihr anvertrauten Schäflein und machte danach ihre Vorschläge.

Aber es lag ein Zug von Sorge in ihrem Antlitz, der nichts gemein hatte mit den Entscheidungen, die zu treffen waren.

Was fehlte ihrem Neffen? Er wurde immer bleicher und stiller. Die Kur in Jungbrunnen hatte er aufgegeben und auf ihre Bitte, dorthin zurückzukehren, mit einem entschiedenen stummen Kopfschütteln geantwortet. Seine weiche Tenorstimme hatte so müde und traurig in der Betstunde geklungen, als er den Vers anstimmte: „Hüter, ist die Nacht nicht hin?“ Was konnte den jungen Bruder, dessen unsträfliches Leben klar vor Aller Augen lag, aus seinem Frieden gescheucht haben? Sie wußte keine Antwort.

Da griff sie nach ihrer Ziehbibel. Das Futteral aus geblümtem Papier, die vergilbten Blätter zeigten, wie lange und oft schon in Bedrängniß zitternde Hände Rath und Trost in ihr gesucht hatten.

Auch heute that sie treulich ihren Dienst. Wenn der Spruch, den Jakobine zog, auch keinen Aufschluß gab, so stellte er sie doch in seiner schlichten Erhabenheit auf den höchsten Standpunkt, unter den unmittelbaren Schutz des Herrn, daß Sorge und Kummer unter ihren Füßen lag, wie das Gewölk unter dem Gipfel des Berghauptes, das seine Stirn im klaren Aether badet.

Aber für jeden Menschen kommt einmal der Augenblick, in welchem selbst der erhabenste Berather ihm nicht mehr Beistand zu leisten vermag. Dann muß er für sich allein den Kampf in seiner Seele ausfechten, das Wort der Erlösung in sich finden.

Johannes wandelte heute ohne seinen Freund Thomas a Kempis nach dem waldigen Berge hinüber, auf welchem der verfallene Bergfried von Falkeneck emporragte.

(Fortsetzung folgt.)

Allerlei Nahrung.

Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
II.0 Die Auster.

Ein unscheinbares, vollkommen unbewaffnetes und doch in allen Kämpfen so streitbares und sieghaftes Wesen! Ruhig und gemessen seit Jahrtausenden vorwärts dringend, erobert die Auster nach und nach die ganze Welt und pflanzt überall ihre Fahne auf, ohne befürchten zu müssen, daß man ihren Kolonialbesitz im Innern der Kontinente ihr streitig zu machen versuchte. Die Auster wurde, wenigstens im Norden, schon gesucht, gefischt, geehrt und verzehrt, bevor man das Metall kannte — die Haufen ihrer Schalen bilden in der alten wie in der neuen Welt den größten Theil jener Küchenabfälle, durch deren Untersuchung besonders dänische und nordamerikanische Gelehrte sich verdient gemacht haben. Unsere ältesten Kulturlehrer, die Römer, wie liebten sie die Auster! Welche Sorgfalt ließen sie ihr angedeihen! Mit welchem Eifer studirten sie ihre Fortpflanzung, ihre Züchtung! Ich weiß nicht, ob in den neuerdings so beliebten Kulturromanen aus der Kaiserzeit nicht vielleicht ein Frühstück in Bajae beschrieben wird. Die Auster spielte gewiß in diesem Badeorte, der Baden-Baden und Ostende in sich vereinigte, eine wesentliche Rolle, und der Kellner des Restaurants „Apicius“ stellte gewiß dem zur Frühstückszeit Eintretenden auf Lateinisch dieselbe Frage, welche mir fast zwei Jahrtausende später der Besitzer von Wilken’s Keller in Hamburg stellte: „Ein Dutzend Natives, Herr Ständerath? Ausgezeichnet schön heute und ganz frisch!“ (Der Mann war ein Graubündner und hielt darauf, sein schweizerisches Patriotengefühl durch den schweizerischen Titel, den er mir gab, zu bethätigen.)

Wenn Stephan die neue Aera der Post in das Leben gerufen hat, so hat die Auster sie eingeleitet. Die Auster, die um jeden Preis frisch und lebend an den Ort ihrer Bestimmung gelangen muß, hat zu steter Beschleunigung der Kommunikationen den Anstoß gegeben. Die Römer schon transportirten sie auf wenigstens tausend Kilometer Entfernung. Man hat Haufen von Austerschalen, die nur aus dem Mittelmeere stammen können, in der Nähe römischer Villen am Rheine und in dem Jura gefunden. Ich sage wohlbedacht: Austern aus dem Mittelmeere, denn die kleine, tiefe Löffelauster, die man an allen italienischen Küsten verspeist, läßt sich auf den ersten Blick von der flachen Nordsee-Auster unterscheiden. Später lernten die Römer freilich auch die englischen Austern, unsere Natives, schätzen und sogar mit Recht den Mittelmeer-Austern vorziehen.

Es giebt Austern und Austern, und wie es Feinschmecker giebt, welche die verschiedenen Rheinweine nach Ort und selbst nach Jahrgang zu unterscheiden wissen, so giebt es geübte Zungen oder vielmehr Gaumen, welche beim Durchschlüpfen des Austernleibes in den Schlund zu unterscheiden wissen, ob die Auster in Holstein oder Ostende, an der englischen oder französischen Küste vom Grunde gekratzt oder, um es richtiger zu sagen, gezüchtet und gemästet wurde.

Alles, was lebt, nährt sich und Alles, was sich ernährt, kann gemästet werden, lautet der Ausspruch eines Weisen. Er bewährt sich bei der Auster. Der Schwerpunkt des Austernhandels im Großen liegt in der Mästung, welche die Auster nicht nur fett macht, sondern ihr auch einen besonderen specifischen Geschmack ertheilt.

Fischerei, Züchtung, Mästung und Vertrieb der Austern sind aber keine unbedeutenden Geschäfte. Wenn man bedenkt, daß Paris allein in den Monaten des Jahres, welche ein R in ihrem Namen haben (September bis April), nahezu an hundert Millionen Stück Austern, London etwa das Doppelte verzehrt, so wird man sich einen Begriff von dem Umsatze an Arbeit und Geld machen können, der zur Befriedigung des Austernmarktes nöthig ist. Dabei muß man aber noch wohl ins Auge fassen, daß der Großhandel mit Austern sich nur von den Küsten der Nordsee und des Oceans auf europäischer wie amerikanischer Seite sein Material holt und auch hier nur in beschränkter Ausdehnung, zwischen dem fünfundsechzigsten Grade nördlicher Breite bis zum Meerbusen von Biskaja und an der amerikanischen Küste von Kanada bis Virginien. Polarmeer und Ostsee haben keine Austern, und das Mittelmeer, die Wiege der Austernzucht, treibt heutzutage nur lokalen Kleinhandel, ohne Bedeutung für die größere Bewegung.

Das hängt mit mancherlei Umständen zusammen. Die Auster ist eine reine Küstenbewohnerin, die nicht über zwanzig Faden Tiefe hinabgeht, also auf einen sehr schmalen Saum am Meere beschränkt ist. Sie muß sich, um leben zu können, mit der einen, tieferen Schale an den Boden ankitten, der mithin eine gewisse Festigkeit zeigen muß; loser Sand giebt ihr keinen Haltpunkt, feiner Schlamm und Schlick erstickt sie, indem er ihre Kiemen unwegsam und damit die Athmung unmöglich macht. So bleiben denn nur Felsen und festere Gründe zur Anhaftung übrig. Die aus den Eiern geschlüpften Larven schwimmen mittelst Wimpersegeln eine Zeitlang umher, um diese Anheftungsgründe aufzusuchen — Millionen gehen dabei zu Grunde. Was thut’s? Eine einzige ausgewachsene Auster producirt alljährlich in den Sommermonaten über eine Million Eier. Aber auf den Felsen bleiben die Austern vereinzelt und bilden keine großen Gesellschaften, keine Bänke, die allein lohnend mit dem Schleppnetze ausgebeutet werden können. Freilich ist eine Felsenauster ein Hochgenuß für den Fischer oder Forscher, der sie zufällig findet, aber sie ist kein Handelsgegenstand. In dem deutschen Wattenmeere auf der Westküste der jütischen Halbinsel finden sich Austern nur in den tieferen Rinnsalen, wo die Strömungen von Ebbe und Fluth den feinen Schlick weggefegt und den harten, aus Sand und Thon zusammengekneteten Boden frei gelegt haben, und ganz so verhält es sich an den übrigen europäischen und nordamerikanischen Küsten.

Man klagt über Verödung der Austernbänke und hat vielfache Versuche gemacht, dies werthvolle Muschelthier künstlich zu züchten. Verstehen wir uns recht: Wenn Züchten so viel heißt als Auferziehung vom Ei bis zur Marktfähigkeit, so sind alle diese Versuche mißglückt; wenn das Wort aber nur so viel bedeuten soll, daß man angeheftete Austernbrut weiter pflegen, ernähren und mästen kann, so sind die Versuche gelungen, sobald geeignete Stellen und geeignete Leute vorhanden waren. Die sogenannten Austernparks von Arcachon, Morbihan, Cancale, Marennes, Ostende, Whitstable u. s. w. sind sprechende Beweise dafür, daß an geeigneten Stellen die Austernpflege und –mast sich

[365]

Auf Leben und Tod.
Nach dem Oelgemälde von Jul. Geertz.

[366] mit Vortheil betreiben läßt. Tausende von Menschen leben von dieser Vermittlungsarbeit zwischen dem Fischer einerseits und dem Händler oder Konsumenten andrerseits.

Ich sagte oben, der Austernhandel beschäftige sich wesentlich nur mit gemästeten Austern. Die Mästung erfolgt aber erfahrungsgemäß nur an solchen Stellen, wo reichlicher Nahrungsstoff, sei es durch Süßwasser, sei es auf andere Weise, zugeführt wird. Der Nährstoff besteht aus mikroskopischen Pflänzchen und Thierchen, aus modernder organischer Substanz. Die Auster verlangt einen gewissen Salzgehalt des Wassers; sie gedeiht nicht in der Ostsee, die weniger als 17 pro Mille Salz enthält, und wächst zu bedeutender Größe in sehr salzhaltigen Gewässern, besonders wenn diese viel Kalk enthalten, wie das Mittelmeer, wo die Pferde-Auster Tellergröße erlangt. Aber solche Austern sucht der Verzehrer nicht, denn sie sind derb, mager und selbst herb; er verlangt vielleicht weniger gesunde, aber zarte und fette Austern, zu deren Erzeugung ein zu bedeutender Salzgehalt des Wassers nicht nützlich zu sein scheint. Ein fetter Mastochse wird, obgleich wirklich krank, doch dem gesunden, aber mageren Stiere vorgezogen, sobald es sich um das Fleisch handelt.

Die Klage über Verödung der Austernbänke ist nur eine relative. Ganz gewiß werden viele Bänke erschöpft und müssen verlassen werden; aber dafür findet man neue Bänke und die Zahl der Austern, welche zu Markt gebracht wird, steigt von Jahr zu Jahr. Freilich werden die Austern theurer — vor vierzig Jahren frühstückte ich in Saint Malo mit einem Hundert Austern, weil ich sparen mußte und nichts Wohlfeileres zu finden war — heute würde ich eine solche Ausgabe nicht wagen. Aber die Nachfrage regiert den Preis, und heute verlangt man Austern an Orten und in Schichten der Gesellschaft, wo früher ihre Existenz überhaupt unbekannt war. Im Jahre 1830 gab der damalige Großherzog von Hessen bei einer Rundreise durch das Land in Gießen ein Essen, wobei Austern servirt wurden. Mein Vater, der damals Rektor der Universität war, nahm Abends aus der Tasche ein Papier, in welches einige Austern eingewickelt waren. „Da seht, Kinder," sagte er, „was für Zeug die großen Herren essen." Die Dinger sahen allerdings nicht appetitlich aus.

Einige schwerwiegende gastronomische Probleme knüpfen sich an die Auster. Die Frage, ob sie frisch, roh, lebend, gekocht oder mariniert verspeist werden soll, kann wohl nicht ernsthaft besprochen werden. In einigen Saucen und Kombinationen, wie z. B. Fischsaucen oder Sauerkraut mit Austern, kann sie zwar eine gewisse, aber doch immer nur untergeordnete Rolle spielen; sonst kann sie nur frisch und lebend verspeist werden. Eine todte Auster (das Schrecklichste, was man in den Mund bekommen kann) öffnet die Schalen, ist also immerhin leicht zu erkennen; wird sie geöffnet angeboten, so bildet bei einigem Zweifel das Beträufeln des Bartes mit etwas Citronensaft das beste Erkennungsmittel, da bei der lebenden Auster der Bart sich lebhaft runzelt und zusammenzieht.

