Die Gartenlaube (1886)/Heft 13
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No. 13. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
(Fortsetzung.)
Ich mußte Ellinor lieben, trotzdem sie mich mit offenbar geflissentlicher Geringschätzung behandelte, aber das schien mir kein Grund, Fräulein Hersilie Drechsler, ihre Gouvernante, nicht zu hassen, obgleich sie mir nicht minder geflissentlich alle mögliche Höflichkeit erwies. Schlagododro hatte Recht: die Dame machte ihrem Namen Ehre! Alles war an ihr gedrechselt, von ihren blonden Locken, die heute um eines Haares Breite dieselben waren wie gestern, bis zu ihren Redensarten, welche sie mit silbenmäßiger Treue endlos wiederholte. Höchstens, daß in ihren Ausdrücken der Bewunderung eine kaum noch für möglich gehaltene Steigerung stattfand, so oft sie auf die Verdienste und die Herrlichkeit des Adels zu sprechen kam. Und das geschah bei jeder Gelegenheit, wenn man Gelegenheit nennen konnte, was sie frisch vom Zaun brach.
In dem Adel gipfelte sich für sie die Pyramide der Menschheit, die im Uebrigen nur um dieses Gipfels willen vorhanden war. Daran auch nur den mindesten Zweifel zu hegen, galt ihr als ein Beweis tiefster intellektueller Depravation und moralischer Verwilderung. Daß das übrige Volk dem Adel in jeder Beziehung die Initiative zu überlassen und in der Ausführung einfach zu gehorchen habe, sei so selbstverständlich, wie daß der Leib dem Kopf gehorche. Der Adel sei eben der Kopf der Nation und nicht minder das Herz; ein Volk ohne Adel ein todter Leichnam. Hätte man in dem verruchten Jahre 48, wie man demokratischerseits verlangte, den Adel abgeschafft, so hätte sie hinterher nicht geboren werden mögen.
„Unnöthige Sorge,“ sagte Schlagododro zu mir; „sie ist lange vor 48 geboren. Wir schreiben jetzt 70 und ich wette, daß sie mindestens eine hohe Neununddreißigerin ist.“
Nun, und aus diesem mir so verhaßten Munde sollte ich auch die widerwärtige Nachricht erfahren, daß Astolf sein Fähndrichexamen bestanden habe und in nächster Zeit auf Nonnendorf erwartet werde.
Ich wollte sofort abreisen und sagte es Schlagododro. Er beschwor mich, daran nicht zu denken.
„Der Grund könnte nicht verborgen bleiben,“ sagte er, „und das wäre eine schwere Kränkung für meine Mutter, die, wie Du mir zugeben wirst, das nicht um Dich verdient hat. Astolf ist ihr Liebling, sie nimmt an, daß er auch der aller Welt sein muß. Du weißt, meiner ist er nicht; wir stehen sogar brüderlich recht schlecht gegeneinander. Ich wollte auch, er käme nicht, obgleich ich ihn ja jetzt ruhig kommen sehen kann, was noch vor zwei Wochen nicht der Fall gewesen wäre.“
Ich blickte dem Freund fragend in die, wie mir schien, in Verlegenheit rollenden Augen.
„Na,“ sagte er, „ich brauche ja jetzt nicht mehr damit hinter dem Berge zu halten, nachdem ich mich überzeugt habe, daß Du wirklich die schöne Hexe von Ellinor noch immer nicht liebst; und ich – na, Du weißt ja. Ich bin froh, daß ich glücklich von ihr los bin, und ich denke, nun soll auch das Verhältniß zwischen mir und Astolf besser werden. Ich könnte mich so schon für meine Eselei prügeln. Astolf ist der Aeltere, ist ein
[218] wunderhübscher Junge – fast so hübsch wie Du – und wird Majoratsherr. Da hätte ich doch wissen sollen, daß ich von allem Anfang an keine Chance hatte. Was ist Dir?“
„Gar nichts. Ich wundre mich nur. Ich dachte sicher, Herr Axel von Blewitz sei der Auserwählte.“
„Weil er immer um sie herum ist und sie seine Dummheiten lachend anhört? Das beweist gar nichts. Er könnte noch dümmer sein, wenn er ihr nur brav den Hof macht. Das braucht sie so nothwendig wie das liebe Brot. Aber ernsthaft ist die Sache nicht. Ich vermuthe sogar stark, sie will den Axel nur gegen Astolf ausspielen.“
„Was heißt das? Du weißt, ich bin in diesen Sachen erschrecklich dumm.“
„Scheint wirklich so – bitte um Verzeihung. Wollte sagen: Du kannst ja auch nicht wissen, was das heißt. Nämlich dies: Ich bin überzeugt, sie liebt Astolf, und gerade darum behandelt sie ihn schlecht. Glaube, alle Koketten machen das so. Und zu der schlechten Behandlung wird gehören, daß sie sich vor seinen Augen von Blewitz die Kour auf Tod und Leben schneiden läßt. Uebrigens ein gefährliches Spiel, denn Astolf ist stolz und verwöhnt wie ein Prinz von Geblüt und könnte abschnappen, anstatt, wie sie hofft, mit der Sprache herausrücken. Verstehst Du nun?“
„So ziemlich; und darf man fragen, wie Deine Eltern darüber denken?“
„Ich sagte Dir ja: Astolf ist Mamas Liebling. Was Astolf will, will Mama; und was Mama will, will Papa.“
„Und Dein Onkel?“
„Offen gestanden, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat er die Sache immer ruhig mit angesehen.“
„Aber Ellinor ist doch erst fünfzehn Jahre,“ rief ich in einer Verzweiflung, die Schlagododro glücklicherweise nur ein schallendes Gelächter entlockte.
„Nun wird’s gut,“ rief er; „jetzt muß er auch noch für die liebe Unschuld eine Lanze brechen! Beruhige Dich! Bis zum Heirathen hat es noch gute Weile, aber in unsern Familien legt man sich so wichtige Dinge schon von langer Hand zurecht. Uebrigens ist sie fünfzehn ein halb, und Astolf wird noch im Herbst zwanzig. Das paßt ja denn so weit ganz schön. Onkel Egbert hätte ihn gern noch hier gesprochen; er will sich nicht länger halten lassen; ist überhaupt in letzter Zeit recht wunderlich. Findest Du nicht auch? Nun muß ich aber auch fort. Ich soll Papa nach Brandshagen begleiten. Er hat da eine Konferenz mit J. J.“
„Mit wem?“
„Mit Deinem J. J. Der arme Papa läßt den Manichäer nicht gern hierher ins Haus kommen, sondern empfängt ihn immer drüben. Diesmal ist, glaube ich, noch ein besonderer Grund. Du weißt, wir haben auf Brandshagen die große Brennerei, die ich Dir ja schon immer einmal zeigen wollte; aber über Euren verflixten Theaterkram kommt man ja zu nichts. Nun, und ich glaube, Papa will die Brennerei an J. J. verpachten, oder muß sie verpachten, was in der Ursache sehr verschieden, aber im Effekt dasselbe ist. Nationalökonomie – mein Fach, weißt Du. Es ist hübsch von Papa, daß er mich bei Zeiten praktisch in mein Fach einführt. Also, adieu bis heute Abend! Du wirst wohl unterdessen den gewohnten Ausflug nach Belriguardo oder wie das italienische Nest heißt, machen.“
Er schüttelte mir lachend die Hand und schlenkerte aus dem Garten. Ich blickte ihm nach, bis ich sicher war, daß er nicht wieder umkehren würde, und stürzte mich dann in den Park, instinktiv die einsamsten Pfade suchend, während ich nur immer so vor mich hin lief, Wuth und Verzweiflung im Herzen. Ellinor verlobt, so gut wie verlobt, und mit ihm, den ich schon zu hassen geglaubt hatte, bis ich dies wußte, und jetzt – o, es gab kein Wort, welches das ausdrückte! Es gab nur Zähneknirschen und ohnmächtig geballte Fäuste und Thränen, die mir schier die Augen versengten. Jetzt mußte ich fort, jetzt wollte ich fort, mochten sie von mir denken, was ihnen beliebte! Ich haßte sie alle, Einen wie den Anderen, auch Schlagododro, der so kaltblütig eine Ellinor seinem Bruder ausliefern konnte; den Major, der sein einziges Kind nicht besser zu hüten wußte; sie selbst, die herzlose Kokette, die sich von einem Axel Blewitz den Hof machen ließ, um einen Astolf Vogtriz zu erobern. Sie waren eines des Andern werth!
So raste ich in meinem Wahnsinn weiter, als plötzlich ein helles Kleid durch die Büsche schimmerte. Wenn es Ellinor war! Ein Zittern überfiel mich, daß mir die Kniee wankten, und ich wünschte, der Erdboden möchte mich verschlingen: und im nächsten Augenblick das wüthende Verlangen, sie nur einmal an mein Herz, meine Lippen auf ihre Lippen zu pressen, und möchten sie mich dann mit glühenden Zangen zerreißen.
Mein Herz hatte umsonst zum Zerspringen geklopft – eine Wendung des Pfades, und ich stand Maria gegenüber.
Auch sie hatte die Einsamkeit gesucht, freilich mit anderen Empfindungen als ich! Wie blind mußte mich die Leideuschaft gemacht haben, daß mir diese Miene als die einer Glücklichen erschien!
Sie hatte mit klarerem Auge die Verstörtheit meiner Züge sofort erkannt.
„Mein Gott, was ist Ihnen? Sie haben eine Unnannehmlichkeit gehabt!“ rief sie mir entgegen, noch bevor wir einander völlig erreicht hatten.
„Tausend für eine!“ rief ich mit Hohnlachen zurück und fuhr dann, als wir zusammen weiter schritten, mich zu einiger Ruhe zwingend, fort: „Oder wäre denn dieses Leben hier nicht eine einzige fortgesetzte Unnannehmlichkeit – für mich, selbstverständlich; ich sehe ja, daß Andere anders darüber denken.“
„Sie haben gehört, daß man den älteren Bruder erwartet,“ sagte sie schnell.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Weil ich weiß, wie verhaßt er Ihnen ist, und ich mir so Ihre üble Laune erklären kann.“
„Und ich versichere Sie nochmals, daß es auf eine Unannehmlichkeit mehr oder weniger gar nicht ankommt. Ich habe das Leben hier eben satt, wenn man satt bekommen kann, wogegen man von vorn herein einen instinktiven Widerwillen hatte. Ich denke, Sie können mir das bestätigen; ohne Ihr Zureden wäre ich schwerlich hier. Sie freilich brauchen nicht zu bereuen, daß Sie gekommen sind.“
Es war eine Grausamkeit, ihr das zu sagen; aber ich fühlte es doch nur dumpf; in meinem Herzen tobte es zu sehr; das brennende Roth, das plötzlich in ihren bleichen Wangen aufflammte, um ebem so schnell wieder zu verschwinden, galt mir nur als Zeichen und Beweis, daß sie sich getroffen fühlte. Ich ließ sie nicht zu Worte kommen.
„Freilich, räthselhaft genug ist mir das; vielmehr unbegreiflich. Ich begreife nicht, wie Sie es mit Ihren Ueberzeugungen in Einklang bringen, vom Morgen bis zum Abend Dinge zu hören, die mir das Blut in den Adern sieden machen. Oder könnte es doch nur begreifen, wenn ich annehme, daß Sie Ihre Ueberzeugungen gewechselt haben. Es bleibt mir nichts Anderes übrig.“
„Vielleicht,“ erwiderte sie ruhig, „daß ich mit meinen Ueberzeugungen zurückhalte, wo ich, wie hier, sicher bin, durch das Aussprechen derselben nichts zu bewirken. Aber warum halten denn Sie mit den Ihrigen zurück?“
„Das ist es ja eben,“ rief ich zornig, „was ich mir nicht vergeben kann. Und übrigens ist doch in dieser Hinsicht ein Unterschied zwischen mir und Ihnen. Ich bin ein junger unbedeutender Mensch, das weiß ich wohl. Aber für mich ist, sagen, was ich denke, und mit der Gesellschaft ein für allemal brechen, ein und dasselbe. Sie können reden, was Sie wollen –“
„Und niemand achtet darauf – eine beschämende Rolle, wahrlich, zu der Sie mich da verurtheilen. Und dann, frage ich wieder, wenn Ihnen die Gesellschaft hier so widerwärtig ist und Sie es so leicht haben, mit ihr zu Ende zu kommen, warum thun Sie es denn nicht? um so mehr, als Sie das doch für eine männliche Pflicht zu halten scheinen?“
Ich schlang, vor ihrer sicheren Logik verstummend, meine Wuth still in mich. So gingen wir eine Zeit lang schweigend neben einander, jedes im Innern den Kampf um das Geheimniß, das ihm der Andere entreißen wollte, weiter kämpfend; in bitterer Feindschaft jetzt, wie ich meinte, wir, die wir vorher in so herzlicher Freundschaft verbunden gewesen waren. Sie begann zuerst wieder:
[219] „Ich habe Sie gekränkt. Verzeihen Sie! es war nicht meine Absicht, wie es gewiß auch nicht die Ihrige war, mir wehe zu thun. Wir sind uns eben fremd geworden in diesen Wochen, in denen wir uns doch gerade ein recht gutes Zusammenleben versprochen hatten und auch gehabt hätten, wenn Sie sich nur –“
Sie stockte und fuhr dann entschlossen fort:
„Mit Ellinor besser stellen möchten. Und es wäre das so leicht. Ich habe Sie verwöhnt, weil ich so gar nicht verwöhnt bin. Ellinor ist es. Alle Welt schmeichelt ihr. Sie brauchen ihr nicht zu schmeicheln, aber freundlich könnten Sie doch sein. Sie haben ihr noch nie ein einziges gutes Wort über ihr Komodienspiel gesagt.“
„Weil sie gar nichts kann,“ rief ich zormg.
„Das heißt, genau so viel wie ich,“ sagte Maria ruhig; „und ich wünschte aufrichtig, der Kammerherr ließe noch im letzten Augenblick die Sache fallen, bei der nichts heraus kommt. Aber das ist es ja nicht allein. Sie behandeln das schöne Kind immer und überall mit derselben Gleichgültigkeit, und das kann sie nicht vertragen; das nimmt sie Ihnen übel, und ich glaube, mit Recht.“
„Ich bin Ihnen sehr verbunden, Fräulein Maria,“ erwiderte ich: „leider kommen Ihre guten Lehren in dem Augenblick, wo ich fortgehe, ein wenig zu spät.“
„Sie wollten das wirklich? wirklich fort?“
„Es ist mein fester Entschluß.“
„Thun Sie es nicht.“
„Und warum denn nicht?“
Wir waren unwillkürlich stehen geblieben. Sie war sehr blaß und hob die gesenkten Augen auch nicht, als sie jetzt zögernd und leise sagte:
„Weil Ihr Geheimniß gerade dadurch an den Tag kommen würde.“
Ich brach in ein Gelächter aus, das häßlich genug geklungen haben mag.
„Mein Geheimniß!“ rief ich; „aber das ist köstlich! und ein Geheimniß, das ich vor einer so guten Freundin verberge! Denken Sie doch.“
„Lachen Sie nicht,“ sagte sie traurig, „es thut mir weh. Ich weiß ja, daß Ihnen ganz anders zu Muthe ist.“
„Sie müssen es freilich wissen: anders als Ihnen! Ich glaub’ es gern!“
Ich bereute das Wort, sobald ich es gesprochen. Aber es war zu spät, und warum quälte sie mich so?
„Es geschieht mir recht,“ sagte sie mit einem tiefen Athemzuge. „Wie kann ich von Ihnen fordern, was ich mir selbst ersparen zu dürfen glaubte? Nun denn: Sie kennen mein Geheimniß. Ich hoffte, es vor Ihnen bewahren zu können, weil Sie mein Freund sind. Man theilt mit seinen Freunden ja gern ein Glück; das Geheimniß eines Unglücks erfahren sie immer noch zu früh. Und dies ist ein Unglück; ich sehe es klar, obgleich er es nicht sieht und ich selbst die Augen davor verschließen möchte. Mein Gott, es werden wohl die einzigen glücklichen Stunden in meinem Leben sein. Nun können Sie weinen! Ich wußte es ja. Armer Freund, nicht wahr, das schmerzt? Denn warum es jetzt nicht sagen: was ich vorhin für mich anführte, daß das Unglück schweigen darf, das gilt ja auch für Sie, wenn auch in anderer Weise. Ich bin ein Mädchen, und Sie – ach, das ist so ganz anders. Für Sie wird vielleicht eine Zeit kommen, wo Sie über dies alles lächeln werden. Sie wissen, ich werde es nie können.“
Sie strich sich über die Augen; ich weinte immer leidenschaftlicher, ohne daran zu denken, mein Schluchzen zu unterdrücken. Sie faßte mich bei der Hand:
„Lothar, versprechen Sie mir Eines!“
Ich nickte stumm.
„Gehen Sie von hier! – Warum sollen Sie die Qual länger erdulden, als nöthig ist? Aber nöthig ist, daß Sie einen triftigen Grund anzugeben haben. Sie dürfen nicht, selbst wenn Ihr Geheimniß bewahrt bliebe, den Vorwurf gesellschaftlicher Unbildung und Taktlosigkeit auf sich laden, mit dem diese Herrschaften gegen unseres Gleichen stets bei der Hand sind.“
„Gegen ,Ihres Gleichen‘ wollen Sie sagen,“ murmelte ich.
„Dann hätte ich freilich vergeblich gesprochen,“ sagte sie.
„Nein,“ rief ich, ihre Hand festhaltend; „ich weiß es ja, daß Sie nicht mehr sein wollen, als meines Gleichen, trotzdem Sie so viel tausendmal besser sind, als ich. Ich verspreche es Ihnen: ich gehe nicht, bis ich anständiger Weise kann; ich hätte es ja auch sonst schon längst gethan. Aber das kann ich nicht versprechen, daß nicht doch ein Augenblick kommt, wo ich diese ewige Lüge des Schweigens – für mich ist es ja eine – nicht länger ertrage, es mag danach kommen, was will.“
Maria wollte etwas erwidern, aber plötzlich ließ sich, bereits aus großer Nähe, die Stimme des Fräulein Drechsler vernehmen, die laut nach ihr rief.
„Es ist besser, wenn sie uns nicht hier zusammen sieht,“ sagte Maria hastig. „Adieu! Ueber den letzten Punkt sprechen wir noch.“
Sie hatte mir noch einmal die Hand gedrückt und sich schnell von mir in der Richtung gewandt, aus der die schrille Stimme kam. Ich warf mich in einen Seitenweg, dessen dichtes Buschwerk auch für die Luchsaugen der Gouvernante undurchdringlich war.
