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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[753]

No. 46.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Sonntag Nachmittag. Nach dem Oelgemälde von R. Hesse.

Zwei dunkle Gestalten lösten sich aus dem Dickicht: Herr Simon Wimmer in Begleitung eines der beiden Ortsgendarmen.

„Was is denn jetzt das für an Art?“ lachte Gidi. „Meint’s ’leicht, ich bin a Scheiben für Eure ärarialischen Schießprügel? Was habt’s denn zum suchen da, Ihr zwei miteinander?“

„Nix für ungut, Herr Eberl, nix für ungut,“ stammelte der Kommandant unter Pusten und Schnauben „bei derer Dunkelheit ischt a Verkennung älleweil a mögliche Sach’. Aber Sie dürfen mir’s glauben, es ischt für uns selber kein Spaß –“ Seine Stimme erstickte unter den Falten des ungeheueren Taschentuches, mit dem er an Hals und Wangen den rinnenden Schweiß zu trocknen suchte, während sein Begleiter sich an den Jäger mit der Frage wandte, ob der Steig schon gangbar wäre, der über die Bründlalm und den Grat der Höllenleithe nach dem Grenzpasse führe und von dort zurück gegen den Hochgraben der Höllbachklamm.

„Mein, gangbar is er schon, der Steig,“ erwiderte Gidi, „aber, wenn man fragen darf, was wollts denn eigentlich droben beim Grenzpaß? Habts ’leicht an Schwärzer auf der Muck’?“

„O,“ jammerte der Kommandant, „lieber möcht’ ich auf a ganze Schmugglerbande streifen, als auf den einen einzigen, der da zum suchen ischt. Da hab’ ich mich gestern noch so drüber g’freut, daß ich mich so gut steh’ mit dem Finkenbauer, und jetzt müssen wir streifen auf sein’ Bruder, auf den Ferdinand Fink, der von sei’m Regiment desertirt ischt und auch sonst noch in ei’m gar fürchtigen Verdacht steht – –“

„Der Ferdl – und desertirt!“ fuhr Gidi erschrocken auf. „Na, na, na – das is net wahr – das glaub’ ich net!“

„Und doch ischt die Sach’ net anderscht – leider Gottes!“ jammerte Herr Wimmer, und schon wollte er einen ausführlichen Bericht der Vorgänge beginnen, die sich während der verwichenen Nacht auf der Schwelle des Finkenhofes abgespielt hatten, als ihn ein schrillender Pfiff seines Begleiters zur Eile mahnte.

Gidi hörte die Worte nicht mehr, mit denen der Kommandant ihn zum Abschied übersprudelte. Er stand in Gedanken und starrte hinaus in die Dämmerung, und als er endlich auffuhr, eine Frage auf den Lippen, sah er sich allein. Nur noch ein leises Knirschen und Rascheln über ihm in der Höhe des Waldes verrieth ihm die Richtung, welche die Beiden genommen. Er stieß den Bergstock in das Moos und ließ sich auf einen Baumstrunk nieder.

„Der Ferdl – und desertirt! Ich kann’s net fassen – ich kann’s net fassen !“

Und nun erst jenes andere Wort, das der Kommandant gesprochen! Welcher Art mochte jener „fürchtige Verdacht“ sein, der auf Ferdl lasten sollte? Aber ein Verdacht ist noch keine Thatsache – ein Verdacht kann falsch sein und ungerechtfertigt, muß es sein gegenüber einem Menschen von Ferdl’s Art und Wesen. Aber ein Mensch ist doch immer [754] nur ein Mensch – und es können Stunden kommen, in denen man seiner selbst vergißt. War eine solche Stunde auch für Ferdl gekommen? Und wenn es so war, zu welch einem Entsetzlichen mußte sie ihn verführt haben, da ihn die Furcht vor der Strafe, oder auch nur die Reue und das Grausen über so entsetzliche That zu solcher Flucht verleiten konnte, die zum Unrecht neues Unrecht fügte!

Und wieder versank der Jäger in stummes Brüten.

Rings um ihn erwachte mählich der Tag. Rothes Licht übergoß den Himmel und fluthete durch den Bergwald, um wieder zu erblassen vor den lichtsprühenden Strahlen, die von Osten her emporschossen über das Firmament, das schneebedeckte Felsenhaupt, hinter welchem die Sonne hervortauchte, sah sich an, als trüg’ es eine Riesenkrone von weißglühendem Erze.

Ein blendendes Leuchten und Flimmern webte durch das Gezweig der Bäume und über den Moosgrund, auf dem die Thautropfen in bunten Farben funkelten.

Da plötzlich klang von ferner Felsenhöhe hernieder ein dumpfes Brummen und Knattern.

Gidi fuhr empor und riß den Bergstock aus dem Moose.

Dort oben mußte über eine der steilen Wände eine Schnee- oder Steinlawine niedergegangen sein. Wer mochte sie gelöst haben? Eine flüchtende Gemse – oder – –

Heiß schoß dem Jäger das Blut in die Stirn! Daß ihm aber auch jetzt erst dieser Gedanke kam! War es nicht sein Freund, der da umherirrte im Bergwald oder zwischen Felsen – und wenn er des Schutzes bedurfte, mußte er ihn nicht zuerst beim Freunde suchen?

Gidi stürzte über den Hang dahin, daß unter seinen Schuhen die Steine klapperten und flogen. Auf und nieder über Buckeln und Gräben führte sein Weg, aus dem Bergwald hinaus über die Weidelichtung der Bründlalm, und wieder dahin unter ragenden Tannen, dem Höllbachgraben zu, daraus ihm von Ferne schon das Brausen und Tosen der wilden Gewässer entgegendröhnte. Jetzt erreichte er die Schlucht – ein Baumstamm war als Steg über den schwarz und bodenlos gähnenden Abgrund geworfen – Gidi eilte darüber hinweg, als wär’ es breite Straße.

Keuchend und triefend von Schweiß erreichte er die aus behauenen Blöcken gefügte Jagdhütte. Sie stand auf einem grasigen Hügel, überschattet von riesigen, moosbehangenen Lärchen.

Erschäpft lehnte sich Gidi an die Hüttenwand, verhielt den Athem und lauschte zur Höhe. Er vernahm nur das Rauschen der Bäume und das dumpfe Donnern des Höllbaches.

Nun schloß er die aus dicken Bohlen gebildete Thür auf und trat durch den Küchenraum in die Stube. Er legte Büchse und Rucksack ab, dann öffnete er die beiden kleinen, mit starken Eisenstäben vergitterten Fenster und stieß die Läden auf. Grelles Sonnenlicht erhellte den mit Brettern verschalten Raum, dessen Einrichtung aus Tisch und Bänken, einem Wandschranke und einem Geschirr-Rahmen, einem kleinen eisernen Ofen und einem mit wollenen Kotzen überdeckten Bette bestand.

Mit zerstreuten Blicken irrten Gidi’s Augen über die Wände, mechanisch rührte er die Klinke der versperrten Thür, die zu der anstoßenden „Grafenstube“ führte. Dann ließ er sich auf die Holzbank niedersinken; doch schon nach wenigen Sekunden sprang er wieder auf, eilte ins Freie und setzte sich auf die Schwelle nieder. Mit funkelnden Augen starrte er eine Weile empor zu den felsigem schneebedeckten Höhen; er zog das Fernrohr auf und suchte mit ihm die steilen Hänge und den Grat der Höllenleithe ab. Seufzend ließ er das Glas wieder sinken und verfiel in das alte Aufstarren zur Höhe. Plötzlich fuhr er zusammen. „Was is denn jetzt – das kann doch kein Gams net sein!“

Hastig riß er das Fernrohr vor das Auge und richtete es nach dem schwarzen beweglichen Pünktchen, das er hoch zwischen klotzigen Felsen auf dem steilen schneebedeckten Hange wahrgenommen hatte.

„Ja, ja – Jesus Maria – der Ferdl is – und – mein Gott, mein Gott – g’rad in d’ Händ’ muß er ihnen laufen, wenn er aufsteigt über’n Grat.“

Zitternd sprang Gidi empor, stürzte in die Stube, riß die Büchse an sich, stürmte wieder ins Freie und schmetterte hinter sich die Thür ins Schloß.

Er eilte den steilen Berghang empor, als hätte er ebenen Grund unter sich. Noch ehe der Bergwald zu Ende ging, begann der Schnee, der sich in dicken Klumpen an Gidi’s Schuhe heftete.

Jetzt erreichte er eine offene, von Felsentrümmern übersäete Fläche. Da verhielt er die Schritte und starrte zur Höhe. Nun konnte er schon mit freiem Auge die Gestalt des Freundes unterscheiden, den nur noch eine kurze Strecke vom Grate der Höllenleithe trennte.

„No also – no also – ich hab’ mir ’s ja denkt!“ stammelte Gidi, denn der gleiche Blick, der ihm den Freund gezeigt, hatte ihn auch die scharf vom lichten Himmel sich abhebende Gestalt gewahren lassen, welche vom jenseitigen Berghang über den Grat emportauchte.

Mit zitternder Hand brachte Gidi aus seiner Tasche ein Stückchen Birkenbast hervor – das führte er an die Lippen – und nun schrillte von seinem Munde ein Laut in die Lüfte, der dem gellenden Schrei des Habichts glich. Dreimal wiederholte er dieses Warnungszeichen. Das mußte Ferdl hören und mußte sich dabei an frühere Zeiten erinnern, in denen sich gar häufig die beiden Freunde mit diesem Ruf im Bergwald gesucht und gefunden hatten.

Noch gellte der dritte Schrei auf Gidi’s Lippen – da sah der Jäger, wie Ferdl im Anstieg plötzlich innehielt und in rasender Flucht sich thalwärts wandte. Gidi’s Warnungsruf konnte noch nicht bis in jene Höhe gedrungen sein – Ferdl selbst mußte die Gefahr gewahrt haben, die über ihm drohte. Doch auch der Verfolger mußte von der Höhe des Grates aus den Flüchtling erblickt und erkannt haben, denn in fliegender Eile stürmte er über den steilen Hang hernieder der Stelle zu, von welcher aus die Fährte im Schnee ihm den Weg verrathen mußte, den Ferdl genommen. Gidi meinte in dem Verfolger den Begleiter des Kommandanten zu erkennen – und er sah ihn allein – Niemand folgte ihm. Hatten die mühsamen Pfade jenseit des Grates den Kommandanten hinter seinem Begleiter zurückbleiben lassen – oder war er überhaupt nicht emporgestiegen zum Grate, sondern andere Wege gegangen?

Gidi nahm sich die Zeit nicht, diese seine stumme Frage zu beantworten. Er zwängte sich zwischen Felsenblöcken hindurch, wand sich über Geröll und klotziges Gestein und eilte dem Rande der Höllbachklamm entgegen. Immer dem Abgrund folgend, mühte er sich keuchend der Höhe zu. Das Rauschen und Brausen der Gewässer, die ihm zur Seite in dunkler Tiefe ihre schäumenden Wirbel schlugen, erfaßte das Geräusch seiner Tritte. Es gehörte der schwindelfreie Blick und der sichere Fuß des Jägers dazu, um solchem Wege mit solcher Eile zu folgen, da war nirgends ein Uebergang von der offenen Höhe zur Tiefe – überall jäh abstürzendes Gestein, bald erweiterte sich die Schlucht zu riesigen Kesseln, in deren Abgrund die milchweiße Brandung kochte, bald wand und krümmte sie sich im Bogen oder im Zickzack, und da brüllte der Bach unter dem Zwange seiner engen Fesseln, sich aufbäumend an verwaschenen Felsen, bald wieder verschwand das Wasser mit dumpfem Brummen unter vorspringenden Felsgeschieben, unter schief in bodenlose Tiefe sich senkenden Wänden. Ueberall entquoll eine dunstige Kälte dem Abgrund, und dünne Nebel schwebten aus ihm empor, um unter der Sonne in Luft zu zerfließen.

Höher und höher eilte Gidi, in Angst und Sorge, ob er wohl rechtzeitig noch jene Stelle erreichen würde, an welcher der Abgrund seine Ränder so nahe an einander zieht, daß er mit einem herzhaften Sprunge zu übersetzen war. Ferdl mußte auf seiner Flucht in die Nähe jener Stelle gelangen, denn weiter drüben sperrten steilabstürzende Felsen seinen Weg, und die offene Almlichtung durfte er nicht betreten. So hoffte Gidi, daß es ihm gelingen möchte, den Freund im richtigen Augenblicke an jene Stelle zu rufen – und wenn er ihn erst an seiner Seite hatte, dann wußte er ihn schon auf Wege zu führen, auf denen kein Dritter ihnen folgen würde.

Ein Aufstieg von wenigen Minuten noch, dann mußte Gidi jene Stelle erreichen. Nur eine offene, von Geröll überdeckte Felsfläche und einen niedrigen, von Latschen und kümmernden Fichten bewachsenen Hang hatte er noch zu überwinden.

Nun erreichte er jene offene Felshöhe – und da erstarrte ihm jählings der Fuß. Auf dem jenseitigen Rande der Schlucht sah er den Kommandanten hinter einem Steinblock kauern; lauschend hielt er den Kopf erhoben und spähte über die Kante des deckenden Steines hinweg, jetzt richtete er sich hastig in geduckte Stellang empor – aus dem bergwärts ziehenden Latschendickicht [755] hallte ein lautes Rappeln, Rollen und Brechen – „Halt!“ ließ eine heiser schreiende Stimme sich vernehmen – jenes Klappern und Brechen verstummte nicht, es verstärkte sich, kam näher und näher – im Latschendickicht sah man die ragenden Gipfel und Aeste zittern, schwanken und schlagen – „Halt!“ wiederholte sich jener heisere Ruf – und nun theilten sich die Zweige, und Ferdl wankte auf das offene Gestein, keuchend und röchelnd wie ein von Hunden gehetztes Wild. Einen Augenblick verhielt er, um Athem zu schöpfen, seinen Lauf und drückte dabei die eine Faust, welche die blaue Mütze krampfhaft umschlossen hielt, auf die fliegende Brust, die andere wider die rechte Hüfte, von welcher das blutüberronnene Beinkleid niedergerissen war – dann wieder wollte er thalwärts fliehen – da aber sprang der Kommandant aus seinem Verstecke hervor und versperrte ihm den Weg.

„Ergeben S’ Ihnen in Güte, Ferdinand Fink – es giebt keinen Ausweg mehr!“

Stöhnend taumelte Ferdl zurück, starrte mit brennenden Augen um sich, sah drüben den Jäger stehen und stürzte unter gurgelndem Aufschrei mit verzweifelten Sätzen dem Rande der Höllbachschlucht entgegen.

Hinter ihm aber brach in diesem Augenblicke der Verfolger aus dem Dickicht und riß, an einem Steinblock eine Stütze suchend, mit dem dritten „Halt“ das Gewehr an die Wange.

„Jesses – net schießen!“ kreischte der Kommandant, stürzte auf den Gendarmen zu, und während er ihm das Gewehr in die Höhe schlug, daß der Schuß sich krachend in die Luft entlud, fuhr drüben über der Schlucht der Jäger aus seiner Erstarrung empor mit dem schrillenden Rufe.

„Ferdl – Ferdl – um Gotteswillen – da springt ja kein Hirsch net ummi!“

Doch die Warnung kam zu spät. Schon schnellte sich der Bursche mit hohem Satze hinaus über den Rand der Schlucht – die Verzweiflung mußte ihm die Kräfte zu solchem Sprunge gegeben haben – glücklich erreichte er auch mit den Füßen das andere Ufer, doch unter der Wucht des Anpralls brachen ihm die Kniee. Jammernd warf sich Gidi mit ausgestreckte Armen dem Freunde entgegen, doch ehe er ihn noch zu erreichen vermochte, sah er ihn taumeln, die Arme kreisend in die Luft schlagen und rückwärts niederstürzen über den Felsenbord, unter dem gellenden Aufschrei: „Jesus Maria! Grüßt’s mir mein Jörgenbruder!“

Ein dumpfer, klatschender Schlag – das Rasseln und Poltern der nachstürzenden Steine – und aus der Tiefe war nur noch das Brausen und Rauschen des Wassers zu hören, während in der Höhe der schneebedeckten Felsen mit grollendem Hall das Echo des gefallenen Schusses verrollte.