Wie soll die Auster geöffnet und servirt werden? Eine Frage, welche ganze Völker scheidet. Die alten Steinmenschen, auch noch die Römer, öffneten die Austern durch Hitze; sie legten sie auf eine heiße Platte von Stein oder Metall. Jedenfalls wird durch diese allerdings bequeme Methode der Geschmack der Auster beeinträchtigt und diese gewissermaßen angekocht. Wir müssen um so mehr die römischen Gastronomen bewundern, die nach dem Zeugnisse der Dichter trotzdem die Herkunft der Auster aus dem Geschmacke erriethen. Wir öffnen sie mechanisch, indem wir das Schloßband und innen den Schließmuskel durchschneiden und die eine Schale entfernen, um die Auster auf der anderen zu präsentiren. Ja, aber auf welcher? In England schneidet man den Muskel an beiden Schalenhälften ab und präsentirt die Auster, von der alles Wasser abgeflossen ist, auf der flachen Schale; in Frankreich dagegen entfernt man die flache Schale und behält den Austernleib in der tieferen, indem man möglichst viel Seewasser in dieser Schale läßt. Der Verzehrer muß mit dem Austernmesser erst den Muskel von seiner Anhaftung an der tieferen Schale durchschneiden, ehe er die Auster schlürfen kann. Zuweilen besorgt dies der Oeffner, aber immerhin wird die Auster in ihrem Wasser servirt.

Wer hat Recht, Engländer oder Franzosen? Die Entscheidung wird wohl dem individuellen Geschmacke und der Gewohnheit anheim fallen; ich gestehe offen, daß ich entschieden für die französische Weise eintrete. Eine Auster ohne Salzwasser scheint mir ein Gericht ohne Gewürz.

Soll man den Bart entfernen oder mitessen? Bart nennt man bekanntlich die Kiemen mit dem Mantel, die häufig eine grüne oder selbst schwarze Farbe haben. Entscheidung wohl je nach Umständen. Austern aus unreinem, schlammigem Wasser werden Sand und Schlamm in den Kiemen haben, man entfernt also den Bart. Aber Austern aus reinem Wasser enthalten nur dieses in den Kiemen, und wer die Salzwürze liebt, wird den Bart behalten.

Der echte Liebhaber wird die Auster verzehren, wie sie gewachsen ist. Grob gestoßener Pfeffer, Citronensaft und ähnliche Dinge läßt er bei Seite; sie fälschen den natürlichen Geschmack.

Diesen Geschmack giebt, wie schon gesagt, der Park, in welchem die Auster gemästet und bis zum Versand aufbewahrt wird; ihn zu erhalten, ist die Aufgabe des Versenders. Auf je größere Entfernung sie versendet werden sollen, desto sorgfältiger müssen die Anstalten getroffen werden, um die Muscheln zweckmäßig zu verpacken und mit möglichster Schnelligkeit an Ort und Stelle zu liefern. Die Malleposten, welche vor Einführung der Eisenbahnen die Austern und Fische von den westlichen Küsten Frankreichs nach Paris brachten, gingen schneller als diejenigen, mit welchen Personen befördert wurden. Man ging von der Ansicht aus, daß die Auster, ihrem zarten Geschmacke entsprechend, auch etwaigen Schädigungen gegenüber sehr zart sei und nur geringe Lebensfähigkeit besitze.

Das ist nun allerdings nicht der Fall — die Auster ist im Gegentheile recht hartlebig und dauert unter günstigen Verhältnissen sehr lange aus. Diesen Satz hat in neuster Zeit ein Amerikaner, Herr Verrill, durch ganz hübsche Beobachtungen erhärtet. Herr Verrill flanirt in einem abgelegenen Viertel New-Yorks umher und sieht an einem Trödlerladen einen alten, über und über mit angehefteten Austern bedeckten Stiefel hängen, den ein Fischer vor zwei Monaten aus dem Meere gezogen hat. Das wäre nun an und für sich nichts besonders Merkwürdiges gewesen, denn Austern setzen sich an alle untermeerischen Gegenstände fest, an Ziegel und Steine, Reisigbündel und Pfähle, warum nicht auch an Stiefel? Herr Verrill wundert sich aber, daß manche der Muscheln noch fest geschlossen waren — eine todte Auster öffnet sich sofort, weil der lebendige Schließmuskel nicht mehr dem durch seine Elasticität die Schalen öffnenden Schloßbande entgegen wirkt. Er untersucht genauer, die geschlossenen Austern leben noch! Nun findet er, daß alle an dem Stiefel hängenden Austern, welche irgend eine Beschädigung ihrer Schalen erlitten hatten, abgestorben waren, während die unverletzten, besonders diejenigen, welche mit dem Schloßrande nach oben hingen, ihre ganze Lebenskraft besaßen. Zwei Monate an freier Luft! Das giebt zu denken, und Herr Verrill denkt in der That, daß man Austern, welche man auf große Entfernungen verschicken und lange am Leben erhalten wolle, sorgfältig auslesen und die unverletzten so verpacken und versenden müsse, daß sie mit dem Schloßrande nach oben gestellt seien und die Luft frei in dem Behälter cirkuliren könnte. Bisher machte man mit den „bourriches", in denen man die Austern versendete, nicht viele Umstände. Man fütterte den weitmaschigen Korb mit etwas Tang aus, packte die Austern, gewöhnlich zwölf Dutzend, flach hinein, schnürte sie so fest als möglich zusammen und kümmerte sich wenig darum, wie die „bourriches" und also auch die Austern auf dem Transporte in dem Gepäckwagen lagen. Vielleicht führen Herrn Verrill’s Stiefelbeobachtungen zu rationelleren Versandmethoden, welche den Russen gestatten können, im Innern Asiens frische Austern mit den Engländern zu theilen.

Aber daran knüpft sich eine weitere Frage. Die Feinschmecker sind noch im Zweifel, ob eine z. B. von Cancale nach Paris gesandte Auster, die dort höchstens 24 Stunden nach dem Fange verspeist wird, also ganz „frisch“ ist, denselben Geschmack habe, wie unmittelbar bei der Herausnahme aus dem Park. Manche feine Zungen wollen einen Unterschied wahrnehmen. Die Frage könnte nur experimentell auf die Weise entschieden werden, daß eine Gesellschaft bewährter Zungen sich z. B. in Ostende niederließe und täglich vergleichsweise mit frischen Austern aus dem Parke solche kostete, die in einer „bourriche“ unterdessen gereist sind. Aber um dies zu ermöglichen, müßte ein Kongreß dorthin berufen werden, für Fischerei oder noch besser, von Diplomaten, welche von Alters her die feinsten Kenner waren.


[367]

Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa“.

III.0 Englisches Gebiet in Ost-Neu-Guinea.
a. d'Entrecasteaux-Inseln, Ost-Kap bis Mitrafels.
Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).
Kriegsflotte im Bismarck-Archipel. – Unfall S.M. Korvette „Marie“ in Neu-Irland. – Insel Trobriand und ihre Bewohner. – Neues Riff. – Die d'Entrecasteaux-Inseln. – Weihnachtsbucht. – Unsere Weihnachtsfeier. – Eingeborene. – Allgemeiner Charakter der Inseln. – Reiche Kulturen. – Dawson-Straße. – Goulvain-Insel. – Die Bewohner wahrscheinlich Kannibalen. – Fergusson. – Göschenstraße. – Fast festgerannt. – Malerische Gebirgslandschaft in Goodenough-Bai. – Kap Vogel. – Kap Nelson. – Küste bis Mitrafels. – Station Blumenthal. – Eingeborene von Hihiaura.

Canu in der Weihnachtsbucht.

Wie Mioko mit der Handelsflotte, so paradirte der Nachbarhafen Matupi in der Blanche Bai, Neu-Britannien, mit der Kriegsmarine. Außer „Elisabeth“ und „Hyäne“ war noch die Kreuzerkorvette „Marie“ (Kommandant Kapitän z. S. Crokisius) von der Westküste Südamerikas über Samoa eingetroffen, sowie ein englisches Kanonenboot, ein Geschwader, wie es der Bismarck-Archipel nie vorher gesehen hatte und welches den Eingeborenen heilsamen Respekt einflößte. Trotz dieser großen Anzahl von Schiffen bot sich dennoch keine Gelegenheit zur Briefbeförderung via Australien nach Europa. Wollten wir daher von uns Nachricht geben, so blieb nichts Anderes übrig, als unsere Berichte selbst nach Cooktown in Queensland, dem nächsten Hafenplatze mit Post- und Telegraphenstation, zu bringen.

Wir entschieden uns daher ohne Säumen zu dieser über 1000 Seemeilen weiten Fahrt, machten die „Samoa“ seeklar und verließen in der zweiten Hälfte des December Mioko-Hafen, und zwar mit der „Marie“ zugleich. Im freien Fahrwasser des Georg-Kanals nahmen wir Abschied, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, die Flaggen dippten dreimal zum Gruße, und die „Marie" dampfte Matupi zu, während wir unsern Kiel nach Süden wendeten. Ein herrlicher Anblick, so ein stattliches Kriegsschiff von mehr als 2000 Tons und einer Besatzung von mehr als einem Vierteltausend an Bord! Wie klein und unbedeutend erschien die „Samoa“ neben diesem Riesen! Aber auch einem so stolzen Fahrzeuge drohen die heimtückischen Bauten der Korallenthierchen mit Verderben, vielleicht jähem Untergange, wie die „Marie“ bald erfahren sollte: kaum eine Woche später saß sie auf dem Riffe an der Nordwestspitze von Neu-Irland. Das Schiff sollte Nusa besuchen, eine kleine Insel, auf welcher ein Deutscher, Friedrich Schulle, eine Handelsstation besitzt, mußte sich also in ein sehr gefährliches Fahrwasser voller Riffe begeben, das durch die hier herrschenden plötzlich aufspringenden schweren Böen noch gefährlicher wird. Eine solche war es auch, welche die „Marie" faßte, als sie beim Passiren der Insel-Durchfahrt ein wenig das Riff streifte und festkam. Die plötzlich hochaufgewühlte See brachte mit jedem Wellenschlage das Schiff weiter aufs Riff, und nur mit der größten Anstrengung gelang es nach mehr als achtundvierzigstündiger harter Arbeit, das Schiff abzubringen und vom völligen Untergange zu retten. Freilich war es arg beschädigt. Der Hintersteven, ein gewaltiges Stück von bestem Schmiede-Eisen, hing geknickt und verbogen herab, das kolossale, an 60 Centner schwere Ruder hatte sich wie ein Kartenblatt gebogen, aber das Schiff war in seinen Grundvesten unerschüttert, ein Triumph deutscher Schiffsbaukunst, welcher der Reiherstieg-Werft in Hamburg zu hohem Ruhme gereicht. Aber auch die Tüchtigkeit unserer Marine hat sich bei diesem Unfalle auf das Glänzendste bewiesen. Nach mehr als zweimonatlicher angestrengter Arbeit war die „Marie“ soweit reparirt, um unter Segeln die Reise nach Sydney antreten zu können.

Diese Leistungen unserer Marine fanden hier seitens der englischen volle Würdigung, indem Kommodore Erskine, der Chef des englischen Südseegeschwaders, mit seinem Officierkorps der „Marie“ einen Besuch im Dock abstattete und seine vollste Anerkennung aussprach, ein Lob, das damals durch die ganze australische Presse ging. Und dieses Lob verdient Weiterverbreitung und zumal bei uns in einer Zeit in Erinnerung gebracht zu werden, wo die „Marie“ nach allen Fährlichkeiten in dem heimischen Hafen erwartet wird oder, indem ich dies schreibe, vielleicht schon glücklich eingelaufen ist. Heißen wir sie daher herzlich willkommen!

Und nun nach dieser kleinen, aber hoffentlich nicht unwillkommenen Abschweifung wieder zur „Samoa“ zurück, die sich inzwischen an der Küste von Trobriand oder Kiriwai befindet.

Diese ziemlich isolirte kleine insel auf circa 8½° südlicher Breite wurde von dem französischen Seefahrer d’Entrecasteaux 1793, also vor fast 100 Jahren, entdeckt. Ihre Lage und Konfiguration ist aber noch heute nur in den vagen Linien ihres Entdeckers, der sie übrigens nur sichtete, auf den Karten verzeichnet. Sie erscheint von Weitem wie ein langer Streif dichten Laubwaldes, birgt aber im Innern schöne Flächen fruchtbaren Landes, auf dem die Eingeborenen vortrefflichen Yams zeitigen. Bekanntlich ist letzterer eine stärkemehlreiche Wurzel, die geröstet oder gebacken unserer Kartoffel entspricht und welche für verschiedene Gegenden dieses Theiles der Tropen das wichtigste Nahrungsmittel liefert. Wir selbst erhandelten Exemplare von kolossaler Größe; eine solche Yamswurzel war an 6 Fuß lang und wog 17 Pfund.