Gab es etwas, das den Grimm, der in mir kochte, noch höher sieden machen konnte, so war es das leidvolle Geständniß, dessen mich eben die Freundin gewürdigt hatte. Ich war stolz auf ihr Vertrauen und wußte nun wieder, wie theuer sie mir war. Ihre Sache war auch die meinige, und unsere Sache war die gute. Und die einst triumphiren würde über die jener, die anders und besser zu sein glaubten, als wir, während doch ihr Anders- und ihr Bessersein nur in den Vortheilen bestand, die sie vor uns voraus hatten, und in den Vorurtheilen, mit denen sie sich gegenseitig fütterten, und die ihnen von der sklavischen Menge sanktioniert wurden. Maria hatte Recht, von diesem Standeshochmuth und dieser Standesbornirtheit würde sich auch Ulrich niemals frei machen können, so brav er sonst war und wie sehr er sie lieben mochte und auch darin, daß mein Unglück sich mit dem ihrigen nicht messen ließ. Was war denn schließlich an mir gelegen? Und hatte ich nicht von vorn herein meinen Fall für hoffnungslos gehalten? Ja, in meiner Verzweiflung geschwelgt? Aber sie war ein Mädchen, die der Zukunft ganz anders gegenüber stand als ich und an Möglichkeiten denken durfte, welche für mich freilich noch in Siriusferne lagen: während wiederum Ulrich, als der Aeltere von uns beiden und als der Sohn reicher und vornehmer Eltern, viel eher die kecke Hand danach ausstrecken mochte. Aber er war ja ein Vogtriz! Das heißt: ein Gefolgsmann, das heißt: ein Mensch, der sich des höchsten Gutes des Menschen, der Freiheit seines Denkens und Handelns begeben hat, um der Vasall seines Lehnsherrn zu sein, das heißt: der Schatten eines Schattens!
in mein zorniges Grübeln verloren, hatte ich des Weges nicht geachtet und befand mich, während ich noch in der Tiefe des Parkes zu sein glaubte, plötzlich vor der kleinen Kapelle, die, unter mächtigen Platanen und von Buschwerk dicht umringt, bereits in der Nähe des Schlosses lag. Ich hatte den versteckten Ort kaum je betreten und nie die Kapelle selbst. Seit meiner Sache mit Pastor Renner betrachtete ich mich als ausgeschlossen von der kirchlichen Gemeinschaft und sprach mir die Berechtigung ab, meinen Fuß in eines ihrer Gotteshäuser zu setzen. So blieb ich denn auch jetzt, trotzdem mich, den Erhitzten und Ermüdeten, die Aussicht auf Ruhe und Kühle in dem Innerern des Gebäudes lockte, draußen stehen und starrte düsteren Blickes durch die weit offene Thür in den schattigen Raum. Es dauerte einige Zeit, bis ich, der ich aus dem blendenden Sonnenschein kam, die Einzelheiten in dem Halbdunkel unterscheiden konnte: den Altar mit dem Krucifix und einem großen Gemälde, wie es schien, im Hintergrunde, die kleine, reich geschnitzte Kanzel, eine mit Glasfenstern versehene Empore – natürlich für die Herrschaften – und die schmalen hölzernen Bänke für das Dienstvolk.
Auf einer der letzteren saß, wie ich jetzt erst bemerkte, eine männliche Gestalt, vornüber gebeugt, das Gesicht in den Händen, [220] schlafend oder im Gebet. Wohl im Gebet, denn die Gestalt hob den Kopf, um nach oben zu blicken, und ließ ihn dann wieder auf die Hände sinken. Es war der Major. Ich wollte mich ungestört entfernen; aber knirschte ein Sandkorn unter meinem Fuß? hatte er sein Gebet beendet? – er richtete sich empor und kam, sich wendend, langsamen Schrittes auf mich zu, der ich nun gezwungen war zu bleiben.
Ich hatte den Major während dieser Wochen nicht so gefunden, wie ich es nach den wenigen Begegnungen mit ihm und Schlagododro’s enthusiastischen Schilderungen erwarten mußte. Er war immer freundlich und gütig gewesen, aber wenig mittheilsam bis zur völligen Schweigsamkeit, und selbst wenn er lächelte, war der Ernst nicht aus seinen schönen Augen gewichen. Daß sein Blick manchmal länger auf mir ruhte, befremdete mich jetzt nicht mehr, seitdem ich die Ursache kannte; fühlte mich aber durch diese Bevorzugung auch nicht gerade geschmeichelt, da er sich sehr selten und dann immer nur über ganz gleichgültige Dinge mit mir unterhalten hatte, und ich also annehmen konnte, daß sein Interesse an mir nur eben ein rein äußerliches sei. So war ich denn erstaunt, als er jetzt vor mir, der ich grüßend auf die Seite getreten war, stehen blieb und, mir die Hand reichend, sagte:
„Ich habe mich eben auch mit Ihnen beschäftigt. Es ist mir lieb, daß ich Sie noch einmal vor meiner Abreise ungestört sprechen kann.“
„Sie wollen abreisen, Herr Major?“ fragte ich, vergessend, daß Schlagododro es mir eben mitgetheilt hatte.
„Der Wagen wird, glaube ich, schon angespannt sein.“
„Und Sie werden nicht wiederkommen?“
„Eure Vorstellung zu sehen? Ich fürchte, ich werde darauf verzichten müssen. Vielleicht, daß ich noch einmal auf eine Stunde herüber kommen kann, aber ich glaube es kaum.“
Ich war, seiner Aufforderung folgend, ihm zur Seite geblieben. Er ging langsam, und ich bemerkte, daß er nicht den nächsten Weg zu dem Schlosse einschlug.
„Sie wissen nicht, warum ich abreise?“ hob er wieder an.
„Nein, Herr Major.“
„Ihr jungen Leute habt auch mehr in den Kopf zu nehmen, als die hohe Politik. Kümmern sich doch auch die, die es näher angeht, nur um ihre Kirchthurminteressen! Und wer weiß, ob ich die Angelegenheiten mit solcher Aufmerksamkeit verfolgt hätte, wenn mir nicht – Sie erinnern sich des Abends im Werin’schen Hause, als ich die Damen hierher einzuladen kam? – Nun, an jenem Abend wurde mir vorausgesagt, was kommen würde, bereits schon zum Theil gekommen ist und, wie ich jetzt überzeugt bin, ganz kommen wird. Wir werden in Kurzem, vielleicht schon in wenigen Tagen im Kriege mit Frankreich sein.“
Im Kriege mit Frankreich! Ich schreibe es schamerröthend: das furchtbare Wort ließ mich ganz kalt. Ich hatte wohl die Herren von einer Kriegsmöglichkeit reden hören, von Kriegsbereitschaft hüben wie drüben, von Oberst Stoffel, Benedetti, französischen Kammersitzungen, spanischer Thronfolge, Kandidatur des Prinzen Hohenzollern – alles mit halbem Ohr und kaum das. Was ging es mich an?
„Es scheint, sie wollen einander mal wieder die Hälse abschneiden; nun, Glück auf!“ hatte der Kammerherr gelegentlich in seiner cynischen Weise gesagt. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen und für mich auch. Und damals hätte ich noch verhältnißmäßig die Ruhe zum Nachdenken gehabt, während jetzt meine Seele voll von ihren eigenen Angelegenheiten war und mein Herz in egoistischen Schmerzen zuckte.
Der Major erklärte sich sicher mein Schweigen aus dem Staunen und Schrecken, die mich ergrifsen hatten, denn er sagte nach einer kleinen Pause:
„Wir werden siegen – in hartem Kampf, aber wir werden siegen. Daran hätte ich freilich nun nicht gezweifelt, auch wenn die Prophetin es nicht ebenfalls verkündigt hätte.“
Ich sah den Major fragend an, indem ich den Namen der Frau von Werin murmelte.
„Ich muß sie wohl so nennen,“ sagte der Major, „unendlich viel lieber, als wie sie Andere nennen möchten, und auch ich in jenem Augenblick geneigt war. Unsere Altvordern freilich wußten das Ahnungsvermögen und die Prophetengabe ihrer weisen Frauen besser zu schätzen.“
Er lächelte ein melancholisches Lächeln:
„Ja ja,“ fuhr er fort, „die wunderbare Frau hat Alles voraus gesagt, was damals für den Verstand der Verständigsten in undurchdringliches Dunkel gehüllt war: daß sich aus der kleinen Wolke, welche bereits wieder zu zerflattern schien, der Sturm entwickeln und unserer Idylle hier ein jähes Ende bereiten würde. Die neuesten Nachrichten machen es mir unzweifelhaft. Ich gehe, mein Haus zu bestellen, noch bevor ich die Ordre habe, sicher, daß sie kommen muß, vielleicht mir schon unterwegs begegnet.“
Er schwieg, ich ging schweigend an seiner Seite, während meine Phantasie den Stoff, der ihr geboten war, zu bearbeiten anfing in ihrer schmachvoll egoistischen Weise: der Major war gefallen; Ellinor in der weiten Welt nun völlig verwaist, allein, hilflos, verzweifelt nach dem Retter ausschauend – eine Andromeda, als deren Perseus ich herbeieilte. Ein Perseus, ich, der ich mich in diesem Augenblick viel eher mit dem giftgeschwollenen Drachen hätte vergleichen sollen – dem Drachen schnöder, nachtgeborener Selbstsucht, die im Kampfe liegt mit dem Kosmos, der Welt der Ordnung und des Lichts!
Wohl mir, daß der Herrliche nichts ahnte von dem, was da Abscheuliches in meiner Seele vorging, und so in dem herzlichen Tone seiner sanften Summe weiter sprechen konnte:
„Es ist leider bald bestellt, mein Haus; ja es gäbe nichts zu bestellen, wäre es nicht um meine Tochter. Und einer Tochter Zukunft ist ja etwas, das sich jeglicher Berechnung entzieht. So berechne und rechne ich denn auch nicht, was auch sonst nicht meine Sache ist, sondern stelle es Gott anheim, der besser weiß als ich, was ihrem beweglichen Herzen frommen wird. Vielleicht, daß er sie zum Heil auf einem rauheren Pfade leiten will, als ihr beschieden schien, so lange ich lebte; vielleicht – nun, des Herrn Wille geschehe! Er weiß ja auch, weßhalb er uns Deutsche auf diesen blutigen Kriegspfad führen muß, damit wir ein einiges Volk werden, das der Welt fortan den Frieden diktiren kann, nach dem sich das Herz unseres königlichen Herrn sehnt. Großer Gott, was er leiden muß in diesen Stunden, wo er über Tod und Leben von Tausenden und aber Tausenden zu entscheiden hat und doch nichts Anderes entscheiden kann, als was ihm seine Königspflicht befiehlt, und ob sein warmes Menschenherz schier darüber breche! Brich nicht, Du armes reiches Herz! Deine Sache ist unsere! Wir stehen alle zu ihr, alle! Und wenn ich zehn Söhne hätte, Du solltest sie haben mit Gott für Dich und Vaterland!"
Glaubte er noch in der Kapelle zu sein, während er mit einem schwärmerischen Blick aufschaute zu dem hohen Dache der Rieseneichen, das sich über den langsam Dahinschreitenden wölbte? Für ihn war Gott gegenwärtig, wo er ging und stand, und sein Herz zu voll, als daß es nicht zu dem Allgegenwärtigen hätte schreien sollen in dieser schweren Stunde, in welcher er sich im Geiste vom Leben loslöste zum Siege durch den Tod. Und mich durchschauerte die Ahnung der Heiligkeit in dem Geiste und Herzen dieses Mannes; aber die Zeiten waren längst dahin, wo der Knabe gläubig zu ihm aufgeschaut hatte als zu seinem hochherrlichen Ideal. Zu tief schon hatte der Zweifel an meinem Herzen genagt und gefressen und fraß und nagte weiter und flüsterte mir höhnend zu: Jawohl, für das Vaterland, weil es einen König hat! Wär’ es Dir noch eines, Gefolgsmann Du, wenn es eine Republik wäre mit einem Plebejer an der Spitze, dem Du dann zu folgen hättest, Herr Egbert von Vogtriz?
Wieder schritten wir schweigend neben einander hin, und abermals begann er:
„Ich habe keinen Sohn mehr, und doch ist mir manchmal, wenn ich Sie ansehe, als lebte er noch, oder wäre wieder auf die Welt gekommen in Ihrer Gestalt. Ich kann mir meinen Ernst nicht anders vorstellen, stünde er, wie es ja nun der Fall wäre, in Ihrem Alter. Und so müßte er aus den Augen schauen, und so müßte der Ton seiner Stimme sein, und so könnte es ja auch in seinem Kopf und Herzen aussehen.“
Ich fühlte, wie mir die Flammen aus den Wangen schlugen. Nein, dies durfte nicht sein. War er auch mein Widersacher, er war ein edler Mann, und auch vor einem unedleren hätte ich mich der Lüge geschämt.
„Herr Major,“ rief ich, „Sie wissen nicht –“
[221]
In wolkenverdunkelten Dämmertagen
Durch feuchte Luft ein Hasten, ein Jagen:
Durch kahles Gezweig, über thauenden Schnee
Mit Flügelschlagen ringt sich die Bö.
Das flimmernde Wasser
Die Wimpern zuckt,
Ruhlos der Vogel
Wandert und duckt.
In öder Runde geisterhaft Leben –
Was wird’s geben?
Wer weiß Kunde?
Frage den Keim im Wurzelgrunde!
Morgen verrieselt ist all’ der Schnee,
Maigrün steht um den blauen See,
Und die Sonne lacht,
Und die springenden Knospen blinzeln sacht;
Und der Heerzug des Sturms ist reizend zergangen;
Spielende Geistchen mit Kinderwangen
Tupfen an Blüthen, haschen Libellen –
Kaum zittert der Zweig und keimen Wellen – –
Mein Herz – und mein Herz –
Was verdrießt dich’s heut im Sturm zu gehn?
’S ist Frühlingswehn!
Victor Blüthgen.
[222] „Mehr als Sie glauben,“ unterbrach er mich lächelnd. „Ich habe Sie viel beobachtet und denke, ich weiß so ziemlich, wie es um Sie bestellt ist. Und gerade das ist es, weßhalb ich mit Ihnen zu sprechen wünschte, da wir uns in diesem Leben vielleicht zum letzten Male sehen. Ich wollte, ich hätte Ihnen mehr zu hinterlassen, als ein paar Lehren, die, hoffe ich, gut und ganz gewiß gut gemeint sind. Sie haben ein weiches, liebevolles und liebebedürftiges Herz, Sie haben eine bewegliche Phantasie, einen raschen, schnellfassenden Verstand, einen Geist, der sich nicht mit der Oberfläche der Dinge begnügt, sondern in die Tiefe zu dringen sucht: herrliche Gaben, wie sie in dieser Vereinigimg nicht Vielen zu theil werden, welche aber auch eben darum die Wenigen, die sie besitzen, mit einer ungeheuren Verantwortung belasten. Denn der Hochbegabte geht nie allein seinen Zielen entgegen; immer und überall hat er eine große Gefolgschaft hinter sich, für die er einstehen muß. Schweift er in die Irre, irren Alle; strauchelt er, kommen jene ins Taumeln; geht er unter, verderben auch die Anderen. Und nun lassen Sie sich das Wort eines Mannes gefallen, der, da er nun einmal nicht Ihr Vater ist, gern Ihr väterlicher Freund sein möchte. Sie sind, trotz Ihres guten Willens und edlen Strebens, auf einem falschen Wege. Da, wo Sie Ihr höchstes Ideal, die Freiheit, suchen, liegt es nicht, weder für Sie persönlich, noch für die Nation. Wir Deutsche verstehen Alles; uns selbst zu discipliniren, verstehen wir nicht. Wir können Alles, wenn wir die rechten Führer haben, denen wir folgen dürfen; wir sind die Beute von Nationen, die nicht so viel werth und nicht so stark sind wie wir, sobald uns diese Führer fehlen. Unsere Geschichte beweist es von Anbeginn bis auf den heutigen Tag. Unser Fehler war von jeher und ist es noch, daß wir die Tugenden in der Abstraktion eines Menschheitsideals wollen, ohne zu bedenken, daß jede, sobald sie geübt wird, eine nationale Färbung annehmen muß. Darum war das Weltbürgerthum des vorigen Jahrhunderts freilich nothwendig, weil wir eben Deutsche sind, aber eine – so wunderlich das klingt – ungeheure Einseitigkeit, die zu korrigiren die mühselige Arbeit unseres Jahrhanderts ist. Man muß ein Volk nehmen, wie es eben ist; Dinge von ihm verlangen, die es nicht leisten kann, ihm Institutionen zumuthen, die nun und nimmer aus seinem Wesen hervorgehen, heißt, einen Birnbaum haben, von dem man Aepfel pflücken will. Die Republik ist eine schöne Sache für Andere, nur nicht für uns Deutsche. Darum, wer an unser Königthum rührt, das Gottes Gnade uns gewährt hat, versündigt sich an dem Geist und Leib der deutschen Nation. Das hätte ich meinem Sohn gesagt, bevor ich in den Krieg ging, wo ich vielleicht den Tod finde, als ein Mahnwort für sein Leben. Nun sage ich es Ihnen, seinem Ebenbilde. Und daß ich es gesagt habe aus herzlicher Theilnahme, werden Sie mir glauben; sonst hätte ich es nicht gesagt.“
Er reichte mir die Hand, die ich heftig ergriff.
„Ja,“ rief ich, „und ich glaube es; und kein Mensch sollte mich an Königstreue übertreffen, wenn Sie mein König wären!“
Er mußte, wie ernst ihm zu Sinnen war, über meine Leidenschaft lächeln:
„Professor Willy hat Recht: Sie sind ein Poet. Als Sie ein Kind waren, sagten Sie mir: ich will Soldat werden. Nun, das liegt nicht so weit auseinander. Einem Strategen, der keine Phantasie hätte, würden die großen Erfolge ausbleiben, und ich meine, in jedem großen Dichtwerk steckt ein gutes Stück Strategie. und nun, mein junger Poet, leben Sie wohl, und, wenn Gott will, auf Wiedersehn!“
Er reichte mir noch einmal die Hand, die ich an meine Lippen preßte, während mir die Thränen aus den Augen stürzten.
„Nicht doch! nicht doch!“ sagte er abwehrend; „leben Sie wohl!“
Er schritt aus dem epheuumrankten Parkgartenthor, in welchem wir zuletzt gestanden hatten, dem nahen Portale des Schlosses zu. Ein offener angespannter Wagen hielt davor. Man schien bereits auf die Rückkehr des Majors gewartet zu haben. Sämmtliche Damen standen in dem Portale; Ellinor, als sie den Vater erblickte, lief ihm entgegen und schien, sich an ihn schmiegend, während er seinen linken Arm um ihre Schulter legte, ihm etwas von Wichtigkeit mitzutheilen. Er beschleunigte, sie loslassend, seinen Schritt. Sie folgte ihm langsamer, während ihr Blick, wie ich deutlich bemerken konnte, auf das Portal geheftet war, aus dem jetzt rasch eine jugendliche männliche Gestalt hervor und, sich bückend, hinter die Damen trat, wie Jemand, der nicht gleich erkannt sein will. Nun, als der Fuß des Majors die erste Stufe betrat, richtete er sich auf und sprang die Stufen hinab, dem Nahenden entgegen Es war Astolf. Der Major schüttelte ihm, wie es schien, freudig überrascht, die Hand, während die Damen ihn selbst umringten und, lebhaft auf ihn einsprechend – die einzelnen Worte konnte ich nicht verstehen, nur die schrille Stimme der Gouvernante von den anderen unterscheiden – ihn um längeres Bleiben anzugehen schienen. Ellinor besonders eifrig. Sie gestikulirte dabei lebhaft mit der Hand, die jetzt ihr Vetter erhaschte und wiederholt stürmisch küßte.
Die Morgensonne schien hell genug, aber mir war, als hätte eine blutrothe Abendwolke mir plötzlich die ganze Sonne überdeckt.
Als sie verzogen war, fand ich mich wieder allein in der Einsamkeit des Parkes.
Ich hatte die Nacht fast schlaflos verbracht, die Begebnisse des vergangenen Tages in verzweifelnder Seele wälzend.