„Aus is! Aus is!“ stammelte Gidi. „Unser Herrgott sei gnädig Deiner armen Seel’.“

Er hob die zitternde Hand, bekreuzte das erblaßte Gesicht und sank auf die Kniee nieder zu stummem Gebete.


Es war um die zehnte Morgenstunde, als Gidi sich dem Finkenhofe näherte. Kaum trugen ihn noch die Füße; er ging gebückt und mit wankenden Knieen wie ein Greis. Und doch – als er den Zaun des Gehöftes erreichte, richtete er sich straff empor. Er fuhr sich mit den Händen über die Augen, denn er meinte zu träumen, da er nicht zu fassen wußte, was er gewahrte. Aber das konnte kein Traum sein – er hörte ja das summende Geflüster all der vielen Leute, die den ganzen Hofraum erfüllten und zumeist in schwarze Gewänder gekleidet waren, als hätten sie sich zu einem Leichengange gerüstet.

Zögernden Schrittes trat Gidi in den Hof, faßte den Nächsten beim Arme und frug mit bebender Stimme:

„Was is denn? Was soll denn das Alles heißen? Was hat’s denn ’geben?“

„Ja, weißt es denn Du noch net? D’ Hanni is g’storben – verunglückt im Wasser – drin in der Münchnerstadt. G’wiß wahr, ’s ganze Ort is rebellisch ’worden, wie die Botschaft um’gangen is heut’ in der Fruh. No – und a Stund’ kann’s her sein, da is d’ Finkenbäuerin ’kommen und da habn s’ auf ’m Wagen den Sarg von der Station ’bracht. Natürlich bin ich auch mit draußen g’wesen wie s’ den Sarg mit Fahn’ und Lichter an der G’mein’grenz’ abg’holt haben. Du, ich sag’ Dir’s – ganz dergriffen hätt’s Dich, wann die Bäuerin g’sehen hättst, wie’s verweint und derkeit[1] g’wesen is und wie sie sich hing’worfen hat am Bauern sein’ Hals und g’schluchzt hat: ‚O mein Jörg! O mein armer Jörg!‘ Und der is Dir dag’standen, kaasweiß im ganzen G’sicht – aber – aber net a Zahrl is ihm aus die Augen g’ronnen – g’rad ’s Bahrtuch hat er allweil ang’starrt – und nachher hat er den schwarzen Zipfl ’packt, und nimmer ausg’lassen hat er ihn, auf ’m ganzen Weg. No ja – und jetzt is halt nachher d’ Leich’ – gleich muß der Pfarrer kommen.“

Kein Laut kam über Gidi’s Lippen; als er sich dem Hause zudrängte, starrten ihm die Leute mit scheu verwunderten Augen in das fahle, verstörte Gesicht. Mit Mühe gelangte er zur Thür. Falber Kerzenschein erfüllte den Flur, in welchem der offene Sarg auf einem schwarzverhängten Schragen stand. Ein Zittern überkam den Jäger, als seine Blicke auf die Leiche fielen. Sie war in ein dünnes, weißes Gewand gekleidet, dessen Falten sich eng an die schlanken und sanften Formen des herrlichen Körpers schmiegten. Mit reichen Wellen übergoß das offene braune Haar die Schultern und die Büste und verschleierte die weißen Hände, die, über der Brust gefaltet, ein kleines Kreuz von Ebenholz umschlossen hielten. Wachsbleich hob sich aus der dunklen Umrahmung der losen Flechten das schmale, feine Gesicht; es war im Leben nicht schöner gewesen, als jetzt im Tode. Gleich sichelförmigen Schatten lagen auf den Wangen die Wimpern der dünnen Lider, durch deren Blässe die dunklen Augensterne hindurch zu schimmern schienen. Ein schmerzlicher Zug war um den schönen Mund gelegt, der dennoch zu lächeln schien; es war, als läge noch ein unausgesprochenes, liebevolles Wort auf diesen Lippen.

Zu Häupten der Bahre stand die Finkenbäuerin, weinend und betend, ihr zu Füßen knieete Veverl, das schluchzende Lieslein an ihrer Seite, unter der offenen Stubenthür kauerte der Knabe, mit scheuen Blicken bald die Bahre, bald die Mutter und bald den Vater streifend, der drüben am Geländer der Treppe lehnte, mit krampfhaft verschlungenen Händen, ein Bild qualvoller Trauer und tiefen Schmerzes. Als Gidi die Schwelle betreten hatte, war Jörg zusammengefahren, hatte die Augen mit bangen Blicken der Thür zugeworfen und war wieder in sein brütendes Niederstarren versunken.

Eine Weile stand Gidi in stummem Gebete, dann bückte er sich nach dem Weihwasserkessel, der zu Füßen der Bahre stand, sprengte einige Tropfen des geweihten Wassers über die Leiche und verließ den Flur. Auf der Schwelle begegnete ihm Emmerenz; sie war schwarz gekleidet und hatte verweinte Augen, Gidi faßte sie beim Arme und zog sie mit sich fort, dem Gesindehause zu. „Enzi – sei so gut,“ flüsterte er mit bebender Stimme, „kann ich – kann ich mein G’wehr und mein Rucksack einstellen bei Dir – und – und nachher hab’ ich Dir auch ’was zum sagen.“

Wispernd blickten die Leute den Beiden nach und wußten nicht, was sie denken sollten, als sie die Dirne unter der Thür des Gesindehauses jammernd die Hände in einander schlagen sahen. Neugierig eilten einige von den Leuten hinzu, doch hinter den Beiden schloß sich schon die Thür.

Im gleichen Augenblicke scholl vom Kirchthurme her das beginnende Geläute der Glocken und an einer Wendung der Straße erschien der greise Pfarrer im weißen Chorrock, ihm folgten der Meßner mit dem Rauchfaß und die Ministranten mit Fahne, Kreuz und Laternen.

Während dann im Flur die Aussegunug der Leiche vollzogen wurde, erschienen Emmerenz und Gidi wieder unter der Thür des Gesindehauses.

„Und doch – und doch, Gidi,“ stammelte die Dirne, „Du mußt es ihm sagen – und jetzt gleich. Es muß ja ’was g’schehen –“

„Na, na – ich kann’s ihm jetzt net sagen, soviel derbarmt er mich. Und – es hat ja auch kein’ Sinn und kein’ Zweck. Aus ’m Höllbachgraben giebt’s kein Hilf’ und kein’ Rettung. Da kann ich mir net amal a Wunder denken. Denn wann er sich net schon derschmettert hat an die Felsen, so hat ihn das eisige Wasser derstickt. Glaub’ mir’s, Enzi, es is g’scheiter, ich sag’s ihm erst nach der Todtenmeß’, wann sich d’ Leut’ verlaufen haben.“

„Wie D’ meinst! Wie D’ meinst!“

[756]

Venetianisches Ständchen.0 Nach dem Oelgemälde von Hans Makart.

[757] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [758] „Na – na – so viel Elend – so viel Elend auf an einzigesmal! Aber – laß Dir’s gesagt sein, Enzi – paß’ auf – der Hanni ihr g’spaßiges Sterben, dem Ferdl sein’ traurige G’schicht’ und – und noch ’was, was mir im Kopf umgeht, das hängt mit einander z’samm’ – da is was g’schehen, was sich kein Mensch net denkt.“ Lauschend fuhr Gidi auf; dumpfe Schläge hallten aus dem Flur des Wohnhauses. „Da – jetzt nageln s’ den Sarg schon zu. Also, Enzi – gelt – red’ vorderhand nix – und – b’hüt’ Dich Gott derweil.“

Fest und lange schüttelten sie sich die Hände; der Ernst der Stunde hatte die Beiden ihres Haders vergessen lassen. – –

Die letzte Schaufel Erde ward über dem frischem Grab geworfen. Dann verloren sich die Leute in die Kirche, um der Todtenmesse beizuwohnen. Nach derselben ging man im Zuge dem Bräuhause zu, wo das Todtenmahl bereitet war.

Dort unter der Thür faßte Jörg die Hand seines Weibes. „Gelt, Mariann’, bleib Du bei die Leut’ – und mich laß’ heimgeh’n.“

„Um Gotteswillen, Jörg,“ stammelte die Bäuerin, „ich bitt’ Dich, schau, nimm Dich doch g’rad a ganz a kleines bißl z’samm’. Was mochten d’ Leut’ denn reden, wann Du net bei’m Mahl bist!“

„Laß s’ reden, was s’ wollen. Ich geh’ heim – ich halt’s net aus – ich muß ’was derfahren!“

Und ehe die Mariann’ noch antworten konnte, rang er seine Hand aus der ihren und wandte sich eilenden Ganges durch das Gärtchen des Bräuhauses den Wiesen zu.

Er erreichte seinen stillen Hof und wankte in die Stube, die von schwerem Weihrauchdufte erfüllt war. Er trat in die Schlafkammer, öffnete eines der Fenster, die nach dem Garten führten, lauschte hinaus und blickte mit starren Augen der Höhe zu. Dann kehrte er wieder in die Stube zurück und sank auf eine Bank. Doch wenige Minuten nur saß er so, dann sprang er zitternd empor. Draußen lenkten flüchtige Tritte um das Haus – die Thür öffnete sich, und Dori erschien über der Schwelle; er hatte zum äußeren Zeichen seiner Trauer die lichtgrünen Schnüre seines Hutes mit einem schwarzen Tuche überbunden, sein Gesicht war blaß vor Erschöpfung.

Jörg war auf ihn zugestürzt und hatte ihn beim Arme in die Tiefe der Stube gezogen.

„Red’, Dori – red’ – red’!“ stieß er mit heiserer Stimme hervor.

„Ja –Bauer – ja –“ keuchte der Bursche, der kaum Athem und Worte fand, „so – so bin ich g’rennt! Der ander’, der fremde – das hab’ ich gleich derfahren – der – der is in der Nacht noch fortg’ritten – und – und – und die andern zwei – g’rad sind s’ heim’kommen – der Kommandant und der ander’ – vom Höllberg her über d’ Wiesen – ganz – ganz allein!“

Ein tiefer Seufzer schwellte die Brust des Bauern. „Unserm Herrgott sei Lob und Dank! Er – er is über der Grenz!“ Doch als er sich nun straff emporrichtete, fiel sein Blick auf die offene Thür und – auf den Grafenjäger, der regungslos über der Schwelle stand.

„Um aller Heiligen willen,“ fuhr der Bauer stammelnd auf, „Gidi, Du bringst nix Guts net!“

„Na, Finkenbauer, na – unserm Herrgott muß ich ’s klagen! Schau – nimm Dich z’samm – ich – ich weiß ja so net, wie ich Dir ’s sagen soll – der Ferdl – Dein Ferdl – –“

„Na, na, na, Du weißt nix anders, als was ich selber weiß! Der Ferdl is über der Grenz’ – lang über der Grenz’!“

„Ja – über der Grenz’, wo zwisch’m Leben is und zwischen der Ewigkeit. Im Höllbachgraben liegt er drunt’ – und ich hab’s mit anschaun müssen – und – ‚Jesus Maria! Grüßt’s mir mein Jörgenbruder!‘ – das war sein’ letzte Red’.“

Weiß quollen dem Bauern die Augen aus den Höhlen, sein Gesicht wurde lang und schmal, und weit klaffte sein Mund, in dessen Winkeln dünne Schaumbläschen sich sammelten. So stand er eine Weile regungslos. Dann tastete er sich an der Tischkante entlang der Bank entgegen und sank darauf nieder unter den stöhnenden Worten: „Meine Füß’ – oh – meine Füß’ –“

Dem Dori aber begannen die Zähne zu klappern, und er brachte die Hand kaum zum Gesichte, um ein Kreuz zu schlagen.

Zögernden Schrittes ging Gidi auf den Bauer zu und rüttelte ihn an der Schulter: „Finkenbauer – Finkenbauer – Jörg!“

Da kam ein Schauer und ein Zittern über ihn; er betastete mit den Händen seinen Kopf und seine Brust und lallte mit schwerer Zunge: „Ja – ja – ich g’spür’ mich noch und – und – ich weiß – ich weiß ja g’wiß – g’fangt wann s’ ihn hätten und hätten ihn eing’führt ins Zuchthaus, wo einer net ’neing’hört, der Ferdl heißt – und – und der mein Bruder is – ich weiß ja g’wiß, das hätt’ mich um’bracht. Und jetzt – jetzt is er dahin – aus und gar is mit ihm – und ich kann’s wissen, und ich kann’s sagen! Er und d’ Hanni bei ’nander – und ich bin noch übrig! Is das a Lieb’? Is das a Lieb’?“ Immer und immer wieder stöhnte er dieses eine Wort vor sich hin, dann plötzlich stürzten ihm die Thränen aus den Augen, und schluchzend warf er die Arme über den Tisch. Dann wieder sprang er auf, und in wilder Hast sprudelten ihm die Worte von den Lippen: „Ich bin Einer! Ich bin Einer! Da kann ich sitzen und kann reden – und reden – und – Jesus, und kein Mensch daheim! Wo sind denn Leut’? Wo sind denn Leut’?“

Er wollte der Thür zustürzen, aber Gidi hielt ihn am Arme fest. „Sorg’ Dich net, Jörg – wir brauchen keine Leut’ – Du und der Dori und ich, wir Drei sind g’nug – und droben im Höllbergschlag, da arbeiten a sieben an acht Holzknecht’, und die haben Alles, was zum brauchen is, Strick’ und Hacken und Beiler und Alles!“

„Ja, ja – is schon g’nug – is schon g’nug – kommt’s nur g’rad – kommt’s – kommt’s – a jede Minuten is a Sünd’ –“ stotterte Jörg und eilte den beiden Anderen voraus dem Hofe zu.

Sie schlugen den nächsten Weg durch den Garten ein – Jörg immer voran um ein Dutzend Schritte.

Auf dem Höllbergschlage fanden sie die Holzknechte, die bei der ersten Kunde von dem Unglück ihre Arbeit ruhen ließen, der eine und andere dieser Männer hatte wohl ein Wort über die Nutzlosigkeit aller Rettungsversuche auf der Zunge, doch als sie dem Finkenbauer in das Gesicht sahen, schwiegen sie und eilten willig mit ihm der Höhe zu.

Als Jörg mit den Männern die hohe Platte erreichte, wurde einer der Holzknechte an langem Seile in die Schlucht niedergelassen, aber er mußte wieder emporgezogen werden, noch ehe er zur Wassertiefe hatte gelangen können. Auf eine weite Strecke war der Weg zum Grunde durch zwei von den beiden Klammwänden aus schief in einander greifende Felsgefüge versperrt.

„A Lucken is schon da, daß Einer durchkönnt’ – und da muß’s ihn auch durchg’rissen haben, den armen Teufel,“ berichtete der Mann, wobei er aus Mitleid für den Finkenbauer verschwieg, daß er auf einer steil abfallenden Platte reichliche Blutspuren gefunden. „’s Kurasch is g’wiß net z’weng bei mir – aber da dürft’ so a Seil von Eisen sein – wenn’s zweimal um’s Eck ’rum muß – bei dene kantigen Steiner, die haben Dir ja a Schneid’ wie a Messer – da kost’s g’rad a Ruckerl, nachher liegst drunten und hast ausg’schnauft – und g’holfen is auch nix. Aber – wenn ich rathen möcht’ – probiren wir’s a bißl weiter drunten, wo die Klamm den Kessel macht – ’leicht daß man von unten auf zukönnt’.“

Alle, auch Jörg, wußten, daß der Mann sein Möglichstes gethan hatte, und Alle sahen ein, daß sein Rath der beste war.

Schweigend eilten sie am Rande der Schlucht jenem Kessel zu. Dort trafen sie schon mit Leuten zusammen, die aus dem Dorfe kamen, in welchem sich die Nachricht von dem Unglücke auf die vom Kommandanten beim Bürgermeister erstattete Anzeige hin rasch verbreitet hatte. Von den Finkenhofleuten kam als Erste die Emmerenz, wortlos reichte sie dem Bauer die Hand, dann streifte sie die Aermel an die Schultern und stellte sich zu den Holzknechten an das Seil, während sie da hielt und zog, daß ihr vor Anstrengung die Schläfenadern schwollen, schien sie gar nicht zu bemerken, daß es Gidi’s Hände waren, welche hart neben den ihrigen das Seil umklammerten.