Interessanter als diese Monstra der Bodenkultur waren übrigens die Eingebornen selbst, die uns bald in ihren Canus umschwärmten, und zwar schon aus anthropologischen Gründen, da sie nicht zur melanesischen, sondern zur polynesischen Rasse gehören. Es sind also hellergefärbte, schlichthaarige Menschen, die ganz mit Marshallanern, Caroliniern, Samoaner, Maoris etc. übereinstimmen. Rings umgeben von Stämmen der schwarzen Südseerasse gewinnt Trobriand, mit Woodlark- und den Laughlan-Inseln, welche eine gleiche polynesische Bevölkerung besitzen, ein ganz besonderes Interesse, das dem Anthropologen und Ethnologen zu denken giebt. Dem erfahrenen Reisenden würde das Wort „kaikai" schon genügen, um die Eingeborenen Trobriands als Polynesier anzusprechen, denn damit wird in fast ganz Polynesien „essen“ bezeichnet.

Die Insulaner waren im Ganzen ziemlich armselige Gesellen. Ein Strick um den Leib mit einem zwischen den Beinen durchgezogenen Stück Pandanusblatt bildete ihre ganze Bekleidung, und von Schmuckgegenständen besaßen sie so gut wie gar nichts. Sie scheinen gewaltige Fischer zu sein, gewaltig, weil sie sich an den Fang der Meerungeheuer, der Haie wagen, wie die enorm großen, aus einem spitzwinkelig gekrümmten Baumast gefertigten Haken zeigten. Aber auch als Krieger scheinen die Trobriander nicht minder gewaltig, die ihre Waffen, den hölzernen Wurfspeer und kleine eigenthümlich geformte Holzschilde, geschickt zu handhaben verstehen. In einem der Letzteren, welchen ich mit heimbrachte, kann man nicht weniger als elf abgebrochene Speerspitzen zählen! Diese Schilde sind zuweilen in höchst origineller und schwungvoller Weise mit bunter Malerei verziert, in einem Muster, das ebenso eigenthümlich wie die Form der Schilde selbst ist.

Obwohl die Westküste von Trobriand einen leidlichen Ankerplatz besitzt, so fanden wir denselben nicht, da uns die Nacht überraschte. Die Ostküste ist wegen Brandung und Felsufer vollends unzugänglich, ebenso die im Süden angrenzende Insel Lagrandiere. Wir hofften südlich von derselben einen westlichen Kurs nach Neu-Guinea steuern zu konnen, sahen unseren Weg aber durch ein mächtiges Riff versperrt, das gar kein Ende nehmen [368] wollte und auf keiner Karte verzeichnet ist. In der That zieht es sich 20 bis 25 Seemeilen bis fast zur Laignel-Insel herab und bildet somit die Ostgrenze der Lusancay-Lagune, nach Findlay der größten Lagune der Welt, da sie sich über drei Längen- und einundeinviertel Breitengrade erstreckt.

Durch dieses Riff war unser Weg nach Süd vorgeschrieben; wir dampften den d’Entrecasteaux-Inseln zu, deren an 6000 bis 7000 Fuß hohe Berge wir schon von Trobriand aus bei untergehender Sonne in magischem Licht gesehen hatten. Die nach ihrem Entdecker benannte Gruppe wurde erst durch Moresby genauer bestimmt und besteht aus drei ansehnlichen Inseln: Goodenough, Fergusson und Normanby. Längs der noch wenig bekannten Nordküste dieser Insel steuernd fanden wir hier eine hübsche Bucht, die wir „Weihnachtsbucht“ benannten. War es doch bei unserer Ankunft der Tag, an welchem daheim sich Millionen anschickten das liebe Christfest zu feiern. Uns war kein Weihnachtsbaum beschert, keine Feier bereitet! Und dennoch! als die Sonne hinter den Bergen verschwand, als die eigenthümlichen grünlichen, bläulichen und röthlichen Tinten des Zodiakallichtes allmählich in das tiefe Schwarz der Nacht verflossen, da begann auch unsere heilige Nacht! Das Firmament hatte seine Millionen Lichterchen angezündet, Sterne und Sternchen flimmerten; vor Allem bemerkbar der Orion und der liebe Gefährte des südlichen Sternenhimmels, das südliche Kreuz! Kein feierlicher Glockenton rief zur Mette; nur das Zirpen der Cikaden, das Klappern eines kleinen Frosches, das rauhe Gequiek der fliegenden Hunde tönte vom Ufer herüber, bekannte Laute, die unsere Gedanken nicht abzulenken vermochten. Wo dieselben weilten, ist wohl unschwer zu errathen! Weit, weit weg vom südlichen Kreuz, von den Kokospalmen, vom Gekreisch der fliegenden Hunde, da, wo man an diesem Abende in trautem Kreise am warmen Ofen sitzt und sich des lieben Christfestes freut, während draußen die Schneeflocken herabwirbeln. Dort weilte Jeder mit seinen Gedanken still für sich – und als die letzte Pfeife verglommen war, suchte Jeder sein Lager, um auszuruhen von den Mühen und der Hitze des Tages! Das war unser Christfest in den Tropen! Für uns gab es keine Feier, kein Feiern! Aber die Mannschaft durfte sich Etwas anthun, und wohl zum ersten Male hörten die alten Kokospalmen die „Wacht am Rhein“ und andere deutsche Weisen.

Häuser in der Weihnachtsbucht, Normanby-Inseln.

Wenn auch nicht gerade Ueberraschungen, so bot die Weihnachtsbucht doch manches Neue, namentlich in ethnologischer Beziehung, denn in der That beginnt mit den d’Entrecasteaux-Inseln eine durch mehrere Eigenthümlichkeiten ausgezeichnete ethnologische Provinz. Zu diesen Eigenthümlichkeiten gehören hauptsächlich die besondere Form der Steinäxte, gewisser Schmucksachen, bei denen Scheibchen aus rother Spondylusmuschel zuerst wieder ein hervorragendes und werthvolles Material bilden, die sehr eigenthümlichen und schwungvollen Muster der Ornamentik in Holzschnitzereien und anderen Geräthschaften, nicht minder die besondere Bauart der Häuser und Canus. Von Beiden werden unsere Illustrationen ein besseres Bild geben als jede Beschreibung. – Charakteristisch gerade für die Weihnachtsbucht sind die kleinen, gefälligen, einsitzigen Canus, gleichsam Wasser–Einspänner, in der Bauart sehr vervollkommnete Fahrzeuge und gleichsam Miniaturausgaben der in diesem Gebiet üblichen großen Canus, mit denen die Eingeborenen beträchtlich weite Handelsreisen unternehmen. Eiserne Beile und andere europäische Erzeugnisse fanden wir reichlich bei den Eingeborenen vertreten.

Es hatten also bereits Schiffe hier verkehrt. Wie uns das anfänglich außerordentlich scheue Betragen der Eingeborenen zeigte, waren es Arbeiterschiffe gewesen, welche die erste zweifelhafte Civilisation hierher gebracht hatten, Vorläufer, die für Nachkommende oft verhängnißvoll werden können. Aber wir machten uns bald mit den Eingeborenen vertraut, kletterten mit ihnen über Berg und Thal, wobei, wie immer, die leichtfüßige Jugend unser Führer war.

Im Großen und Ganzen sind die d’Entrecasteaux gebirgige Inseln, die sich, trotz schönen und fruchtbaren Bodens, weniger für Ansiedelung von Europäern eignen dürften. Desto mehr aber für die Eingeborenen, welche echte Gebirgsbewohner zu sein scheinen und es, wie stets, lieben, sich an den steilsten Abhängen anzusiedeln. In der That haben wir, außer in der Weihnachtsbucht und längs der Ostküste von Normanby, wenig und meist nur kleine Küstendörfer gesehen, während an den Hängen der Berge, oft hoch hinauf, grüne und braune Kulturflecke, Plantagen der Eingeborenen, schon von Weitem kenntlich sind. Solche kultivirte Strecken finden sich namentlich an der Südküste der Insel Fergusson, die einen gar lieblichen Eindruck macht. Allenthalben erblickt das Auge eingezäunte Felder, zu denen Pfade führen, hier und da hübsche Häuser, und man könnte sich in einen gut bebauten Distrikt der Heimath versetzt fühlen, mahnten nicht Kokospalmenhaine, zuweilen in mehr als 1000 Fuß Höhe, daß wir uns in den [369] Tropen befinden. Wie sorgfältig und sauber die Plantagen selbst angelegt werden, lernten wir bei einem Besuche in der Dawson-Straße kennen, welche die Inseln Normanby und Fergusson trennt, aber der vielen Riffe wegen kaum für kleinere Schiffe praktikabel ist.

Ich explorirte die Dawson-Straße mit dem Boote und wurde überrascht von den landschaftlichen Schönheiten, namentlich der Küste von Normanby, denn von den hohen prächtigen Gebirgen auf Fergusson sieht man wenig, da sie meist eingehüllt sind. Aehnlich war es bezüglich der Eingeborenen, die sich fast so versteckt hielten, wie die Berge. Als wir uns der Goulvain-Insel näherten, änderte sich dies, und zahlreiche Canus mit Eingeborenen kamen uns entgegen, die unaufhörlich „man of war“ (Kriegsschiff) schrieen, das einzige Fremdwort, welches sie kannten. An der Westseite dieser Insel, die ausgedehnte Plantagen aufweist, ist ein Dorf mit einem schuppenartigen Gebäude, das zur Aufbewahrung eines gewaltigen, an 60 Fuß langen Canu dient. Das Letztere, obwohl reich mit Schnitzwerk und Bemalung verziert, interessirte mich aber weniger als die Giebelseite des Schuppens selbst. Hier waren zwar keine Schnitzereien angebracht, aber eine andere Zierat – Schädel! menschliche Schädel! die den Anthropologen wohl reizen konnten. Mit Hilfe meiner Kenntniß der Allerwelts-Zeichensprache hatte ich bald den größten Theil dieses Schatzes erworben, bis sich die Weiber energisch ins Mittel legten und den Rest vor meinen profanen Händen in Sicherheit brachten. Diese Schädel, o ihr Goulvainer! sprechen schweren Verdacht gegen Euch aus, den Verdacht der Menschenfresserei! Sie zeigen nämlich sämmtlich ein großes Loch am Hinterhaupt, was nur zu deutlich schließen läßt, daß der Inhalt, das Gehirn, als besondere Delikatesse des Kannibalen-Menus figurirte.

Catamarans.

Noch reicher und schöner waren die Dörfer, welche wir darauf in einer tiefen Bucht der Südküste von Fergusson besuchten, wo uns die Eingeborenen überall mit dem Ausdrucke großer Furcht empfingen. Wie so häufig, war nur die männliche Bevölkerung vertreten und die weibliche längst in Sicherheit gebracht worden. Und die Leute mochten, auf Grund früherer Erfahrungen, Recht darin haben. Die Häuser waren hier ähnlich wie in der Weihnachtsbucht, aber schöner und kunstvoller und an der Giebelfront mit rother und weißer Bemalung in Schachbrettform verziert. Mit diesem hübschen, fast eleganten Aeußeren der Häuser wetteiferte die Sorgfalt in der Anlage der Plantagen. Die treffliche schwarze Erde erschien so fein wie durchsiebt, die Ranken des Yams wanden sich an Stangen empor und erinnerten an Hopfen, die Stämme der Bananen waren nicht nur an Pfähle gebunden, sondern je von einem kleinen Zaune umgeben, ihre mächtigen Fruchtbüschel zum Schutze gegen Papageien und fliegende Hunde sorglich umhüllt, kurzum, es herrschte eine Sauberkeit und Pflege, wie man sie bei einem Kunstgärtner bei uns kaum besser sehen kann. Flüge kreischender Papageien und Kakadus erhoben sich, als wir jene Gefilde durchstreiften, aber ich ließ sie ungestört, denn eine andere sonderbar klingende Vogelstimme erregte meine Aufmerksamkeit. Aber es ist so schwer, in dem dichten Gelaube tropischer Bäume Vögel zu erspähen, und das geübtere Auge des Eingeborenen muß meist aushelfen. Mein schwarzer Begleiter bezeichnete mir, lebhaft gestikulirend, den Urheber der merkwürdigen Töne; endlich sah ich ihn, der Schuß knallt, und zu meinen Füßen liegt ein großer, prachtvoll stahlviolett schimmernder Vogel – Manucodia Comrii, – der prachtvollste Vertreter der Paradieskrähen, eine Beute, um die mich jeder Ornithologe beneidet haben würde. So durfte auch ich zufrieden sein und auf wirkliche Paradiesvögel verzichten, von denen die d’Entrecasteaux übrigens eine eigenthümliche Art besitzen.

Die „Fingerspitze“ in der Chads-Bai.