Der Major war wirklich, nachdem er noch eine Stunde zugegeben, abgereist, ohne sich, wie es schien, über das eigentliche Motiv seines Entschlusses gegen irgend wen sonst ausgesprochen zu haben. Es würde sonst nicht über diesen Entschluß, den man für eine wunderliche Laune nahm, soviel hin und her geredet worden sein; vor Allem wäre Ellinor’s Betragen unbegreiflich gewesen. Man sieht doch nicht, auch wenn man noch so leichtlebig und leichtfertig ist, einen theuren Vater mit trockenen Augen in den Krieg ziehen, um sofort eben diese Augen strahlenden Blickes auf den Geliebten zu heften! Ja, ich hatte ihn beobachtet, diesen strahlenden Blick, mehr als einmal, mitten in dem koketten Spiel mit Herrn von Blewitz, das Schlagododro prophezeit hatte, und das sofort begann, als dieser junge Herr am Nachmittage herbei geeilt war, seinen lieben Freund Astolf zu begrüßen. Doch war Ulrich’s Voraussage insofern nicht eingetroffen, als Astolf durch diese Nebenbuhlerschaft keineswegs gereizt oder beleidigt, im Gegentheil nur amüsirt schien. Er mußte also seiner Sache ganz sicher sein; und es war empörend, daß Ellinor sein Amüsement noch zu steigern suchte, indem sie plötzlich mich mit Aufmerksamkeiten überschüttete und genau so that, als hätten wir bis dahin in treulichster Harmonie und Freundschaft gelebt. Ich bekam zu hören, daß ich der liebenswürdigste Gesellschafter, der galanteste Kavalier sei, den sich Jeder, und Astolf im Besonderen, zum Muster nehmen könne, wenn er auch nicht hoffen dürfe, es ihm gleich zu thun. Am wenigsten im Komödienspiel! das sei meine große Force! Astolf würde sein Wunder haben!
Ich hatte es meinem empörten Herzen abgerungen, auf diese häßlichen Scherze einzugehen. Ich wollte Astolf nicht den Triumph gönnen, in seiner Gegenwart zu zeigen, wie grausam die Ironie, und wie tief ich gekränkt war. Mochten sie dann hinter meinem Rücken lachen, soviel sie wollten. vor meinen Augen sollten sie es nicht. Und sicher durfte ich gegen Astolf nicht zurückstehen, der zu mir von ausgesuchter, nicht mißzuverstehender Höflichkeit war: ich hasse, und verachte dich nach wie vor, nur bin ich ein zu wohlerzogener Herr, darüber zu vergessen, daß du der Gast meiner Eltern bist. Nun, ich vergaß es ebensowenig und hörte mit unerschütterlicher Geduld dem endlosen Loblied zu, das die entzückte Mutter über ihren Liebling sang, dem sie als ein Heldenstück ersten Ranges anrechnete, daß er sein Fähnrichsexamen acht Tage früher, als die Familie erwartet, bestanden und binnen einem halben Jahre spätestens Officier sein werde, falls es wirklich zum Kriege komme, wie man ja hier und da meine. Aber das werde der gütige Gott nicht zulassen. Er werde einem armen Mutterherzen, das sich ihres Erstgeborenen nach so langer Trennung endlich wieder zu ersättigen sehne, nicht eine so grausame Prüfung auferlegen!
„Amen! gnädige Frau, Amen! Amen!“ rief Fräulein Hersilie Drechsler.
Es war ein fürchterlicher Tag, der nicht besser wurde, als gegen Abend Herr von Vogtriz zurückkam in tiefer Verstimmung – [223] wie er zu verstehen gab, weil der Bruder nun doch gegangen sei, ohne seine Rückkehr abzuwarten.
„Es ist nicht das," raunte mir Schlagododro zu. „Papa hat eine schlechte Partie mit Deinem verdammten J. J. gemacht, der alle Trümpfe in der Hand hatte. Daß ihm dafür die Höllenpein in sein klappriges Gebein fahre! Und denke Dir, der Kerl hatte die Frechheit, auf die alte Geschichte in der Klasse zurückzukommen! Warum er gegen Papa größere Rücksicht üben solle, als Astolf gegen seinen Emil zu üben für gut befunden? Kannst Du Dir eine solche Niedertracht vorstellen? Nun, Papa hat ihm schön darauf gedient; das kannst Du glauben; aber wüthend ist er darum doch auf Astolf, der übrigens auch auf der „Presse“ ein schauderhaftes Geld verbummelt hat, das der Alte in diesem Augenblicke sehr nöthig brauchte. Ich fürchte, die Beiden gerathen noch heute Abend an einander.“
Das sollte sich denn auch bewahrheiten beim Souper, dem heute zum ersten Male der Major, und wieder, wie schon seit mehreren Tagen, der kranke Kammerherr fehlte, welcher sonst das Wort führte und etwa auftauchenden heftigeren Differenzen durch seine geistreichen Scherze die Spitze abzubrechen wußte. Es war dafür freilich eine größere Anzahl anderer Gäste zugegen, meistens jüngere Herren, Freunde von Astolf, welche dieser von seinem Kommen benachrichtigt haben mochte, sämmtlich Reserve-Officiere, wie ich zu verstehen glaubte, Gutsbesitzer und Gutsbesitzersöhne, die dem Champagner reichlich zusprachen und auf gute Kameradschaft mit ihm anstießen. Der Krieg sei ja leider noch nicht gewiß; Majestät scheine noch zu schwanken; aber Bismarck werde jetzt, wie 66, die Sache schon durchdrücken. Herr von Vogtriz hatte schweigsam und nur manchmal ungeduldig an den breiten Bart greifend zugehört. Nun brach es los: Jawohl Bismarck! er habe die Suppe eingebrockt, möchte er sie doch allein auszuessen haben! Jawohl Krieg! Das sage sich so leicht und möge ja auch ein prächtiges Ding sein, für junge Herren besonders – er meine natürlich keinen Anwesenden! – mit einem tüchtigen Pack Schulden auf dem Rücken, die dann hübsch zu Hause bei dem Herrn Papa blieben, der sie bezahlen möge, wenn er könne! Jawohl bezahlen! Bezahlen, wenn so schon an Grund- und Gebäudesteuern ein unerschwingliches zu leisten sei. Erst solle einmal der Herr Kanzler der schreienden Noth der Landwirthe steuern durch vernünftige Kornzölle und dadurch, daß er den Staatssäckel für die Kommunen öffne, die, ebenso wie die Privaten, sich nicht mehr zu rathen und zu helfen wüßten, außer durch Schuldenmachen bei den Juden, was denn freilich eine famose Sorte von Hilfe sei! Jawohl Schlachten schlagen, Festungen erobern, wenn kein Geld im Lande, außer in den jüdischen Geldschränken! Das seien die wahren feindlichen Festungen, die erst gebrochen werden müßten, bevor man an Krieg denken dürfe mit den Franzosen, die hundertmal reicher seien, als wir, und reich bleiben würden nach hundert verlorenen Schlachten, aus denen wir als Sieger hervorgingen genau so arm, vielmehr ärmer als vorher!
So donnerte Herr von Vogtriz in der verstummten Gesellschaft, von der Einer den Andern verwundert ansah, während Astolf abwechselnd bleich und roth wurde; Schlagododro, anstatt aufzufahren und für seinen Helden ins Feld zu rücken, sich begnügte, an den Lippen zu nagen, wozu er fürchterlich mit den Augen rollte, und ich, als ich all die bleichen Gespenster um die Tafelrunde musterte, an das Mahl auf Belsazar’s Königsburg denken mußte und an die Geisterhand auf der Wand mit ihrem Mene Tekel Upharsin.
Ja, es war ein schlimmer Tag gewesen, dem ein schlimmerer folgen würde. Für mich. Ich war entschlossen, daß mich der Abend nicht mehr auf Schloß Nonnendorf finden sollte. Aber wie den triftigen Grund finden, ohne den nicht fortzugehen ich Maria versprochen hatte? Hätte ich’s doch nicht versprochen! War es denn nicht Grund genug, daß ich es nicht mehr ertragen konnte? Verbringt man, wenn man siebzehn Jahre alt ist, ohne Grund schlaflos die Nacht und starrt mit brennenden Augen nach dem Mondenstreifen, der langsam, langsam weiter rückt an der Wand, als schriebe er auch mir ein Mene Tekel! Nur daß ich es entziffern kann und es einfach lautet: Trolle Dich von hinnen! Du hast mit diesen Menschen nichts zu schaffen!
Ach, wohin war die Rührung, wohin die Beschämung, mit der ich den Worten des Majors gelauscht? Ich schämte mich, daß ich gerührt gewesen war! schämte mich des Kusses, den ich auf seine Hand gedrückt! Wenn er die Astolf Vogtriz und die Axel Blewitz und alle die andern Itz und Witz von gestern Abend hinter sich hatte mit ihren verrotteten Ideen und ihren frechen adligen Hochmuthsgesichtern – dann Kampf mit ihm und ihnen auf Leben und Tod!
Schuljahr und Ostern.
Von Dr. Georg Winter.
Schon seit langer Zeit ist in Deutschland namentlich von
pädagogischer Seite auf die großen Mißstände hingewiesen
worden, welche unserem Unterrichte daraus erwachsen, daß das
Schuljahr mit einem zeitlich so sehr schwankenden Termine, wie
es das Osterfest ist, beginne. Bei dem großen Interesse, welches
in unserem Vaterlande in den weitesten Kreisen für alle das
Schulwesen angehenden Dinge herrscht, hätte man annehmen
sollen, daß diese wiederholt aufgeworfene Frage alsbald auch einer
befriedigenden Lösung entgegen geführt werden würde. Aber trotz
aller berechtigten Klagen ist noch immer Alles beim Alten
geblieben. Vielleicht aber ist das gegenwärtige Jahr der geeignete
Zeitpunkt, den Stein von Neuem ins Rollen zu bringen und die
leitenden Kreise unserer Schulverwaltung nochmals zur Abhilfe
anzuregen.
Das Osterfest fällt in diesem Jahre auf den denkbar spätesten Termin, den 25. April, und dadurch erscheint die Ungleichheit der beiden Abschnitte, in welche unser Schuljahr nach diesem Feste getheilt wird, in besonders scharfem Lichte. Das Sommerhalbjahr wird diesmal in einer Weise verkürzt, die es in höchstem Maße fraglich erscheinen läßt, ob es möglich ist, in diesem kurzen Zeitraume den Lehrkursus, der im Sommer im Wesentlichen derselbe ist wie im Winter, überhaupt zu bewältigen. Der Unterricht wird diesmal erst Anfang Mai beginnen können, umfaßt also im Ganzen nur fünf Monate, von denen anderthalb durch Ferien in Anspruch genommen werden, so daß als Lehr- und Lernzeit selbst nur dreieinhalb Monate übrig bleiben, während das Winterhalbjahr volle sechs Monate umfaßt hat. Dazu kommt noch, daß in den heißeren Monaten von vorn herein die Lernlust und Lernfähigkeit erheblich geringer ist, als im Winter. Noch schlimmer ist die Sache an unseren Hochschulen, deren Sommersemester schon in den ersten Tagen des August schließt, so daß für die Vorlesungen kaum drei Monate verfügbar bleiben. Mit einem Worte, wir stehen hier vor einem Uebelstande, der dringend Abhilfe erheischt.
Für diese Abhilfe sind nun die verschiedensten Wege in Vorschlag gebracht worden, allgemein aber wird an der Unterscheidung eines Sommer- und Winterhalbjahrs festgehalten. Die Einen – und deren sind gar nicht so wenige, als man glaubt – schlagen geradezu vor, das Osterfest selbst aus einem so sehr beweglichen, wie es gegenwärtig ist, zu einem mehr fixirten zu gestalten, indem man dasselbe statt auf den ersten Sonntag nach Frühlingsvollmond etwa auf den ersten Sonntag im April ansetzen könne. Dadurch würde in der That die Grenzlinie bei Weitem enger gezogen werden; anstatt fünf Wochen würde sie nur eine umfassen; im Wesentlichen könnte dann der 1. April als Anfang des Schuljahrs festgesetzt werden. Daß vom religiös-kirchlichen Standpunkte aus hiergegen im Ganzen wenig einzuwenden wäre, haben einsichtige Theologen wiederholt offen zugestanden. Haben doch in früheren Jahrhunderten oft auf officiellen Kirchenversammlungen Debatten über diese Fixirung des Osterfestes stattgefunden, in denen viel [224] für und wider gestritten wurde. Die gegenwärtige, an alttestamentliche Ueberlieferungen anknüpfende Einrichtung ist im Grunde nur auf einen solchen Koncilbeschluß zurückzuführen, der ebenso gut auch anders hätte ausfallen können. Gleichwohl ist es zweifellos, daß von mancher Seite aus gegen diese Lösung der Frage energischer Widerspruch erhoben werden würde. Es empfiehlt sich daher von demselben von vornherein abzusehen, da eine Aenderung nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn die Mittel zu derselben möglichst allgemein anerkannt werden. Auch hat ja an sich der Beginn unseres Schuljahres mit dem Osterfeste als solchem gar nichts zu schaffen.
Bei Weitem mehr schon würde sich der andere, namentlich neuerdings warm befürwortete Vorschlag empfehlen, grundsätzlich den 1. April als Termin für das Schuljahr festzustellen auf das Osterfest aber dabei ebenso wenig Rücksicht zu nehmen, als etwa auf das Pfingstfest. Das Schuljahr würde einfach um die Mitte des März schließen, dann würden bis zum 1. April Ferien einzulegen sein, die wiedernm ohne Rucksicht darauf, ob das Osterfest in dieselben fällt, festzusetzen wären. Fallt das Osterfest, wie meist, nach dem 1. April, so würde im Sommersemester, ebenso wie am Pfingstfeste, nur an den Feiertagen selbst und etwa einen Tag vorher und nachher der Unterricht ausfallen.
In ganz derselben Weise wäre dann die Sache auch an den Universitäten zu reguliren. Das Wintersemester würde an denselben am 1. März zu schließen, das Sommersemester am 1. April zu eröffnen sein. Durch diese zeitliche Fixirung würde auch dem großen Mißstande abgeholfen sein, daß die Osterferien sich, wie in diesem Jahre, bis auf sechs oder gar sieben Wochen ausdehnen. Denn gegenwärtig herrscht der Brauch oder Mißbrauch, daß das Wintersemester in jedem Falle, gleichviel auf welchen Tag das Osterfest fällt, in den ersten Tagen des März schließt, während das Sommersemester bei der jetzigen Einrichtung immer erst nach Ostern, das heißt also in diesem Jahre erst Anfangs Mai beginnt. So sehr wir nun auch die Berechtigung größerer akademischer Ferien und ihre Nothwendigkeit gerade für Diejenigen, die schon selbständig wissenschaftlich arbeiten, anerkennen, so dürfte es doch alles Maß übersteigen, wenn außer den fast dreimonatlichen Sommerferien die Osterferien sich eventuell auch auf fast zwei Monate ausdehnen.
Mit dieser Reform würden also offenbar die schreiendsten Mißstände beseitigt und eine gesündere Eintheilung des Lehrplanes ermöglicht werden. Immerhin aber würde auch dann noch eine merkliche Ungleichheit zwischen den beiden Halbjahren bestehen bleiben„ vor Allem dadurch, daß nach wie vor sämmtliche heißen, das heißt zum Lehren und Lernen bei Weitem weniger geeigneten Monate in den einen, alle kalten Monate in den andern Abschnitt fallen würden. Aber auch der zeitlichen Ausdehnung nach würden beide noch immer keineswegs gleich sein.
Volle Abhilfe dieser und anderer gleich zu erwähnender Uebelstände würde nur erreicht werden können, wenn man sich zu einer viel weiter gehenden, radikaleren Reform entschließen wollte. An sich ist die Eintheilung des Unterrichtsjahres in ein Sommer- und Wintersemester doch offenbar durch nichts unbedingt geboten, im Gegentheil, wir sehen daß sie mit erheblichen Nachtheilen verknüpft ist. Es würde einen unermeßlichen Segen für unsern gesammten Unterricht in sich schließen, wenn die warmen und kalten Monate auf beide Jahreshälften gleich vertheilt würden. Und das würde der Fall sein, wenn man das Naturgemäßeste thäte, was man überhaupt thun kann, wenn man nämlich das Unterrichtsjahr mit dem bürgerlichen in Uebereinstimnmng brächte und am Januar beginnen ließe. Dann wären in der That alle Schwierigkeiten beseitigt; das erste Halbjahr würde bis zum 1. Juli reichen, das zweite vom 1. Juli bis 1. Januar. Beide Semester würden durch die großen Sommerferien von einander zu trennen sein, die, auf beide ungefähr gleich vertheilt, bei den Schulen etwa von Mitte Juni bis Ende Juli, bei den Universitäten von Mitte Juni bis Mitte August auszudehnen wären. Daraus würde sich namentlich für die Universitäten noch ein weiterer großer Vortheil ergeben. Gegenwärtig beginnen deren Ferien bekanntlich in den ersten Tagen des August, umfassen also im wesentlichen die kühleren Herbstmonate, während in den heißesten Sommermonaten Vorlesungen gehalten werden. Es liegt auf der Hand, daß diese Einrichtung eine grundverkehrte ist. Was hat es für einen Sinn, im September und größten Theil des Oktober die Vorlesungen auszusetzen und sie im Juli beizubehalten, in welchem zumeist die tropische Hitze den Lehr- und Lerneifer sehr wesentlich beeinträchtigt? Führt man dagegen die von uns vorgeschlagene Reform, die doch um nichts schwerer zu bewerkstelligen ist als die Verlegung des Unterrichtsanfangs auf den 1. April, durch, so fallen die eigentlich heißen Monate bei Schulen und Universitäten vollkommen weg, und die Wintermonate vertheilen sich auf beide Semester vollkommen gleich: November, December in dem einen, Januar, Februar in dem andern. Die Gleichheit der zeitlichen Ausdehnung aber würde dann eine nahezu absolute sein. Das erste Halbjahr (1. Januar bis 15. Juni) würde 51/2 Monate umfassen, die durch Ostern und Pfingstferien um etwas gekürzt und auf etwa 43/4 Monate reducirt werden würden, das zweite Semester (1. August bis 1. Januar oder bei den Universitäten 20. August bis 1. Januar) würde 5 (oder 41/2) völlig unverkürzte Monate umfassen.
Warum aber theilen wir alle unsere bürgerlichen Geschäfte nach dem bürgerlichen Jahre ein und machen allein mit dem Unterrichtswesen eine Ausnahme? Dies läßt sich leicht aus der Macht der Gewohnheit erklären, die hier zu unverkennbaren Nachtheilen führt. Die Einrichtung stammt aus der Zeit, da Kirche und Schule zwei nothwendig mit einander verbundene Institute des staatlichen Lebens waren: damals hatte es einen Sinn, ein kirchliches Fest zum Anfangs- und Endpunkt des Schuljahres zu machen. Jene absolute Zusammengehörigkeit besteht aber nicht mehr und wird in dem Umfange, wie sie früher bestand, auch von strengkirchlicher Seite nicht mehr angestrebt. Wozu soll man also die Wirkung beibehalten, nachdem die Ursache fortgefallen ist? Nachdem die Schule zu einer vorwiegend staatlich-bürgerlichen Einrichtung geworden ist, ist es doch zweifellos das Naturgemäßeste, sie mit dem bürgerlichen Jahre in Uebereinstimmung zu bringen.