Es kam die Finkenbäuerin, die sich schluchzend an den Hals ihres Mannes hing – und Veverl kam, bleich, zitternd und athemlos.

Da waren nun hundert Arme zur Hilfe bereit, doch war außer Jörg unter Allen nicht Einer, der unter dieser „Hilfe“ [759] etwas Anderes verstand, als den Versuch, die Leiche des Zerschmetterten oder Ertränkten zu finden.

Als es zu dämmern begann, schickte Jörg die Weiberleute nach Hause.

Die sinkende Dunkelheit unterbrach die traurige Arbeit nicht, die hier vonstatten ging; sie wurde beim Scheine lodernder Kienfackeln fortgesetzt; auf allen Vorsprüngen der Schluchtwände wurde dürres Holz gethürmt und entzündet, so daß die hoch aufschlagende Flamme den tiefen Abgrund mit grellrother Helle erfüllte.

Der Versuch, die Absturzstelle unter der hohen Platte von jenem Kessel aus zu erreichen, war mißglückt. Mit wilder Brandung sperrte das aus der Mündung des Höhlenganges stürzende Wasser den Weg. Man schob an langen Stangen brennende Fackeln in die Höhlung; aber so weit der Fackelschein reichte, gewahrte man nur die kahlen, glatt gewaschenen Wände und zwischen ihnen die schwarz und rasend einherschießende Fluth. Man warf von der hohen Platte lohende Scheite in den Abgrund – und immer nach wenigen Sekunden schon kamen die erloschenen Stümpfe im Wirbel des Kessels zum Vorschein. Da schien es keine denkbare Möglichkeit, daß die Leiche im Höhlengange festgehalten worden sein könnte, das Wasser mußte sie längst den tiefer liegenden Kesseln zugeschwemmt haben.

Man eilte von Gefäll zu Gefäll, von Kessel zu Kessel, überall wo ein Niederstieg oder die Einseilung eines Menschen möglich war, wurde das Wasser mit Stangen und Hacken durchwühlt, jede Wandecke und Felsrinne mit unermüdlichen Augen durchforscht. An Stellen, an denen keiner der Holzknechte, nicht einmal Gidi mehr den Weg in die Tiefe wagte, ließ immer noch Dori sich an das Seil knüpfen und in den Abgrund senken.

Die Nacht entschwand, der Morgen kam mit Glühen und Leuchten, und noch immer war keine Spur des Verunglückten gefunden.

Gegen Mittag erreichte man den Kessel des letzten Gefälles, mit welchem der Höllbach den Bergwald verläßt, um hundert Schritte tiefer im Thale mit seiner klaren, gezähmten Fluth das fleißig klappernde Werk der Höllbachmühle zu treiben. Vergebens wurde auch dieser letzte Kessel bis auf den Grund durchwühlt.

Alle, alle hatten gewußt, daß es so kommen würde. Jörg allein hatte es nicht glauben wollen – und er kannte den Höllbach doch eben so genau wie die andern. Vier Menschen hatte das unheimliche Wasser während der letzten zwanzig Jahre verschlungen, nach jedem hatte man gesucht wie jetzt nach dem Ferdl – und nach jedem gleich vergebens. Nur einen von den vieren, einen Holzknecht, hatte die Strömung lange Wochen nach dem Unglückstage an das Wehr der Höllbachmühle geschwemmt, beinahe zur Unkenntlichkeit verstümmelt und grauenvoll zerrissen. – –

Am andern Morgen verließ Jörg das Haus. Alle, die ihm nachsahen, wußten, wohin er ging. Er schlug den Weg zur Höllbachmühle ein.

Draußen auf der Wiese kam ihm der Müller schon entgegen. „Da schau her, Finkenbauer, was ich g’funden hab’, am Wehr, heut’ in aller Fruh,“ sagte er und hielt dem Bauer eine nasse, zerrissene Soldatenmütze entgegen.

Mit beiden Händen griff Jörg darnach, und lange stand er, mit zuckenden, herbgeschlossenen Lippen und starrte mit feuchten Augen nieder auf das blaue Tuch. Dann ging er dem Kessel zu, den der letzte Fall des Höllbaches bildet. Dort stand er wohl eine Stunde und stierte vorgebeugten Leibes in das Wasser, durch dessen krystallene Klarheit der kiesige Grund heraufschimmerte. Tief seufzend richtete er sich endlich empor und schritt am Ufer des Baches dem Wehr entgegen, vor welchem er sich auf den gleichen Felsblock niederließ, auf dem er am verwichenen Tage bis spät in den Abend gesessen. Keinen Blick verwandte er von der Fluth, die mit Murmeln und Gurgeln das Wehr durchströmte, Schaum, Blätter und Reisig aufstauend vor den Stäben des hölzernen Gitters.

Gegen Mittag kam die Mariann’ mit dem Pfarrer. Herzlich und eindringlich redeten ihm die Beiden zu, daß er nach Hause gehen möchte, aber auf all ihre Mahnungen hatte Jörg nur das eine Wort: „Laßt’s mich sitzen – laßt’s mich sitzen!“

Sie blieben bei ihm, bis die Sonne aus rothüberglühten Wolken hinsank über den Grat der Berge.

Wortlos wanderte Jörg zwischen seinem Weibe und dem Pfarrer dem Dorfe zu. Als sie den Finkenhof erreichten, sagte er: „B’hüt’ Gott derweil – ich hab’ noch an Gang zum machen.“

Die Beiden wollten ihn zurückhalten; er aber schüttelte nur den Kopf, wand seinen Arm aus den Händen seines Weibes und eilte davon. Hinter den Häusern des Dorfes stieg er über Wiesenwege dem Schloßberg zu. Als er die Parkmauer erreichte, stand er lange und starrte das Thor an, als widerstrebe es ihm, die steinerne Schwelle zu betreten. Ein Schauer rüttelte seine Schultern als er endlich zögernden Fußes das Thor durchschritt. Er ging an der Mauer entlang dem Jägerhäuscheu zu. Bellend fuhr der Hund ihn an, und aus der Stube hörte er Gidi’s Stimme; der Jäger sprach in raschen erregten Worten.

Jörg betrat den Flur und sah die Stubenthür offen; Gidi und die alte Wirthschafterin des Schlosses standen vor ihm und blickten mit scheu verwunderten Augen den Bauer an. Mit ängstlicher Hast suchte das Weib einen Brief, den es in Händen hielt, in der Tasche zu bergen und huschte, als Jörg die Stube betrat, an ihm vorüber aus dem Hause.

„Finkenbauer – was willst von mir?“ frug Gidi mit stammelnden Worten.

Jörg ging dem Tische zu, schwer sank er auf die Holzbank nieder, während er den Hut vom Kopfe nahm.

„Gidi – verzähl’ – alles – alles und g’nau!“

Der Jäger schien diese Worte nicht zu hören; er stand und starrte mit weit offenen Augen den entblößten Kopf des Bauern an.

„Finkenbauer – o mein lieber Herrgott – wie schaust denn aus? Grau bist worden – über und über grau! Wie kann denn so ’was g’schehen – über a Nacht schier – über an einzige Nacht?“

„So? So?“ murmelte Jörg und strich die zitternden Hände über das Haar. „Ah ja – Alles, Alles kann g’schehen, wann der Herrgott schlafen geht, statt daß er aufpaßt auf sein’ Welt und seine G’schöpfer.“ Mit einem traurig bitteren Lächeln betrachtete er die Innenfläche seiner Hände, wie um zu sehen, ob nicht an ihnen das frische Grau seiner Haare sich abgefärbt hätte. „Aber jetzt – jetzt, Gidi, verzähl’ – verzähl’!“

Und der Jäger begann zu erzählen, die ganze ausführliche Geschichte jenes traurigen Morgens, bis er mit den Worten schloß: „Und wie’s ihn niederg’rissen hat über’s G’steinet, da hat er d’ Arm’ aufg’schlagen und hat Dir g’rad ’naus g’schrieen: Jesus Maria – grüßt’s mir mein’ Jörgenbruder!“

Mit keiner Silbe hatte Jörg die Erzählung des Jägers unterbrochen. Das Haupt zwischen die Schultern versenkt, die zitternden Fäuste auf die Kniee gestützt, so hatte er gesessen und mit brennenden Augen unablässig auf die rührigen Lippen des Jägers geblickt. Nun aber fuhr er schluchzend auf: „Sag’s noch amal – sag’s noch amal!“

„Jesus Maria – grüßt’s mir mein’ Jörgenbruder!“

„Grüßt’s mir mein’ – Jörgenbruder!“ wiederholte der Bauer in stammelnden Worten. „Ich bin sein letztes Denken g’wesen, und mir hat sein’ letzte Red’ noch ’golten! Ja, ja – der hat mich mögen – der hat mich mögen! Und – und weil er a Ehr’ im Leib’ g’habt hat und a Lieb’ im Herzen, drum muß er jetzt drunten liegen, wo kein Sonn’licht nimmer ’nuntersteigt. G’rechtigkeit – ah ja – G’rechtigkeit –“ In unverständlichem Gemurmel verlor sich seine Stimme. Dann erhob er sich mühsam, griff nach seinem Hute, und wieder raunte er vor sich nieder: „Grüßt’s mir – mein’ Jörgenbruder! Ja, Ferdl – ja – den Gruß will ich Dir danken – in meiner Sterbstund’ noch!“ Nun reichte er dem Jäger die Hand. „Gelt, Gidi, mußt net harb sein, daß ich schon wieder geh’, g’rad weil ich g’hört hab’, was ich hören hab’ wollen. Aber weißt –“ eine wilde Bitterkeit quoll aus dem Klange seiner Stimme, „weißt – mich leid’ts net recht, da wo ich steh’ – es is ja Grafengrund – weißt – Grafengrund!“

„Wird auch net schlechter sein wie Bauernboden!“ fuhr Gidi auf.

„Ja, ja – hast Recht – der Boden is der gleiche – aber unter dene, die wo er tragt, is diemal einer anders wie der ander’ – aber – aber reden wir nix – reden wir nix!“ Und wieder schüttelte Jörg dem Jäger die Hand. „Dir, Gidi, Dir sag’ ich kein Vergelts Gott net – wo d’ Lieb’ ’was [760] thut, da will s’ kein Dank dafür – ich weiß ja, daß D’ ihn gern g’habt hast.“

„Ja, Finkenbauer, gern, von Herzen gern! Aber – aber ’raussagen muß ich’s – – mein’ Lieb’ hängt an ei’m andern auch, der jetzt im Sterben liegt – drin in der Münchnerstadt. Du weißt schon, wen ich mein’ – Du weißt es schon!“

„Nix weiß ich – nix – gar nix!“ flog es in zitternder Hast von den Lippen des Bauern.

„So mußt net reden, Finkenbauer,“ erwiderte Gidi mit fliegenden Worten, „Du mußt der Erste g’wesen sein im Ort, der ’s g’hört hat – g’hört von dem, der schuld is dran! Na – na – gar net sagen kann ich Dir’s, wie mir’s z’ Muth war, jetzt g’rad, wo d’ Schloßhauserin dag’wesen is mit dem Brief vom alten Eustach’. Mein armer, lieber, junger Graf – und – nachher – Du gütiger Herrgott – mein arme Frau Gräfin! Na – na! Sag’ mir nur ’grad, Finkenbauer, wie hat dem Ferdl so ’was zustehn können, daß er so ’was thut!“

„Gidi, Gidi,“ stöhnte Jörg, „der Ferdl is drüben, wo kein’ mehr fragen kannst und keiner Red’ mehr steht. Und über an Todten sollst net reden, wo net weißt –“

„Alle, alle sagen’s – drin im Grafenhaus – es kann kein Anderer g’wesen sein, als wie der Ferdl. Wie er ’rein is ins Haus, hat freilich keiner g’sehen – aber alle haben’s g’sehen, wie er ’naus is – kreidenblaß und ganz verzweifelt, wie wenn der leidige Satan her wär’ hinter ihm – – und droben nachher, droben haben s’ den jungen Grafen g’funden, unter der Thür, von Blut übergossen, mit ei’m Säbelhieb g’radaus über d’ Stirn und über’n Kopf. Der Ferdl hat ihn derschlagen, Finkenbauer – Dein Bruder – Dein Bruder!“

Todtenstille herrschte in dem Gemache. Aug’ in Auge standen sich die Beiden gegenüber. Die Faust auf die Tischplatte stützend, richtete Jörg sich hoch empor, und eine steinerne Starre lag über seinem Gesichte, während von seinen farblosen Lippen rauh und heiser die Worte brachen: „Und – und wann’s so wär’ – – weißt es denn auch, ob ihm net Recht g’schehen is Dei’m – Dei’m Grafen?“

„Recht?“ fuhr Gidi auf. „Was könnt’ mein junger Graf dem Ferdl an’than haben! Und – ich weiß schon – wenn ich mir auch sonst noch denk’, was man sich denken muß, wenn man alles anschaut, was g’schehen is – aber – was der Ferdl sich auch ein’bildt haben mag – mir, Finkenbauer, mir kannst es glauben – was keiner g’sehen hat, hab’ ich mit meine Jägeraugen g’merkt. Stund’ um Stund’ im letzten Sommer war ich mit mei’m Grafen, wenn’s ihn alleweil fort’trieben hat aus’m Schloß, und wenn’s ihn wieder ’runter’zogen hat, kaum daß er droben war mit mir auf unsere Berg’. Mir kannst es glauben – wenn einer is, dem der Hanni ihr traurigs Sterben ’neing’langt hat ins tiefste Herz, so war’s mein junger Graf. Und wie’s jetzt allweil zu’gangen sein mag mit der Hanni – – da schau her, Finkenbauer – da leg’ ich mein’ Hand auf’n Tisch, und weghacken laß’ ich mir s’, wurzweg vom Arm, wenn mein junger Graf ’was Uebls hat verüben können.“

Vorgereckten Halses stand der Bauer und starrte mit düster funkelnden Blicken in das vor Erregung glühende Gesicht des Jägers; seine Lippen bewegten sich, als wollte er sprechen. Nun aber schüttelte er den Kopf, und in sich versinkend, drückte er den Hut über das ergraute Haar. „Gidi – Gidi –“ stieß er in einem Tone hervor, der warnend klang und drohend zugleich, „Dein’ Hand mußt net verschwören – zieh’ Dein’ Hand z’ruck, denn es wär’ mir leid drum – – wann ich reden möcht’!“ Und ohne dem Jäger einen Gruß zu bieten, schritt er der Thür zu.

Aufseufzend trat er hinaus unter die rauschenden Bäume und eilte dem Thore zu. als wäre die Erde, die sein Fuß berührte, Feuer unter seinen Sohlen. – –

Als am Abend der Tisch der Bauernstube des Finkenhofes wieder geräumt und das Dankgebet gesprochen war, entzündete Veverl ein Kerzenlicht und verließ mit einem schüchternen „Gut’ Nacht!“ die Stube. Eine Weile machte sich die Bäuerin mit allerlei zu schaffen, dann trat sie vor den Bauer hin, der regungslos noch immer auf seinem Platze saß.

„Jörg – ich leg’ mich schlafen.“

Er nickte nur.

„Gelt, Jörg – gelt – bleibst auch nimmer z’ lang! Schau – mußt doch a bißl an Dich selber denken – und – und an Deine Kinder.“

Wieder nickte er wortlos vor sich hin. Schweigend blieb Mariann’ vor ihm stehen, dann strich sie ihm langsam die zitternde Hand über das ergraute Haar, und zwei Zähren rollten ihr über die Wangen. Hastig wandte sie sich ab, und die Schürze vor die Augen drückend, ging sie der dunklen Kammer zu. Lange saß sie im Finstern auf dem Rande ihres Bettes, ehe sie sich zu entkleiden begann. Als sie in den Kissen lag, vernahm sie aus der Stube nur das träge Ticken der Wanduhr und von Viertelstunde zu Viertelstunde ihren rasselnden Schlag.

„Jörg!“ rief sie einmal mit leisem Mahnen, ohne eine Antwort zu erhalten.

Sie hörte noch, wie die Uhr die elfte Stunde ausschlug, dann überkam die Erschlaffung des beginnenden Schlummers ihren Leib.

Plötzlich fuhr sie empor; sie wußte, daß sie geschlafen hatte, aber das Geräusch, von dem sie erweckt worden war, klang ihr noch in den Ohren nach; das war ein Klirren gewesen, als hätte draußen im Hofe Jemand an eines der Stubenfenster gepocht.