Mit Kap Ventenat, der Südostspitze von Normanby, gewinnt die Landschaft einen abwechselnden, lieblichen Charakter. Zahlreiche Inseln, reich mit Kokospalmen und Kulturland bedeckt, wechseln mit Sandbänken und Korallenriffs, unter denen das Gallow-Riff, an der Einfahrt zur Göschenstraße, zwischen Normanby und Ost-Kap, das größte ist. Beinahe wäre dasselbe der „Samoa" verhängnißvoll geworden, denn ihr Kiel streifte dasselbe bereits, glücklicher Weise ohne fest zu sitzen. Die soviel gepriesene und übertrieben geschilderte Schönheit der Korallbildungen reizt in solchen Momenten sehr wenig zur Bewunderung, und wir waren froh, als wir wieder dunkles, tiefes Wasser unter uns und nichts von Korallen sahen.

Ost-Kap ist der Ausläufer einer an 500 Fuß hohen Hügelkette, die nach West, bis in die Tiefe von Goodenough-Bai, in hohe Gebirge übergeht. Dieser an 80 Seemeilen lange Küstenstrich bietet daher die reichste Abwechselung von lieblichen grünen Hügeln bis zu 5000 Fuß hohen Gebirgen und gehört landschaftlich wohl zu den schönsten der ganzen Ostküste. Schon hinter Kap Ducie in Chads-Bai treten kühne Bergformen auf, wie die in der nebenstehenden Abbildung veranschaulichte „Fingerspitze“, die weiter nach West sich zu immer großartigeren Gebirgslandschaften gestalten und das Auge des Beschauers in gesteigertem Entzücken erhalten. Die charakteristischen Züge dieser Küstenlandschaft sind die fast unmittelbar zum Meere abfallenden, mit tiefen Schluchten und Spalten durchzogenen Gebirge, die nur auf der Kammlinie mit Wald, im Uebrigen mit frischem grünen Graswuchse bedeckt sind, und die auffallende Menge von Wasserfällen, von denen wir oft acht zugleich zählten, obwohl es in der trockenen Jahreszeit war. Längs dieser Küste findet sich wenig Vorland, in Folge dessen auch wenig Bevölkerung, die in den Bergen ihre Wohnsitze aufgeschlagen hat. Mit Erstaunen zeigte uns das Fernrohr noch in Höhen von über 4000 Fuß an den abschüssigsten Hängen die sorgfältig angelegten Plantagen der Eingeborenen, auf den steilsten und spitzwinkeligsten Sätteln ihre Pfade. – An der Nordseite von Goodenough-Bai sinken die Gebirge [370] wieder zu mäßigen Berg- oder Hügelreihen herab bis Kap Vogel, welches Goodenough-Insel gegenüber die Festlands-Küste begrenzt.

Von hier aus westlich dampfend verloren wir, um der riffreichen und gefährlichen Colingwood-Bai auszuweichen, die Küste wiederholt aus Sicht, bis uns die an 4000 Fuß hohen Gebirge bei Kap Nelson, mit den charakteristischen Spitzen Trafalgar und Victory, wieder als Landmarke dienten. Diese Gegend ist sehr malerisch und bietet, wie theilweise die um Kap Vogel, schönes Kulturland, welches weiter nach West mehr verschwindet und bis Mitrafels einförmigen, dichtbewaldeten Küstenketten Platz macht.

Abgesehen von den malerischen Schönheiten gewisser Strecken fanden wir diese ganze, an 260 Seemeilen lange Küste wenig versprechend für Ansiedelungen, schon deßhalb, weil sie kaum einen Hafen besitzt. Außerdem ist sie schwach bevölkert und hat wenig Kokospalmen aufzuweisen, mit Ausnahme des kurzen Striches von Ostkap bis nach Chads-Bai. Hier giebt es reiche Kokospalmen-Distrikte, außerordentlich geeignet zur Gründung einer Koprastation, aber wir untersuchten wiederholt vergeblich die Küste, ehe wir etwa acht Seemeilen westlich von Ostkap einen geeigneten Ankerplatz ausfindig machten.

Jch wußte nicht, daß England diesen Theil bereits annektirt hatte, und in dem Glauben, daß es noch unvergebenes Land sei, beschloß ich, hier eine Koprastation zu gründen. Innerhalb einer Woche bauten wir hier ein Haus nebst Schuppen, landeten unsere Kühe und Schafe, und das später so gefürchtete „German East-Cape-settlement“, das in den Kolonien so viel Staub aufwirbelte, war fertig. Ich übergab diese erste Handelsstation an der ganzen Ostküste, von mir „Blumenthal“ genannt, Karl Hunstein, einem Deutschen, der schon sieben Jahre in Neu-Guinea als Naturaliensammler lebte und trefflich verstand, mit den Eingeborenen umzugehen. Ich kannte ihn schon von meinen früheren Reisen an der Südostküste her, wo er mich in das Innere von Port Moresby begleitet und mir ausgezeichnete Dienste geleistet hatte. Diese Wahl war eine sehr glückliche, denn die anfangs scheuen, später sehr umgänglichen Eingeborenen erwiesen sich, als wir mit der „Samoa“ den Platz verlassen hatten, keineswegs als die „netten Kerle“, welche sie anfänglich schienen, und nur einem Manne mit der Erfahrung von Hunstein gelang es, friedlich mit ihnen auszukommen. Unter diesen Verhältnissen war es mir lieb, später die Station „Blumenthal“ wieder aufheben zu können, nachdem ich inzwischen erfahren hatte, daß sie sich auf englischem Gebiete befand.

Die Eingeborenen dieser Küste sind echte Papuas, zeigen aber in ihrem Aufputze wie sonst gewisse Eigentümlichkeiten. Was den ersteren betrifft, so gehören hierzu auffallend große Armbänder aus gespaltenem Rottang, besonderer Trauerschmuck, die Bekleidungsmatten der Männer aus zusammengenähten Pandanusblättern und die häufige Verwendung von Menschenhaar. Die Männer trugen dicke Stränge von solchem als Gürtel, zum Theil mit weißen Cypräamuscheln verziert, und ließen ihr eigenes Haar in Form eines dichtverfilzten Zopfes im Nacken herabhängen. Der Umstand, daß an diesem Zopfe häufig menschliche Halswirbel befestigt sind, erregt in mir den Verdacht, daß auch die biederen Bewohner von Hihiaura, wie unser Nachbardorf hieß, Kannibalen sind, einen Verdacht, den ich übrigens unter Vorbehalt ausspreche.

Hihiaura ist ein sehr hübscher Platz und hat besonders stattliche Häuser aufzuweisen. Auf unserm Hauptbilde (S. 373) sehen wir eins derselben, vom Bambusdickicht umgeben und von Kokospalmen beschattet, ebenso getreu wiedergegeben wie die Gruppe der Weiber, welche neben einer Banane ihr Mahl kochen. Eine weitere charakteristische Illustration dieses Gebietes ist die der hier üblichen Fahrzeuge, Catamarans genannt. Sie bestehen in der einfachsten Weise aus drei behauenen und an einander gebundenen Banmstämmen, eine Wasserkutsche, die große Uebung erfordert, da sie bei der geringsten Bewegung umkippt.

In unserem nächsten Aufsatze werden wir mit Milne-Bai und den Inseln östlich davor ein in vieler Hinsicht interessantes neues Gebiet kennen lernen.


Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)
9.

Ich hatte hier die höchste rauhe Höhe des Waldgebirges überschritten, das nun nach Norden schroffer zur Ebene absank. Mit der Form der Berge hatte sich auch der Wald verändert: Laubholz drüben, Nadelholz hüben; hochragender Wald, zwischen dessen schlanken Stämmen das Wild aus weiterer Ferne sichtbar wurde, und durch dessen Wipfel es einförmiger und feierlicher rauschte, daß es fast wie das Rauschen meines geliebten Meeres klang.

Und daß es mit der Stimmung zusammenklang, die jetzt in meiner Seele obwaltete. Nicht mehr die weiche Friedenssehnsucht, die mich ganz erfüllt hatte, als es noch galt, mich aus den wilden Herzensstürmen zu retten; eine stille gefestete Entschlossenheit jetzt, das Rettungswerk zu vollenden und das letzte Glied der Kette durchzufeilen, das mich noch an den Herzog fesselte.

Zwar einen letzten Versuch wollte ich machen, ihn zu Adele’s Gunsten umzustimmen. Mißlang der Versuch – und ich hatte wenig Hoffnung, daß er gelingen werde – nun, so mußte mir Adele Freiheit geben, mich loszuringen aus einer Lage, in die ich nicht gehörte: nicht nach meiner Geburt, Erziehung, nach meinen Ueberzeugungen, und nicht nach der Begabung, welche ich schließlich als die einzige in mir fand, für die zu leben sich für mich der Mühe des Lebens verlohnen könne.

Schwere, düstere Gedanken, als ob sie aus den schwarzen Wolken gekommen wären, welche sich über dem Walde zusammenzogen, und unter deren Druck die Tannen ihre hohen Wipfel zu beugen und im vielverschlungenen Geäst zu stöhnen und zu knarren begannen. Und nun große, warme Tropfen, vereinzelt erst, dann dichter und dichter, daß der Wanderer auf der Landstraße sich unter die vorspringenden Nadeldächer an der Wegseite drückte, die auch bald keinen Schutz mehr vor dem jetzt in Strömen herniederrauschenden Regen gewährten. Im tiefen Forst hatte ich zu wiederholten Malen ein Unwetter gern über mir sich austoben lassen, hier zerstörte die Landstraße mit ihrem grauen Staube, der sich alsbald in rinnende Schmutzwasser verwandelte, die Poesie des Regensturms. Auch hatte ich vorhin an dem einen Ende einer Schneise, welche die Landstraße durchschnitt, ein Haus liegen sehen, das seitdem allerdings wieder verschwunden war, in dessen Nähe ich mich aber, wenn mein Ortssinn mich nicht trog, befinden mußte. So entschloß ich mich, weiter zu gehen, und erblickte nach ein paar hundert Schritten das gesuchte Haus: ein ziemlich ausgedehntes niedriges Gebäude auf einer Waldblöße, die den Scheitel des Berges zu bilden schien, welchen ich bereits seit einer Stunde emporstieg.

Triefend langte ich auf der Schwelle an, zusammen mit einem halben Dutzend Personen, die irgendwo anders her aus dem Walde kamen, ich hatte bis zu diesem Moment keinen von ihnen wahrgenommen. Es mußten sich hier viele Wege kreuzen: die weite, sehr niedrige Gaststube war bereits halb gefüllt, als wir eintraten, und immer noch kamen neue Nachzügler, triefend wie wir; denn das Unwetter wüthete weiter, ja gebärdete sich immer toller. Obgleich es eine halbe Stunde zuvor heißer heller Nachmittag gewesen, war es jetzt dunkel, wie beim Einbruch der Nacht, und das Heulen des Sturmes vernahm man nur zu deutlich durch die klappernden Fenster, gegen die Guß auf Guß prasselte und klatschte.

Nur zu deutlich, denn in dem weitem Raum, trotzdem längst jede Bank und jeder Stuhl besetzt war, und so Manche, die keinen Platz in ihr gefunden, sich an den wenigen freien Stellen zwischen den Tischen zusammendrückten, herrschte eine Stille, die das jeweilige, murmelnd geführte Gespräch zwischen ein paar Benachbarten nur noch bänglicher zu machen schien. Offenbar kannten einander die Wenigsten, die hier der Zufall zusammengetrieben; [371] auch waren sie augenscheinlich von den verschiedensten Berufen, wie sie im Wald und auf der Landstraße ihr Wesen treiben: ein paar Forstläufer mit dem Jagdzeug und den Hunden, die sich unter die Tische drückten; Holzhauer, Wegeknechte; alte Frauen und selbst Kinder; Botengänger, Tabuletkrämer, Handwerksburschen, Fuhrleute und so mancher verkommene Gesell, dessen Heim im Sommer der Wald sein mochte und im Winter irgend ein Arbeits- oder Krankenhaus.