Wir wollen die Erörterung über den wichtigen Gegenstand nicht schließen, ohne noch einen für viele Familien nicht unwesentlichen Vortheil der von uns angestrebten Reform zu erwähnen. Bei der gegenwärtigen Eintheilung fallen nämlich in dem größten Theile Deutschlands die Sommerferien der Schulen und Universitäten niemals zusammen: die letzteren beginnen, wenn die ersten schließen. Daraus erwächst aber für alle diejenigen Familien, welche zu gleicher Zeit einen Sohn die Universität, andere Söhne oder Töchter aber die Schule besuchen lassen müssen, der große Nachtheil, daß sie niemals alle ihre Kinder zugleich um sich versammeln, nie mit allen zugleich eine Sommer-Erholungsreise unternehmen können. Auch dieser Nachtheil würde durch die angestrebte neue Eintheilung beseitigt werden: die Schulferien fielen dann in ihrer ganzen Ausdehnung in die etwas längeren Universitätsferien.
Wir wollen nicht leugnen, daß eine solche, die ganze bisherige Eintheilung umwerfende Aenderung namentlich in der Uebergangszeit einige Schwierigkeiten bereiten würde, aber unübersteiglich wollen uns dieselben doch keineswegs erscheinen; ja sie stehen in gar keinem Verhältniß zu den großen Vortheilen, welche unserem ganzen Unterrichtswesen aus einer solchen durchgreifenden Reform erwachsen würden. Jedenfalls ist die Sache reiflicher Erwägung in hohem Maße werth. Sollte aber dieser weitergehende Vorschlag an maßgebender Stelle auf unüberwindlichen Widerstand stoßen, so müßten zum mindesten doch die betheiligten Kreise alle Hebel in Bewegung setzen, daß wenigstens die minder weitgehende Aenderung, die Verlegung des Anfangs des Schuljahres auf den festen Termin des 1. April endlich zur Durchführung käme. Gelingt es in diesem Jahre, in welchem die großen Uebelstände der bisherigen Einrichtung besonders schroff zu Tage treten, nicht, eine Aenderung herbeizuführen, so steht zu befürchten, daß dieselbe auf unabsehbare zeit verschoben werden dürfte. Und aufgeschoben wäre in diesem Falle fast so gut wie aufgehoben. Darum möge ein Jeder, dem die ideale Sache einer gedeihlichen Fortentwickelung unseres Schulwesens, auf das sonst stolz zu sein wir alle Ursache haben, am Herzen liegt, mit uns seine Stimme erheben, damit hier endlich Wandel geschaffen und einer weiteren Fortentwickelung Bahn gebrochen werde.
Die Andere.
(Fortsetzung.)
Kopfschüttelnd wandte sich Anita, suchte Geld und Schmuck zusammen und ging still hinaus. Und Lotte verbrannte die Briefe. Einmal war es, als ob ihr Blick hängen bliebe an einem der Bogen, als ob sie lese; einen Augenblick lehnte sie den Kopf gegen die Kacheln des Ofens, und die feine Hand schwebte wie unschlüssig über den Flammen, aber gleich darauf züngelten sie auch um diesen Brief, und hastig warf sie den Rest hinterdrein und sah zu, wie es aufloderte und zu Asche verbrannte, und wie in den schwarzen verkohlten Resten die glühenden Funken spielten.
Ich konnte den Anblick nicht ertragen; ich wandte mich und ging in die Schlafstube. Nach einem Weilchen hörte ich laut auflachen und als ich erschreckt zurückkam, hatte sie ein Karton geöffnet vor sich stehen, und in der Hand einen kaum verwelkten Myrtenkranz. Sie lachte noch immer; laut und schrecklich klang es, kalt und unheimlich, und dabei standen funkelnde Tropfen in den großen Augen. So lachte neulich Anita auch.
„Lotte, beste Lotte!“ rief ich angstvoll und nahm ihr den Kranz fort, während sie in den nächsten Stuhl sank und die Hände vor das Gesicht schlug und weiter lachte; dieses schreckliche verzweifelte Lachen!
Zitternd warf ich den Krauz in die Schachtel zu dem verdorrten Rosenstrauß, der noch darin lag; – Blumen, die nur einen Tag geblüht, nichts zurücklassend als wehe Dornen und ein todeskrankes Herz.
Ich kniete neben ihren Stuhl und umfaßte sie. Aber sie stieß mich zurück und schwer sanken ihre Arme herunter. „Laß mich!“ murmelte sie, „ich bin müde, todmüde und will schlafen!“
Sie stand auf und ging an mir vorüber, und im Nebenzimmer warf sie sich auf das Bette, das am Nachmittag für sie bereitet war, und dort lag sie unbeweglich. Als ich nach einiger Zeit bange lauschend ihr nachschlich, war es mir, als thue sie keinen Athemzug.
Dann ein leises Klopfen an der äußern Stubenthür, und als ich mich umwandte, schaute Frau Roden herein. „Kindchen,“ flüsterte sie, während ich, den Finger auf den Mund gelegt, leise zu ihr hinüber kam und sie auf den Flur hinaus drängte, „Kindchen, hat hier denn jemand gelacht? Fritz behauptet, er habe Lachen gehört.“
„Ja,“ sagte ich; „Lotte ist entsetzlich aufgeregt.“
„Wenn sie nur schlafen möchte oder weinen könnte!“
„Ich glaube, daß sie einschlafen wird,“ erwiderte ich, „sie ist ganz erschöpft.“
„Haben Sie denn einen Augenblick Zeit für uns? Ich versuchte vorhin den Arm zu verbinden, er stöhnt aber so sehr, ich bin so ungeschickt, Tonchen. Es ist zu schlimm, wenn man nicht mehr sieht.“
Ich lief eilig die Treppe hinunter und stand dann an seinem Lager. Sogleich machte ich mich daran, die ungeschickt angelegten Binden zu ordnen, aber er wendete den Kopf nicht herum von der Wand. Ob er wirklich um sie litt, die dort oben in Schmerz und Zorn lag?
„Fritz,“ begann ich, „darf ich Ihnen etwas vorlesen heute Abend?“
„O, bemühen Sie sich doch nicht –.“
„Aber ich thue es gern, damit Sie auf andere Gedanken –“
„Wissen Sie denn, ob mir meine Gedanken so unlieb sind?“ fragte er eigensinnig, wie nur ein Kranker es vermag.
Ich antwortete nicht; er that mir weh in diesem Augenblick. Und nun sah er mich an.
„Weinen Sie?“ sprach er gereizt. Und als ich stillschweigend das Buch nahm und mich an sein Lager setzte, fühlte ich, wie meine Stimme zitterte bei den ersten Worten, und wie sein Blick groß und voll auf mir ruhte. Im Sofa-Eckchen strickte Frau Roden, und dann verstummte das Klappern der Nadeln, nur meine Stimme klang noch, einförmig und farblos; ich las ohne Gedanken, rein mechanisch. Es war eins der letzten Kapitel aus dem „Ekkehard“.
Dann brach ich jäh ab, über uns begannen wieder die kleinen hastigen Schritte, hin und her, hin und her. Erschreckt sah ich zu ihm hinüber; er lag, den Kopf auf den gesunden Arm gestützt und die Augen auf mich gerichtet, völlig ruhig.
„Lesen Sie weiter,“ bat er.
In diesem Augenblick war es, als ob ein schwerer Gegenstand dort oben umfiel; es krachte förmlich. Ich warf das Buch auf den Tisch und wollte hinauf, da griff er nach meinem Kleide und hielt mich fest. „Ja, das ist recht, Mutter, sieh Du zu, was geschehen ist!“ rief er der hinauseilenden Frau nach. „Sie bleiben hier, Fräulein von Werthern, Sie zittern ja schon wieder; diesen Aufregungen scheinen Sie nicht gewachsen.“
In der That, ich war kaum fähig mich zu rühren.
„Armes Kind!“ sprach er weich und sah zur Decke empor. Meinte er Lotte?
„Sie ist sehr krank,“ erwiderte ich. Oben verstummten jetzt die Schritte, es ward still. Nach einer Weile kam Frau Roden zurück.
„Aengstigen Sie sich nicht, Tone,“ sagte sie mild; „der Schmerz will austoben bei solchen Naturen.“
„Fahren Sie fort,“ bat er mich, scheinbar ohne darauf zu hören, und wischte sich über die Stirn. Aber ich konnte nicht lesen, ich hatte keinen Willen in diesem Augenblick, und er nahm mir ungeduldig das Buch aus der Hand und las weiter, wo ich aufgehört: „‚Krank?‘ sprach Ekkehard. ‚Es ist nur eine Vergeltung‘ –.“ Dann stockte er, die Worte mochten ihm wunderlich passen; und er las für sich, so eifrig, daß ich meinte, er würde es nicht gewahr werden, wenn ich nun aufstände und hinaufginge zu Lotte. Aber bei der leisesten Bewegung senkte er das Buch und schaute mich an.
„Sie wollen schon fort?“
„Ich ängstige mich.“
Er antwortete nicht, aber er sah noch finsterer aus als vorhin.
Es kam eine schwere Zeit über mich. Lotte verfiel in eine Art Apathie; sie wollte sich nicht anziehen, sie wollte nicht sprechen und nicht essen; alle Mühe war vergebens, sie zu bewegen, sich ein wenig aufzuraffen. Scheu kauerte sie in dem Winkel des Sofa, nachlässig im Morgenkleide, das Haar in einen Knoten am Hinterkopf aufgesteckt, die Arme unter einander geschlagen, und starrte auf einen Fleck.
Ich hatte gebeten, ich war heftig geworden; sie bemerkte es kaum. Frau Roden drang ernstlich in sie, keine Miene zuckte in ihrem Gesicht. Sie war nur einmal aus diesem Zustande erwacht, als ein Brief vom Prinzen kam; sie hatte mit zitternder Hand darauf geschrieben, daß Adressatin durchaus keine Briefe annähme! Dieselben Worte hatte sie auf einem Schreiben des Kammerherrn vermerkt. Und nun waren schon neun Tage vorüber, und immer noch dasselbe.
Und alles Dies in dem Hause, in das sie Undank und Untreue gebracht! Aber daran dachte sie nicht; woran sie überhaupt dachte in dieser Zeit? Es war etwas Schreckliches – ich habe es erst später erfahren. –
Kein Wort gegen Lotte bekam ich unten zu hören; wenn jemals dem Bibelwort „Segnet, die Euch fluchen“ nachgeeifert ist, so war es unter dem alten Schieferdache des Domainenhauses. Der Arzt verordnete Wein – und das Beste aus dem Keller stand vor dem schweigenden jungen Weibe; Blumen und Früchte stellte die alte Frau still vor sie hin – kein Wort des Dankes lohnte ihr. Es war eine unheimliche Schwüle überall.
Und dazu schallte die Hausthür zur Besuchsstunde wieder fleißig, und Allewelt, die sonst in Wochen und Monaten nicht erschien, kam nun, nach dem Befinden des Patienten zu fragen mit einem Eifer, der mich dunkelroth machte und Frau Roden ein feines Lächeln abnöthigte. Ihrem Sohne ergehe es gut, erwiderte sie höflich kühl; von der, die sich unter ihr Dach geflüchtet, sprach sie keine Silbe, so deutlich auch die Anspielungen, die man wagte –. Aber wir erfuhren dennoch, in welch heller Aufregung die Stadt sich befand. Die unglaublichsten Gerüchte durchschwirrten die Luft, und daß Lotte in ihrer Noth dem [226] ehemaligen Bräutigam zu Füßen gefallen war, ihn um Verzeihung angefleht habe, ward in tausend Variationen verbreitet.
Ich ging umher, wie auf glühenden Kohlen; was sollte nun werden? Hier bleiben konnte Lotte nicht, allein ziehen lassen durfte ich sie ebenfalls nicht; in ihrem jetzigen Gemüthszustande war selbstverständlich keine Rede davon. ich hätte sie begleiten müssen, aber – wohin? Und wie leben? Und wenn ich auch arbeiten wollte von früh bis spät, es würde kaum für Lotte reichen, wir besaßen nichts, wirklich nichts!
Vom Hofe blieb jede fernere Nachricht aus. Ob die Scheidung bereits angebahnt war? Ob nicht? Wir erfuhren es nicht. Und immer tiefer drückte mich das Bewußtsein zu Boden: hier darf sie nicht bleiben; es hieße, Güte und Freundlichkeit allzusehr mißbrauchen.
„Charlotte,“ begann ich eines Nachmittags, als ich sie mit hundert guten Worten zwingen wollte, etwas Kaffee zu trinken, und sie widerwillig meine Hand zurückschob, welche die Tasse hielt, Charlotte, ich muß ernstlich mit Dir sprechen, so geht es nicht länger. Was hast Du beschlossen? Welche Nachrichten hast Du dem Kammerherrn gegeben? – Du wirst einsehen, daß wir in diesem Hause nicht länger bleiben können. Bitte, sag’s mir, was gedenkst Du zu thun?“
Sie sah mich an und zuckte die Schultern. „Ich habe ihnen den Bettel vor die Füße geworfen!“ antwortete sie endlich.
„Das ist unüberlegt von Dir gewesen, Charlotte,“ tadelte ich.
Sie zuckte abermals die Schultern und sagte tonlos: „Mir ist Alles gleich!“
Es waren die nämlichen Worte, die sie täglich so und so oft sprach. Verzweifelt lief ich hinunter in die Wohnstube, wo Frau Roden am Fenster saß und strickte. „Was soll nun werden?“ fragte ich, „liebe Frau Amtsräthin, was soll nun werden?“
Sie verstand mich und erwiderte: „Geduld, Tonchen, sie ist noch krank, sie ist eine von den Naturen, die nie hoch genug steigen und nie tief genug fallen können. Geduld!“
„Aber sie darf Ihnen nicht länger zur Last sein.“
Sie strich mir mit der Hand über das Gesicht. „Sie ist mir nicht zur Last, Tonchen; ich habe nur ein Bedenken –“ und ihre Augen richteten sich besorgt auf die kleine Tapetenthür, die in das Zimmer des Sohnes führte. „Ich fürchte, er hat noch immer nicht überwunden,“ flüsterte sie und nickte mir kummervoll zu. „Er ist ungeduldig, er lauscht auf jeden Tritt dort oben; ich wollte ihn eigentlich umquartieren, ihn wieder in sein altes Zimmer bringen, nach dem Hofe hinaus; doch als ich davon sprach, ward er so heftig, wie ich ihn noch nicht gesehen habe –. Er fragt ja nie nach ihr, Tonchen, – aber ich weiß, was ich weiß, er kann sich vor mir nicht verstellen.“
Ich sah es ein, tausendmal! Wenn ich nur eine Auskunft gewußt hätte. „Ich werde Alles versuchen, um Lotte zu bewegen, mit mir fortzugehen,“ sagte ich; „es wird ihr auch gut thun – ich –“
„Sie, Tonchen? Sie habe ich nicht gemeint,“ unterbrach mich die alte Frau. „Und wohin wollten Sie auch? Nein, jetzt heißt’s abwarten, bis Charlotte wohler, bis die Scheidungsangelegenheit erledigt ist. Aengstigen Sie sich nicht; ich passe schon auf. Denken Sie lieber daran, wie wir meinen Jungen etwas heiterer bekommen, denn so wird’s nichts mit dem Besserwerden.“
Und wieder vergingen Tage um Tage und nichts änderte sich in Lottes Zustand. Draußen goß es in Strömen, und das trübe dunkle Novemberwetter drückte die Gemüther noch mehr zu Boden. Der Einzige, der mir ruhig erschien, war Fritz. Zwar versicherte die besorgte Mutter das Gegentheil, aber mir kam es vor, als wäre seine Miene gleichmäßig froh, wenn ich an seinem Lager sitzend vorlas oder seinen Arm verband. „Ekkehard“ war zwar beiseite gelegt, aber ich hatte soviel aus den Zeitungen zu berichten, denn Metz und Paris waren in den Vordergrund getreten.
Eines Nachmittags klopfte es an die Thür unseres Stübchens oben, das ich grade verlassen wollte, und Anita kam herein. Sie brachte einen Brief. Ich aber ging hinaus, denn ich wußte, dort unten in dem Krankenzimmer wurde ich schon längst erwartet. Da stand das Kaffeegeschirr auf dem Sofatisch und die Lektüre lag bereit; Frau Roden saß neben dem Sohne und hielt seine Hand.
„Tonchen!“ rief sie mir entgegen, „er wird schon ungeduldig; nun rasch den Kaffee, er schmeckt nicht, wenn Sie ihn nicht eingießen.“ Und bald saßen wir gemüthlich um den runden Tisch, und ich griff zur Zeitung und las.
„Oben geht jemand,“ unterbrach er mich nach einer Weile.
„Anita ist es,“ warf ich hin und las weiter, und dabei vergaßen wir alle Drei unsere eignen Angelegenheiten so sehr, daß endlich Fritz Roden bemerkte: „Mein Gott, es ist ja schon dämmerig; halten Sie ein, Fräulein von Werthern, schonen Sie Ihre Augen.“ Nun gab es noch ein Hin und Her über das Gehörte, und endlich stand Frau Roden auf und ging hinaus.
Es plaudert sich so hübsch in der Dämmerung, im warmen Zimmer, und Fritz Roden, der sonst nie im eigentlichen Sinne des Wortes redselig zu nennen war, sprach ohne Aufhören in seiner ruhigen Weise. Es war Alles so schlicht und klar, was er sagte, ohne jeglichen Aufputz; so klar und einfach, wie sein ganzes Sein und Handeln. Dann stockte er, denn oben wurde Klavier gespielt. Das war Lotte, so spielte nur sie. Wie kam sie dazu? Deutlich und süß scholl er herunter, der wundervolle Chopin’sche Trauermarsch, und mitten darin brach sie jäh ab und ging in eine Mazurka über.
„Was soll das heißen?“ fragte ich mich, und scheu blickte ich zu ihm hinüber; er lag still und schien zu lauschen.
Und weiter und weiter spielte sie, und wie wenn sie erwacht aus langem Leid, so erklang immer lebensvoller, immer bewegter ihr wundervolles exaktes Spiel.
„Fräulein von Werthern,“ sagte er plötzlich, „ich habe den ‚Ekkehard‘ zu Ende gelesen ohne Sie – zürnen Sie mir?“
„O nein!“
„Und eine Stelle – sie steht so ziemlich am Schluß, die ist die schönste im ganzen Buche, so einfach, so ergreifend und wahr; oder vielleicht hat sie mich nur so gepackt!“
Oben verstummte jetzt das Spiel so plötzlich, wie es angefangen; ich hörte hin und her wandern und fand nicht den Muth hinauf zu gehen, um zu fragen, was das Spiel bedeute, ebenso wenig wie ich ihn fand, nach jener Stelle im „Ekkehard“ zu fragen.
Aber er vermißte meine Antwort nicht, er sprach weiter. „Wissen Sie denn, Tone, daß Sie just heute vor einem Jahre in Rotenberg eintrafen? Grade in dieser Tagesstunde mag es gewesen sein, als Sie den Fuß über unsere Schwelle setzten. Hatten Sie nicht daran gedacht? Ich habe es nicht vergessen –. Nicht wahr, damals habe ich von Rosen gesprochen, die Ihnen und den Ihrigen in Rotenberg erblühen sollten? War’s nicht so? Und statt der Rosen kamen Dornen, statt Glück – Unheil, Tod, Krankheit und noch Anderes, viel Traurigeres. Es war ein schweres Jahr für uns Alle; und dennoch möchte ich die Wunden nicht missen, die es mir geschlagen hat. Sie glauben nicht, Tone, wie köstlich es ist zu genesen, denn, wer nie krankte, wie kann er dieses täglich mehr sprossende Wohlbefinden ermessen? Nur ein wieder Sehendgewordener jubelt dem Lichte zu.