Jetzt wiederholte sich das Klirren, und im gleichen Augenblicke hörte Mariann’, wie der Bauer aufsprang vom Tische mit ersticktem Schrei, mit den stammelnden Worten: „Heiliger – Herrgott – alle guten Geister – loben – loben –“

Da erloschen seine Worte in einem gurgelnden Laute, aus dem nicht Angst und Schrecken klangen, sondern jäher Jubel und jauchzende Freude.

Mariann’ hörte seine Schritte dem Flur entgegen eilen, hörte, wie der Riegel der Hausthür zurückgestoßen wurde – dann herrschte lautlose Stille.

Mit zitternder Hast erhob sie sich und stürzte nothdürftig gekleidet in die Stube; die Thür stand vor ihr offen, sie eilte in den Flur und über die Schwelle, nun verharrte sie und rief den Namen ihres Mannes mit bebender Stimme hinaus in die Nacht, da hörte sie ein schwaches Geräusch und gewahrte unter den nahen Bäumen eine Gestalt; deutlich unterschied sie bei dem aus den Fenstern fallenden Lichtscheine das blasse Gesicht des Bauern, sie wollte sich ihm nähern – er aber winkte ihr mit erhobenen Armen hastig zu, daß sie bleiben, daß sie zurückgehen möchte – und jetzt verschwand er um die dunkle Ecke des Hauses.

An der Wand sich hintastend, kehrte Mariann’ in die Stube zurück und ließ sich vor dem Tische auf die Holzbank nieder, die zitternden Hände im Schoße faltend.

Sie harrte und harrte – eine Stunde verstrich – dann hörte sie draußen auf der Grät[2] das sachte Knirschen vorsichtiger Tritte. Das mußte der Bauer sein. Nun trat er in den Flur, schloß die Hausthür, schob den Riegel vor – das alles that er so leise, kaum vernehenlich – – und jetzt erschien er über der Stubenschwelle.

Seine Brust arbeitete, sein Athem flog, eine dunkle Röthe brannte auf seinen Wangen, welche naß waren von Thränen, seine Lippen zitterten wie zwischen Lachen und Weinen, und Weh und Freude sprachen zugleich aus den flackernden Blicken seiner weit geöffneten Augen.

Mariann’ sprang auf und schlug die Hände in einander. „Um Christi willen – Jörg – was hast – was is denn g’schehen?“

Da begann er mit den Armen zu fuchteln. wankte Schritt um Schritt dem Tische zu und schüttelte unter Schlucken und Würgen den Kopf, als wollte er durch Erschütterung die lallende Zunge lösen.

„Mariann’ –“ brach es ihm endlich in stammelnden, halb erstickten Lauten vom Munde, „es giebt noch an Gott, Mariann’ – es giebt noch an Herrgott – es – es giebt noch ein’ – es giebt noch ein’!“

„Jörg – Jörg – ja wie is mir denn – so sag’ mir g’rad –“ schluchzte das Weib und streckte die Hände, um des Bauern Arm zu fassen.

Er aber wehrte sie von sich – in helles Weinen ausbrechend, stürzte er vor dem Tische auf die Kniee, rang die Hände in einander, starrte mit glühenden Augen empor zum Krucifixe und hub zu beten an – laut und hastig – mit einer Stimme, welche bebte und zitterte vor trunkener Freude.

  1. zerschlagen, gebrochen.
  2. Terrasse.
(Fortsetzung folgt.)

[761]

Eine fürstliche Malerin.

Von Direktor Anton v. Werner


Straße am Meer in Pegli bei Genua.
Von Victoria, Kronprinzessin des Deutschen Reiches.

 An die Redaktion der „Gartenlaube“.

Sie beehren mich mit der schmeichelhaften Aufforderung, „einen Text zu den drei Holzschnitten nach Arbeiten Ihrer kaiserlichen Hoheit der Frau Kronprinzessin zu schreiben“. Sollte ich wirklich die geeignete und fähige Persönlichkeit dafür sein? Vor Jahr und Tag brachte eine Düsseldorfer Zeitung einen fulminanten Artikel, in welchem dem bekannten Maler pp. A. v. W. auf den Kopf zugesagt wurde, daß er ex cathedra dem schönen Geschlecht jedwede Befähigung und Berechtigung zur Ausübung der bildenden Kunst abgesprochen habe – was sich indeß mit dem Respekt und der Verehrung, welche derselbe dem schönen Geschlechte zollt, durchaus nicht vereinigen läßt –, und vor ganz kurzer Zeit hinwiederum brachte eine Berliner Zeitung die interessante Mittheilung, daß „der Professor X. – ein vielgenannter Künstler, welcher vorwiegend Haupt- und Staatsaktionen malt“ (allem Anschein nach mit dem oben citirten A. v. W. identisch), „bei einem Souper den bedeutungsvollen Ausspruch gethan haben soll: unsere malenden Damen malten und zeichneten besser wie Michel Angelo und Raphael“ – was wiederum seiner Ehrlichkeit etwas viel zugemuthet heißt! Glücklicher Weise liegt für beide Zeitungen nicht die Veranlassung vor, den Beweis der Wahrheit antreten zu müssen, und der so schwer Belastete wird versuchen, die Scylla und Charybdis obiger Behauptungen furchtlos zu durchsegeln. –

In meinem Arbeitszimmer hängt unter allerlei Skizzen und Zeichnungen auch eine Bleistiftzeichnung, eine junge Dame in elegantem Schleppkleide, einen dunkelen Spitzenschleier um Haupt und Schultern geschlungen, darstellend, deren leichte und doch markige Darstellungsweise stets die Aufmerksamkeit kunstliebender und kunstübender Besucher – welche dies Zimmer zahlreich sieht – auf sich zieht.

Auf die Frage nach dem Autor, dessen Monogramm etwas undeutlich VKpss. 1875 lautet, erfolgt bei dessen Nennung regelmäßig neben anerkennenden Aeußerungen über die Bravour und Korrektheit der Zeichnung die Frage: „Hat sie das wirklich allein gezeichnet?“ Und verwunderlich ist diese Frage gerade nicht gegenüber der landläufigen Anschauungsweise von der Befähigung der Frauen für die bildende Kunst im Allgemeinen und der Ausübung derselben durch Höchststehende Damen im Besonderen und gegenüber dem Maßstab, welchen die Kritik an künstlerische Leistungen anlegt. Die hohe Frau indeß, von welcher die oben beschriebene Zeichnung herrührt, und von welcher die „Gartenlaube“ die drei nebenstehenden Studienblätter in vorzüglicher Reproduktion zu bringen im Stande ist, befindet sich, dank ihrem Talent und ihren unermüdlichen Studien, in der bevorzugten Lage, im vollsten Maße jene Kritik ertragen zu können, wie sie der Künstler dem ebenbürtigen Künstler gegenüber zur Anwendung bringt, und ihr Wollen und Können befindet sich auf einem [762] Punkte, welchem gegenüber Schmeicheleien nicht mehr als Komplimente aufgefaßt werden.

Als ich bald nach der Rückkehr aus dem Feldzuge 1871 die Ehre hatte, der Frau Kronprinzessin vorgestellt zu werden, um meine Skizzen aus Versailles vorlegen zu dürfen – ich erinnere mich des Moments noch wie heute: die Frau Kronprinzessin trug, während sie die Skizzen besichtigte, das jüngste Töchterchen auf dem Arme, welches mit dem eisernen Kreuze am Halse des erlauchten Vaters spielte – da war ich überrascht von den treffenden und sachverständigen Bemerkungen, mit welchen die hohe Frau die vorgelegten Blätter begleitete. Ich hatte ja schon früher Arbeiten dieser fürstlichen Künstlerin gesehen, unter Anderem jene durch die Lithographie vervielfältigten preußischen Soldatenfiguren, welche gelegentlich des 1864er oder 1866er Feldzuges entstanden waren; aber ich gestehe, daß ich selbst damals nicht um die Frage herum gekommen bin: „Hat sie das wirklich selbst gemacht?“ – was zwar nicht schön, aber doch begreiflich war. Inzwischen, seit 1871, habe ich fortgesetzt Gelegenheit gehabt, die künstlerischen Bestrebungen und Studien der hohen Frau zu verfolgen.

Das Jahr 1875 brachte mir den Vorzug, unvergleichlich schöne Maitage in der Nähe der kronprinzlichen Herrschaften in Venedig zu verleben. Die Frau Kronprinzessin genoß die Kunstschätze Venedigs, studirte, zeichnete und malte unermüdlich, nach den Kunstwerken der vergangenen hehren Kunstepoche Venedigs, oder nach der Natur auf dem Markusplatz und in den Kanälen, oft ganz allein und unerkannt, oder sie malte Studienköpfe in Passini's Atelier mit uns Anderen zusammen. Eine kleine Aquarelle von mir erinnert an einen jener Tage: die Frau Kronprinzessin, einige Bekannte, auch meine Wenigkeit, wir hatten gemeinschaftlich im Klosterhof von San Gregorio aquarellirt, und die Frau Kronprinzessin hatte sich zuletzt – im schwarzen mit weißen Spitzen besetzten Kleid und Rubenshut mit weißer Feder – als Staffage gestellt, auf einen Korb voll Zwiebeln und Fenchel gelehnt, welchen ein vorübergehender Junge dazu hergeliehen hatte. Ich hatte damals fast täglich Gelegenheit, die Skizzenbücher der hohen Frau zu sehen, und war bei jedem Blatt überrascht durch den sicheren Blick, mit welchem überall das Künstlerische, Malenswerthe herausgefunden, und die Sicherheit, Derbheit und Richtigkeit, mit welcher der Gegenstand, gleichviel in welcher Technik, zur Darstellung gebracht war. Und höher noch als ihr technisches Können schätzte ich das künstlerische Verständniß und Empfinden der hohen Frau, wie es gegenüber den Werken der Kunst und den Eindrücken der Natur bei jeder Gelegenheit zu Tage trat.

Alles Glück und alle Poesie jener goldigen Maitage von Venedig empfand die Frau Kronprinzessin in der Freude am eigenen künstlerischen Schaffen in jenem Maße, wie nur der Künstler sie empfinden kann, und es war, als ob die Kunst selbst der kunstsinnigen Fürstin ein Bild zu unvergeßlicher Erinnerung stiften wollte, an jenem Abend, als das hohe Paar von Venedig Abschied nahm und das Gedränge der fackelbeleuchteten Gondeln den Canal grande füllte und der Mond in vollster Pracht seinen Schimmer über die im Lichterglanz erstrahlenden stolzen Paläste und den Rialto hinabsandte ..., es war ein Bild, wie es Oswald Achenbach nicht schöner malen kann! Seit jener Zeit hat die Frau Kronprinzessin trotz der vielfachen Pflichten, welche ihre hohe Stellung ihr auferlegt, unausgesetzt künstlerische Studien nach den verschiedensten Richtungen hin verfolgt, mit immer offenem Auge für die Offenbarungen der Natur und für die Schöpfungen alter und moderner Kunst. Ohne direkte Lehrmeister zu haben, hat die hohe Frau doch von den Eindrücken Nutzen gezogen, welche die praktische Thätigkeit hervorragender Künstler auf sie ausübte, so z. B. unter Anderen Professor von Angeli als Portraitmaler, der verstorbene treffliche Chr. Wilberg und Ascan Lutteroth als Landschafter und speciell Aquarellisten und Professor Albert Hertel als Stilllebenmaler. Treffliche Portraitstudien, z. B. die lebensgroßen Bildnisse des Prinzen Wilhelm und der Frau Erbprinzessin von Meiningen im Renaissancekostüm weisen auf den Einfluß von Angeli’s hin, und die zahlreichen mit überraschender Leichtigkeit und Sicherheit gezeichneten oder aquarellirten Reiseskizzenblätter lassen durch ihre Technik errathen, daß Wilberg und Lutteroth nicht ohne sichtbaren Erfolg den Vorzug genossen haben, im neuen Palais in Potsdam oder in Italien und der Schweiz in der Nähe der kunstübenden Fürstin gewesen zu sein.

Von den drei hier reproduzirten Blättern zeugt der Studienkopf – dessen Original mir wohl bekannt ist – von solider ernsthafter Zeichnung und schlichter eindringlicher Naturanschauung; das Stillleben – ganz abgesehen von seiner trefflichen malerischen Behandlung – läßt erkennen, wie die hohe Künstlerin bestrebt ist, auch dem schlichten Stillleben eine tiefere und ernstere Bedeutung abzugewinnen, und das Landschaftsblatt: Pegli 1879, ist eins von jenen Hunderten von Reise-Erinnerungsblättern aus den Mappen und Skizzenbüchern der Frau Kronprinzessin, bei dessen routinirter Darstellungsweise man schwerlich auf den Gedanken kommen würde, daß der Autor nicht ein für illustrirte Blätter unausgesetzt zeichnender Künstler, sondern – die Kronprinzessin des Deutschen Reiches ist.

Welchen bedeutungsvollen Einfluß die Frau Kronprinzessin, auf die Entwickelung unserer Kunstindustrie gehabt hat, ist bekannt. Unser Kunstgewerbemuseum entstand auf ihre Anregung hin 1867 aus kleinen Anfängen und entwickelte sich unter ihrer Förderung inzwischen zu jener imposanten Höhe, für welche der am 21. November 1881, dem Geburtstage der Frau Kronprinzessin eingeweihte Prachtbau der entsprechende sichtbare Ausdruck ist.

Die Künstlerschaft weiß die Auszeichnung, die erlauchte Fürstin zu den Ihrigen zählen zu dürfen, und den Vorzug, daß die bildende Kunst eine freundliche und heimische Stätte im kronprinzlichen Palais gefunden hat, hoch zu schätzen. Die begeisterten und herzlichen Huldigungen, welche der Frau Kronprinzessin aus Künstlerkreisen dargebracht werden, gelten mindestens eben so sehr der kunstsinnigen und kunstübenden Fürstin als der Frau Kronprinzessin des Deutschen Reiches. Im Jahre 1860 ernannte die Berliner Akademie der Künste die Frau Kronprinzessin zu ihrem Ehrenmitglied. Wir sind heute somit in der Lage das fünfundzwanzigjährige Jubiläum derselben als Mitglied dieser Künstlerkorporation zu feiern, und dürfen mit vollem Recht zu unseren ehrfurchtsvollen Glückwünschen die zuversichtliche Hoffnung gesellen, daß das hohe Beispiel der Frau Kronprinzessin für die Entwickelung und die Bedeutung der Kunst in unserem Vaterlande von glückverheißender und eingreifender Bedeutung ist und sein wird.

Berlin im Oktober 1865. A. v. Werner.     


Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.
(Fortsetzung.)


Bianca kam langsam auf ihren Vetter zu, kreuzte die Arme über der Brust und sprach: „Glaubst Du jetzt wirklich ein Wort von alledem, was Du mir und Dir da vorgeredet hast? ... Ich glaub’s nicht! Nicht so viel!“ Dabei hielt sie ihm das mit dem Nagel des Daumens am letzten Ende markirte Spitzchen ihres kleinen Fingers vor die Augen.

Er wollte was Heftiges einwerfen. Sie aber schnitt ihm gebieterisch jedes weitere Wort ab. „Laß jetzunder mich reden!“ rief sie. „Ich habe Dir lang genug zugehört. Was, Du willst mir im Ernst weißmachen, daß Du, der Pater Otto, der von Kindesbeinen an keinen höheren Gedanken gehabt hat, als geistlicher Herr zu werden, daß Du, der Du auf Deine heiligen Weihen stolz bist wie kein zweiter in der Erzdiöcese, daß Du, der überzeugte Katholik, Alles, was zu Deinem Beruf und zu Deiner Ueberzeugung gehört, auf einmal liegen und stehn lassen und mit mir weiß Gott wohin gehen willst, wo sich Hund und Katze Gute Nacht sagen?! Du?! und mit mir?! Du, der gescheite Vetter Otto?! der nüchterne, der überlegene, der ironische?! Du bist ganz für so etwas gemacht!

Schau, ich muß lachen! Ich kann mir Dich halt nicht als lyrischen Tenor vorstellen. Es geht nicht. Das Duett sing ich nicht mit Dir.