So saßen und standen sie neben und durch einander, und der verdrießliche Wirth und seine Leute hatten wenig zu thun. Kaum daß hier und da vor einem der Schweigsamen ein Glas Bier stand, welches so lange vorhalten zu sollen schien wie das Unwetter. Man durfte wohl annehmen, daß die Anderen sich aus traurigen Gründen selbst diesen kärglichem Genuß versagen mußten. – Und wie nun mein Blick wieder und wieder diese schweigsame Versammlung in dem düsteren Raum durchlief, glaubte ich mich plötzlich die Jahrhunderte zurückversetzt in die Zeit meines „Thomas Münzer", als der „Bundschuh" durch das Land ging, und „der arme Konz" sich zusammenrottete, ob es nicht doch geschehen könne, daß man sich der Dränger und Peiniger erwehre und das neu verkündete himmlische Evangelium zu einer irdischen Wahrheit mache. Wie hatte der Herzog gesagt? „Die Zeit kommt nicht wieder; der Bauer ist jetzt zu klug, um sich auf eine Revolution einzulassen, bei der er nur verlieren könnte, und der letzte Vagabund hat es jetzt besser, als der bestsituirte Bauer von damals.“ Nun, er hatte wohl nie – und wie sollte er auch? - eine Gesellschaft gesehen wie diese hier. Sie würde ihn gelehrt haben, daß der arme Konz mit nichten gestorben war, sondern noch heute umging in seinem Walde und auf der Landstraße, von der sein Fiskus den Zoll nahm. Dies waren dieselben Jammergestalten, dieselben verkümmerten, vor der Zeit gealterten Gesichter, dieselben dumpfen grollenden Mienen, dieselben stumpfen Augen, die nur vom Widerschein brennender Burgen und Klöster aufleuchten mochten, oder vor grausamer Lust, wenn sie den Ritterleib am Bauernspieß verzucken sahen. Und da waren auch die dornigen Knittel, die ihre Dienste thun mochten, bis man es zu einer Hellebarde brachte, und die Aexte, die ihr Werk besser verrichteten, als das beste Schwert. Nein, nein, Herr Herzog, es steht nicht Alles ganz so gut in der Welt, wie du glaubst und Andere glauben machen möchtest! Das Elend nur, das hier in diesem engen Raum zusammengepfercht ist, wiegt so schwer, daß es deine ganze Herrlichkeit in die Luft schnellt, und doch ist’s nur ein Tropfen in dem Meer von Elend, das über die ganze Erde sich breitet und steigt und steigt – –

Das Unwetter begann nachzulassen; es dauerte nicht lange, so war die Wirthsstube zur Hälfte geleert; dann folgten auch die Zaghafteren; zuletzt war kaum noch Jemand drinnen, außer den Fuhrknechten, die jetzt näher zusammen gerückt waren und ihre Unterhaltung fortsetzten.

Ich hatte dem Aufbruche der Leute, die hier der Regensturm so plötzlich von allen Seiten zusammen getrieben, und die nun nach allen Seiten ebenso plötzlich wieder aus einander stoben, mit Interesse zugeschaut. Es war, als ob Tauben einzeln, zu Paaren und haufenweise einen geöffneten Schlag verlassen, nur daß das ein lustiges Bild ist, und dies der armen, frierenden, verregneten Menschen, die sich und ihren Packen Elend so weiter in den Regen schleppten, Alles in Allem recht traurig war.

Auch ich hatte jetzt meine leichte Tasche wieder umgehangen und wollte eben das Haus verlassen, als der Wirth zu mir trat. Ob ich nicht das gänzliche Aufhören des Regens abwarten wolle? ob ich noch weit für heute habe? Ich hielt es nicht für nöthig, ihm zu sagen, daß mir der Herzog sein Lustschloß Bellevue am Fuße des Gebirges zum Ziel meiner Wanderung bestimmt hatte, sondern nannte einen bekannten Ort in der Nähe desselben. Dahin könne ich eine Stunde früher gelangen, wenn ich einen Richtweg verfolge, der gerade von diesem Punkte anfange, um tiefer unten wieder auf die Landstraße zu treffen. Derselbe sei nicht zu verfehlen, wenn man nur die ersten Abzweigungen und Kreuzungen der Pfade hinter sich habe. Ob er mir bis dahin das Geleit geben solle?

Ich nahm das Anerbieten dankend an. Er mochte mich für einen Studenten halten, der einen Ausflug in die Berge gemacht habe; wenigstens mußte ich das aus seinen weiteren Fragen schließen, die ich denn auch in diesem Sinne, wenn auch mit einiger Unbestimmtheit, beantwortete. Dann war er, ich weiß nicht wie, auf die Noth der Leute „auf dem Walde“ und den Herzog zu sprechen gekommen.

„Die Sache ist eben,“ sagte er am Schlusse seiner Ausführung, „der Herzog ist nicht beliebt. Er gilt für einen harten Herrn, der für den kleinen Mann kein Herz hat und auch sonst nicht für das Land sorgt, immer bloß für sich, wie in der Domainensache, wo er auch nicht gefragt hat, was ist gut für den Fiskus, sondern was ist gut für deine Tasche? – So, nun kann der Herr nicht mehr fehlen. Jetzt noch an die tausend Schritte immer gerade aus durch den Wald. Dann kommen der Herr heraus, zusammen mit dem Bache, den Sie verfolgen bis zur Mühle. Wenn Sie den Müller von mir grüßen und ein bischen Zeit daran wenden wollten, der konnte Ihnen auch eine Geschichte erzählen, die so vor ein Jahrer neunzehn oder zwanzig bei ihm passirt ist. Ja, ja, lieber Herr, es hat seine Gründe, wenn die Leute nun mal partout nicht gut von Hoheit denken und reden mögen. Aber ich darf den Herrn nicht länger aufhalten.“

Der gesprächige Mann verabschiedete sich, ohne mir einen anderen Dank zu verstatten, als das Versprechen, ihn gelegentlich wieder zu besuchen. Ich hatte die größte Mühe gehabt, bei seinen Erzählungen scheinbar unbefangen zu bleiben. Nun, da ich wieder allein war, beschleunigte ich meinen Schritt, als könne ich so den bösen Dingen entrinnen, die ich soeben gehört. Vergebens, daß ich mir sagte, diese Aufregung, die mir jetzt die Thränen in die Augen trieb, sei doch ganz thöricht und sinnlos. Wußte ich denn nicht schon von lange her – aus des Kammerherrn, aus Weißfisch’s Munde – daß der Herzog kein Heiliger sei? Hatte er selbst sich je für einen solchen ausgegeben? Und hatte er nicht selbst die unglückselige Geschichte, die an der Mühle gespielt hatte, noch an dem letzten Abend auf das Tapet gebracht, als wollte er mich vorbereiten auf das, was ich hier oben zu hören bekommen würde?

Schneller, als ich gedacht, war ich an die Stelle gekommen, die mir der Wirth bezeichnet hatte. Aus dem Walde heraustretend, blickte ich hinab auf ein allmählich sich erweiterndes Thal, durch das sich ein Bach schlängelte, der mit mir aus dem Walde kam und an dessen Rande der Fußpfad weiter lief. Vorerst durch sanft absinkende Wiesen bis zu einer Stelle, wo aus Baum und Busch die Dächer eines Gehöftes blickten – die Unglücksmühle jedenfalls, von welcher der Wirth gesprochen. Ueber das Gehöft schweifte der Blick in die Ebene – nicht allzu weit, denn die Sonne, welche im Untergehen war, sandte ihre röthlichen Strahlen darüber weg, alle Einzelheiten in Glast hüllend und mir die Augen blendend, daß ich erst jetzt einen Giebel des Schlosses wahrnahm, rechter Hand unterhalb der Mühle und jenseit des Baches aus massiven welligen Baumgruppen ragend, während linker Hand die einförmige Mauer des Waldsaumes, den Senkungen des Terrains folgend, zur Ebene hinabstieg, bis sie sich in dem röthlichen Flimmer verlor.

Da stand ich denn oben und schaute, auf meinen Wanderstab gebogen, in die entzückende Landschaft wie in ein Bild, das in seinem Rahmen noch einmal all die Herrlichkeit zeigen zu wollen schien, in der ich so lange geschwelgt hatte und die nun zu Ende ging – für mich zu Ende ging und für immer. Ja, es war herrlich gewesen, und ich schämte mich der Thränen nicht, die mir, im Gedenken daran, jetzt stromweis über die Wangen liefen. Aber – – „Und scheint die Sonne noch so schön“ – wer hat dich zuerst gesungen, du Kinderweisheitswort, das doch das ganze Menschenlos in sich faßt, seines Glückes ganze jauchzende Seligkeit und all sein dunkles Weh – den unaussprechlichen Schmerz der Trennung von den Lieben und ach, von der Liebe, die unseres Lebens Sonne war, und mit der, wenn sie nun doch verlöschen will, das Leben gern verlöschen mag!

Als ich wieder aufschaute, glühte eben noch der Rand der Sonne über dem Horizonte. Bläuliche Schatten deckten schon die Ebene und zogen das Wiesenthal herauf; jetzt erblich auch die Gluth, die noch in den Tannenwipfeln rings um mich her gebrannt hatte. Nur ein Bogenfenster im Schloßgiebel schimmerte, vom letzten Strahl der Sonne schräg getroffen – wie ein Leuchtthurmlicht.

Ein warnendes Licht, kein gastliches! Denke dessen, du einsamer Schiffer. Oder du zerschellst an eben dem Felsen, vor welchem es dich warnen wollte!

[372] Immer am Bache entlang, der lustig lieben mir herplätscherte, dem gutgehaltenen Pfade folgend, war ich in wenigen Minuten zu dem Mühlengehöft gelangt, das einen ziemlich geräumigen Hof umschloß, in welchen der Pfad mündete. Auf dem Hofe war es still, wie denn das ganze Gehöft gar verschlafen schien, außer daß noch ein paar Tauben auf dem Dache eines offenen Schuppens gurrten. In dem Schuppen entdeckte ich einen alten Mann, der Holz gespalten hatte und jetzt dem Fremden entgegenkam. Es war der Müller selbst. Ich richtete meinen Gruß aus, ohne selbstverständlich der bösen Geschichte zu erwähnen, in welcher der alte Mann eine so rühmliche Rolle gespielt hatte. Ich sagte nur, daß ich nach dem Schlosse wolle, und ob ich von hier aus über den Bach dorthin gelangen könne? Der Wirth hatte mich recht berichtet: es führte hier eine Brücke über den Bach und ein kurzer Wiesenweg bis zu einer Rebenpforte des Parkes, die meistens nicht verschlossen sei. Schlimmsten Falles müßte ich um die Parkmauer herum bis zu dem Schlosse selbst gehen. Der Weg durch den Park sei nicht schwierig. Doch wolle er mich, wenn’s mir recht sei, gern begleiten. Ob der Herzog schon im Schlosse sei, wisse er nicht; doch drüben würden wir es bald erfahren, wenn wir in den Park kämen, wo wir dann das Schloß sähen, und ob eine Fahne auf dem Thurme wehe oder nicht.

Ich nahm das Anerbieten des alten freundlichen Mannes, der aber doch etwas Gedecktes, ja Trauriges hatte, gern an. Wir verließen den Hof, nachdem er seiner Frau ein paar Worte in das stille Haus hineingerufen, und gingen über die Brücke, welche unmittelbar vom Hofe über den Bach führte. Ich bemerkte, daß die Mühle, deren großes Wasserrad in geringster Entfernung von dem Brückenstege sich befand – es war aber mehr ein Steg, als eine eigentliche Brücke – nicht arbeitete. Aus Wassermangel, erzählte mir der Müller auf mein Befragen. Es habe in den letzten Tagen nicht geregnet, außer heute, und das auch nur reichlich oben auf dem Walde, weniger hier unten. In einer Stunde werde das Wasser wohl kommen und mehr als man brauche. Es sei eben kein Verlaß auf das Wasser, seitdem der Herzog da, wo der Bach sich weiter oben gabele, den Theil, der durch den Schloßpark führe, habe erweitern, austiefen und mit Schleusen versehen lassen, so daß nun wohl er für seine Teiche immer das richtige Wasser habe, aber keineswegs die Mühlen, die Schloßmühle – denn so heiße sie, obgleich sie, Gott sei Dank, nicht zum Schlosse gehöre – ebenso wie die anderen weiter unten, deren es, Alles in Allem noch acht gebe. Alle die acht Müller, mit ihm, dem Schloßmüller, als dem neunten, lägen schon seit zwei Jahren mit dem Herzog in einem Proceß, der jetzt, gottlob, in die letzte Instanz gekommen sei, und den sie wohl gewinnen würden. Sonst könnten sie nur freilich Alle nach Amerika auswandern.

Ich mochte auf diese Sache, die mir der alte Mann weitschweifig aus einander setzte, nicht eingehen. Wollten denn die Klagen über den Herzog heute kein Ende nehmen? und war mir das Herz für den Abschied von ihm, der mir vielleicht noch heute Abend bevorstand, nicht schon schwer genug? Ich wäre den alten Mann, der immer eintönig auf mich einsprach, gern los gewesen. Und warum blickte er mich von Zeit zu Zeit so seltsam prüfend aus seinen tiefliegenden Augen an?

„Verzeihe der Herr,“ unterbrach er sich selbst plötzlich; „sind Sie der junge Herr, der bei dem Herzoge jetzt in so großer Gunst stehen soll?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen,“ erwiderte ich verlegen.

„Ich glaube es schon, daß Sie es sind,“ sagte er, mich wieder mit einem jener seltsamen Blicke betrachtend. „Und dann wollte ich den Herrn nur um Eines recht schön bitten: wenn Sie die Rede einmal auf den alten Müller Siebenpfeiffer bringen und Hoheit dabei erinnern wollten, daß ihm der Siebenpfeiffer einmal einen großen Dienst erwiesen hat! Hoheit wird das schon verstehen, wenn – der Herr es ihm sagt. Es ist nur, daß der Proceß am Ende doch für uns verloren gehen könnte. Und sehen der Herr, ich bin ein alter Mann und möchte ungern auf meine alten Tage nach Amerika.“

Er war stehen geblieben. Vor uns, die wir längst im Parke waren, lag, durch breite, mit Bosketts geschmückte Wiesengründe von uns getrennt, das Schloß. Von dem Thurme bauschte sich an ihrer Stange die seidene Fahne lässig in dem Abendhauche, von dem man hier in der Tiefe nichts spürte. Der Herzog war im Schlosse.