Es befremdet Sie wohl, daß ich so spreche? Ich bin keine poetisch veranlagte Natur, aber mir ist seit ein paar Tagen, als ob ein ganzer Frühling mich umfangen hielte; ich bleibe nur noch mit Mühe auf dem Sofa hier, ich möchte hinaus in die frische Luft, hinaus zu meinem Regiment, dem Siegeszug unserer Truppen zu folgen; und doch kann ich den Arm noch nicht bewegen, und bin vorläufig nur ein Krüppel. Aber die Sehnsucht ist da, wie sie im Lenz die Menschen packt, so gewaltig, hoffnungsselig, so glückverheißend –. Nun, und Sie haben kein Wort für mich?“
Ach – Lotte! Er liebte sie immer noch, und der Frühling, der ihn umfing, war ihre baldige Freiheit. Mir war zu Muthe wie an jenem Abend, als er mir sagte: „Sprechen Sie für mich bei Ihrer Schwester.“
Arme thörichte „Andere“ Du!
„Hat Dich das Klavierspiel gestört?“ fragte Frau Roden, die eben wieder herein kam, mit schier ängstlicher Stimme.
„Nicht im Geringsten,“ erwiderte er.
„Sonst möchtest Du doch lieber wieder Dein Zimmer bewohnen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist so gemüthlich neben Deiner Stube; laß mich hier.“ Und als ich aufstand und hinausgiag, rief er mir noch nach: „Ich bitte Sie, der Gräfin nicht zu sagen, daß man das Spiel hier unten so deutlich hört; es stört mich wirklich nicht!“
[227] Oben stand Lotte am Fenster und wandte den Kopf nach mir um. „Ich habe einen Brief vom Kammerherrn,“ sagte sie. „Sie sind ungeheuer gnädig, sie wollen mir zur Annahme oder Ablehnung der Revenue noch Bedenkzeit lassen, jeden Moment stehen mir Gelder zu Gebote; der nunmehrige Herr Erbprinz habe selbst die Höhe der Summe bestimmt. Bis zum Ablauf dieser Frist soll ich hier in Rotenberg verbleiben. Alles Andere wegen der Scheidung würde sich finden. Der gute Mann giebt mir den väterlichen Rath, ich möchte mich als Wittwe des Prinzen betrachten und die sogenannte Abstandsrente als sein Vermächtniß. Sehr gütig!“
Das war wieder der alte spöttische Ton. „Lotte,“ sagte ich fest, „wochenlang kannst Du in diesem Hause nicht bleiben.“
Sie zuckte die Schultern.
„Du mußt doch Mittel haben, um bis zur Ordnung Deiner Verhältnisse eine anständige Wohnung zu miethen?“
„Ich habe nichts, denn ich nehme nichts an von dort.“ Sie machte eine Geste nach dem Schlosse hinüber. „Uebrigens, es muß ja noch Geld von Großmutter vorhanden sein,“ setzte sie hinzu.
„Von Großmutter?“ rief ich. „Lotte, Du weißt doch, daß wir ihre Ohrringe verkauft haben, um Rodens die Summe zurück zu erstatten, die Du für Hans geliehen –“
„Dann weiß ich nicht, wie es werden soll,“ erklärte sie und wandte sich wieder zum Fenster. „Mache, was Du willst.“
„Ich werde mit Frau Roden sprechen, Lotte.“
„Thue das doch!“ erwiderte sie gleichgültig.
Der folgende Tag war ein Sonntag, ein doppelter Festtag für das Haus, denn der Arzt hatte dem Patienten erlaubt, das Zimmer zu verlassen und zum ersten Male mit uns zu speisen. Frau Roden ging in stiller Seligkeit um den Tisch, zupfte am Tafeltuch, ordnete an der Blumenschale, die mitten darauf prangte, und sah durch die Champagnerkelche, ob sie auch sauber geputzt seien; der Herr Doktor hatte das perlende schäumende Getränk extra als vortrefflich erklärt für den Rekonvalescenten. Im ganzen Hause duftete es nach Berliner Räucherpulver, untermischt mit dem kräftigen Geruch, der zuweilen, beim Oeffnen der Thür, aus der Küche quoll. Und dazu schien hell die Sonne durch die klaren Vorhänge; es war ein köstlicher Sonntagvormittag.
Nun saß die alte Dame endlich in ihrem Lehnstuhl am Fenster und sah die Leute aus der Kirche kommen; und ich ging, nachdem ich einige Flaschen Rothwein, die ich eben aus dem Keller geholt, an den Ofen gestellt hatte, zu ihr hinüber, um mit ihr wegen Lotte zu sprechen.
„Was wollen Sie denn, Kindchen?“ fragte sie. Und ich erzählte, daß Lotte Rotenberg nicht verlassen dürfe, bis die Scheidung erfolgt sei, daß sie aber keinenfalls in diesem Hause bleiben werde „Und da habe ich mir gedacht, ob Lotte und ich nicht wieder unsere alte Wohnung bezögen und ich vielleicht neben meiner Wirthschaftsführung Klavierstunden geben könnte? – Weitere Pläne sind ja vorläufig nicht zu machen.“
„Warum wollen Sie Stunden geben?“ fragte die alte Frau, „und warum wollen Sie mit hinüber ziehen?“
„Ich kann doch Lotte nicht allein lassen in ihrer jetzigen Gemüthsstimmung.“
„Sie sollte sich Anita mit hinübernehmen; müssen Sie immer das Aschenbrödel spielen?“
„Lotte ist zu stolz, um irgend etwas vom Prinzen anzunehmen,“ sagte ich.
„Zu stolz?“ unterbrach mich ärgerlich Frau Roden. „Sie ist doch sein ehrliches Weib geworden; wenn durch unabweisbare Verhältnisse diese Ehe getrennt wird, so ist es seine Pflicht und Schuldigkeit, der Frau eine sorgenfreie Existenz zu schaffen –. Und das geschieht auch, dafür kenne ich den Herzog, und wenn ihm hundertmal der ganze Handel nicht recht war. ‚Zu stolz!‘ sagen Sie? – Hm!“
Ich war verwirrt. So bitter hatte diese sanfte Frau noch nie gesprochen. Aber einer Antwort wurde ich überhoben, denn geräuschlos that sich die Tapetenthür auf, und Fritz kam in das Zimmer.
Die Mutter flog vom Sessel auf und ihm entgegen. „Gottlob, mein Junge!“ sagte sie und richtete sich an ihm empor, um ihn zu küssen. „Ja, Gottlob!“ erwiderte er und schaute mit sichtlichem Behagen in dem freundlichen sonnendurchleuchteten Zimmer umher. „So weit wären wir!“
Dann setzte er sich auf den Platz der Mutter, und während diese vor ihm stehen blieb, sagte er zu mir: „Ich hörte eben, Sie wollen umquartieren, Fräulein von Werthern. Das würde ich nie erlauben! Bitte, sagen Sie Ihrer Frau Schwester in meinem Namen, daß sie über die Zimmer dort oben verfügen möge, so lange sie derselben bedarf. Uns wird es eine angenehme Pflicht sein, ihr dieses Asyl zu gewähren.“
Frau Roden entfärbte sich; sie sah ihn sprachlos an. Er aber schien es nicht zu bemerken; er streichelte ihre Hände und fragte: „Nicht wahr, Mutter, wir waren immer gastfreie gemüthliche Leute? So soll’s auch bleiben. – Nicht wahr?“ wiederholte er noch einmal, um eine Nüance lauter.
„Du bist der Herr im Hause,“ erwiderte sie tonlos, wandte sich um und machte sich an der eingelegten Kommode zu schaffen, auf welcher uralte Porcellanfiguren standen; mit zitternden Händen wischte sie den Staub von dem gelben Hut einer Schäferin.
„Sind Sie einverstanden?“ fragte er lächelnd auch mich.
„Ich habe gar nichts zu entscheiden; ich meine, das muß Lotte thun.“
„Gewiß,“ erwiderte er ruhig, „fragen Sie Ihre Frau Schwester.“
Wie ein Kind ließ ich mich von ihm schicken und kam zu Lotte hinauf. Sie stand vor dem Spiegel und befestigte eine Broche am Kleide; sie war völlig in Toilette. Mich dünkte, sie sah schöner aus als je, in ihrer Blässe und dem einfachen schwarzen Trauerkleide, das sie um den Vater trug und nie wieder angehabt hatte, seitdem sie Gräfin Blankensee geworden. Es packte mich etwas wie Zorn; ich setzte mich an das Fenster und sprach kein Wort, während sie leise raschelnd vor dem Spiegel beschäftigt war und ihr feines Heliotrop-Parfüm mir den Kopf noch mehr einnahm.
„Du bist so still, Tone,“ begann sie endlich, ohne den Blick von dem Spiegel zu wenden; „hast Du eigentlich mit Frau Roden schon gesprochen?“
„Eben,“ sagte ich mühsam.
„Und?“
„Fritz Roden läßt sich Dir empfehlen, und Du möchtest über diese Zimmr verfügen so lange es Dir beliebt –.“
Sie sah mich an; unter den langen dunkeln Wimpern leuchtete es seltsam auf, aber sie antwortete nicht sogleich. Gelassen vollendete sie ihre Toilette, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab und sagte endlich, vor mir stehen bleibend: „Ich werde es dankbar annehmen.“ Dann trat sie noch einmal vor den Spiegel, raffte ihre Schleppe zusammen und verließ die Stube. Ich hörte, wie sie langsam die Treppe hinunter stieg.
Und da flüchtete endlich die Vernunft vor einem leidenschaftlichen Schmerzensgefühl! Ich eilte in die Schlafstube, warf mich vor meinem Bette auf die Kniee und schluchzte wie ein Kind, in namenloser Angst.
„Aber Tonchen!“ sagte eine sanfte Stimme, und Frau Roden faßte mich an die Schulter. „Was ist Ihnen denn?“ fragte sie, ängstlich in mein verweintes Gesicht blickend.
Ich streifte nur ihre Augen; sie hatte ebenfalls Thränen vergossen; ich wußte warum, aber ich log dennoch. „Ich habe an den Hans gedacht und an unsere Zukunft.“
Sie lächelte, als wollte sie sagen: „Ich will es glauben, Tonchen –.“ „Kommen Sie herunter, Kind,“ bat sie dann: „sorgen Sie, daß keine Thränenspuren mehr zu sehen sind.“
Und während ich an den Waschtisch eilte, um meine brennenden Augen mit kaltem Wasser zu kühlen, fuhr sie fort: „Ich stand noch immer an der Kommode, da öffnete sich die Thür und Charlotte trat herein. Kind, mir stockte das Herz und meine Augen suchten sein Antlitz, wie er dies Wiedersehen wohl ertragen würde. Er stand auf, machte der schönen Frau eine Verbeugung und sprach ihr seine Freude aus, sie so wohlauf wiederzusehen. Er blickte so ruhig auf sie nieder, als habe er sie gestern zum letzten Mal gesprochen. Er hat sich furchtbar in der Gewalt; und das um meinetwegen.“
Sie hielt inne. „Er ist ja majorenn!“ seufzte sie, „und es ist eine alte Erfahrung: Widerspruch und Hinderniß schürt die Flamme ganz gewiß. Ich lege meine Hände in den Schoß und sehe zu; ich kann nichts weiter thun, als stille beten, daß Gott ihm den rechten Weg weisen möge.“
Im Wohnzimmer saß Lotte Fritz Roden gegenüber, und sie spielte, während er von St. Privat erzählte, mit einer weißen [228] Aster, die sie aus der Blumenschale genommen hatte. Eben trug das Mädchen die Suppe auf, und wir waren dann friedlich vereint um den Tisch – Elemente, die, wie es vor Kurzem noch den Anschein hatte, niemals mehr zusammen kommen sollten. Wie sonst sprach Fritz das Tischgebet, aber das Amt des Vorlegers, das ich übernommen hatte, als er in den Krieg ging, verwaltete ich auch heute noch, denn sein Arm litt es nicht.
Es war eine peinvolle Stimmung; schweigend ward die Suppe verzehrt. Dann nahm Fritz die Rothweinflasche, und indem er ungeschickt mit der linken Hand die Gläser füllte, sprach er, sich zum Scherz zwingend: „Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, doch seine Weine trinkt er gern. – Stoßen wir an auf unsere Truppen dort draußen im Felde; ein Dank ihnen für die Tapferkeit, mit der sie uns Haus und Hof beschirmten vor Feinden und Kriegsleid und uns solche Friedensstunden zu erhalten wußten, wie die heutigen sind. Es konnte schlimm hier aussehen.“
Lotte stimmte lebhaft zu. „Wir haben ja so oft erzählen hören von Großmutter, wie schrecklich der Krieg ist; die hatte anno Dreizehn noch so frisch im Gedächtniß, als wäre es gestern gewesen.“
„Gewiß, die alte Dame sprach gern davon,“ erwiderte Fritz; „hätte sie doch Sedan noch erlebt.“
„Ja, sie starb zu früh,“ bestätigte Lotte; „wäre sie leben geblieben, es würde Manches anders sein.“
Sie seufzte und ließ ihre schönen dunklen Augen schmerzerfüllt durch die Fenster schweifen. Es sah genau so aus, als wollte sie das rasche Sterben der armen Frau, die so schwer gekränkt, die im Kummer um sie schied, verantwortlich machen für ihre leichtsinnige Heirath. Ich wurde roth für sie. Um die Lippen von Fritz zuckte etwas wie Lächeln, Frau Roden aber bemerkte gelassen:
„Das pflegt man so nachher zu sagen! Meine gute alte Werthern war eine müde, gebrochene Frau; sie hatte keine Macht mehr, zu hindern, was schon so gut wie abgeschlossen war. Oder habe ich Sie nicht recht verstanden, Frau Gräfin?“
Lotte schwieg. Einen Augenblick ward es unheimlich still; aber Fritz Roden machte der kleinen Scene rasch ein Ende, indem er mir seinen Teller herüberreichte. „Fräulein von Werthern, noch einen Löffel Suppe; jetzt kommt der Rekonvalescentenhunger; Sie wissen ja, ich sagte es Ihnen gestern schon.“
Ja, ich wußte es, daß er gesunde an Körper und Seele – daß ihn der Frühling umfing –.
Lotte und er sprachen weiter vom Feldzug, und allmählich mischte sich auch Frau Roden in die Unterhaltung; sie wollte ihn ja keine Befürchtung merken lassen. Und so verlief der Mittag schließlich in jener zierlichen formellen Art, wie es zu geschehen pflegt, wenn mitten zwischen den Menschen ein unsichtbares beängstigendes Gespenst Platz genommen hat, das Alle genirt, und wenn Keiner es dem Andern gestehen will.
Nach Tische gingen Lotte und ich hinauf. Sie mit leichtem, elastischem Schritt, der sonderbar abstach gegen ihren langsamen Tritt heute früh.
„Er sieht merkwürdig gut aus,“ bemerkte sie, indem sie sich auf das Sofa warf und die Decke empor zog, „nicht mehr so roth und robust; er hat etwas Kavalières bekommen, etwas Sicheres. Es ist neu, eine Errungenschaft des Soldatenlebens, ich kannte es wenigstens nicht an ihm.“
„Du hast ihn überhaupt nicht gekannt!“ entfuhr mir bitter.
„Kann sein! Ich nahm mir nicht die Mühe,“ erwiderte sie und vertiefte sich in ihr Buch.
Ich holte Mantel und Hut und ging spazieren. Den einsamsten Waldpfad suchte ich auf, über welkes Laub und feuchten Grund schritt ich; um meine Stirn wehte der kalte Herbstwind, und Baum und Busch standen traurig, ohne Blätter, aller Sommerfreuden bar. Und während ich ziellos weiter wanderte, kam ich ins Reine mit meinem armen verworrenen Herzen. Ich redete in mich selbst hinein mit aller Macht: egoistisch war ich gewesen und keineswegs mädchenhaft stolz! Was für ein Recht hatte ich zu weinen, wenn in des Mannes Seele Wunden zu heilen begannen, an denen er schwer gelitten; wenn alte Hoffnungen neu erblühen wollten? Ich schämte mich meiner heutigen Thränen bitterlich; und als sich noch eine entschuldigende Stimme in mir erhob: „Du weißt, daß Lotte ihn nicht liebt, daß er unglücklich wird mit ihr,“ – so sagte ich mir darauf: „Wirf Berge dazwischen und Du wirst eine Liebe nicht hindern, die, wie Fritz Roden’s Liebe, das Ergebniß ist seines innersten Wesens, fest, zähe, treu! Es gilt, Tone, Du bleibst ‚Die Andere‘, wie Du es immer warst, – die Hand darauf!“ Und im Muff preßten sich meine beiden Hände fest ineinander.
„Du wirst auch nicht bitter und ungerecht werden, Du wirst nur stolz sein, Tone, sehr stolz.“ –
Ach, Stolz thut mitunter furchtbar weh. Er ist nur das Tuch, mit dem man eine wunde Stelle verhüllt, damit die Menschen nicht starren und staunen: Seht! seht die Aermste – wie mag das sie schmerzen!
Aber die verbergende Hülle drückt und reizt die Wunde, und das Herz empört sich, wenn der Mund lächeln will; krank und elend wird das Gemüth. Und ich dachte an die Stunden, die ich an seinem Bette zugebracht, plaudernd und vorlesend; an die Worte der Mutter, die in der Zärtlichkeit für mich ihrem Munde entschlüpft waren; dachte daran, wie sie ihm schon einmal gesagt, daß sie sich „Die Andere“ viel lieber zur Schwiegertochter gewünscht habe, als die schöne Schwester. Und dann kamen alle die thörichten Gedanken mit stürmischem Herzklopfen, und seine Augen sah ich, wie sie mir folgten im Krankenzimmer, so sonderbar, so unablässig. – –
Wo war der Stolz? Hervor damit! Und auf dem Fuße wandte ich mich und ging den Weg zurück, den ich gekommen; durch die herbstlichen Wälder, die bereits im Schatten der Berge standen. Weit draußen in der Ferne aber lag die Landschaft noch im lichten Sonnengold, und zwischen den Stämmen der hohen Buchen sah ich sie schimmern und locken; und eine heiße Sehnsucht faßte mich, hinauszulaufen, fort von hier, nach einem Ort, wo Niemand mich kennt mit meinen thörichten Gedanken und der Maske, die mir so schwer ward zu tragen, – Geduld, auch das wird kommen!
Als ich in das Haus trat, war es schon dämmerig und oben ertönten die machtvollen Klänge von Lotte’s Klavierspiel. Es war kein Mensch in dem geräumigen Flur, nur die Thür zu Fritzen’s Zimmer stand angelehnt und ließ einen schmalen Lichtstreifen sehen. Er lauschte wohl ihrem Spiel. – Leise kam ich zu der Treppe geschritten, da öffnete sich rasch die Thür, und seine Stimme fragte hastig:
„Wo waren Sie so lange, Tone?“
„Im Walde,“ gab ich zurück.
„Welcher Unsinn, allein in den Wald zu gehen!“
Ich lachte. „Ich bin ja immer bisher allein gegangen.“
„Das soll aber nicht sein!“ rief er heftig. „Sie sind zu jung für derartige Extravaganzen.“
„Ich?“ rief ich, halb belustigt, halb verletzt. Ich kam mir so alt vor, so verstoßen aus dem Reiche der Jugend; Niemand hatte bis jetzt darnach gefragt, ob ich allein gehen dürfe.
„Ja, Sie,“ erwiderte er und stand nun in dem Flur. „Mutter hat sich geängstigt, wissen Sie das?“ klang es gereizt.