Geh’ und sei wieder gescheit! Sei mir, was Du mir immer warst, so lang ich mich erinnern kann, mein lieber, mein einziger [763] Freund! Bring’ mich nicht um meinen einzigen Freund! Ja, der bist Du! Wen hab’ ich denn, seit meine arme Mutter draußen liegt, auf dem Währinger Friedhof? Wer sagt mir was, wer giebt mir guten Rath und rechte Lehren? Wer hält was auf mich und sorgt, daß was Rechtes aus mir werde? Niemand! Mein Vater denkt nicht viel an uns Mädeln. Ich bin ihm nur eine, die immer Geld kostet und nicht einmal in der Wirthschaft was nütz ist. Er schaut noch so zu eine Weil, und wenn dann nicht ganz was Besondres aus mir geworden ist, dann wird es heißen: Marsch hintern Herd, Blankerl, und ans Waschfaß! man wird Dir weiter keine Extrawurst braten! Ein rechtes Herz hat er zu keiner von uns. Ja, wenn wir Buben wären und mit in die ‚Blaue Flasche‘ gehen könnten und in den Bezirksverein und in den Gemeindevorstand! Aber so, was fangt er mit dem vielen Weibsvolk an! Und für meine Kunst hat er schon gar keinen Sinn, als etwa den, daß er hofft, sie wird einmal viel Geld tragen. Ich wollt’, wir wären schon so weit!

Die Schwestern … Na, Du kennst sie ja selber. Sind gut und brav und hausbacken über die Möglichkeit. Eine Zeit lang, und derweil die Mutter am Leben war, haben sie mich verzogen und als Wunderkind herumgezeigt; nachher ist ihnen das zu langweilig worden. Ich soll um Gotteswillen ihnen nicht den ganzen Tag die Ohren vollschreien, heißt es jetzt, und nimmt eine von ihnen einen Kochlöffel oder eine Nähnadel in die Hand, so geschieht’s nicht ohne daß ein saueres Wort über die Achsel geworfen wird, die Jüngste könnt sich auch endlich ein wenig in der Wirthschaft rühren.

Ja, schau, sie haben vielleicht nicht Unrecht, aber ich bin halt so ein unnütz Ding, was nichts Andres kann und nichts Andres mag, als singen und Musik machen. Und mit so einem Hanswursten von Frauenzimmer willst Du unter die Protestanten gehn und ein sogenanntes neues Leben ohne Chorrock und Altar anfangen? Es wäre kein besseres, Otto, glaub mir’s! Die Leute thäten uns auslachen. Ich voran. Und Du selber, Otto; es verginge keine Woche, so lachtest Du Dich selber aus. Ich glaub’ aber nicht, daß Dir das wohlthät’.

Geh weiter! Geh in Dich! faß Dich fest ins Auge, wie Du bist, nicht wie Dich ein Rausch von Eitelkeit und Eifersucht verzaubert hat.

Da schau hinein! in den Spiegel da! … Ja, Sapperlot, sperr’ Dich nicht! Hab die Kourage, fest in dem Spiegel da Dein Gesicht anzuschauen! Wenn Du erst wieder weißt, wer der Pater Otto ist und wie er aussieht, dann wirst auch wieder wissen, wie der Pater Otto handeln soll!

So! siehst ihn jetzt? Na, also! … Und siehst die kleine blonde Person da neben ihm? Das ist diejenige, welche die Freundschaft des guten lieben Paters Otto nicht verlieren will, denn sie braucht seine Freundschaft! Und jetzt mehr denn je!

Also, Vetter, auf gute Freundschaft! Fürs ganze Leben! Und die Narrheiten, die Dir durch den Kopf gegangen sind, die schickst heim! Auch fürs ganze Leben! So ists recht!“

Sie streckte dem Manne, der, vor ihr verstummt, einen schrecklichen Kampf mit sich selber kämpfte, beide Hände entgegen und erwartete mit der Sicherheit des Herzens den unfehlbaren Erfolg ihrer Worte.

Pater Otto’s Züge zuckten schmerzhaft durcheinander wie die eines Kindes, das sich des Weinens zu erwehren trachtet. Er war kein Kind und er weinte nicht. Er sah aus tiefen Augen auf das schöne Gesicht vor ihm und fand darin Bestätigung alles dessen, was er eben von diesen Lippen vernommen hatte.

Ja, sie war stark und fest und klug und sie wußte, was sie wollte. Sie liebte keinen Mann, weder ihn noch den guten Edgar. Sie gehörte der Kunst und wollte Niemand Anderem gehören. Wahnsinn, frevelhafter Wahnsinn war es gewesen, auf ihrem frommen weihevollen Weg sich und die Sünde zwischen ihr reines Streben und ihr erhabenes Ideal zu werfen. Versuchung des Teufels! Anfechtung eines Augenblicks!

Ja, nur eines Augenblicks! Pater Otto hatte sich wieder! Aber er war zu bewegt, um irgend etwas sagen zu können. Nicht die Bitten um Verzeihung, nicht die Versicherung treuer Freundschaft, kein Wort, keine Silbe vermochte er zu stammeln. Er beugte sich auf Bianca’s Hände nieder, faßte sie beide und bedeckte sie mit Küssen.

Dann sah er ihr noch einmal in die großen klugen blauen Augen, schüttelte ihre Hände heftig, als gelobte er also mit eindringlicher Gebärde, was er mit Worten auszusprechen noch nicht im Stande war, und wandte sich und stürzte davon.

Bianca schloß hinter ihm die Stubenthür ab. Nicht, weil sie seine Wiederkehr und ein neues Schwanken seiner Entschlüsse fürchtete. Aber sie wollte, sie konnte jetzt mit Niemand Anderem sprechen. Auch mit ihren Schwestern nicht! Was sollte sie diesen antworten, wenn sie sie ausfragten, warum sie so blaß, so aufgeregt aussehe? und was es mit dem Vetter, der wie ein Rasender davon gestürzt war, für eine Scene gegeben habe?

Am Lügen hatte sie keine Freude. Und die Wahrheit, die nicht ihr, sondern Otto’s Geheimniß war und für ewig bleiben sollte, durfte keine Menschenseele von ihr erfahren!

Sie wusch sich Augen, Gesicht und Hände. Sie athmete auf. Und ihr Athmen ward Gesang.

Sie saß am Flügel und sang und spielte sich die Aufregung von der Seele weg und suchte die tausend Gedanken, die um ihr blondes Haupt wie im Wirbelwind, der einen Blumengarten geplündert hat, herumflogen, zu ordnen oder zu scheuchen mit ihren Tönen.

Sie sang stundenlang. Hohes und Tiefes, wie es der merkwürdige Umfang ihrer Stimme gestattete. Arien der Donna Elvira, der Susanne, der Rosina, der Nachtwandlerin, Lieder von Schubert, von Schumann, von Franz ... Sie hatte einen unstillbaren Durst nach Musik. Die Stimmbänder thaten ihr weh, aber ihre Ohren, ihre ganze Seele lechzte nach quellenden Tönen, die ihre Traurigkeit, ihre Bangigkeit überströmen und reinigen und heiligen sollten.

Warum war ihr so bang? warum war sie so traurig? ...

Sie fragte sich selbst und seufzte tief … da klopften ihre Schwestern mit hastigen Fingern an ihre Kammerthür.

„Bianca! Blanche! hörst nit?! … Mach doch um Gotteswillen einmal ein Ende mit dem Geplärr’! Die Nachbarschaft wird schon rebellisch. Die Kinder im ersten und der alte Herr im zweiten Stock können nicht einschlafen.“

„Jawohl, und Du wirst Dir noch heilig und wahrhaftig die Stimme verschreien, wenn Du immer fort Alles durch einander singst vom hohen C bis ins tiefe A. Und stundenlang ohne Aufhören! Es ist ja sündhaft, so auf das Glück loszustürmen, das einem der liebe Gott für sich und die Seinigen anvertraut hat!“

„Ja, und zum Abendessen wär’s endlich auch Zeit. Es wird ja Alles kalt!“

„Bianca! hörst nit?!“

Und sie hämmerten erst recht wider die Thür.

„Ich kann nichts essen!“ sagte jetzt die jüngste Schwester klar und bestimmt. „Vielleicht später! Hebt mir nur was auf!“

„Halt’s wie Du willst!“ rief die Aelteste vor der Thür. „Aber kommst nit herüber?“

„Ich dank schön. Ich will noch studiren für morgen!“

„Aber ganz in der Stille! Gelt ja!“ sprach die jüngere Schwester durchs Schlüsselloch, sonst sagt uns der Hausherr morgen früh die Wohnung auf! Sei so gut, und mach dem Vater die Freud’.“

„Gute Nacht!“ rief Bianca. Und die beiden Andern, die mit den Launen der Jüngsten wieder einmal Geduld haben wollten, gingen zu Tisch. Der Vater war des Abends nie daheim.

Bianca schwieg, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Augen auf das Notenblatt über dem Klavier gerichtet.

Aber sie sah nicht, was da geschrieben stand. Ihre Gedanken waren weit weg. Manchmal griff sie leise einen Accord, daß es sanft durch die Stille hallte, wie wenn Elfen sich riefen, die im Mondschein zum Tanze fliegen wollen. Die letzten Blumen, mit denen Edgar sie beschenkt hatte, dufteten stärker und stärker, als wollten sie ihr etwas Dringendes sagen und hätten doch keine Worte zu Gebot, nur den Duft, mit dem sie ihr Dasein verhauchten und den doch die Menschen nicht verstanden, wenn sie nicht guten Willens dazu waren.

Die Sängerin öffnete beide Fenster, so weit es ging. Es war ihr auf einmal so heiß und die Nachtluft wehte wohlig um ihre Stirn. Drunten auf der Straße kam selten Jemand zu solcher Zeit vorüber; ab und an schattenhafte Gestalten, die’s eilig hatten, um noch vor Thorschluß heim zu gelangen und vor dem Hausmeister den Sperrsechser zu ersparen.

Wann er wohl wieder die Straße kommen wird?

Wer? er? … Otto? ...

Bianca schüttelte sich unwillkürlich, aber ihr graute vor Otto. Ihr natürlicher Beschützer hatte sich ihr verdächtig gemacht. [764] Sie konnte gegen dies unheimliche Gefühl nicht an – es war nicht ihre Schuld - wenn sie sich auch mit nüchternem Verstande sagte, dies Gefühl werde vorübergehen, diese Bangigkeit werde schwinden und der Vetter wieder nach wie vor der unsinnigen Viertelstunde ihr treuer zuverlässiger Freund und Berather sein.

Ja, das wußte sie gewiß. Aber sie wollte ihn doch etliche Tage nicht wiedersehen. Durchaus nicht! Und sie war auch sicher, daß Otto sich sobald nicht wieder sehen lassen werde. Nicht eher, als bis in beiden jungen Seelen dieser Auftritt tiefer in den Hintergrund geschoben und in der Erinnerung die grellsten Farben etwas abgeblaßt sein würden.

Also nicht nach Otto’s Wiederkehr hatte sie die Nacht gefragt?

Nach Edgar’s?

Er hatte was schönes angerichtet mit seinen dummen Fragen, dieser überweise Vetter Otto! Da saß sie nun, die noch vor wenigen Stunden ein argloser Wildfang gewesen war, und zerbrach sich den Kopf darüber, ob es möglich wäre, daß ein Mann wie Baron Sperber, ein reicher, munterer verwöhnter Lebemann, dem alle Thüren und alle Herzen offen standen, daran dächte, sie zu heirathen.

Nicht als ob sie sich für zu gering erachtet hätte, obwohl sie ganz genau wußte, daß ihr Herr Papa mit keinem Esterhazy oder Schwarzenberg im Entferntesten verwandt war. Aber der beste, der reichste, der schönste, der vornehmste Mann war für sie grade gut genug, denn sie war eine Künstlerin, eine große Künstlerin, und Höheres gab es nicht auf Erden.

Aber ob er, der verwöhnte Springinsfeld, an so etwas dachte, das hätte sie gern den verhüllten Sternen droben abgefragt.

Eigentlich konnt’ es ihr gleichgültig sein, denn sie selber dachte doch nicht ans Heirathen. Nein, gewiß nicht! Noch lange nicht! … Aber wenn er sie ernsthaft lieb hatte, mußte er doch solch ernsthafte Gedanken hegen. Nicht?

Ach, daß er sie lieb hatte, recht sehr lieb, und mit innigem, ganz ergebenem Herzen an ihr hing, daran zweifelte sie nicht. Daran wollte sie nicht zweifeln. Heut Abend nicht! Es hätte sie noch trauriger gemacht –

Wirklich? Ja, warum war sie denn traurig? Die Narren waren traurig, die Verliebten ...!

Um Gotteswillen, war sie in Edgar verliebt?!

Sie blieb mit stockendem Athem mitten im Zimmer zwischen Fenster und Piano stehen und streckte beide Hände aus, als müßte sie sich irgendwo anhalten, um nicht zu schwanken.

Wenn dem so war, so war nur der verdrehte Pater Otto daran schuld, der ihr den lästigen Floh ins Ohr gesetzt hatte! Es war zum Tollwerden. Sie wollte nicht, nein, sie wollte nicht verliebt sein und bekräftigte sich das mit stampfenden Füßchen. Was würde dann aus der Kunst?

„Du holde Kunst! …“ Sie trat hastig ans Klavier und griff sich leise das kurze Vorspiel in D-dur-Accorden.

Frauenportrait.
Von Victoria, Kronprinzessin des Deutschen Reiches.


Aber das Lied sang sie nicht. Sie legte die Finger auf den Mund, bis die Melodie in ihrem Innern verklang. Sie wollte heute Niemand Aergerniß geben. Sie wollte heut an Niemand Aergerniß nehmen.

Hätte sie einen Sternkundigen gekannt, sie würde ihn gefragt haben, was denn heute für eine verwirrende Konstellation am Himmel herrschte, die alle Leute verrückt machte. Denn mit rechten Dingen ging das nicht zu, daß nun auch sie sich den sonst so klugen Kopf darüber zerbrach, ob ein Hamburger Banquierssohn sie heirathen wolle.

Zwar man hatte Beispiele, daß es auch verheirathete Primadonnen gegeben … Indessen sie fingen doch nicht gleich so an. War eine Sängerin berühmt geworden, als sie schön den Ehering am Finger trug? ... Also weg, ihr dummen Gedanken!

Aber Edgar war ein lieber Mensch ...! Und wenn sie nie berühmt wurde ... nie, obwohl sie Alles ihrer Theaterschwärmerei geopfert hätte, was dann?!

So sann und seufzte sie lange, lange … bis es draußen von allen Thürmen Zwölfe schlug. Da erschrak sie und blies die Lampe aus.

Aber sie blieb auch noch im Dunkeln vor dem Klavier sitzen und grübelte – sie wußte endlich selber nicht mehr recht warum und worüber – bis sie das Hausthor unten aufschließen hörte.

Das war der Herr Papa, der von Lerchenfeld heimkam und nun schweren Schrittes und laut sich räuspernd die Treppen hinaufstieg.

Mit dem war nicht zu spaßen. Sie warf eilig ihre Kleider bei Seite und war ins Bett ehe der „Herr von Latschenberger“ mit dem barschen Ausruf: „Noch nicht Feierabend hier?“ die entriegelte Thür aufstieß und sich wunderte, daß er Alles still und dunkel fand, wo er doch eben von der Straße herauf noch Licht zu bemerken vermeint hatte. Brummend zog er sich in seine Kammer zurück, während Bianca auch in ihren Kissen noch lange keinen rechten Schlaf fand über der Frage: Giebt es verheirathete Primadonnen auf der Welt? und wenn ja, hat ihnen die Ehe mehr genützt oder mehr geschadet? In diesem holdseligen Kinde war das Weib noch nicht recht wach geworden, wenn es auch Pater Otto’s unzeitige Frage nahezu munter gerufen hatte. Bianca wog ab, wofür ihr Gewicht und Wage fehlte. Darüber ward sie denn doch müde und schlief endlich ein, wie die Kinder und die Glücklichen einschlafen, mit einem Seufzer mitten im Vaterunser.


Edgar kam wieder und ward gut empfangen. Pater Otto blieb aus und ward nicht vermißt.