„Vergessen der Herr mich nicht!" sagte der alte Mann, indem er sein Käppchen zog.

Ich war froh, daß er ging. Mir war seine Gegenwart förmlich unheimlich geworden. Ein großer Dienst, den er dem Herzoge geleistet, und an den ich den Herzog erinnern sollte? Es war also wahr und wahrhaftig der Mann, der damals das unglückselige Weib und ihr Kind gerettet hatte. Und der Herzog lohnte ihm den Dienst jetzt mit einem Proceß? Nun, so konnte er auch nicht auf diese Rettung so großen Werth legen, wie es mir doch nach seinen Worten an jenem Abend erschienen war.

Die Bosketts hatten mich einen Teich übersehen lassen, an den ich jetzt, schon ganz nahe dem Schlosse, gerieth. Ich mochte wohl, ihn zu umgehen, mich nach der unrichtigen Seite gewandt haben, denn ich kam nun, anstatt um das Schloß herum und auf die Vorderseite desselben, an die Hinterseite in herrliche Gartenanlagen vor den weithin sich streckenden Stufen zu einer niedrigen, mit einer Balustrade eingefaßten Rampe, von welcher man unmittelbar in die Parterrezimmer gelangen mochte. In einer Allee von Orangebäumen in großen Holzkübeln und Götter- und Heroenköpfen auf Hermensäulen langsam hinwandernd, vernahm ich von der Seite her, wo ein Wald von hochstämmigen Rosen mir die Aussicht verdeckte, endlich die ersten Stimmen. Ich hoffte, es würden Gärtner oder Diener sein, die ich nach dem Eingange zum Schlosse fragen könnte. Meine Schritte beschleunigend, um die Redenden, deren Stimmen zeitweise schwiegen, nicht zu verlieren, wandte ich mich links, erst das Rosenwäldchen umkreisend, dann, da es kein Ende nehmen wollte, mich vorsichtig zwischen den Stöcken durchwindend, und erblickte, auf einen breiteren Gartenweg heraustretend, in geringer Entfernung den Herzog und eine Dame – Adele! Ein jäher Schrecken überfiel mich. Ich war auf die Begegnung mit dem Herzoge vorbereitet; an ein Wiedersehen Adele’s hatte ich nicht gedacht; ich hatte gehofft, es werde mir erspart bleiben. Und ich fühlte sofort, daß ihre Gegenwart gerade jetzt für meinen Entschluß verhängnißvoll werden könne. Das durfte nicht sein. Sie hatten mir den Rücken gewandt; ich vermeinte, unbemerkt zwischen den Rosen zurückschlüpfen zu können.

Es war zu spät. War es Zufall, ader hatte mein Fuß auf dem Kies des Weges geknirscht – Adele hatte sich umgewandt und mich erblickt. Sie stieß einen leisen Schrei aus und machte ein paar Schritte auf mich zu, blieb aber wieder stehen, wie mir schien, auf ein kurzes Wort des Herzogs, der mir seine mächtige Gestalt nun ebenfalls zugekehrt hatte. Adele’s liebliches Gesicht war mit einer lebhaften Röthe übergossen; auf dem des Herzogs schien ein finsterer Ausdruck zu liegen, der sich aber etwas erhellte, als ich, mich aus meiner Bestürzung aufraffend, nun grüßend rasch herantrat.

„Das ist wahrlich seltsam,“ sagte der Herzog, „wir sprechen eben von Ihnen, und da sind Sie, wie aus der Erde gewachsen! Wie kommen Sie denn hierher?“

Er hatte mir die Hand gereicht, mit einem herzhaften Druck, der mir sagte, daß ich ihm, trotzdem seine Worte noch immer nicht eigentlich freundlich klangen, willkommen sei.

Ich stammelte etwas von „direkt aus dem Walde“.

„So sieht er aus,“ sagte der Herzog, jetzt wirklich mit einem Lächeln. „Nicht wahr, Adele?“

Adele hatte offenbar nur auf dies Lächeln gewartet, denn sie lachte sogleich hell auf, indem sie mir jetzt erst die Hand reichte mit einem Blick, dessen strahlende Freudigkeit mich durchschauerte.

„Wahrhaftig, so sieht er aus,“ rief sie. „direkt aus dem Walde!“

Dabei wandte sie mich, indem sie mich an der Hand fest hielt, um mich selbst, lustig meinen Anzug musternd, der in der That während dieser acht Tage nicht besser geworden war. Ich murmelte etwas von dem Unwetter, das mich heute Nachmittag im Walde überrascht habe, indem ich sie mit den Augen bat, die Scene abzukürzen, welche mir mit jeder Sekunde peinlicher zu werden begann.

Sie hatte mich sofort begriffen.

„Und ich glaube, er ist noch nicht einmal ganz wieder trocken,“ rief sie. „Ich glaube, Hoheit schicken ihn vorerst auf sein Zimmer, damit er sich einigermaßen restauriren kann. Da sehe ich einen von den Leuten. Darf ich rufen?“

[373]

Großes Haus in Kihiaura, unweit Ost-Kap.
Nach einer Skizze von Dr. O. Finsch gezeichnet von A. von Roeßler.

[374] „Lassen Sie!“ sagte der Herzog. „Seine Sachen sind freilich hier; aber das eilt nicht, und schaden wird’s ihm nicht. Ich werde oft fünfmal an einem Tage naß und wieder trocken – das letztere manchmal auch nicht. Sie wollen ja so wie so noch einen Brief schreiben, liebe Adele. Wir sehen uns dann beim Thee wieder.“

Adele hatte offenbar keinen Brief zu schreiben, aber wagte selbstverständlich nicht, Einspruch zu erheben, wie gern sie es auch, nach ihrer Miene zu schließen, gethan hätte. Ich verstand nicht ganz diese Miene, die sie mir hinter dem Rücken des Herzogs machte, während wir jetzt dem Schlosse zuschritten. Es lag Enttäuschung, fast Bestürzung darin und zugleich eine Bitte, die ich mir eben so wenig zu deuten wußte.

Und doch auch kaum deuten konnte, als sie mir, indem der Herzog jetzt ein wenig vor uns die Stufen zu der Rampe hinaufschritt, in kaum vernehmlichem Ton: sei gut! zuflüsterte.

Ich sollte zu spät erfahren, was sie gemeint hatte.

Denn zu einer Erklärung blieb keine Zeit. Wir hatten eben die Höhe der Rampe erreicht, als der Herzog ihr eine verabschiedende Bewegung mit der Hand machte, die sie mit einer Verbeugung erwiderte, welche halb etikettenmäßig und halb vertraulich war, und dann, einen letzten Blick mit demselben räthselhaften Ausdruck auf mich werfend, langsam nach rechts an der Fronte des Palais hin ging, bis zu einer nahen Thür, in der sie verschwand.

Der Herzog hatte, stehen bleibend, ihr ebenfalls nachgeblickt und blieb so noch einige Momente, nachdem sie bereits verschwunden war. Dann hob er plötzlich das Haupt und sagte, aber ohne mich dabei anzublicken. „Kommen Sie!“ indem er, mir voran schreitend, durch eine offene Fensterthür ein Gemach betrat, in welches ich ihm auf dem Fuße folgte, auf sein Geheiß die Fensterthür schließend.

(Fortsetzung folgt.)

Die neue Wohnung.

Humoreske von Emil Peschkau.

Wir waren wieder einmal recht unzufrieden mit unserer Wohnung und sagten ihr alle möglichen schlimmen Dinge nach. Die Zimmer schienen mit jedem Tage zusammenzuschrumpfen, während die Treppen offenbar immer höher wurden, der Preis war ganz unverhältnißmäßig, der Straßenlärm machte uns krank, und wenn wir vor einem anderen Hause zwei kümmerliche Akazienbäume stehen sahen, dann wurden wir melancholisch und träumten von einem herrlichen Garten. Es kam endlich so weit, daß wir stundenlang mit sorgenschweren und gedankenvollen Mienen auf- und abgingen, uns bisweilen fragend ansahen und dann mit einer Harmonie, wie sie unter Eheleuten nicht immer zu finden sein soll, in die Worte ausbrachen: „Wir müssen ausziehen!“

Gewiß, wir mußten es. In diesen engen, drückenden Räumen, diesem Hühnerstalle, zu dem man erst gelangte, nachdem man drei halsbrecherische Treppen überwunden hatte, konnten wir unmöglich noch länger unser Leben vertrauern. Wir abonnirten sofort sämmtliche Zeitungen der Stadt, und schon am nächsten Tage wanderte ich mit dem Plane in der Hand durch Gassen und Straßen, die ich in meinem Leben noch nicht betreten hatte. Und mit welchen Gefühlen, mit welchen Gedanken! Das Wohnungsuchen ist ja eine Art Kriegführen, und nur langjährige Erfahrungen lehren uns die Kunst, jeden Hinterhalt des Feinden zu erforschen, alle seine Tücken zu Schanden zu machen. Wer eine Wohnung sucht, soll ein gewiegter Stratege sein, er soll Menschen- und Insektenkenntniß in ungewöhnlichem Maße besitzen, und wie ein Jagdhund das in der Ferne vorüberstreichende Wild wittert, so soll er auch in dem in sonntäglicher Stille, in idyllischer Ruhe daliegenden Hause die Anwesenheit von Klavieren, Violinen oder anderen modernen Marterwerkzeugen instinktiv verspüren. Was mich betrifft, so muß ich – trotzdem man es vielleicht unbescheiden finden wird – erklären, daß ich mich auf diese Wohnungsstrategik vorzüglich verstehe. Mein Lehrgeld habe ich redlich entrichtet, aber jetzt bin ich dafür ein kleiner Moltke, mit dem es der stärkste Hausherr nicht aufnimmt. Habe ich ein Haus ins Auge gefaßt, dann studire ich zuerst das Terrain, und alle Sinne müssen mir bei diesem Studium behilflich sein. Ich sehe nach den Firmenschildern der Umgebung, meine Ohren lauern auf Schlosser, Klempner und Genossen, meine Nase prüft die Luft nach der Anwesenheit von Chemikern, Zuckerbäckern und Galvanoplastikern. Dann gilt es, die Parteien des Hauses zu studiren, und die Dienstmädchen über musikalische Instrumente, Wickelkinder und Opernsänger zu befragen. Es ist natürlich, daß auch ein chemisches Laboratorium, eine Tragödin oder ein junges Ehepaar sofort verscheucht, von einem Restaurant oder einer Tanzschule gar nicht zu reden. Erst wenn ich günstiges Terrain gefunden habe, rücke ich vor und beobachte den Feind in der Nähe. So verfuhr ich auch diesmal, und so kam es, daß von dem Dutzend Wohnungen, die ich jeden Tag zu prüfen hatte, meist nur eine übrig blieb, mit der ich mich beschäftigen konnte.

Da waren zuerst fünf Zimmer in der B. Gasse, in einem hübschen Hause, wie es schien, sehr günstig für meine Zwecke. Ich klingelte und verlangte die Wohnung zu sehen, aber das Dienstmädchen schleppte mich fast mit Gewalt in das Zimmer des Hausherrn. Ein kleiner, dicker Herr mit einer großen Pfeife, der aussah wie ein gnomischer Tyrann im Schlafrocke eines neudeutschen Philisters, kam mir entgegen und musterte mich von Kopf bis zu Fuß.

„Ich möchte die Wohnung –“ begann ich schüchtern.

Aber er unterbrach mich und fragte kategorisch: „Mit wem habe ich die Ehre?“

„O bitte – ich möchte nur die Wohnung sehen.“

„Ihr Name?“ fragte er noch strenger.

„Mayer,“ antwortete ich ärgerlich.

Er riß die Augen auf und musterte mich wieder.

„Ihr Beruf?“

„Privatier.“

„Rentier?“ fragte er. Es lag etwas stark zweifelndes in seinem Tone. Jedenfalls zog er den Ausdruck „Rentier“ dem gar zu allgemeinen „Privatier“ vor.

„Ja,“ erwiderte ich. „Fünf Zimmer also –“

„Haben Sie Kinder?“

„Ja. – Fünf –“

Ich wollte von den fünf Zimmern sprechen, er aber ließ mich nicht ausreden. Er war puterroth geworden, und seine Augen funkelten wild.

„Fünf Kinder!“ rief er entsetzt. „Fünf Kinder! Und am Ende auch noch Hunde?“

„Nur drei –“

Ich wollte ihn aufklären, daß ich nur drei Kinder besitze, aber es war unmöglich. Er kochte vor Wuth und schrie so laut, daß ich schweigen mußte.