„Es thut mir leid. Mir war er eine große Wohlthat, dieser einsame Spaziergang.“
„Fräuleinchen,“ rief es da aus der Tiefe des Zimmers; „einsame Spaziergänge machen nur Verliebte oder Trotzköpfe!“
Das sprach der Doktor, der auf ein Schwatzstündchen zu seinem Pathensohn gekommen war.
„Sie haben Ihre Diagnose verfehlt, Herr Doktor,“ gab ich lustig zur Antwort, „weder das eine noch das andere Leiden trage ich mit mir herum!“ Und ich ging mit festen Schritten nach oben. In der Dunkelheit konnte er die Röthe ja nicht gesehen haben, die auf meinen Wangen brannte. – Die Mamsell aber lugte aus ihrer Stube, in der sie Sonntagsfeier hielt. „Ei, ei! Waren der Herr böse, als Sie nicht heim kamen, Fräulein von Werthern. Die Zeitung lag auf dem Tische und der Kaffee wartete.“
Ja natürlich – die Zeitung!
Lotte aber fragte, als ich eintrat. „Schon wieder da?“ und begann ein anderes Stück. Ich saß still am Nähtisch und wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, „stolz“ zu sein. Ich hatte das beschämende Gefühl einer Niederlage, noch bevor ich in den Kampf gegangen.
Was war es nur für eine neue Laune, daß er so besorgt um mich that?
Vom Nordpol bis zum Aequator.
Ueber die Begabungen der Affen etwas allgemein Gültiges zu sagen, ist schwierig, falls nicht unmöglich, weil jene ebenso verschieden sind wie diese selbst. Einzelne Züge ihrer Anlagen sind freilich gemeinsame; weitaus die meisten Eigenthümlichkeiten ihres Wesens weichen erheblich von einander ab. Eine Anlage, welche bei dem einen kaum bemerkbar ist, zeigt sich bei dem andern klar ausgesprochen; ein Zug, welcher hier deutlich hervortritt, wird dort vergeblich gesucht. Wohl aber läßt sich, wenn man die verschiedenen Familien, Sippen und Arten vergleichend in Betracht zieht, eine geradezu überraschende, weil von vorn herein nicht vermuthete Steigerung aller Begabungen und Anlagen wahrnehmen. Es ist lehrreich, so zu verfahren.
Als die am wenigsten entwickelten Glieder der Gesammtheit müssen uns die Krallen- oder Eichhornaffen, in Süd- und Mittelamerika lebende, kleine, zierliche Thiere, erscheinen. Sie haben zwar das regelrechte Gebiß der Hochthiere insgemein, tragen aber nur an den Daumenzehen platte, an allen übrigen Zehen und den Fingern dagegen schmale, lange Krallennägel, welche also ihre Hände und Füße, mindestens die ersteren, auf die Stufe der Pfoten stellen. Diesen äußerlichen Merkmalen entsprechen ihre Begabungen.
Das Affenthum, möchte man sagen, ist in ihnen noch nicht zur vollen Geltung gelangt. Wie durch Gestalt und Färbung erinnern sie auch durch ihre Haltung, ihr Auftreten, Wesen und Gebahren, selbst durch ihre Stimme, an die Nager. Sie sitzen selten aufrecht, wie andere Affen, höchstens so wie Eichhörnchen, stehen vielmehr meist auf allen Vieren, bei flacher Haltung ihres Leibes, klettern auch nicht, mit Händen und Füßen Zweige umklammernd, frei und leicht, wie ihre Ordnungsgenossen, sondern, ihre Krallen einschlagend, klebend rutschend, wenn auch keineswegs langsam oder unbehend: genau so, wie die Nager thun. Gänzlich verschieden von der aller hochstehenden Affen ist ferner ihre Stimme, ein in hohen Tönen sich bewegendes Pfeifen, welches bald an Vogelgezwitscher, bald an das Piepen der Ratten und Mäuse, am meisten vielleicht an die Stimmlaute des Meerschweinchens erinnert. Ausgesprochen nagerhaft ist ihr Gebahren. Sie bekunden dieselbe Unruhe und Rastlosigkeit, dieselbe Neugier, Scheu und Aengstlichkeit, dieselbe Unflätigkeit wie Eichhörnchen. Ihr Köpfchen verharrt nur auf Augenblicke in derselben Stellung und Haltung, und die dunklen Augen richten sich bald auf diesen, bald auf jenen Gegenstand, immer aber mit Hast und offenbar mit wenig Verständniß, obschon sie klug in die Welt zu blicken scheinen. Alle Handlungen, welche sie verrichten, zeugen von geringer Ueberlegung. Gleichsam willenlos folgen sie den Eingebungen des Augenblicks, vergessen das, was sie eben beschäftigte, sobald ein neuer Gegenstand sie anregt, und zeigen sich dementsprechend ebenso wetterwendisch, wenn es sich um Aeußerungen ihres Behagens wie um solche ihres Mißfallens handelt. In diesem Augenblicke wohlgelaunt, anscheinend durchaus zufrieden mit ihrem Schicksale, glücklich vielleicht über ihnen von Freundeshand gespendete Liebkosungen, grinsen sie eine Sekunde später ihren Pfleger an, gebärden sich ängstlich, als ob es ihnen an Hals und Kragen ginge, fletschen die Zähne und versuchen zu beißen. Ebenso reiz- und erregbar wie Affen und Nager, ermangeln sie doch der Eigenart, welche jeder höherstehende Affe bekundet; denn der eine handelt genau wie der andere, gleichsam ohne Selbstbewußtsein, immer aber kleinlich. Sie besitzen alle Eigenschaften eines Feiglings: die klägliche Stimme, die Unwilligkeit, in Unvermeidliches sich zu fügen, die jammerhafte Hinnahme aller Ereignisse, die krankhafte Sucht, jede Handlung eines andern Geschöpfes mißtrauisch auf sich zu beziehen, das Bestreben, zu prahlen, während sie vermeintlicher oder wirklicher Gefahr aus dem Wege zu gehen trachten, die Unfähigkeit im Wollen wie im Vollbringen. Gerade weil sie so wenig Affe sind, werden sie von Frauen bevorzugt, von Männern mißachtet.
Auf wesentlich höherer Stufe stehen die ebenfalls in Amerika hausenden Breitnasen- oder Neuweltsaffen, obgleich auch in ihnen der wirkliche Affe noch nicht recht zur Geltung gelangt. Ihr Gebiß zählt in jeder Kinnlade einen Backzahn mehr als das der übrigen Hochthiere, daher nicht zwei-, sondern sechsunddreißig Zähne; ihre Finger und Zehen tragen sämmtlich platte Nägel; der Leib erscheint um so schmächtiger, als die Glieder regelmäßig sehr lang sind; der Schwanz dient bei vielen als kräftiges Greifwerkzeug. Bezeichnend für sie ist die Einseitigkeit ihrer Entwickelung. Wie die Krallenaffen ausschließlich Baumthiere, erscheinen sie uns ungeschickt, sogar tölpisch, sowie sie dem Gezweige der Bäume entzogen werden. Ihr Gang auf dem Boden ist äußerst unbeholfen, unsicher und schwankend, am unbeholfensten und schwankendsten bei denjenigen Arten, welche einen Wickelschwanz besitzen; aber auch ihr Klettern kommt dem der Neuweltsaffen nicht im Entferntesten gleich. Denn Vermehrung der Bewegungswerkzeuge hat keineswegs immer Steigerung und noch weniger Vervielfältigung der Bewegung zur Folge, bedingt im Gegentheil oft Einseitigkeit. Bei unseren Affen ist das Letztere der Fall. Ihr Wickelschwanz dient ihnen nicht als fünfte, sondern als erste Hand; zum Aufhängen oder Befestigen des ganzen Leibes, zum Herbeiholen und Herbeiziehen verschiedener Gegenstände, als Treppe, Hängematte und so weiter; aber er beschleunigt und befreit ihre Bewegungen nicht, sondern verlangsamt sie höchstens, indem er sie sichert. Dank seiner fortwährenden, geradezu ausnahmslosen Verwendung läuft sein Eigner niemals Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und aus der sichernden Höhe in die gefahrdrohende Tiefe zu stürzen, ist dagegen aber auch nicht im Stande, irgend welche freie oder gar kühne Bewegung auszuführen. Langsam sendet er den Wickelschwanz, so zu sagen, jedem Schritte voraus, indem er ihn stets zuerst und nicht selten vor sich befestigt, und nunmehr erst löst er eine Hand, einen Fuß nach dem anderen von dem Zweige ab, welchen die eine wie der andere umklammerten. So bindet er sich mehr an die Zweige, als er auf denselben klettert, und dementsprechend denkt er gar nicht daran, jemals einen weiten, hinsichtlich seines Gelingens irgendwie zweifelhaften Sprung zu wagen. Diese unwandelbare Sicherung der eigenen werthen Persönlichkeit drückt unseren Affen nicht den Stempel der Bedachtsamkeit, sondern der Langweiligkeit auf. Es ist merkwürdig, wie genau alle übrigen Begabungen der Neuweltsaffen hiermit im Einklange stehen. Ihre Stimme ist nicht so einseitig wie die der Krallenaffen, immer aber unangenehm, um nicht wiederum zu sagen: langweilig. Vom Gewinsel an bis zum Gebrüll durchläuft sie die verschiedensten Abstufungen, unter allen Umständen aber haftet ihr der Ausdruck des Kläglichen, Weltschmerzlichen an, und das Gebahren der Thiere, während sie schreien, straft solchen Aus- oder Eindruck nicht Lügen.
Warm und goldig bestrahlt die Morgensonne nach kühler thaureicher Nacht die Bäume des Urwaldes, und tausendstimmig schallt ihr aus Millionen Kehlen Gruß und Jubelruf entgegen; da rüsten sich auch die Brüllaffen, ihren Dankeszoll darzubringen. Aber wie?! Auf die dürren Wipfeläste eines Riesenbaumes, welcher seine Krone hoch über andere erhebt, sind sie geklettert, haben sich jedweder mit dem Wickelschwanze gehörig versichert und wärmen sich behaglich in der Sonne. Da treibt auch sie das Wohlgefühl, ihre Stimme zu erheben. Einer von ihnen, welcher, wie man sagt, durch hohe, schrillende Stimme besonders sich auszeichnet und geradezu Vorsänger genannt wird, schaut starr auf seine Genossen und hebt an; letztere blicken ebenso regungs- und gedankenlos auf ihn und fallen ein und schauerlich tönt es durch den Wald, bald grunzend, bald heulend, bald knurrend, bald brummend, bald knarrend, bald röchelnd, als ob alle Thiere des Waldes in tödlichem Kampfe gegen einander entbrannt seien. Einzelne Brülllaute beginnen das wunderliche Tonstück; sie werden heftiger und folgen sich rascher, je mehr die doch wohl vorhandene, wenn auch nicht ersichtliche Erregung des Sängers wächst und auf andere Glieder seiner Genossenschaft sich überträgt; sie verwandeln sich sodann in heulendes Gebrüll, und sie enden, wie sie begonnen. Wirft man einen Blick auf die langbärtigen, überaus ernsthaften Sänger, [231] so kann man sich eines Lächelns kaum erwehren, der jeder Beschreibung spottende Tonunfug aber, dessen sie sich schuldig machen, wird bald ebenso langweilig wie ihre einseitigen, eher kriechenden als kletternden Bewegungen. Was der Eine thut, ahmt der Andere gedankenlos nach; aber was er auch thun, wie er auch handeln möge, langweilig bleibt sein Gebahren stets. Ihm durchaus ähnlich oder doch nicht wesentlich von ihm verschieden betragen sich alle Wickelschwanzaffen, nur wenig anders, freier, selbständiger nämlich, benehmen sich einzelne besonders hervorragende Glieder der Familie.
Wie die neuweltlichen Affen zerfallen auch die in der alten Welt hausenden Affen in zwei Gruppen, denen man vielleicht den Rang von Familien zugestehen darf, obgleich beider Gebisse im Wesentlichen sich ähneln. Wir nennen die einen Hunds-, die anderen Menschenaffen und dürfen wohl sagen, daß jene uns das wahre Affenthum kennen lehren, wahrend diese bereits über dasselbe sich erheben. Für die ersteren insbesondere gilt, was ich eingangs sagte. Zu ihnen zählen ebenso schöne als häßliche, ebenso anmuthige als widerwärtige, ebenso heitere als ernsthafte, ebenso gutmüthige als boshafte Affen. Eigentlich ausgebildete Gestalten giebt es nicht unter ihnen, da man auch den häßlichen oder uns doch so erscheinenden Arten Ebenmäßigkeit der Gestalt zusprechen muß; in vieler Beziehung absonderliche Gesellen aber weisen sie auf. Ihre hauptsächlichsten Merkmale liegen in der mehr oder weniger stark vortretenden, an die der Hunde erinnernden Schnauze, den verhältnißmäßig kurzen Armen, dem stets vorhandenen, obschon bei einzelnen bis zu einem Stummel verkümmerten Schwanze, den mehr oder minder entwickelten Gesäßschwielen und den wenigstens bei den meisten Arten vorkommenden Backentaschen. Das Gebiß enthält die regelmäßige Anzahl von zweiunddreißig, in geschlossenen Reihen stehenden Zähnen. Sie bewohnen alle drei Erdtheile der alten Welt und treten in Afrika am zahlreichsten auf.
Ihre Begabungen und Eigenschaften stellen sie hoch über Krallen- und Breitnasenaffen. Sie gehen meist recht gut, obgleich einzelne von ihnen in uns erheiternder Weise eher humpeln als laufen, vermögen ohne Beschwerde auf den Beinen allein zu stehen und dabei zu voller Höhe sich aufzurichten, in dieser Stellung auch mehr oder weniger leicht dahin zu schreiten, klettern unter allen Umständen gut, obwohl die einen nur im Gezweige, die anderen dagegen im Gefelse diese Kunstfertigkeit bethätigen, schwimmen zum Theil auch vortrefflich. Diejenigen, welche auf Bäumen leben, klettern fliegend, um mich so auszudrücken; denn ihre Künsteleien im Gezweige übersteigen jede Erwartung. Sätze von acht bis zehn Meter Sprungweite sind kein unmögliches Unterfangen für sie; von den Wipfelästen eines Baumes springen sie ebenso tief auf niedrigere herab, beugen dieselben durch den Stoß abwärts, geben sich in demselben Augenblicke, welcher den Ast zurückschnellen läßt, einen wuchtigen Anstoß, strecken Schwanz und Hinterbeine lang von sich, um mit ihnen zu steuern, und fliegen wie ein Pfeil durch die Luft. Ein Baumast, und ob er mit den gefährlichsten Dornen besetzt wäre, ist für sie ein gebahnter Weg, eine Schlingpflanze Pfad oder Leiter, je nachdem selbe benutzt werden kann. Sie klettern vor- oder rückwärts, auf der Unter- wie auf der Oberseite eines Astes dahin, erfassen im Sprunge wie im Fallen ein dünnes Zweiglein mit einer Hand, verharren, so angehängt, beliebig lange in jeder denkbaren Stellung, steigen sodann gemächlich auf den Ast und nunmehr so unbefangen weiter, als hätten sie sich auf ebenem Boden befunden. Fehlt die Hand den erstrebten Zweig, so ergreift ihn, nicht minder sicher, der Fuß; bricht der Ast unter der jählings auf ihn fallenden Last, so erfassen sie im Fallen einen zweiten, dritten, und brechen alle, so springen sie eben, gleichviel um welche Höhen es sich handelt, auf den Boden hernieder, um an dem nächsten besten Stamme, an der ersten sich ihnen darbietenden Schlingpflanzenranke wieder zur Höhe emporzuklimmen. Mit dem klebenden oder kriechenden Klettern ihrer neuweltlichen Verwandten verglichen, erscheint und ist das ihrige eine wahrhaft freie, fessellose, jedes Hemmniß wegräumende Bewegung. Jene sind Stümper, sie vollendete Künstler, jene Baumsklaven, sie Beherrscher des Gezweiges.
Ebenso vervollkommnet wie ihre Bewegungen ist auch ihre Stimme. Von ihnen vernimmt man weder zwitschernde noch pfeifende, weder klagende noch heulende, vielmehr, je nachdem sie Eines oder das Andere ausdrücken wollen, sehr verschiedenartige, den Umständen angepaßte, auch uns verständliche Laute. Behagen oder Unbehagen, Verlangen oder Genügen, Wohl- oder Uebelwollen, Liebe oder Haß, Gleichmuth oder Zorn, Freude oder Schmerz, Vertrauen oder Mißtrauen, Hinneigung oder Abneigung, Zärtlichkeit oder Herbheit, Fügsamkeit oder Trotz, insbesondere aber jählings sich geltend machende Erregungen, wie Furcht, Schreck, Entsetzen, finden genügenden Ausdruck, so beschränkt auch immerhin noch die Stimmmittel sein mögen. Hand in Hand mit solchen Begabungen gehen die, welche wir geistige nennen. Man ist zwar berechtigt hervorzuheben, daß die Hand, welche erst unter ihnen zur vollen Bedeutung gelangt, ihnen vor anderen Thieren erhebliche Vorzüge gewährt und ihre Leistungen theilweise größer erscheinen läßt, als sie thatsächlich sind; ein hoher Grad von Verstand ist ihnen jedoch nicht abzusprechen. Ihr vortreffliches Gedächtniß bewahrt treulich die verschiedenartigsten Eindrücke, und ihre wohl erwägende Ueberlegung gestaltet letztere zu Erfahrungen, welche bei entsprechender Gelegenheit trefflich verwerthet werden. Daher handeln sie unverkennbar mit vollem Bewußtsein dessen, was sie thun, den Umständen gemäß, nicht als willenlose Sklaven einer von außen her auf sie einwirkenden Kraft, sondern selbständig, frei und wechselvoll, nehmen schlau und listig ihren Vortheil wahr und bedienen sich jedes Hilfsmittels, welches sie irgendwie benützen zu können glauben. Sie unterscheiden Ursache und Wirkung, versuchen letztere zu erzielen oder zu vereiteln, indem sie erstere schaffen oder aus dem Wege räumen; sie erkennen nicht allein, was ihnen frommt oder schadet, sondern wissen auch, ob sie recht oder unrecht handeln, gleichviel, ob sie dabei den Standpunkt des eigenen lieben Ich oder den eines ihnen übermächtigen Wesens einnehmen. Nicht blinder Zufall, sondern Erkenntniß der Ersprießlichkeit regelt und leitet ihr Thun, ordnet sie dem Ermessen des Befähigteren unter, bewegt sie, gemeinschaftlich zu wirken und zu handeln, lehrt sie, gemeinsam einzustehen für das Wohl und Wehe des Einzelnen, Freud und Leid, Glück und Unglück, Sicherheit und Gefahr, Wohlbefinden und Noth mit ihm zu theilen, mit anderen Worten einen auf Gegenseitigkeit beruhenden Verband zu bilden, unterweist sie, ihnen von Hause aus nicht erb- und eigenthümliche Kräfte und Mittel zu verwenden, drückt ihnen endlich Waffen in die Hand, welche die Natur der letzteren nicht verliehen.