Bianca war es recht eigenthümlich zu Muthe. Sie bezog unwillkürlich Alles, was sie Süßes und Zierliches zu singen hatte, auf Baron Sperber. Sie hätte sich darüber ärgern mögen, aber sie zog es vor, sich über den abwesenden Vetter zu ärgern, der allein die Schuld trug, daß ihre sonst so harmlosen Gedanken nun

[765]


Vergänglichkeit.

Von

Victoria, Kronprinzessin des Deutschen Reiches.

[766] diese Richtung nahmen. Manchmal, das heißt nur wenn Sperber nicht dabei war, sang sie ihn mit einer Innigkeit und Wonne an, daß der Gesangsprofessor überrascht aufhorchte und sich fragte, was denn über seine Schülerin gekommen wäre. Hatte wirklich die Liebe dem Geschöpf die Zunge gelöst, oder war es reine Begabung, die unbewußt so herzergreifende Töne fand?

Bianca hütete sich wohl, Sperbern, der nach dem letzten Wortwechsel mit dem gebietenden Vetter artiger und zuvorkommender denn je war, irgend etwas davon merken zu lassen, was sie selber noch nicht als die Liebe in ihrem Herzen anerkennen wollte. Aber es war doch so eigenthümliche Luft um Bianca herum, in der es sich wonniger und freier und hoffnungsfreudiger athmete als vordem.

Edgar von Sperber vermochte sich keine Rechenschaft darüber zu geben, allein er empfand es und war sehr glücklich darüber. Sein täglicher Wunsch auf dem Wege nach der Florianigasse war nur, daß jetzt nicht wieder zur Unzeit der perfide Pater Otto im Hause Latschenberger auftauchte und sich mit seinem salbungsvollen Humor ins Mittel legte!

Der Undankbare ahnte nicht, wie viel, ahnte nicht, daß er Alles, was ihn jetzt so glücklich machte, dem Verwünschten schuldig war!

Ach, es war jetzt so behaglich bei Bianca! Sie sang so schön wie nie ... so kam es wenigstens Sperbern vor. Und sie duldete, daß er sie ab und zu bei der Hand nahm und ihr in die Augen sah, die gar so wunderschön waren. Und sie unterbrach ihn nicht mehr wie sonst mit trillerndem Gelächter, wenn er ihr verliebtes Zeug vorplauderte.

In ihrer Stimme war ein Schmelz, in ihren Blicken eine Feuchtigkeit, über ihrem ganzen Wesen ein Hauch wonniger Schwärmerei, daß Edgar sich streng zusammennehmen mußte, um nicht vollends den Kopf zu verlieren und in einem unbewachten Augenblicke mehr zu sagen oder zu thun, als annoch hätte hingehen dürfen.

Ein ganz anderes Gesicht als die liebe Bianca machte jetzt freilich ihr Vater dem allzu oft vorsprechenden Besuch, wenn Edgar das Unglück hatte, früher in die Florianigasse zu gerathen, als der „Herr von Latschenberger“ sich auf den Weg nach der „Blauen Flasche“ oder nach der „Pfeife“ begeben hatte.

Genau in derselben Progression, in welcher Bianca sich liebenswürdiger und weiblicher bewies, neigte jetzt ihr Vater mehr und mehr zu schwarzgalligem Mißtrauen und bärbeißiger Grobheit.

Was er nur hatte? fragte Bianca. Die Schwestern zuckten höhnisch-ärgerlich mit Mundwinkeln und Schultern. Aber Gewisses wußten sie auch nicht und ahnten nur etwas, aber es war ihnen nicht klar was. Sollte sich Pater Otto hinter den Alten gesteckt haben? Aber das war nicht seine Art, auf Bianca zu wirken.

Nein, der Vater hatte den gelehrten Herrn Cousin ebenso wenig gesehen seit jener hitzigen Abendstunde, als die Tochter. Otto war gewiß all die Wochen nicht aus seinem Kloster in die Stadt gekommen und hatte wohl eben viel zu thun.

Nun wollte sie manchmal, daß er wieder vorspräche, so in der alten klugen überlegenen Weise. Sie hätte gern mit ihm geredet ... worüber denn? … war es denn schon spruchreif in ihr? … Das eben wußte sie nicht und hätte den Erfahrenen, der viel gesehen und gelernt hat, gern darum gefragt ... wenn er’s hören konnte. Und daß er wieder Alles, was sein Mühmchen betraf, mit Geduld und Klugheit hören konnte, das glaubte sie. Und mit Recht.

Inzwischen ereignete sich etwas, das „Herrn von Latschenberger“ in die höchste Aufregung und Entrüstung versetzte und auch seine Töchter nicht wenig bewegte.

Den üblichen Bemühungen eines Theateragenten war es gelungen, für das schöne Mädchen, dessen umfangreiche Stimme und immerhin belangreiche Ausbildung schon bei den öffentlichen Prüfungen, die ihr Gesangsprofessor veranstaltet, freundliches Aufsehen erregt hatten, ein Engagement auszufinden.

Die Aufnahme dieses Vorschlages war bei den Mitgliedern der Familie Latschenberger eine sehr verschiedene. Während Bianca vor Freude in die Höhe hüpfte und mit den Händen klatschte, platzte der Papa mit schallendem Schimpfen los, wie man einem Stern erster Größe (er sprach nie anders von seiner Tochter, wenn er gut von ihr sprach), ja wohl einem Stern erster Größe, der die Lucca und die Patti, wie die Krauß und die Nilsson in Schatten zu stellen Glanz genug hätte, ein solches Lumpenengagement da hinten in der Schubiakei anzubieten auch nur wagen dürfte!

Unter Schubiakei verstand er eine der ehrenwerthesten alten Provinzen des Königreichs Preußen, denn es handelte sich um ein Engagement beim Stadttheater in Königsherg.

Als das die beiden älteren Schwestern begriffen hatten, fingen sie schrecklich an zu weinen, denn Preußen galt ihnen als der Inbegriff alles Oeden, Langweiligen und Ungastlichen auf der Welt. Vor ihren thränenden Augen ging das arme Blankerl einer schauerlichen Zukunft auf diesem Weg entgegen.

Der Vater hieß sie schweigen und nicht so dumm sein und wetterte ferner gegen die schamlose Niedertracht, seinem Kinde, solch einem Stern erster Größe, eine Anstellung bei einem Stadttheater zuzumuthen. Gab es nicht kaiserliche, königliche und in Gottes Namen auch andere Hoftheater genug, daß sich etliche derselben um die Ehre rissen, Bianca zu gewinnen? An ein gemeines Stadttheater durfte sie ihre Kraft nie wegwerfen! N..i..e! Nie!

Die schluchzende Einwendung der unglücklichen Tochter, daß an den Stadttheatern zu Frankfurt, Hamburg, Leipzig die schönsten Opernkräfte wirkten, ward mit hallendem Hohn überschrieen. Für einen richtigen Bezirksdemokraten, wie Papa Latschenberger einer war, gab es ohne Hofgunst keine Kunst! Unmöglich!

„Und kurz und gut, ich als Vater habe auch noch ein Wort dreinzureden, was aus Dir wird und wohin Du gehst oder nicht gehst. Und ich sage Dir, aus diesem Engagement wird nichts! Ich leid’s nicht, daß Du in die Schubiakei, ich verbiet’s, daß Du nach diesem Nest gehst, wo nichts zu holen ist, als alle Wochen ein frischer Katarrh. Dixi! Punktum!“

Damit schloß er seine Rede, schlug die Thür hinter sich zu und verfügte sich, um seine Gesundheit nicht länger unter ungelöschtem Aerger leiden zu lassen, spornstreichs nach der „Blauen Flasche“.

Nun der gestrenge Herr Vater das Feld als Sieger geräumt hatte, brachen die beiden Schwestern ungestört in neues Weinen, Klagen und Schelten aus, rangen auch ein wenig die Hände dabei.

Allein Bianca hörte gar nicht auf sie hin. Sie saß stumm da, die Ellenbogen auf den Knieen, die Hände verflochten und ließ vom vornüber gebeugten Angesicht die Thränen auf den Fußboden fallen.

Sollte ihre Bühnenlaufbahn enden, noch ehe sie begonnen hatte? bildete sich der Vater ein, daß die Patti gleich in Her Majesty’s Theater angefangen hatte? war die Lucca nicht unter den Choristinnen entdeckt worden? Sollte sie hier in ihrem Stübchen in der Florianigasse die Ohren der großen Welt und den Wettlauf geldgieriger Impresarii auf sich lenken? Heilloser Unsinn!

Sie wollte nicht unter väterlichem Unverstand leiden! Aber wie war ihm zu begegnen? wie war einer Erklärung des Vaters zuvorzukommen, ehe dieselbe den wackeren Agenten kopfscheu machte? Es waren Zwanzig da, welche sich um das Engagement in Königsberg rissen, und Hunderte, welche sie darum beneideten. Griff sie nicht zu, so war die Stelle morgen besetzt. Sagte man dem Vermittler für seine guten Dienste Grobheiten, so wird er sich hüten, sich ein zweites Mal für so närrische, so undankbare Leute zu bemühen. Dann hatte Bianca das Nachsehen, und sie konnte lange warten, bis ihr wieder einmal gute Gelegenheit so nahe gebracht wurde.

Aber nur wer sich selbst aufgiebt, ist verloren. Sie war der Musikant, sie war die Künstlerin, sie, nicht der Papa! Sie mußte auch wissen, was sie thun oder lassen durfte. Und sie wollte nicht ihre Zukunft freventlich aufs Spiel setzen lassen und die Hände im Schoß dabei zusehen und eitle Thränen weinen.

Sie fuhr sich mit den Fäustchen über die nassen Augen, sprang auf die Füße und riß ihren Hut aus der Schachtel.

„Mädel, wohin willst Du?!“

Keine Antwort.

„Bianca, Du wirst doch nicht?!“

„Laßt mich zufrieden! Ich bin nicht verrückt, aber Ihr vielleicht!“

Damit war sie auf dem Wege zum Agenten, dessen sie sich auch für den Fall sichern wollte, wenn der Papa käme, einen Strich durch die Rechnung, will sagen durch den angebotenen, in [767] der That für ein erstes Engagement recht vortheilhaften Kontrakt zu machen.

Kaum aus dem Hause, stieß sie auf Edgar von Sperber, der sich nicht wenig auf die Abendstunde vor Bianca’s Klavier gefreut hatte und nun um so mehr erstaunt war, sie zur ungewohnten Zeit außer dem Hause und in der Verfassung einer Verzweifelnden anzutreffen.

Er erkundigte sich mit ungeheuchelter Theilnahme, was geschehen sei und wohin sie wolle.

Sie säumte nicht, ihr schweres Herz auszuschütten, und bat ihn, sie zu begleiten; es wäre ihr eine rechte Gefälligkeit.

Es gab keine Gefälligkeit, die Edgar seiner Angebeteten nicht mit Freuden erwiesen hätte, und nun gar eine so angenehme, sie den weiten Weg in die Schleifmühlgasse zu geleiten.

Ein recht bitterer Tropfen war freilich in dem Becher dieser bescheidenen Freude. Bianca setzte ihren Kopf darauf, die Königsberger Bühne zu beschreiten und dortselbst Alles zu singen, was nur Theaterdirektor und Kapellmeister von ihr verlangten. Papa mochte dazu sagen was er wollte, sie ging doch!

Sie war in ihrer Entschlossenheit und Entschiedenheit noch schöner als sonst; Edgar staunte sie bewundernd an von der Seite; aber was sollte der lebenslustige Herr von Sperber in Königsberg in Preußen! Die Stadt der reinen Vernunft in allen Ehren, aber für ihn, dessen Wahl einzig zwischen Paris und Wien schwankte, gab es kein Drittes, und jenes Dritte schon ganz gewiß nicht!

Wenn aber Bianca in Königsberg in Preußen lebte und webte, dann gab es für Edgar wieder anderswo keinen menschenwürdigen Aufenthalt.

Verzwicktes Dilemma! Doch vor der Hand war sie ja noch in Wien und ging an seiner Seite! Der Augenblick war zu schön, um durch grämliches Erwägen getrübt zu werden.

Die Augenblicke waren so schön, daß nicht nur Sperber, sondern manchmal sogar die werdende Künstlerin ihrer Sorge vergaß; sie lächelten einander an wie die Glücklichen, wenn sie sich in die Augen sahen, und jeder von beiden freute sich über das, was der andere zu ihm sagte, wenn auch dieser andere selber nicht immer wußte, was er in seinem verliebten Kauderwälsch daherplauderte.

So kamen sie endlich vor des Agenten Thür. Aber sie hatten sich noch so viel zu sagen, daß sie nothwendigerweise die Straße erst zwei, dreimal auf und ab wandeln mußten, ehe Bianca dem Freunde die Hand reichte und ihn bat, auf ihr Zurückkommen zu warten. Sie werde so bald als möglich wieder bei ihm sein und ihm erzählen, was der kundige Geschäftsfreund ihr zu thun anrathen werde.

Wie strahlte der Blick aus den blauen Augen ihn an, da sie sich noch einmal auf der Treppe nach ihm umwandte! Ja, er mußte nun doch etwas sein in ihrem Leben, wenn seine Liebe sie also tröstete selbst in bitterer Betrübniß.

Es währte jedoch verwünscht lange, bis Bianca wieder aus dem Hause kam. Edgar hatte die Straße einige zwanzigmal auf und ab gemessen, er war vor jedem Schaufenster geduldig stehen geblieben und hatte die Photographien an der Ecke mit einer Langmuth studirt, als gält’ es eine zu beerbende Verwandtschaft in dieser Sammlung der gleichgültigsten Leute von der Welt ausfindig zu machen.

Endlich erschien Bianca, zögernd, niedergeschlagen und sehr verändert in Blick und Haltung. Sie hatte sich droben sehr ereifert. Aber es hatte ihr nichts geholfen. Der gesetzeskundige Mann hatte sie versichert, daß ihr Kontrakt, da sie annoch minderjährig sei, von ihrem Vater unterschrieben werden müsse, und daß sein Widerspruch den gültigen Abschluß unmöglich mache.

Er hatte noch allerhand geredet, angedeutet, zu verstehen gegeben. An der Thatsache sowie am Wortlaut des Gesetzes änderte das nichts. Ihr war nichts übrig geblieben, als den klugen Herrn zu bitten, ihr den Kontrakt noch einige Tage offen zu lassen. Und er hatte ihr das in die Hand versprochen.

Wenn sie nur erst in Königsberg wäre, wenn sie nur erst gesungen und gefallen hätte, der Papa würde dann schon mit sich reden lassen und klein beigeben! Aber wie das erreichen?

Vielleicht, daß ihn Pater Otto bestimmen könnte!

Sie waren Beide zur selben Minute, wie in einem Athemzug, auf diesen Einfall gerathen. Und über das Zeichen der Sympathie freuten sie sich, obschon sie lange den Namen des Chorherrn nicht mehr vor einander genannt hatten.

Immerhin erhellte dieser Trostesschimmer das Gemüth der Jungfrau ein wenig, wenn sie auch auf dem ganzen Wege die Heiterkeit oder gar den Uebermuth früherer Tage nicht mehr fand.

Sie schwieg lange Strecken weit, in ihre Gedanken verloren. Einmal – es war schon nahe der väterlichen Wohnung – blieb sie plötzlich stehn, warf einen Blick auf ihren Begleiter, einen anderen gegen Himmel und sagte dann hastig: „Helf mir Gott, wenn sie mir den Weg aufs Theater verlegen wollen, so geh’ ich durch! … Und Sie, Baron Sperber, müssen mir dabei behilflich sein!“

Edgar erschrak nicht bei diesen Worten, weil er sie nicht für ernsthaft gemeint erachtete. Doch säumte er nicht, ihr zu versichern, daß er heut und jederzeit ihr ergebenster Diener und bereit sei, sie bis ans Ende der Welt zu bringen, wenn sie es wünsche.

Bianca Scandrini schüttelte ihm derb die Hand, wie ein zum Aeußersten Entschlossener seinen Spießgesellen in Pflicht nimmt, und setzte nachdenklich schweigend ihren Weg fort.

Unfern des Hauses aber bat sie Edgar, sie allein zu lassen. In ihrem Heim säh’ es heut nicht behaglich aus, und singen könnte sie mit dieser Aufregung in Hirn und Herzen doch keinen rechtschaffenen Ton. Aber morgen sollt’ er wiederkommen. Wer weiß, wie weit die Dinge morgen schon gereift sein würden! Auf alle Fälle wisse sie, daß Sperber ihr guter, treuer Freund sei. Nicht wahr?