„Nur drei Hunde – nur drei Hunde! Hat die Welt so etwas gesehen? Fünf Kinder und drei Hunde – ja, was glauben Sie denn? Für Hunde habe ich mein Haus überhaupt nicht gebaut, und was die Kinder betrifft, so müssen sich die Parteien mit zweien begnügen. Das ist Vertragsparagraph, das habe ich drucken lassen, und ich denke, es ist genug, es ist human.“

„Dann thut es mir leid –“

„Guten Morgen.“ –

Nummer Zwei schien das Gegenstürk zu dem Tyrannen zu sein. Ein langaufgeschossener, sanftblickender Herr, der einen so hohen Preis forderte, daß ich erschrak. Darauf nahm er eine jammervolle Miene an und sagte in kläglichem Tone: „Sie wissen gar nicht, was so ein Haus kostet, wie das ins Geld geht. Maurer und Zimmerleute, Schlosser und Schreiner, Weißbinder und Tapezierer, Schieferdecker und Spengler, Anstreicher und Glaser! Ja, das thut sich zusammen, da fliegen die Tausender. Und was Einem zu Grunde geht! Und die Steuer! Man kann ein armer Mann dabei werden – ja, ja, ich beneide jeden, der kein Haus hat. Und die Wohnung – die Wohnung, sage ich Ihnen, ist rein geschenkt – rein geschenkt.“

Wir waren eingetreten und besichtigten die einzelnen Räume. Er fuhr liebkosend mit der Hand über die Wandflächen, über die Thüren und Fenster und begann aufs Neue zu jammern: „Diese Tapeten – da kostet mich das Zimmer dreißig Mark. Und die Thüren – dreimal gestrichen, habe Alles selbst beaufsichtigt. Und die Fußböden schauen Sie nur einmal genau hin – es thut Einem das Herz weh, darauf zu treten. Wenn ich d’ran denke, was das Alles gekostet hat – und wie es in einem Jahr aussehen wird – es ist eigentlich eine Sünde, so eine Wohnung zu vermiethen. Und dabei bin ich noch so rücksichtsvoll und sehe nur jede Woche einmal nach – nur einmal – aber das sage ich gleich – da müssen mir alle Zimmer aufgeschlossen werden – das kommt in den Vertrag. Und Bildernägel einschlagen dulde ich nicht, das muß der Tapezierer machen. Auch müssen Sie für jeden Schaden einstehen, und die Wohnung muß mir in demselben Zustand übergeben werden. Sehen Sie nur, wie schön und sauber das Alles ist, es thut mir wirklich leid, die Wohnung zu vermiethen, und dazu verschenke ich sie eigentlich – wahrhaftig, das ist doch kein Geld dafür!“

Ich unterbrach ihn und empfahl mich mit dem Versprechen, meine Frau zu schicken. Es ist kaum nöthig zu sagen, daß das eine Nothlüge war und daß ich froh aufathmete, als ich den sanftblickenden Hausherrn hinter mir hatte. Ich wollte nicht der Räuber seiner Herrlichkeiten werden und setzte nun meine ganze Hoffnung auf Nummer drei. „Wohnung mit Gartenvergnügen“, hatte die Ueberschrift des Inserates gelautet, und das „Gartenvergnügen“ hatte unsere Phantasie mächtig erregt. Ich sah schattige, tiefdunkle Laubgänge, in denen sich’s im Auf– und Abschreiten herrlich fabuliren ließ, und meine Frau berechnete, wie viel sie ersparen könnte, wenn sie ihren Kohl selber pflanzte und das Obst für die Kinder nur von den Bäumen herunter zu langen brauchte. Die kleine Hedwig aber sprang wie toll vor Freude und schwärmte von Rasenplätzen, auf denen man Haschen spielen konnte, von Seilspringen, Schaukeln, Criquet und allerlei ähnlichen schönen Dingen. Nach solch hochgespannten Erwartungen konnte die Enttäuschung nicht ausbleiben. Als ich nach dem Garten fragte, zeigte mir der Hausbesitzer einen viereckigen Platz hinter dem Hause, der von drei Feuermauern umschlossen war, so daß es aussah, als ob man in einen riesigen Schornstein hinabblickte. In der Mitte des Platzes befand sich ein kreisrundes Beet voll bunter Blumen, überragt von einer silberglänzenden Glaskugel. In den vier Ecken aber standen vier Tische und längs der Wände waren Rosenstöcke und Geranien gepflanzt.

„Und solch ein Gärtchen gehört zu jeder Ihrer Wohnungen, oder nur zu dieser?“ fragte ich.

[375] Er sah mich verwundert an. „Nein – das nicht, ‚Gartenvergnügen‘ nennen wir es, wenn sämmtliche Parteien den Garten benutzen.“

„So so,“ erwiderte ich von Neuem enttäuscht. „Und giebt es da nicht manchmal Zwistigkeiten?“

Er lächelte verschmitzt. „Dagegen haben wir unsere Gartenordnung. Dieselbe ist in jeder Wohnung angenagelt, ebenso wie die Hausordnung. Wenn es Ihnen angenehm ist, näher zu treten – hier ist sie.“

Ich folgte seiner Einladung und begann das in dem Vorraum neben der Eingangsthür angeheftete Blatt zu lesen:

§ 1. Jede der vier Parteien erhält einen Tisch, der zu ihrer ausschließlichen Benutzung ist.
§ 2. In den übrigen Raum theilen sich die Parteien, wobei liebenswürdiges Entgegenkommen erwartet wird.
§ 3. Besuche sind in den Garten nicht mitzubringen.
§ 4. Ebenso sind Hunde und Kinder unter acht Jahren ausgeschlossen.
§ 5. Cigarrenreste, Aepfelschalen u. dergl. dürfen im Garten nicht weggeworfen werden.
§ 6. Blumenpflücken ist nicht gestattet.
§ 7. Die Pflege des Gartens ist auf Kosten der Theilnehmer an dem Vergnügen einem Gärtner übertragen.
     0Für jeden Schaden haben die Parteien aufzukommen.

Ich hatte genug, verzichtete auf weitere Unterhandlungen und entfernte mich mit dem Versprechen, meine Frau zu schicken.

Auch dieser Traum war also wie Nebel zerronnen, und mit den andern ging es nicht besser. Als ich endlich eines Abends – seit vierzehn Tagen war ich auf der Reise nach dieser unglückseligen neuen Wohnung – heimkehrte und mich ermüdet auf das Sofa warf, bemerkte ich, daß meine Frau wieder ihre gedankenvolle Miene angenommen hatte und mich fragend ansah.

„Du siehst so nachdenklich aus,“ sagte sie.

„Ich? – O nein – aber Du.“

„Ich dachte, daß wir’s hier eigentlich recht glücklich getroffen haben. Kein Klavier, kein Schlosser –“

„Und kein Gartenvergnügen,“ fiel ich ihr ins Wort.

„Der Hausherr ist ein liebenswürdiger Mensch –“

„Und wohnt nicht im Hause, was das Liebenswürdigste an ihm ist. Auch finde ich, daß unsere Treppen viel bequemer sind, als die anderer Häuser.“

„Und die Zimmer sind so gemüthlich, so behaglich.“

Ich war aufgesprungen, und wir schritten Arm in Arm von Stube zu Stube. Ueberall entdeckten wir neue Vorzüge, neue Herrlichkeiten. Die alte, verhaßte Wohnung hatte sich plötzlich verändert, es war gar nicht mehr die alte, es war eine neue, die schönste und bequemste unter allen, die ich gesehen hatte. Und zugleich war sie uns auf einmal ans Herz gewachsen wie ein guter, lieber Freund, dessen theure Züge uns aus jeder Ecke entgegenblickten, und die Idee, diesen Freund zu verlassen, erschien mir so toll, daß ich plötzlich laut auflachte.

„Du hast ganz Recht,“ sagte meine Frau, als ob sie mein Lachen verstanden hätte. „Wir bleiben natürlich.“

„Natürlich,“ erwiderte ich, und der Leser wird meinen, die Geschichte sei nun zu Ende. Sie ist es aber nicht, und sie wird es vielleicht nie sein, denn wir wären keine Menschen – wenn sie sich nicht jedes Jahr wiederholte . . . .


Blätter und Blüthen.

Auf Leben und Tod. (Mit Illustration S. 365.) Da liegt sie vor uns schweigend und großartig, die einsame Hochgebirgswelt! Die Schatten des Abends senken sich über den öden Felskahren herein, und der Vollmond tritt aus dem leichten Nebelgewölke, das über den fernen duftigen Berghöhen lagert. Ueberall Ruhe, überall Frieden, heilige Sabbathstille der Natur ringsumher; nur zwischen den Menschen herrscht auch hier Zwietracht und Haß und erbitterter Kampf auf Leben und Tod! –

Förster und Wilderer, diese beiden Erbfeinde, sind auf einem Felsvorsprunge nahe dem Rande eines Abgrundes auf einander getroffen, und nun entspinnt sich ein mörderisches Ringen. Der Wilderer, auf frischer That ertappt, hat sich gegen den kräftigen, kühnen Weidmann zur Wehre gesetzt. Seine Büchse ist ihm in der Hitze des Handgemenges entfallen und entladet sich unter seinem zufälligen Fußtritt; er ist waffenlos. Und nun sucht Jeder den Anderen in die Tiefe hinabzuschleudern, welche neben ihnen hinaufgähnt und über der hoch in den Lüften zwei Adler kreisen. Unheimliches Grauen und Entsetzen blickt aus den weit geöffneten stieren Augen des Wilderers, in Todesfurcht sträubt sich sein Haar; er scheint zu ahnen, daß er verloren sei, und klammert sich verzweifelnd an den Förster, um, sollte er in der unzugänglichen Bergschlucht seinen Untergang finden, wenigstens auch seinen Feind mit sich dort hinab zu reißen.

So ringen die zwei Todfeinde mit einander, neben sich den drohenden Abgrund, der vielleicht in der nächsten Minute Einem oder Beiden zum Grabe werden wird. J. C. Maurer.     

Abnutzung des Eisenbahnrads. Interessant ist es zu beobachten, welch großer Abnutzung das Eisenbahnmaterial unterworfen ist. Vor einiger Zeit hat man sorgfältige Berechnungen angestellt, und etwa Folgendes ist das Resultat. Wenn ein Eisenbahnwagen 1000 Kilometer zurückgelegt hat, so hat ein jedes Rad desselben durchschnittlich 85 Gramm abgenommen. Hatte man dieses Rad gebremst, so ergab dies noch einen weiteren Verlust von 45 Gramm. Stimmten diese Durchschnittszahlen nicht bei allen Beobachtungen überein, so lag dies an der Güte des gebrauchten Stahles; die besten Räder, die also den geringsten Verlust erleiden, dürften wohl die von Krupp sein. Der Verlust erscheint zwar an und für sich nicht so bedeutend, aber welche Masse Stahles geht im Verlaufe längerer Zeit verloren, zerfließt spurlos in die Lüfte! Nehmen wir an, ein Zug, aus 25 Wagen bestehend, läuft auf einer Strecke von 100 Kilometer. Hätte man die Räder vor der Abfahrt gewogen und würde man sie nach der Ankunft auf der letzten Station dieser Strecke wiegen, so würde man ein Deficit von cirka zwei Pfund erhalten, während die gesammten Räder der sächsischen Bahnen täglich sechs Centner verschwinden lassen.

Nehmen wir an, daß auf Deutschlands gesammten Geleisen 900000 Räder, in runder Summe, fahren, so beläuft sich das jährliche Deficit auf ungefähr 30000 Centner. 4400 Räder sind wider Willen der Bahnverwaltungen, wider alle Paragraphen der Strafgesetze verflogen. Täglich und stündlich geht diese rastlose Verminderung vor sich, ununterbrochen wird das Eisenbahnmaterial weniger. Wenn dies allerdings die ganze Abnutzung wäre, so wäre es noch erträglich, aber nun kommt noch dazu, daß die Räder sich nicht rund erhalten, jetzt muß gefeilt und geglättet werden. Auf diese Weise geht das Meiste verloren. Zuletzt, wenn das Rad cirka 50 Kilogramm an seinem ursprünglichen Gewicht verloren, wird es zur Werkstätte abgeführt und hier abgedankt. Bis es dahin kommt, hat ein gebremstes Rad die Strecke von 95000 Kilometer, ein ungebremstes hingegen eine solche von 145000 Kilometer befahren, im Durchschnitt kann man 125- bis 130000 Kilometer rechnen. Hiernach läuft das Rad eines Personenwagens cirka 5 Jahre, das eines Güterwagens etwa 8 Jahre.

Ein historisches Unikum befindet sich in den Sammlungen des vogtländischen alterthumsforschenden Vereins zu Reichenfels bei Hohenleuben, Kreis Gera. Es ist dies das Lämpchen, bei dessen Schein Wallenstein, Herzog von Friedland, in der Nacht vom 24. zum 25. Februar 1634 im Stadthause zu Eger durch den kaiserlichen Dragonerhauptmann Deveroux ermordet wurde.