Leidenschaften aller Art tragen freilich oft genug den Sieg über ihre Besonnenheit davon; gerade diese Leidenschaften aber sprechen wiederum für die Lebhaftigkeit ihrer Empfindungen oder, was dasselbe, für die Regsamkeit ihres Geistes. Sie sind empfindsam wie Kinder, reizbar wie schwachgeistige Menschen, daher äußerst empfänglich für jede Art der Behandlung, welche ihnen angethan werden kann: für entgegenkommende Liebe wie für abweisenden Haß, für anspornendes Lob wie für verletzenden Tadel, für befriedigende Schmeichelei wie für kränkenden Hohn, für Liebkosungen wie für Züchtigungen. Demungeachtet lassen sie sich nicht so leicht behandeln, noch weniger leicht zu etwas abrichten, wie beispielsweise ein Hund oder ein anderes kluges Hausthier; denn sie sind eigenwillig in hohem Grade und fast ebenso selbstbewußt wie der Mensch. Mühelos lernen sie, immer aber nur, wenn sie wollen, und keineswegs stets dann, wenn sie sollen; denn ihr Selbstbewußtsein lehnt sich auf gegen jede Unterordnung, welche ihnen nicht als für sie selbst ersprießlich erscheint. Dabei sind sie sich wohl bewußt, daß sie nach Befinden bestraft werden dürften, geben vielleicht schon im Voraus den Unannehmlichkeiten der zu erwartenden Strafe durch entsprechende Laute Ausdruck, verweigern aber dennoch die ihnen zugemuthete Leistung, wogegen sie solche willig, unter lebhaften Aeußerungen ihres Einverständnisses, verrichten, wenn ihnen dies gerade Vergnügen gewährt. Wer ihr Selbstgefühl in Frage zu stellen wagt, braucht sie nur zu beobachten, wenn sie ein anderes Thier behandeln. Sie betrachten ein solches, falls nicht Furcht vor dessen Stärke und Gefährlichkeit sie abschreckt, stets nur als Spielzeug ihrer Launen, gleichviel ob sie es necken und foppen oder hätscheln und zeitweilig mit Liebkosungen überhäufen. Einige Beispiele mögen im nachfolgenden Theile des Vortrags die eben ausgesprochenen Behauptungen erhärten.
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Japanisches Frauenleben.
Vielleicht auf keinem Gebiete treten die Kontraste in dem Leben der verschiedenen Völker auffallender zu Tage, als in dem Frauenleben, und wie man bei uns nicht ohne Grund die Frau als die Trägerin des konservativen Principes im Gegensatze zu dem fortschrittlichen Streben des Mannes bezeichnet hat, so gilt dies auch für ferne und fremde Kulturkreise; ganz besonders aber kann man in Japan – dem wunderbaren, uns neuerdings mehr und mehr erschlossenen Lande „der aufgehenden Sonne“ – beobachten, wie die dortige Frau im Großen und Ganzen noch bis zum heutigen Tage auf der Bildungsstufe verharrt, die sie von Alters her einnahm.
Hier und da kommt es allerdings vor, daß ein muthigeres Herz die Sehnsucht merken läßt, an den großen Wandlungen theilzunehmen, welche die Neuzeit dem japanischen Volke brachte; doch diese Regungen treten so vereinzelt, so schüchtern hervor, daß sie bis jetzt kaum Beachtung gefunden haben und wie Strohhälmchen in dem Strome des Lebens dahinschwinden. Die große Mehrzahl der Frauen wünscht durchaus nicht, daß eine Aenderung ihrer Lage eintrete; alte Gewohnheit macht ihnen eine rechtlose, unwürdige Existenz lieb, sie verlangen kein anderes Dasein, als ihre Mütter und Urgroßmütter führten, sie sind durchaus zufrieden damit, dem Manne gegenüber eine dienende Stellung einzunehmen, und wollte man ihnen zumuthen, an der Arbeit oder dem Studium der Männer Antheil zu nehmen oder dieselben auch nur mit Interesse und Verständniß zu verfolgen, so würde dies unverstanden bleiben oder wohl gar mit Entrüstung zurückgewiesen werden. Nein, jede Neuerung mit Scheu oder mit offenkundigem Mißfallen bekritteln und den alten Schlendrian mit Allem, was dazu gehört, festhalten – das ist augenblicklich noch der Standpunkt, von dem aus die Japanerin die Fragen des Lebens betrachtet. In der That bewegt sie sich, mag sie den höchsten oder niedrigsten Ständen angehören, mag sie reich oder arm sein, immer in dem engen Kreise, der ihr von jeher zugemessen war, und die einzigen Bestrebungen, denen sie sich widmet, sind: einmal Alles aufzubieten, um dem Manne zu gefallen, und zweitens, mit allen Kräften für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen.
Es bedarf kaum einer ausdrücklichen Erwähnung, daß gerade in letzterem Punkte eine der schönsten Lichtseiten des japanischen Lebens begründet ist. Die Liebe der Eltern und besonders der Mutter zu dem Kinde, die des Kindes zu den Eltern und vornehmlich wieder zur Mutter, tritt oft in schönen, rührenden Zügen zu Tage. In volkstümlichem Erzählungen sowohl, wie in künstlerischen Darstellungen wird diese Tugend nach allen Richtungen hin verherrlicht, und wenn auch die nicht hinwegzuleugnende japanische Leichtfertigkeit manchmal eine minder rühmliche Ausnahme veranlaßt, so bleibt doch immer das ganze Volksleben davon durchdrungen. So findet sich zum Beispiel unter den verbreitetsten und beliebtesten Litteratur-Erzeugnissen ein Buch, das, allerdings seinem ersten Ursprunge nach chinesischer Herkunft, in vierundzwanzig Geschichten dankbare Söhne verherrlicht, welche in der verschiedensten Art und Weise die rührendste Liebe und Treue gegen ihre Mütter bekundeten.
Während der ersten Lebensjahre der Kinder sind die Japanerinnen aller Stände die ausschließlichen Ernährerinnen und Pflegerinnen derselben; schon durch die Art und Weise der Ernährung des ganzen Volkes ist es bedingt, daß von einer Einflößung thierischer Milch keine Rede sein kann, denn die Japaner haben im Ganzen genommen einen förmlichen Abscheu vor dem Genusse derselben und halten durchaus kein Melkvieh. Eben so wenig aber bedient sich irgend eine Japanerin einer Amme, und es würde dies auch schon darum unausführbar sein , weil jede Mutter für ihr eigenes Kind zu sorgen hat und keinen Nährstoff besitzt, der an die Stelle der Muttermilch treten könnte. Hieraus ist es auch zu erklären, daß nicht selten eine Mutter in Japan [233] ihr Kind bis in das fünfte Jahr säugt und drei Jahre dieser Thätigkeit als das normale Verhältniß ansieht.
Auf diese Weise ist es ganz natürlich, daß sich unauflösliche Bande der Dankbarkeit und treuen Hingebung zwischen der Mutter und den Kindern knüpfen, und namentlich sind es die Söhne, welche dieselben bis ins höchste Alter ihren Müttern bewahren. Zumeist ordnet der Sohn alles Andere dieser Pflicht unter, und diesem Umstande verdanken es nicht selten ältere Frauen, daß sie nicht nur in Wohlstand und sorgenfrei ihre Tage verbringen, sondern sogar einen erheblichen Einfluß im Kreise ihrer Familie gewinnen, während die kinderlose Gattin nur so lange Beachtung findet, bis ihre Reize verblüht sind. Tritt dieser Fall ein, so wird sie vernachlässigt und häufig auch von ihrem Manne verstoßen ; die Eheschließung ist in Japan eine viel zu leichte und das Verhältniß der Gatten ein viel zu lockeres, als daß selbst begabtere Frauen immer von einem solchen Schicksale befreit bleiben könnten. Daß die Vielweiberei, wenn auch etwas verschleiert durch die bevorzugte Stellung der eigentlich legitimen Gemahlin, noch heutzutage in Japan existirt, ist eine leider nicht abzustreitende Thatsache, und namentlich sind es die reichen und vornehmen Stände, welche dieser Sitte huldigen. Hier spielen die sogenannten „Nebenfrauen“, und zwar durchaus mit Vorwissen der eigentlichen Hausfrau, eine bedeutende Rolle; der „Schacher“ mit diesen Frauenzimmern, der Wechsel derselben hört fast nie auf. Es bedarf wohl keiner Versicherung, daß bei diesen oft grausamen Vorgängen auch das Intriguenwesen im Schoße der Häuslichkeit sich üppig entfaltet, und nicht ohne Abscheu denke ich an dies Unwesen zurück, das meiner Ansicht nach der Einführung wahrer Civilisation und Gesittung ein nicht zu unterschätzendes Hinderniß entgegensetzt.
Die Ceremonie des Eheschließens beruht lediglich auf dem gemeinsamen Leeren einer Schale des nationalen weinartigen Getränkes, des Sake (Reisweins), das mit obligater Feierlichkeit und in Gegenwart einer Anzahl dazu erforderlicher Personen im Hause des jungen Ehemannes stattfindet. Die auf so leichte Weise geschlossenen Bündnisse können ebenso leicht wieder gelöst werden, das heißt nach Laune und Belieben des Mannes. Ist ihm seine Frau nicht mehr genehm, so findet sich irgend eine unbedeutende Veranlassung, die ihm Grund genug giebt, sich ihrer zu entledigen. Er braucht ihr nur schriftlich zu befehlen, aus dem und dem Grunde – zum Beispiel wegen angeblicher Verletzung der Ehrfurcht gegen ihn selbst oder gegen seine Eltern – sein Haus zu meiden. Resignirt und ohne Murren verläßt das verstoßene Wesen dann auch stets die Stätte seines immerhin sehr problematischen Glückes; es schmückt sich mit einem Anzuge, den ihm der Mann überläßt, verbeugt sich höflich vor demselben und sagt ihm Lebewohl. Alles, auch die Kinder, muß sie zurücklassen, und so zieht sie fort, tröstet sich mit ihren Leidensgenossinnen, sucht sich irgend eine Unterkunft bei Verwandten oder Freunden und heiratet, wenn ihr das Glück hold ist, einen anderen Mann.
[234] Diese Seiten des japanischen Lebens haben selbstredend zur Folge, daß bei der Erziehung der Töchter der größte Werth darauf gelegt wird, daß sie durch irgend welche Talente den Männern besonders gefallen können; dieser einen Rücksicht ordnet sich alles Uebrige unter. Hierbei ist aber Eins rühmend hervorzuheben, nämlich das stete Bemühen der Japanerin, ihr Haus reinlich und nett zu erhalten. Wer die höchst primitiven Wohnungen der Japaner aus Beschreibungen oder Abbildungen kennt, wird sich kaum vorstellen können, wie geschmackvoll und harmonisch dieselben oft eingerichtet sind, und dabei spielt die peinliche Sauberkeit und Ordnungsliebe der Frauen keine kleine Rolle. Der eigentliche Hausrath besteht im Grunde nur aus den Matten, welche den Fußboden bedecken; dieselben sind aus einer bestimmten Grasart gefertigt und bilden eine elastische Decke; ihre einzelnen Theile sind stets nach hergebrachtem Maße angefertigt und können, sobald ein Haus verlassen wird, in der nächsten Wohnung ohne Weiteres wieder verwandt werden.
Auf diesen Matten spielt sich Tag für Tag das häusliche Leben ab; kein Stuhl, kein Tisch nach unseren Begriffen, kein Bettgestell, kein Schrank ist erforderlich. Werden die Mahlzeiten gehalten, so setzt man vor jeden einzelnen der auf den Matten hockenden Hausbewohner ein kleines, ganz niedriges Tischchen hin, auf welchem in musterhafter Ordnung und Zierlichkeit die einzelnen Speisenäpfchen arrangirt sind. Gleiche Nettigkeit herrscht bei dem Theetrinken, dem die Japaner zu jeder Zeit und mit stets gleicher Vorliebe huldigen. Ebenso, wie man auf den Matten ißt und trinkt, schläft man auch auf denselben; sobald die Nachtzeit naht, wird das Bett darüber ausgebreitet, das aus dicken gesteppten Wattendecken besteht, welche am Tage in Wandschränken aufbewahrt werden. Ob der Japaner zu Haus oder in einem Wirthshause sich zur Ruhe begiebt, immer ist das Lager dasselbe. Auch fehlt nie das Nachtlicht, das in einem eigens zu diesem Zwecke hergerichteten Papierhäuschen brennt, und der Kohlentopf oder Hibatschi, ohne den man sich übrigens zu keiner Stunde ein japanisches Zimmer denken kann. Und wie am Tage stets das Theewasser auf demselben dampft, so glühen Nachts die Kohlen in der weißen Asche, die dem Japaner unentbehrlich sind, denn sobald er erwacht, zündet er daran sein Tabakspfeifchen an, dessen Genuß ihm zu allen Zeiten ein Bedürfniß ist.
Die Speisen bereitet in bürgerlichen Verhältnissen stets die Frau des Hauses, und nur sehr vornehme Familien oder Fremde bedienen sich der Köche, welche für die letzteren ihre Kochkunst in europäischen Hotels zu erlernen haben. Bei den einzelnen Mahlzeiten ist es Sitte, daß der Hausherr allein speist und ausschließlich von seiner Frau bedient wird; erst nachdem dies geschehen, zieht dieselbe sich zurück, um nun ihrerseits das Mahl einzunehmen, wobei sie sofern sie in guten Verhältnissen lebt, sich von ihren Dienerinnen aufwarten läßt. Auf jeden Fall aber wird sie diese Mahlzeiten nur dann mit Ruhe und Freude genießen, wenn sie überzeugt ist, daß es ihrem Mann an keinerlei Komfort gebricht und daß sie ihn nach jeder Richtung hin zufriedengestellt hat. Gelingt ihr dies auf die Dauer, und findet ihr Gemahl sie überhaupt noch ansprechend genug, so hat sie allerdings die Anwartschaft darauf, unter seinem schützenden Dache verweilen zu dürfen; indessen hängt das Schwert des Damokles stets über dem Haupte dieser armen Geschöpfe. Gleichwohl befinden dieselben sich immer noch in einer behaglicheren Lage als die zahlreiche Klasse jener Japanerinnen, die sich nicht verheirathen, sondern bei allerhand Schaustellungen und theatralischen Aufführungen als Sängerinnen oder Tänzerinnen ihren Beruf finden und zu diesem Zwecke eigens erzogen werden. Die Leistungen der Sängerinnen oder Geischas bestehen vorzugsweise in dem Spielen des Koto, des nationalen großen, vor dem Spielenden auf dem Fußdoden liegenden Saiteninstrumentes, und des kleinen dreisaitigen Samisen, mit welchem gewöhnlich der Gesang begleitet wird. Mit diesem Instrument ist auch die hier (S. 233) abgebildete Geischa ausgestattet.
Zugleich mit der Musik oder dem pantomimischen Tanz erwerben diese Mädchen auch eine besondere Fertigkeit in den zahllosen Toilettekünsten, mit welchen sich die Japanerinnen zu schmücken gewohnt sind. Man kann nicht sagen, daß die Kleidung derselben nach unseren Begriffen anmuthig oder graziös ist, allein sie ist zweckmäßig, bequem und nationalökonomisch äußerst vortheilhaft, da der Schnitt derselben nie einer Mode unterworfen ist und daher ein Kleid bis zur wirklichen Abnutzung getragen werden kann. Im Sommer werden die Stoffe dünn und leicht gewählt, im Winter dagegen werden die ohnehin stärkeren Gewänder mit einer Wattirung versehen, die sehr leicht und so schön ist, daß sie dem Anzuge stets ein wohlhäbiges und behagliches Aussehen verleiht. Zeigt auch die winterliche Kopfbedeckung wenig von den Gesichtszügen, so weiß die Japanerin sie doch mit vielem Anstande und in gefälliger Weise zu tragen.
Sonst ist die Straßentoilette von der Haustoilette nicht wesentlich verschieden, außer daß die großen Holzpantoffeln hinzukommen. Kleinen Fußbänken ähnlich, werden sie mit Hilfe eines weichen, aus Baumwollstoff gefertigten Bandes getragen, das hauptsächlich zwischen der großen und zweiten Zehe gehalten wird. Trägt daher der Japaner oder die Japanerin einen ihrer kurzen, aus Baumwollstoff gefertigten Strümpfe, so muß in diesen ebenfalls eine Trennung der großen Zehe von den übrigen Zehen angebracht sein, und man hat daher diese merkwürdigen, bei den Japanern allgemein gebräuchlichen Strümpfe nicht unrichtig einen Fausthandschuh für den Fuß genannt. So sonderbar und schwerfällig nun diese für beide Geschlechter im Wesentlichen übereinstimmende Fußbekleidung auch erscheint und so wenig sie geeignet ist, den Gang der Japanerinnen leicht und schön zu gestalten, ist sie doch weit besser als die der unglücklichen Chinesinnen, welche gerade, wenn sie höheren Standes sind, noch bis auf den heutigen Tag ihre Fuße künstlich verkrüppeln und [235] damit einer ungeheuerlichen, ebenso unvernünftigen als widerwärtigen Sitte fröhnen.
Die Haartracht der Japanerin ist keineswegs geschmacklos, und bei dem reichen Wachse des Kopfhaares sogar effektvoll zu nennen. Zu ihrer Instandsetzung gehört große Sachkenntniß und Geschicklichkeit, sodaß das Frisiren niemals eigenhändig vorgenommen werden kann; vielmehr braucht man dazu Friseurinnen, welche die Köpfe der Frauen – bis hinunter zu den ärmsten Kulifrauen – frisiren und zurechtstellen. In gleicher Weise erfordert das Schminken und Bemalen des Gesichtes und Halses große Fertigkeit. Dasselbe ist ganz allgemein üblich, denn selten sieht man eine jüngere Japanerin ohne diesen widrigen Anstrich, der sie begreiflicher Weise viel mehr entstellt als verschönt. Dick und kreidig wird derselbe aufgetragen, und nachdem dies geschehen, giebt man den Wangen noch ein unnatürliches Roth. Im Nacken, dicht unter der Haarfrisur, bleibt ein Fleckchen frei, wodurch die Bemalung noch unangenehmer hervortritt. Als ein Zeichen besonders hohen Ranges galt es früher, auf der Stirn, statt der abrasirten Augenbrauen, ein Paar runde schwarze Fleckchen anzubringen, doch ist diese Mode nur noch selten zu beobachten. Ebenso ist das Abrasiren der oft sehr fein geschwungenen Brauen abgeschafft, und nicht minder ist der Brauch schon fast verschwunden, daß die verheiratheten Frauen sich die Zähne zu schwärzen hatten, dagegen wird die Unterlippe noch jetzt bemalt, und zwar wird sie in der Mitte mit einem grellrothen und etwas metallglänzenden Flecke versehen der dem ganzen Gesicht einen geradezu unschönen Ausdruck verleiht. Ohne diese Bemalung hält so leicht keine Japanerin ihre Toilette für vollendet, und so finden wir sie auch nicht bloß bei den Sängerinnen, sondern auch bei den jugendlichen pantomimischen Tänzerinnen, von denen wir einige als charakteristisch japanische Gestalten abbilden und welche gewiß nicht unpassend als japanische Grazien bezeichnet werden können.
Es würde zu weit führen, wollten wir des Ferneren auf Mängel eingehen, welche in solcher Weise sich in der japanischen Frauenwelt, altem Herkommen gemäß, bis auf die Jetztzeit fortgeerbt haben. Es genüge, darauf hinzuweisen daß ein wirklich menschenwürdiges Dasein, ein Leben selbständiger geistiger Arbeit der Japanerin ebenso gut fehlt wie der Schutz des Rechtes durch die Gesetze. Hoffen wir, daß die Wandlungen der Zeiten, welche unaufhaltsam über den Erdball dahinschreiten und in Japan bereits Eingang gefunden haben, auch dem unterdrückten weiblichen Geschlechte dieses Landes alles das bringen mögen, was wir ihnen in Betracht ihrer mancherlei weiblichen Tugenden – ihrer Aufopferungsfähigkeit, ihrer Ordnungsliebe und unermüdlichen Sorgfalt für die Häßlichkeit und ihrer stillen anspruchslosen Duldsamkeit – von ganzem Herzen wünschen.