„Fürs Leben und die Ewigkeit!“ war seine Antwort, und gehoben in allem Denken und Empfinden verließ er sie, noch elastischer als sonst auf wiegendem Gange schwebend, in einer Zukunft schwelgend, die ihn, so unklar sie sich ansah, doch vor Freude schwindeln machte. –

Wen fand die ahnungsvolle Seele daheim in ihrem Salon sitzen? Den regulirten Chorherrn, der schon seit geraumer Weile auf das bedrängte Mühmchen wartete, sich aber nicht, ohne sie gesehen zu haben, entfernen wollte, weil er nur für einen Tag vom Kloster in die Stadt entlassen war, ohne Aussicht, daß sich in Bälde solche Gunst zum andern Male finden werde.

„Cugino del mio cuore, Du kommst wie gerufen! Gott sei Dank! Setz’ Dich nur gleich wieder und hör’ mir zu! Habe Geduld und rathe mir gut.“

Vetter und Muhme saßen einträchtig bei einander wie in alten Zeiten. Pater Otto hatte sich, seine Herzensruhe und seinen fröhlichen Verstand wiedergefunden. Das war klar auf den ersten Blick, und Beide waren froh darum.

Das Kinn in der Hand, das Haupt ein wenig seitwärts geneigt, horchte der geistliche Herr so ernsthaft wie im Beichtstuhl auf die sprudelnden Worte des leidenschaftlichen Mädchens.

Auch er schien von dem Kontrakt, den sie ihm vorlegte, nicht gerade sehr erbaut; doch versprach er, sich des Genaueren über dortige Verhältnisse erkundigen zu wollen und dann mit dem Onkel ein ernstes und eindringliches Wort zu reden. Aber nicht vor Ende der Woche! Denn so bald ließ der selbstherrliche Latschenberger sich sein einmal gefaßtes Vorurtheil nicht verleiden. Auch von verwandtem Blut und geistlichem Beistand nicht. Auch stand Pater Otto früher keine Gelegenheit zu Gebot, nach Wien zu kommen.

Obwohl Bianca ihr Zünglein streng hütete, um dem Vetter nicht zu verrathen, wie es seit seinen letzten Besuchen in ihrem Herzen aussah, so merkte der geriebene Menschenkenner doch an der Lust, mit der sie den Namen des Hamburger Kaufherrnsohnes in ihren Bericht verflocht, und an der Wichtigkeit, die sie jeder seiner Aeußerungen beilegte, am Ton ihrer Stimme, am Blitzen ihrer Augen, an der Veränderung ihres ganzen Wesens, daß Gott Amor die Zeit seiner Abwesenheit benutzt habe, den schönen Wildfang Empfindung zu lehren.

Um ganz sicher zu gehen, bat er sie, etwas zu singen. Was sie wählte und wie sie es vortrug, bestätigte seine Vermuthung.

Sie hatte begriffen, was man ihr früher nicht zu erklären vermocht, das Herz ergänzte den Verstand, und sie sang nun mit vollem Herzen.

Er schritt lauschend mit der Hand am Kinn im Zimmer auf und nieder, während sie sich unbewußt in ihren quellenden Tönen verrieth. Manchmal blieb er stehen und schaute hinüber zu ihr, ob sie nicht um einen Zoll gewachsen, ob sie überhaupt noch dieselbe sei.

[768] Und als sie eben nach einem neuen Notenheft griff, schritt er auf sie zu, legte die Hand ihr auf die Schulter und sagte, da sich das schöne Gesicht nach ihm umwandte: „Bianca, wenn ich Dich heute fragte, was ich Dich neulich gefragt habe, würdest Du auch heut’ antworten: ich weiß es nicht?“

Sie wurde feuerroth und wandte langsam den Kopf zu den Noten zurück. „Was meinst Du denn, Otto?“

„Ob Du Frau von Sperber werden möchtest.“

Sie sah ihn wieder an. Der Schalk blizte aus ihren Augen und „Meinst Du, daß … er daran denkt?“ war ihre ganze Antwort.

„Du bist darüber also noch nicht im Klaren, Bianca?“

„Er hat es noch nicht gewagt, mich zu fragen.“

„So wage Du’s!“

„Ah!“

Ehrliches Erstaunen über solche Zumuthung ließ sie den seltsamen Vetter anstarren, der, nachdem er selber vor kurzen Wochen ihr seine ganz tolle freventliche Liebe gestanden, diese heute bereits so sicher überwunden hatte, daß er sie an einen Andern verheirathen wollte. Doch fand sie sich noch nicht in seine Gedanken, und unschlüssig flüsterte sie: „Ich weiß nicht, ob es das Rechte wäre.“

„Dann laß ihn laufen!“

„Nein! nein!“ schrie sie laut und hastig und hob wie bittend beide Hände.

„Siehst Du!“ lächelte der Chorherr. Aber eines oder ’s andere mußt Du wählen. Sonst läufst Du mir Gefahr. Und ich selber laufe sie mit. Ich muß Dich versorgt wissen, oder der Teufel ficht mich wieder an. Und das willst Du doch nicht? … Nun also!“

„Aber wie fängt man’s an?“

„Soll ich dafür sorgen, Mädel? Soll Dich der Vetter Otto unter die sogenannte Haube bringen?“

Sie nickte mit lächelndem Haupt und faltete die Hände.

„Gut!“ sagte jener. „Aber machen wir die Rechnung nicht ohne den Wirth! Diese jungen Herren von heute, sie stören sich bei ihren Courschneidereien nicht gern mit ernsthaften Gedanken … Wer weiß … doch das müssen wir eben ausproben. Und ist Dein Sperber ein Windbeutel … na, Blankerl, dann mußt Du Dich eben auch trösten, wie ... wie sich ein Anderer, den ich hier nicht nennen will, in Gottes Namen getröstet hat … Amen!“

Er tüßte bei den lezten Worten ihre Fingerspitzen und ging dann hastig zur Thür hinaus, noch ehe sie in der Dämmerung beobachten konnte, was er für ein Gesicht dazu machte.

(Fortsetzung folgt.)

Terrain-Kurorte.

Eine neue Heilmethode, geschildert von Dr. med. Taube-Leipzig.

In Deutschland giebt’s wohl sehr viele Fette?“ befragte mich kürzlich ein Engländer, als er in einer Buchhandlung die verschiedenen Broschüren über Fettleibigkeit erstaunt betrachtete. Bei manchem unserer Leser wird wohl ein ähnlicher Gedanke aufgetaucht sein, ob nämlich die so überaus kultivirte Entfettungsfrage durch ein Bedürfniß unserer Zeit bedingt sei. Der Praktiker muß hierauf eine entschieden bejahende Antwort geben, die Ausbreitung eines der besten Fettbildner, des Bieres, in den verschiedensten Bevölkerungsschichten und in den entlegensten Gegenden hat unserem Zeitalter den Ruf eines fettreichen gesichert. Es klingt nun beinahe wie Ironie, daß die Stadt, welche vor Allem die Schuld an der Zunahme unseres körperlichen Umfanges trägt, München, den Mann besitzt, dessen Methode der Entfettung innerhalb der letzten Zeit das größte Interesse erregt hat. Professor Oertel in München ist der Erste, welcher, unter Benutzung der physiologischen Forschungen der Münchner Gelehrten Voit, Pettenkofer u. A. und gestützt auf eigene mühevolle Untersuchungen, die Ergebnisse der mechanischen und Ernährungsphysiologie zur Heilung gewisser krankhafter Processe benutzte. Die Fettabnahme ist nur eine Beigabe seines Verfahrens, der Grundgedanke seines Systems gipfelt in dem Schlagworte: „Stärkung des geschwächten Herzmuskels“.

Die Mehrzahl unserer Leser hat eine Vorstellung von dem Blutkreislauf. Das Herz besitzt vier Kammern, das rechte Vorherz empfängt das dunkelrothe unbrauchbare Blut aus den Körpervenen, die rechte Herzkammer pumpt es in die Lungen, von wo es nach Abgabe der Kohlensäure und Aufnahme des Sauerstoffs durch den linken Vorhof in das linke Herz fließt und jetzt hellroth durch energische Zusammenziehungen in die Arterien getrieben wird, deren kleinste Endigungen den Venenanfängen entsprechen. Normaler Weise müssen nun beim Herzen Zufluß und Abfluß in richtigem Verhältniß stehen, dies ist aber bei Schwächezuständen des Herzens, Fettherz, Herzfehlern nicht der Fall, das geschwächte Herz pumpt hier nicht die der Blutmenge entsprechende Masse aus den Venen, sondern weniger, und in Folge dessen staut sich das Blut in den kleinen Venen der Lungen und des Körpers an. Anfänglich sind diese Stauungen unschädlich, später werden sie größer, das Blut wird immer dünner und schlechter, weil es in den Lungen nicht mehr den genügenden Sauerstoff erhält, zuletzt treten bei solchen andauernden Zuständen wässerige Blutbestandtheile in die Gewebe, es bilden sich Schwellungen vor Allem an den Füßen. Die Schwäche des Herzens wird uns durch den Pulsschlag verrathen, dessen Kraft schon die geübten Finger des Arztes annähernd abzuschätzen vermögen. Wir haben jedoch Mittel, die Stärke des Pulses auch dem Auge wahrnehmbar zu machen. Ein auf die Pulsader befestigter Apparat giebt die Bewegungen derselben wieder und zeichnet sie vermittelst einer Nadel auf einer berußten Glastafel mit großer Genauigkeit ab. Wir stellen auf der nächsten Seite einige solcher „Pulskurven“ dar. Die erste dem Oertel’schen Handbuche der Kreislaufstörungen entnommene Kurve giebt das Bild des Pulses eines an Herzschwäche Leidenden, die geringen Erhebungen auf den Linien sind der Beweis für die schwache Blutwelle, die vom Herzen kommt. Fragen wir nun einen Kranken mit Neigung zu Fettherz oder mit einer Zusammenpressung der Lunge durch Wirbelsäulenverkrümmung, wo gleichfalls das Herz wegen Verkleinerung der Athmungsfläche mehr zu arbeiten hat, wie er gelebt hat, so finden wir fast stets bei einer genauen Berechnung der eingenommenen Flüssigkeitsmenge in Speisen und Getränken, daß er täglich 3- bis 4000 g zu sich genommen hat. Nehmen wir an, daß der Kranke 78 Kilo wiegt, so beträgt seine Blutmenge circa 12 Kilo, und unter diesen Umständen müssen täglich 4 Kilo Flüssigkeit mehr durch das geschwächte Herz und das gestaute Blut cirkuliren. Dieses wird endlich zur Unmöglichkeit, und Oertel beweist das einfach durch eine Vergleichung der Flüssigkeitsaufnahme und deren Ausscheidung durch die Nieren, es werden täglich über 100 g in dem Stauungsblute zurückbehalten und vergrößern so die Stauung. Diesem Uebelstande soll das erste Mittel der Oertel’schen Heilmethode abhelfen: Wasserentziehung in Speisen und Getränken“.

Normaler Weise brauchen wir täglich 2000 g Nahrung, während Dertel die Menge auf 900 bis 1000 g herabsetzt. Daran schließt sich eine entsprechende Kostordnung, welche ich nur kurz berühren will. Unsere Nahrungsmittel bestehen aus Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten (Zucker, Mehl, Gemüse), Wasser und Salzen, und um den Körperbedarf zu decken müssen eiweißhaltige und eiweißlose Stoffe in dem Verhältniß wie 1:3–4 gemischt sein. Bei Kranken unserer Art verlangt dagegen das eiweißärmere Blut und der sehr oft vorhandene Eiweißverlust durch die Nieren eine vermehrte Eiweißnahrung, die beabsichtigte Fettabnahme aber eine geringere Beigabe von Fett und Kohlenhydraten, welche vorzüglich Fett bilden. –

Während der gesunde Mensch durchschnittlich aufnimmt: 130 g Eiweiß, 84 g Fett, 404 g Kohlenhydrate, gestattet Oertel 169 g Eiweiß, 43 g Fett, 114 g Kohlenhydrate. Nicht zu verwechseln ist dabei Eiweiß und Fleisch. 100 g mageres gebratenes Ochsenfleisch enthalten z. B. 59 g Wasser, 38,2 g Eiweiß, 1,7 g Fett.

Der vermehrte Eiweißgenuß erfordert eine vollständige Ausnutzung der Verdauungssäfte, welche die Aufsaugung des Eiweißes im Darme ermöglichen, das Trinken muß deßhalb, um letztere nicht zu sehr zu verdünnen, erst eine Stunde nach dem Essen und überhaupt nur in kleinen Quantitäten auf einmal erfolgen, weil hierdurch das Herz am wenigsten belastet wird.

[769] Der Erfolg dieser Kur wird schon nach kurzer Zeit ersichtlich. Der Anfangs peinigende Durst beginnt bald zu schwinden, das Herz kann sich durch den geringeren Zufluß erholen, die nachlassende Stauung vorzugsweise in den Nierenvenen liefert als wichtiges Ergebniß eine bedeutende Zunahme der Wasserausscheidung durch die Nieren. Die Lungen werden hierdurch freier, die Athmung tiefer, dem Blute wird mehr Sauerstoff zugeführt, und weil jetzt mehr Flüssigkeit fortgeht als eingeführt wird, gelangt endlich auch die Schwellung in den Beinen zur Aufsaugung. Ein Haupttheil der Behandlung ist geschehen, die Entlastung des Herzens und des gesammten Kreislaufes bewerkstelligt. Doch haben wir immer noch ein geschwächtes Herz vor uns.

Wie dieses zu stärken ist, zeigt uns Professor Oertel in einer in nächster Zeit im Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig erscheinenden, auch für Nichtmediciner bestimmten Broschüre „Terrain-Kurorte“, welche er der „Gartenlaube“ vor der Veröffentlichung gütigst zur Verfügung stellte. Das rohe Fleisch, wie wir es täglich vor dem Kochen sehen, nemnt man Muskeln, welche durch Ansätze an den Knochen die Bewegung vermitteln. Ein vollkoenmen gleicher Muskel ist das Herz; wie nun der Körpermuskel durch Uebung gekräftigt wird, so auch der Herzmuskel, und die beste Uebung für ihn ist das Bergsteigen. Die Anstrengung der Beinmuskulatur drängt das Venenblut schneller nach dem Herzen, die Lungen müssen öfter und tiefer athmen, um aus dem rasch cirkulirenden Blute die Kohlensäure zu entfernen, die Lungenluft wird fast vollständig erneuert, das Herz treibt mit energischen Zusammenziehungen eine größere Blutmenge in die Arterien. Das merkwürdige Bild der nebenstehenden zweiten Kurve (Fig. 2) zeigt die schnelle, hohe Ausdehnung der Blutgefäßwand unmittelbar nach einer längeren Bergbesteigung. Dieser Puls, also auch die Zunahme der Herzkraft, erhält sich noch Stunden nach der Rückkehr.

Fig. 1. Pulskurve bei Herzschwäche.

Fig. 2. Pulskurve beim Bergsteigen.

Fig. 3. Normale Pulskurve.

Die Fettabnahme bei der Oertel’schen Kur ist hierdurch ersichtlich. Sie beruht in der außerordentlichen Verbrennung des Körperfettes durch das sauerstoffreiche Blut bei eiweißreicher, fettarmer Nahrung. – Während bei ruhigem Gehen 1,5 g Kohlensänre in der Minute ausgeathmet werden, kommen beim Bergsteigen 3,8 g auf die Minute.

Die Wichtigkeit dieser Heilmethode hat nun mehrere günstig gelegene Orte, Meran, Bozen Arco, Baden-Baden, Abbazia und andere veranlaßt, nach Prof. Oertel’s Angaben Einrichtungen treffen zu lassen, wie derselbe sie für seine Heilmethode nothwendig erachtet. Die Wege sind in vier Kategorien getheilt und auf Karten genau gezeichnet. 0 1. Ebene. 0 2. Geringe Steigung. 0 3. Längere andauernde Steigung.0 4. Steile mühsame Bergpfade. Von 1/4 Stunde zu 1/4 Stunde benachrichtigt eine große rothe, an einen Baum oder Felsen gemalte I den Wanderer von der zurückgelegten Strecke. Ein Hauptgewicht legt Oertel darauf, daß an solchen Orten in sein System eingelebte Aerzte die jedesmaligen Wege verordnen, denn ein Weg, welcher einem Herzkranken Nutzen bringt, kann bei einem anderen Schaden verursachen. Am geeignetsten für Terrain-Kurorte sind nicht zu breite Gebirgsthäler inmitten von verschiedenen Anhöhen und Bergen. Schattige Wege sind nicht immer nothwendig, da gerade die Sonnenstrahlen die Wasserabgabe durch Haut und Lungen fördern.