Die Nachtlampe, bei deren Scheine Wallenstein ermordet wurde.
1/2 natürl. Größe.

Das Lämpchen befand sich in der ersten Zeit nach der Schreckensnacht im Besitze der mit den Waldsteins in verwandtschaftlichen Beziehungen stehenden Familie Terzky. Später gelangte es in den Besitz einer Frau von Wallersprungk, die entweder eine geborene Gräfin Terzky oder doch eine nahe Verwandte der gräflich Terzky’schen Familie war. Von der genannten Dame ist sie den Großeltern des Herrn von G. in Gera zum Geschenk gemacht worden. Letzterer überließ sie unter Wahrung seines Eigenthumsrechtes dem vogtländischen alterthumsforschenden Vereine zum Zwecke der Ausstellung in dessen Museum.

Die Form des Lämpchens entspricht derjenigen, welche im späteren Mittelalter und auch noch im 17. Jahrhundert in den Häusern der Begüterten die zu einiger Erhellung des Schlafgemaches dienenden Lampen im Allgemeinen zu haben pflegten. Die Tülle hat einen Durchmesser von knapp fünf Millimeter, die zur Aufnahme des Dochtes in derselben bestimmte Oeffnung einen solchen von zwei Millimeter.

Trotz seiner Unbedeutendheit beansprucht das Lämpchen ein hervorragendes Interesse. Es ist der stumme Zeuge einer furchtbaren Gewaltthat von höchster historischer Bedeutsamkeit gewesen. H. Meißner.     

Vor der Schlacht! Wer denkt bei diesen Worten nicht an Theodor Körner’s schönes Gedicht:

„Ahnungsgrauend, todesmuthig,
Bricht der große Morgen an!“

Doch nicht von „Leier und Schwert“ wollen wir sprechen, sondern von einem Schlachtruf, der von jenseit der Vogesen herübertönt. „Avant la bataille“ – diesen Titel führt ein neues französisches Werk, zu welchem das Haupt der Patriotenliga, Paul Deroulède, die Vorrede geschrieben hat. „Das ist die Fanfare, das ist der Trommelschlag, der in allen Herzen widerhalle!“ so bezeichnet der Redakteur des „Drapeau“, der in den Spalten seines Blattes die Kriegsfahne schwingt, die Losung, die den Titel der neuen Schrift bildet. „Die Schlacht ist unvermeidlich,“ ruft er aus, „die Armee ist bereit.“ Und das bildet ja auch den Inhalt des Werkes, welches, wenn auch nicht unmittelbar aus dem Kriegsministerium hervorgegangen, doch von einem Verfasser herrührt, der in den nächsten Beziehungen mit den officiellen Kreisen steht. Denn alle Materialien und Daten standen ihm zur Verfügung bei seiner Schilderung der französischen Armee, und so schwunghaft die Vorrede von Deroulède, die einleitenden und abschließenden Kapitel des Werkes sind, so trocken ist der eigentliche Inhalt desselben, eine Statistik der französischen Militärverhältnisse, der Linie und Territorialarmee, der einzelnen Truppengattungen, der Rekrutirung, der ganzen Organisation des Generalstabes, des Medicinalwesens, alles durch unwidersprechliche Ziffern belegt, die in Reih und Glied aufmarschiren. Freilich, das Papier ist geduldig, auch das [376] Papier des französischen Kriegsministeriums und eine Mobilmachunq würde vermuthlich in diese Zahlen eine bedenkliche Bresche legen. Wenn sie auch nicht geeignet sind, uns Deutsche in bleiche Furcht zu versetzen, so vermögen sie doch das Selbstgefühl der Franzosen zu einer bedenklichen Höhe zu steigern. Die Armee ist bereit – und welche Armee! Seit den Zeiten des Dschengiskhan hat die Welt nichts Aehnliches gesehen; ein Heer von 4 Millionen: die Linie bestehend aus 2051459, die Territorialarmee aus 2057196 Mann; da steht’s bis auf die Einer verzeichnet – wer wagt daran zu zweifeln? Ohne Frage hat Frankreich jetzt eine imposantere und besser organisirte militärische Macht als zur Zeit des Kaiserreichs; und die Statistik der Heereseinrichtungen, die hier so genau bis in alles Detail mit erstaunlicher Offenherzigkeit mitgetheilt wird, macht alle diplomatischen Verräthereien entbehrlich.

Wann aber soll diese furchtbare Armee ins Feld rücken? Bewahre, kein Angriffskrieg! Frankreich wartet auf den Tod der drei Männer, die das Deutsche Reich gegründet haben, des Kaisers, seines Kanzlers von Eisen, seines strategischen Großmeisters; dann wird der innere Zwiespalt ausbrechen: zur Ablenkung desselben wird Deutschland zu einem Kriege nach außen genöthigt sein, und dieser Krieg kann sich nur gegen Frankreich, nur gegen den verabscheuten Erbfeind richten. Das ist anscheinend die Hoffnung der kriegerisch Gesinnten in Frankreich. Jedes gesunde Gefühl wird empört durch die Spekulation auf den Tod der drei großen Männer Deutschlands! Und doch ist diese thörichte Spekulation überhaupt nur vorgeschoben, denn im Herzen lauert die Kriegspartei auf irgend einen andern aus den Wolken fallenden Anlaß! Da im Schlußkapitel wird uns das Gemälde der großen Entscheidungsschlacht zwischen Deutschen und Franzosen entrollt, die in den Ebenen Lothringens geschlagen wird. Daß die Franzosen siegen, ist selbstverständlich, und zuletzt ertönt der Schlachtruf: „Hoch die Herzen, Ihr Kinder Frankreichs! Hoch die Fahnen! Vorwärts für Elsaß und Lothringen, die Euch rufen! Vorwärts für die Freiheit und die Civilisation, für die Unabhängigkeit und für die Menschlichkeit! Vorwärts für das Vaterland! Es ist ein Feldzug gegen die Barbaren!“ Und in der That werden wir Deutschen in diesem Buche mit den abschreckendsten Farben gemalt: wir sind ein hochmüthiges Volk mit falscher Bescheidenheit, ohne Erziehung, ohne Moralität, emporgekommen mehr durch die Selbsterniedrigung der Andern als durch die eigene Größe zu einer zufälligen Herrschaft, welche von uns mit den Anmaßungen und der grotesken Majestät des Bären ausgeübt wird, der sich mit dem Fell des Löwen bekleidet hat. Ein kurzer Geschichtsabriß zeigt, was für ein perfides Geschlecht besonders die Preußen sind. Dann aber wirft sich der ruhmredige Soldat in die Brust, streicht sich den Bart und ruft: „Weit davon entfernt, uns überlegen zu sein, stehen diese Leute unter uns, sowohl en masse wie einzeln. Ihre Organisation ist nicht besser als die unsrige, ebenso wenig ihre Disciplin, ihr Muth, ihre Bewaffnung.“ Wenn der Verfasser sagt: „es giebt keine unüberwindlichen Armeen; sie sind es um so weniger, je mehr man es ihnen vorredet,“ so mag er die Nutzanwendung davon auf sein eigenes Buch und die französische Armee machen. Immerhin ist dies Buch als ein Symptom zu betrachten: dahinter steht ohne Frage der jetzige Kriegsminister Boulanger, und wenn auch unter dem Titel: „Noch nicht!“ (Pas encore!) eine Gegenschrift in Frankreich erschienen ist, welche das unvorsichtige Kriegsgeschrei Deroulède’s zu verdammen scheint, so richtet sich dies absprechende Urtheil augenscheinlich nicht gegen die Tendenz des Buches überhaupt, sondern besagt nur, daß es noch nicht an der Zeit sei, über uns herzufallen.

Wir Deutschen wollen gern Arm in Arm mit den Franzosen zu den höchsten Zielen der Kultur vorschreiten und sind weit davon entfernt, die Schimpfreden zu erwidern, mit denen sie uns verlästern; doch wenn sie stets von Neuem die Kluft aufreißen, welche die großen Kriege zwischen uns und ihnen aufgethan, wenn der alte Wahnsinn der „Rheingrenze“ sie stets von Neuem ergreift: dann erwidern wir ihnen einfach, daß die Wacht am Rhein nach wie vor fest steht! G.     


Allerlei Kurzweil.



Magisches Problem.

Was schreibt Hänschen?


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

B. in K. Auf die im Briefkasten S. 92 gestellte Anfrage, woher man Bilderbogen zu sogenannten Würfelspielen beziehen könne, haben uns zwei Firmen ihre Adressen angegeben: Adolph Engel, Berlin, Am Tempelhofer Berg Nr. 5 A, und G. Löwensohn in Fürth in Bayern.

Fr. Br. in Br. Leider schon vergeben.

G. B ... r in Wien. Artikel über Louise Lateau finden Sie in den Nummern 5, 21 und 48 des Jahrgangs 1875 der „Gartenlaube“.

A. G. in Kl. „Die Welt im Kleinen“ (Stuttgart, Gustav Weise) ist nicht von Julius Lohmeyer allein, sondern von Frida Schanz und Johannes Trojan mitverfaßt. An der Illustrirung dieses hervorragenden Buches für das erste Jugendalter betheiligten sich Woldemar Friedrich, Karl und Johannes Gehrts, Hermann Vogel u. A.


Inhalt: Die Lora-Nixe. Novelle von Stefanie Keyser (Fortsetzung). S. 361. – Neckereien. Illustration S. 361. – Allerlei Nahrung. Gastronomische Plaudereien. Von Carl Vogt. II. Die Auster. S. 364. – Entdeckungsfahrten des deutschen Dampfers „Samoa“. III. Englisches Gebiet in Ost Neu Guinea. a. d’Entrecasteaux-Inseln, Ost-Kap bis Mitrafeld. Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen). S. 367. Mit Illustrationen S. 367, 368, 369 und 373. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 370. – Die neue Wohnung. Humoreske von Emil Peschkau. S. 374. – Blätter und Blüthen: Auf Leben und Tod. Von J. C. Maurer. S. 374. Mit Illustration S. 365. – Abnutzung des Eisenbahnrads. S. 375. – Ein historisches Unikum. Von H. Meißner. Mit Abbildung. S. 375. – Vor der Schlacht! – Allerlei Kurzweil: Magisches Problem. – Kleiner Briefkasten. S. 376.



Ein Supplement zu Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“.
Im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig erscheint und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Das Buch der richtigen Ernährung Gesunder und Kranker.
Ein Kochbuch
auf Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Forschungen, langjähriger hauswirthschaftlicher Erfahrungen
und mit besonderer Berücksichtigung einer vernünftigen Sparsamkeit bearbeitet
von
Marie Ernst.
Erscheint in 14 Lieferungrn à 75 Pfennig.

Wir veröffentlichen nachstehend ein Schreiben des kgl. bayr. Geheimen Rathes Professor Dr. Max von Pettenkofer an die Verfasserin:
München, 6. April 1886. 

 Hochgeehrte Frau!
Ihr Buch über die richtige Ernährung Gesunder und Kranker habe ich jetzt noch näher kennen gelernt, als ich Ihre Arbeit bereits aus den Schilderungen meines Freundes Karl v. Voit kannte, und kann ich sein ohnehin maßgebendes Urtheil nur bestätigen. Es ist das erste Kochbuch, was auch von vielen Menschen gelesen werden wird, welche nicht Köche und Köchinnen sind, die nur nach Recepten fragen, sondern überhaupt beurtheilen wollen, ob ihre Küche und damit auch ihr eigener Leib richtig bestellt wird. Ihr Buch steht hoch über der Physiologie des Geschmackes des berühmten Savarin, welche Carl Vogt ins Deutsche übersetzt hat.

Ich bin überzeugt, daß nichts besser geeignet ist, um einer richtigen Volksernährung in allen Schichten, bei Reichen und Armen Bahn zu brechen, als Ihr Buch. Sie haben sich dadurch ein Verdienst um das allgemeine Wohl errungen.

Ich habe das erste Heft meiner Frau gegeben, die eine sehr erfahrene Hausfrau ist und auch zu kochen versteht, mit dem Ansinnen, es durchzulesen. Ich sagte ihr absichtlich nichts von meiner eigenen Ansicht über Ihre Arbeit. Obschon sie mir erwiderte: Ach! schon wieder ein Kochbuch, aus dem ich nichts oder wenig brauchen kann, so änderte sich der Eindruck schon, nachdem sie die ersten Blätter gelesen hatte, und freut sie sich jetzt auf die Fortsetzung. Meine Frau findet Ihr Buch – wie sie sich ausdrückte – klassisch und versichert mir, daß daraus viel zu lernen sei.

Indem ich Sie aufrichtig beglückwünsche, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebener 
gez. Dr. M. v. Pettenkofer. 

manicula Alle Buchhandlungen nehmen Bestellungen entgegen und können das erste Heft zur Einsicht vorlegen.



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.