Blätter und Blüthen.
Die deutschen Vermißten und die „Gartenlaube“. Jede Zeitschrift, welche gewissenhaft dem Volke dient, erweitert auf dem Wege der Erfahrung den Kreis ihrer Pflichten und erhöht dadurch ihren Beruf. Auf diesem Wege ist die „Gartenlaube“ zu der ihr eigenthümlichen Redaktions-Abtheilung der „Wohlthätigkeit“ und insbesondere zu ihrer Sorge für die „deutschen Vermißten“ gekommen. Bekanntlich überließ man die Nachforschung nach Verschollenen der Obrigkeit, und nur Wohlhabende vermochten die kostspieligen Anzeige-Spalten großer Zeitungen für ihre Nachforschungen zu benutzen.
Da war denn in der That einem „dringenden Bedürfnisse abgeholfen“, als die „Gartenlaube“ sich zunächst armer hochbetagter Eltern annahm, welche auf Nachricht von den einzigen Stützen ihres Alters, ihren jahrelang vergeblich „aus der Fremde“ zurückerwarteten Söhnen harrten. In welchen trostlosen Jammer eröffneten die Bittbriefe dieser Unglücklichen einen Einblick! Es war kein Wunder, daß einige glückliche Erfolge solcher Nachforschungen die Zahl der Bitten weit über den Kreis der Armen hinaus vermehrten. Wuchs doch auch die Menge der Verschollenen durch die steigende Auswanderung namentlich nach Amerika und Australien zusehends. Da nun aber gerade durch die Auswanderung auch die „Gartenlaube“ immer weitere Verbreitung fand, indem viele Auswanderer, sobald sie festen Boden zu dauernder Niederlassung gefunden, die Verkehsverbindung zum Bezug derselben benutzten, so wurde dadurch das Wirkungsgebiet des Blattes zur Aufspürung deutscher Vermißter in gleichem Maße erweitert. Die „Gartenlaube“ drang in allen Erdtheilen so weit vor, wie die deutsche Kultur durch ihre kühnsten Vertreter. Dieser treuen Anhänglichkeit gegenüber hatte das Blatt „Treue gegen Treue“ zu wahren und fortan erst recht die große Wirkungsfähigkeit, welche die wachsende Verbreitung ihr bot, dankbar in den Dienst des deutschen Volles daheim und in der Fremde zu stellen.
Namentlich waren es die „Vermißtenlisten“, welche nun auch Bemittelten und Behörden sich erschlossen, wenn deren Nachforschungen sich als unzureichend erwiesen hatten. Wie oft wurde da ein Familientrübsal aufgedeckt, an dem die Oeffentlichkeit kalt vorübergeht! Wenn die verzehrende Sehnsucht der Verlassenen nach den Verschollenen durch keinen Trost gemildert wird, da bieten Eltern und Geschwister auch in Prunk-Palästen ein ergreifendes Bild. Aber hier wie in den Hütten der Armuth fühlt man den Balsam der Hoffnung, sobald der Name des Vermißten in den Spalten der „Gartenlaube“ steht: das ist die dankbare Versicherung in Hunderten von Briefen der Beteiligten. Und wo hat die „Gartenlaube“ ihre Vermißten zu suchen?
Mehr als ein Brief lautet: „Mein Sohn ist als Handwerksbursch in die Welt gegangen. Er ging in die Fremde“ – wohin? Keine Ahnung! Er wanderte nach Amerika aus – ob Nord oder Süd, bleibt unbekannt. Daß trotz so unbestimmter Angaben dennoch schon so viele Vermißte gefunden worden sind, grenzt oft an das Wunderbare. In Weltwinkeln, die man vergeblich auf den Landkarten sucht, in China und Ostindien, auf Inseln des Stillen Oceans, bei den Hinterwäldlern Nordamerikas, in den Kolonien Brasiliens, in den Niederlassungen Australiens wurden sie entdeckt, oft nach mehreren Jahren mit Hilfe alter in den Restaurationen liegender Jahrgänge der „Gartenlaube’. Mehr als einmal wurden Eltern, welche den Sohn seit 10 bis 15 Jahren für todt beweint, auf Betreiben der „Gartenlaube“ mit den Photographien der Schwiegertochter und der Enkel vom so lange pflichtvergessenen Sohn überrascht! Die Variationen der Freuden des Wiederfindens sind entzückend reichhaltig. Daher werden auch als werthvoller Korrespondenzschatz der Redaktion die Dankbriefe für glücklich Gefundene aufbewahren. Daß die Mehrzahl dieser Beglückten „die Worte nicht finden kann“ zum Ausdruck ihrer Gefühle, ist das beste Zeichen ihrer Glückseligkeit, die dann um so deutlicher zwischen den Zeilen zu lesen ist.
Der Zudrang zu den Vermißtenlisten ist jedoch ein so steigender, daß an eine Verminderung desselben ernstlich gedacht werden muß. Wünschen müssen wir aber, daß damit zugleich eine Verminderung der Trübsal der daheim in Sehnsucht nach den Verschollenen Trauernden verbunden sei. Und das ist möglich, wenn endlich eine der Hauptursachen des Vermißtwerdens beseitigt wird: das sind die falschen oder ungenügenden Brief-Adressen. Die Mehrzahl der Auswanderer gehört dem Bauern- oder Handwerkerstande an, die zum großen Theil ihre Schulbildung zu einer Zeit erhalten haben, wo noch der Unterricht in der Volksschule arg daniederlag. Man muß Briefe von solcher Hand gesehen haben, um zu erschrecken über den Mangel an praktischen Kenntnissen und Fertigkeiten in diesen Volkskreisen.
Hat ein solcher Ausgewanderter endlich festen Boden gefunden, so schreibt er wohl heim, aber den Namen seines Wohnortes meistens so, wie er ihn aussprechen hört, vergißt auch ebenso oft die Lage (z. B. in Nordamerika außer dem Staat auch County und Township) anzugeben. Der Verwandte in Deutschland malt dann diese Adresse genau nach und unterzeichnet sich gewöhnlich nur mit seinem Taufnamen. Findet nun der Brief nicht zufällig seinen Mann, so kann er häufig nicht an den Absender zurückbefördert werden, die Korrespondenz hat ein Ende, und ein Vermißter ist fertig. Und dies ist in Hunderten von Fällen dagewesen. Richtige, genaue Adressen und stets ganze Namensunterschriften und viel Jammer und Klage über Verschollene wird es weniger geben. Dies kann nicht oft genug gesagt und sollte jedem Auswanderer auf die Seele gebunden werden. Wir bitten dringend, diese Bemerkung zu beachten und möglichst zu verbreiten. Fr. Hfm
Frühlings-Einläuten. (Mit Illustration S. 217.) Zu den frühesten Vorboten des Lenzes gehört in unserer Heimath das Schneeglöckchen, das an sonnigen Plätzen seinen weißen Blüthenkelch emportreibt, wenn noch die Flüsse still stehen und tiefer Schnee die Felder und Auen deckt. Diese allgemein bekannte Erscheinung wußte L. Fehrenbach zu einem reizenden Märchen umzudichten, indem er zu dessen Schöpfung den allen Volksglauben verwerthete, nach dem Kobolde, Zwerge und Elfen mit dem Pflanzenleben innig verbunden sind. In der That ist das Silhouettenbild „Frühlings-Einläuten“ ein reizendes Phantasiestück, voll origineller Pointen. Da erscheint bei klarem Sonnenaufgang der Zwerg „Temperatur“ mit dem Thermometer, und flugs springen die Knospen der Frühlingsblume auf. Ein anderer Zwerg benutzt die Blüthe feinsinnig als Glocke und zieht freudig an den improvisirten Glockensträngen. Er lockt durch die magischen Klänge aus der ein wenig aufgethanten Erde einige vorwitzige Kerfe hervor, und der kleine Lenzgott schwebt auf seinen Fittigen hernieder, um die ersten Vasallen seines Reiches zu begrüßen. Der zwerghafte Glöckner freut sich des Erfolgs. Was kümmert’s ihn, ob er rechtzeitig den Frühling eingeläutet? Er ist ein Kobold und lacht sich ins Fäustchen, wenn urplötzlich Wolken die Sonne verhängen, ein scharfer Ostwind über den Wald fegt und das erste flüchtige Lenzbild wie im Traum verschwindet. Er wird ja in nächsten Tagen wieder läuten können am Fuße von Hunderten und Tausenden neuer Schneeglöckchen, bis das vereinte Tönen derselben die ganze Natur weckt, bis alle Knospen springen und laute Frühlingslieder der gefiederten Sänger den siegreichen Einzug des Lenzes feiern. *
Zur Kulturgeschichte der Menschheit. Julius Lippert ist seit Jahren den weiteren Kreisen deutscher Leser bekannt. In klarer und durchaus ansprechender Form wußte er dem Volke Aufschlüsse über schwer verständliche Gebiete des Wissens zu ertheilen. Wir erinnern nur an seine treffliche populäre „Kulturgeschichte“, die in einzelnen Bändchen in der weit verbreiteten volksthümlichen Bibliothek „Das Wissen der Gegenwart“ (Verlag von G. Freytag und F. Tempsky, Leipzig und Prag) erschienen ist. Der Werth dieser belehrenden Volksschriften ist aber auch darum ein besonders hoher,
[236] weil sie keineswegs auf geschickter Kompilation beruhen, sondern der Feder eines ernsten Forschers entstammen, der seine eigenen Wege zu wandeln versteht und durch seine geistvollen Werke der Wissenschaft selbst nicht zu unterschätzende Dienste geleistet hat. Mit großem Interesse begrüßen wir darum ein neues Werk Lippert’s, welches soeben unter dem Titel „Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau“ im Verlage von Ferdinand Enke (Stuttgart) herausgegeben wird. Soweit man nach den vorliegenden ersten Lieferungen desselben zu urtheilen vermag, will der Verfasser den Beweis führen, daß wir der gemeinen Lebenfürsorge unsere gesammte Kultur verdanken, wobei er jedoch einer nackten Abhängigkeit des Menschen von den Naturgewalten nicht unbedingt das Wort redet, sondern auch den werdenden, im Laufe der Zeit sich bildenden menschlichen Vorstellungen den berechtigten Einfluß auf die Entstehung der Familie, der Religionen, der Sittlichkeitsgesetze etc. einräumt. Der Verfasser weiß jeden Gebildeten durch das Aufstellen neuer und durch die originelle Beleuchtung längst bekannter Fragen zum ernsten Nachdenken anzuregen, und seine meisterhafte Darstellungsweise verdient um so mehr hervorgehoben zu werden, als durch dieselbe der schwierige Gegenstand auch dem allgemeinen Verständniß näher gerückt wird. *
Speisekarte oder Speisenkarte? Hierüber wünscht die Redaktion – angeregt durch eine an sie gerichtete Anfrage, von mir eine kurze Entscheidung, und demgemäß erkläre ich denn, daß die zuerst genannte Form als die allgemein übliche (s. mein „Wörterbuch der deutschen Sprache“ Bd. I, S. 872b) unbedingt den Vorzug verdient, aber nicht, weil (wie der Anfragende meint) man auch „Wein-, Tanz-, Spiel-“ und nicht „Weine-, Tänze-, Spiele-Karte“ sage; denn dem ließen sich andere Zusammensetzungen von Karte entgegensetzen, wie z. B. Figuren-, Fremden-, Personen-, Staaten-, Visiten-Karte etc., und man hat sich wohl davor zu hüten, in dem „en“ der ersten Hälfte derartiger Zusammensetzungen immer die Form der Mehrzahl zu erblicken. Ich verweise der Kürze halber aus Das, was ich in meinem „Wörterbuch der Hauptschwierigkeiteu in der deutschen Sprache“ (14. Aufl.) S. 329 unter der Ueberschrift: „Weibliche Hauptwörter“ gesagt habe, vgl. Zusammensetzungen wie „Liebfrauenkirche = Unserer lieben Frauen (= Frau oder Jungfrau, das ist Maria) Kirche etc.; Nasen-Bein. -Ring etc. (wobei offenbar nur an eine Nase, nicht an mehrere zu denken ist) u. a. m. Auch erinnere ich an das in meinem „Wörterbuch der deutschen Sprache“, Bd. I, S. 372b über den Unterschied zwischen „Erde“ und „Erden“ in Zusammensetzungen Bemerkte, wo sich Beispiele finden, wie: Der Regenwurm gehört zu den „Erdwürmern und „Der Mensch, der schwache Erdenwurm“ und, aus Goethes „Faust“: „Mächtiger der Erdensöhne“, dagegen aus Goethes „Achilleis“: „Und der Herrliche lag an dem Fuße verletzt wie ein Erdsohn“, – mit der Hinzufügung: Jenes ist christlich-orientalisch, Dies heidnisch-griechisch u. a. m. – Wer die Verschiedenheit der Bestimmungswörter in Zusammensetzungen auch nur mit ein und demselben Grundworte (Braten) erwägt, wie: Enten-, Gänse-, Hammel-, Hirsch-, Kalbs- oder Kälber-, Ochsen-, Reh-, Schweine-, Wild-Braten etc., wird erkennen, daß sich die Frage im Allgemeinen nicht so kurzer Hand beantworten läßt und daß man sich in den einzelnen Fällen nach dem allgemein anerkannten Sprachgebrauch zu richten hat, der wie ich oben hervorgehoben, in dem vorliegenden Falle sich für „Speisekarte“ entschieden hat.
Altstrelitz, den 8. März 1886. Daniel Sanders.
Eine Spargelart als Zierpflanze. Die Blumenliebhaberei ist in fast allen europäischen Ländern so groß, daß die Handelsgärtnereien sich ordentlich Mühe geben müssen, um alle Wünsche ihrer Kunden zu befriedigen. Unter diesen Wünschen nimmt aber die Jagd nach „neuen“ Pflanzen eine sehr hervorragende Stelle ein. Zu diesem Zwecke unterhalten namentlich in Belgien und England große Pflanzenhandlungen eine Anzahl Reisender, die alle Theile der Welt durchforschen – tropische Urwälder, Gebirge und Ebenen aller Zonen, wo nur einige Ausbeute an Pflanzen sich bietet. Von einem dieser Sammler, einem Engländer Namens Mudd, wurde vor 10 Jahren am Kap der guten Hoffnung eine zierliche Spargelart entdeckt und nach London gesandt. Sie führt den Namen Asparagus plumosus und zeichnet sich durch eine so graziöse Feinheit der Belaubung aus, daß sie darin mit den elegantesten Farnpflanzen wetteifert.
Die Pflanze ist rankend und gedeiht auch ganz gut im Zimmer. An seinen Gitterwerken oder Drahtkugeln rankend, gewährt sie auf dem Blumentisch fast den Anblick eines duftigen Schleiers. Neuerdings wurde durch die Firma William Bull in London eine Abart dieser Zierpflanze, Asparagus plumosus nanus, auf den Markt gebracht; sie ist nicht rankend und niedriger als die vorbeschriebene Art, zeichnet sich aber durch ihre äußerst eleganten farnwedelartig ausgebreiteten Zweige aus, die nicht nur jedem Blumentisch zum Schmuck gereichen, sondern auch sich zum feinen Bindegrün vortrefflich eignen. In Deutschland befaßt sich die Kunstgärtnerei Jühlke in Erfurt mit dem Vertrieb dieser interessanten Pflanzen. *
Allerlei Kurzweil.
Kleiner Briefkasten.
Lehrer B. in K. Unter den Blättern, die einen Uebergang von Fachjournalen zu den rein populären Zeitschriften bilden und in ihren Spalten über die neuesten Fortschritte der gesammten Naturwissenschaften berichten, können wir Ihnen zwei empfehlen: den „Naturforscher“ und „Humboldt“. Beide wenden sich an ein Publikum, das mit den Elementen der Naturwissenschaft vertraut ist. – „Der Naturforscher“ erscheint wöchentlich und hat sich im Laufe seines nunmehr achtzehnjährigen Bestehens stets bewährt. Mit dem Beginn dieses Jahres ist das Blatt in den Verlag der H. Laupp’schen Buchhandlung in Tübingen übergegangen, welche den Abonnementspreis desselben auf Mark 2,50 vierteljährlich ermäßigt hat und, wie die ersten Nummern dieses Jahrgangs beweisen, im Verein mit der Redaktion durch Heranziehung neuer Mitarbeiter und Erweiterung des Programms den „Naturforscher“ für die betheiligten Kreise stets interessanter und mannigfaltiger zu gestalten weiß. – Die Monatsschrift „Humboldt“ (Verlag von Ferd. Enke, Stuttgart, Abonnementspreis monatlich 1 Mark) zeigt in der Wahl ihrer Artikel das Bestreben nach einer in gewissen Grenzen gehaltenen populären Darstellungsweise und bringt vor Allem ausführliche Aufsätze aus der Feder anerkannter Autoren, an die sich eine allgemeine Uebersicht der neuesten Fortschritte und eine Fülle kurzer Mittheilungen anschließen.
Herrn F. D. in Homberg a. Rh. Daß es dem Verfasser des Artikels „Aepfelwein“, Nr. 47, 1885, Herrn E. Peschkau, nicht unbekannt war, daß man auch bisweilen für 80 Pfennig eine gute Flasche Wein erhält, geht daraus hervor, daß er schrieb, „in den meisten Fällen“ sei Wein für 80 Pfennig Kunstprodukt. Er glaubt Ihnen auch gern, wenn Sie versichern, daß es bei bescheidenem Nutzen möglich ist, einen reinen, trinkbaren Wein schon zu 50 Pfennig per Flasche abzugeben, und bedauert nur, daß es in der Welt so viele Leute giebt, die sich nicht mit „bescheidenem Nutzen“ begnügen.
G. N. in B. Eine Biographie mit gutem Bildniß Georg Büchmann’s finden Sie in seinen berühmten „Geflügelten Worten“ (Berlin, Haude- und Spener’sche Buchhandlung [F. Weidling], 1884), welche nach dem Tode des Verfassers (24. Februar 1884) von Walter Robert-tornow in 14., vielfach vermehrter Auflage herausgegeben sind.
B. D. W., Hilarius Heimchen in Graz. Leider nicht geeignet.
Inhalt: Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 217. – Frühlingswehen. Gedicht von Victor Blüthgen. Mit Illustration S. 221. – Schuljahr und Ostern. Ein Vorschlag zur Reform der Ferienordnung unserer Schulen. Von Dr. Georg Winter. S. 223. – Die Andere. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 225. – Sonntagmorgen. Illustration. S. 229. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. 2. Bilder aus dem Affenleben. II. Vom Äffentalent. S. 230. – Japanisches Frauenleben. Von C. W. E. Brauns. S. 232. Mit Illustrationen S. 232, 233 und 234. – Blätter und Blüthen: Die deutschen Vermißten und die „Gartenlaube“. – Frühlings-Einläuten. S. 235. Mit Illustration S. 217. – Zur Kulturgeschichte der Menschheit. S. 235. – Speisekarte oder Speisenkarte? Von Daniel Sanders. – Eine Spargelart als Zierpflanze. – Allerleri Kurzweil: Geometrische Komponir-Aufgabe. Von Erin. – Kleiner Briefkasten. S. 236.
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die nächste Nummer beginnt mit der bereits früher angezeigten Novelle:
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).
Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf, 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.