Bringen wir nun unsere Kranken nach einem solchen Terrain-Kurort, so sind im Beginn nur ebene Touren gestattet, bis man mit dem Bergsteigen beginnen kann. Nicht sprechen, langsam steigen, ist die Grundbedingung. Die Anstrengung ist im Beginne groß. Der Athem fliegt, das starke Herzklopfen nöthigt den Kranken nach 8 bis 10 Schritten stehen zu bleiben; setzen ist nicht gestattet, ein Stock oder eine Bank dient nur den Händen als Stütze; nach kurzem Ausruhen geht es weiter und erst nach Erreichung des Zieles ist eine Ruhepause erlaubt. Um die Athmung der Bewegung anzupassen, giebt Oertel den Rath, auf den ersten Schritt ein- und auf den zweiten auszuathmen, eine wichtige bisher nicht beachtete Beihilfe, welche auch beim Marschiren in der Ebene und beim Treppensteigen mit Erfolg verwendet werden kann. Diese körperliche Anstrengung erfordert die kräftigste Nahrung, und Oertel verurtheilt darum auf das entschiedenste die gewöhnliche table d’hôte. Die Fleischportionen bei derselben genügen nicht, um das Eiweißbedürfniß des Körpers zu decken, während Fett und Kohlenhydrate zu reichlich vertreten sind. Kranke mit Kreislaufstörungen sollen öfter und wenig auf einmal essen, und darum sollte an Terrain-Kurorten auf gute Fleischspeisen Rücksicht genommen werden.

Die Anstrengung, welche das Bergsteigen im Anfang verursacht, wird immer weniger fühlbar, so daß zuletzt, wenn täglich kleinere, wöchentlich aber ein bis zwei größere Bergtouren ausgeführt sind, bei langsamem Steigen kaum irgend welche Beschwerden eintreten. Das Ziel der Behandlung ist, wie die letzte fast normale Kurve zeigt, bei welcher das Herz gleichmäßige Blutwellen in die Arterien treibt, erreicht, das Herz entlastet und gekräftigt. Kranke, welche nur an Fettsucht gelitten haben, können nunmehr zu einer etwas weniger strengen Kur zurückkehren, sogar Abends ein Glas Bier trinken, dagegen erfordert eine jede nicht vollkommen auszugleichende Störung ein Verbleiben in der bisherigen Lebensweise, welche nicht so belästigend ist, als sie scheint, denn Oertel verordnet dabei folgenden, nicht zu karg bemessenen Speisezettel:

Früh 1 Tasse Thee oder Kaffee mit etwas Milch = 150 g, und 75 g Brot. Mittags 100 g Suppe. 200 g gesottenes oder gebratenes Ochsenfleisch, Kalbfleisch, Wildpret, nicht fettes Geflügel, ohne viel Fett zubereitete Fische, Salat und leichtes Gemüse nach Belieben. Brot, Mehlspeisen höchstens bis 100 g. Etwas frisches Obst, kein Getränk. Nachmittags 150 g Thee oder Kaffee, höchstens 1/6 Liter Wasser. Abends 1 bis 2 weiche Eier, 150 g Fleisch, 25 g Brot, wenig Käse, Salat und Obst, als Getränk regelmäßig 1/6 bis 1/4 Liter Wein und vielleicht 1/8 Liter Wasser.

Die neue Kur entstammt nicht einer kurzen Beobachtung, sondern einer strengen elfjährigen Durchführung derselben durch Professor Oertel an sich selbst. Aus den obigen Mittheilungen dürften aber auch Gesunde manche Lehre für sich ziehen und durch die Befolgung derselben viel zur Erhaltung ihrer Gesundheit beitragen. Namentlich müßte das übermäßige Biertrinken eingeschränkt werden, und der beliebte Frühschoppen vor dem Mittagsessen ist vor Allem gänzlich zu verwerfen, durch ihn wird der Appetit herabgesetzt und der für die Lösung des Eiweißes nothwendige Magen- und Darmsaft verdünnt, der Fettansatz aber sehr gefördert.


[770]

Herbsttage am Königssee.

Von Wilhelm Goldbaum.

Die Tage werden kürzer, die Touristenbesuche spärlicher, und nicht mehr wie in den Erntetagen der Saison steht der Schiffmeister an der Lände, um das Gedränge der Wallfahrer, die nach dem herrlichen Sankt Bartholomä steuern wollen, zu zertheilen. Lange währt es nimmer, und alle Thüren und Läden in dem Dorfe Königssee sind fest verschlossen, die Ruderknechte auf den Almen zerstreut, die schmucken Kähne zur Ueberwinterung in die dumpfen Schiffshütten geborgen. O du wonnige Sommerszeit, wo bist du geblieben! Es war kein sonderliches Vergnügen, den großstädtisch verwöhnten Magen mit der urwüchsigen Kost der Köche von Königssee zu laben, es war ein zweifelhaftes Ergötzen, das mörderisch verstimmte Klavier des Schiffmeisters – das einzige im Orte – wimmern und ächzen zu hören; aber was bedeutete all dies kleine Menschenleid im Vergleiche mit den hundert Herrlichkeiten, welche, täglich erneut, dieser wahre König unter den deutschen Alpenseen zu verschenken hatte! Der König unter den Seen – hat er seinen Namen von seiner eigenen Majestät oder davon, daß er dem Könige gehört? Gleichviel, wenn ich Musterung halte über die übrigen Seen im deutschen und österreichischen Alpengebiete, wenn ich an den Traunsee denke mit seinen flachen Nord- und seinen düster zerrissenen Südufern, an den Attersee, der fast wie ein Binnenmeer sich in die Ebene hinausdehnt, an das Miniaturpanorama des Hallstätter Sees, an Starnberg mit seinem unruhigen Billensaum und an den unbestimmten Charakter des Achensees, so dünkt es mich, daß der See im Berchtesgadener Lande gar nicht anders heißen könnte, als er heißt – der König über sie alle in seiner starren, unzugänglichen, fast beklemmenden Hoheit. Du hörst nicht den lästigen Pfiff der Lokomotive, kein Dampfschiff wühlt dreist den durchsichtig grünen Wasserspiegel auf – die Fische haben Ruhe und die Menschen auch vor den Danaergeschenken der Kultur, an denen sich unsere armen Nerven zu schanden leben. Ein ferner Schuß, ein hallender Jodler – das ist Alles, was dieser Königssee in seiner Nähe duldet, und zürnen kann er, daß du im Innern erbebst. Wenn es ihm zuviel wird der lachenden Touristenschwärme, dann verfinstert er sich, die Wellen schlagen wild an den Wänden empor, und weithin versagen die steilen Ufer dem geängstigten Schiffer die rettende Landung. An der Falkenstein- und an der Hachelwand, über dem Rentamtsloche siehst du in deiner Noth die zahlreichen „Marterln“,. Kreuze und Muttergottesbilder, schreckliche Gedenkzeichen an den Untergang unglückseliger Menschenkinder, welche von der Fluth verschlungen.

Königssee.
Aus dem Prachtwerke „Wanderungen im Bayerischen Gebirge und Salzkammergut“.

Mich hat tiefe Wehmuth angefaßt, als ich die Inschrift las, mit welcher Karl Stieler sich in das felsige Fremdenbuch des Königssees eingeschrieben. In die Steinwand grub er die Worte: „Weihnachten 1879“. Seitdem sind sechs kurze Jahre verflossen, und der Dichter ist todt. Damals – im Winter 1879 – war der mächtige Seespiegel eine einzige große Eisfläche, über welche die Holzknechte und die „Jagersleut“ ungefährdet dahinschritten. Der blonde Poet des Bayerlandes war unter ihnen schier wie ein Gleicher. Wie schnell solch ein Dichterleben erglüht und verlischt! Die Leute am Königssee wissen nichts von ihm und seinen Liedern; nur der Fels am Ufer bewahrt sein Andenken. Und weiter hinaus, über dem „Kessel“ tief im Waldesdickicht, steht ein armseliges hölzernes Blockhaus; darin hat bisweilen König Ludwig I. eine Nacht verbracht, um ungestört – zu dichten, wie er es eben vermochte. Auch heute noch pilgern phantasievolle Dichter in die einsame Ruhe dieser steinernen Romantik; Richard Voß hat sich unfern des Sees eine Villa in merkwürdig abenteuerlichem Stile erbaut, und Ludwig Ganghofer knallte heuer lustig auf Wildenten und Gemsen, wenn der „Edelweißkönig“, den er den Lesern der „Gartenlaube“ vorzustellen gedachte, ihn aus seinen arbeitsvollen Audienzen entließ. So kommt die Kunst alleweil als Gast zur Natur, und sie profitirt dabei mehr, als sie einzugestehen bereit ist.

Doch mit Verlaub, es ist nicht Jedermanns Sache, sich vom Watzmann oder vom Funtenseetauern zu dichterischem oder künstlerischem Schaffen anregen zu lassen. Wer kein leidenschaftlicher Bergsteiger ist und sich begnügt, auch unterhalb der Schneelinie die Welt noch schön zu finden, dem wird der Anblick des schauerlich ernsten Funtensees in der Höhe von 5000 Fuß nicht zu Theil, und die zweifelhafte Heldenthat, über das Steinerne Meer und durch die „Saugasse“ gekommen zu sein, bleibt ihm versagt. Wunderliche Gesellen, die im Lodenrock, mit nackten Knieen und mit dem Rucksack auf der Achsel an den Felsen hinanklettern, nur um sich rühmen zu können, daß der Großglockner für sie ein Spielzeug sei! Zur Gotzenalm, zum Roint, zum Jenner empor führen auch Gottes Wege, und herrliche Almen, dralle Sennerinnen, Gemsen in schwerer Menge findet man auch auf ihnen, der Fernblick aber ist von mittleren Bergen zumeist schöner und umfassender als von den Schneescheiteln der Riesen, die alle möglichen Hindernisse um sich her aufthürmen, damit die vorwitzigen Menschen sie nicht in ihrer Ruhe stören.

Ich habe den See viel Dutzendmal befahren, am frühen Morgen und bei leuchtendem Mondenschein, in brennender Mittagsgluth und wenn die Abenddämmerung herniederkam, aber niemals wandelte mich die Lust an, es den Gemsen gleichzuthun, die da droben ihre halsbrecherischen Galopaden über das bröckelnde Gestein machten. Mir war’s genug, nordwärts den sagenreichen Untersberg mit seinen wilden Zacken, südwärts die mächtige Schönfeldspitze vor Augen zu haben, wie sie, als hätte sie der Herrgott zu Wächtern bestellt, über den Seekessel daherlugen. Und wenn es denn schon sein mußte, so ließ ich mir von den Schifferleuten berichten über die grausen Abenteuer verirrter Forstgehilfen und eingeschneiter Holzknechte, über Lust und Leid der Liebe auf den Almen, wobei freilich zumeist das aus der Ferne so poetische Bergvolk recht realistische Züge offenbarte.

Es ist mißlich, ins Philosophiren zu gerathen, wenn das Auge, von zahllosen entzückenden Eindrücken ermüdet, die Herrschaft an den [771] bedächtigen Verstand abgiebt. Dann legt sich die graue Reflexion über alle Herrlichkeit der Natur, und unfruchtbare Melancholie gestaltet die Berghäupter zu eisgrauen Riesen, die den Menschen Böses sinnen, die Wellen zu tückischen Wassergeistern, welche gläubige Knaben und Mägdelein in die nasse Fluth hinablocken. Düster erscheint solcher Betrachtung, was im Sonnenscheine kurz vorher noch hell und licht gewesen. Der Königssee steht im Verrufe einer furchtbaren Ernsthaftigkeit, weil nicht lachende Ufer ihn umsäumen, sondern nacktes Gestein und kühle Waldeinsamkeit. Aber er ist gar nicht so ernsthaft, obgleich er – ein echter König – die Menschen erst eine Weile antichambriren läßt, bis er sich ihnen in seiner ganzen Größe zeigt. Mußt, neugieriger Besucher, erst um die kleine Christliegerinsel, um die von oben malerisch herabwinkende Villa Beust und um die Rabenwand herum, bis du daran glaubst, daß es ein wirklicher See ist, den du befährst. Dann aber weißt du nicht, wohin du zuerst den Blick wenden sollst in diesem wunderbaren Panorama zwischen dem Malerwinkel und Sankt Bartholomä, das, ein weißes Schlößlein auf grünem Vorsprung in der Ferne mit den Wellen zu verfließen scheint. Und wenn du endlich über Sankt Bartholomä hinaus bist, dann führt eine jähe Biegung zum Obersee, an dessen anderem Ende die Welt vor dir verbarrikadirt ist von den himmelhohen Wänden, die das Steinerne Meer gegen den See begrenzen. Hier allerdings ist erschreckende Stille, grandioses Schweigen, und man braucht kein Philosoph von Profession zu sein, ja nicht einmal ein Geologe, um an die Hilflosigkeit des kleinen Menschenvolks zu denken inmitten der zürnenden Gewalten der Natur. Was mag nur den mitteldeutschen Fürsten bewogen haben, sich in diese grausame Felsenöde ein zierliches Schweizerhaus hineinzubauen, in welchem er alljährlich ein paar Sommermonate verbringt? Studirt er als leidenschaftlicher Theatermann die Scenerie, um sie auf die Bühne zu übertragen, die ihm eine vielbestrittene Blüthe der Dekoration verdankt? Du lieber Gott, so naturwahr, wie diese finstere Wirklichkeit ist, möchte kein Maler der Welt ihr Abbild auf die Leinwand zaubern.

Alle Achtung vor dem Realismus, der heutzutage in Kunst und Dichtung das große Wort hat! Wenn er weiter nichts will, als sklavisch nachgestalten, was die Ohren hören, die Augen sehen, die Nase riecht und die Fingerspitzen tasten, so soll ihm sein Handwerk nicht verübelt sein. Aber schildere mir doch Einer den Glanz, der bei Sonnenschein auf dem Königssee liegt, die Nebel, welche ihn des Morgens verhüllen, mit dem unzulänglichen Mittel des Wortes und der Farbe. Ich spüre ein leises Frösteln und hülle mich fester in den Mantel; die Sonne ist noch nicht hinter dem Untersberg hervorgekommen; die Wellen murmeln um mein Boot ihr Morgengebet, und die Bäume am Ufer, halb herabhängend von dem kalten Gestein, flüstern geheimnißvolle Geschichten von der Nacht, die eben vor dem Morgenroth entflohen – wer sagt mir, was ich empfinde, was meine unruhig schweifenden Gedanken bewegt? Es knallt ein Schuß, und ich fahre unruhig auf; unter den Läufen einer Gemse, die zum Futterstande eilt, bröckelt der Fels; eintönig rieselt das Gewässer des Königsbaches zum See herab, und wie fernes Echo klingt der herzhafte Juchzer einer Sennerin durch die Stille. Dann wieder, zu vorgeschrittener Tageszeit, glitzern hundert Lichter über der Wasserfläche; der Blick irrt hinaus, bis wo sich der Horizont am Lattengebirge öffnet und der wunderliche Montgelaskopf die Aussicht begrenzt, dieses komische Bergeshaupt mit den Zügen eines alten Weibes, welche weiland König Ludwig so lebhaft an seinen Minister erinnerten, daß er dessen Namen in dem Berge verewigte; lachende Menschenkinder steuern über den See, und ein Tourist bläst auf dem Waldhorn melancholische deutsche Weisen. Solchen Eindrücken kommt kein Realist bei; sie wirbeln, stimmend und bestimmend, unaufhörlich durch einander und sind längst dahin, wenn man sie festhalten will.

Gemalt und besungen haben Viele den Königssee; drüben im Malerwinkel unter weißem Schirmdach sitzt ein bloßer Künstler und müht sich, eine „Abenddämmerung am Königssee“, einen „Blick auf die Saletalp“, ein „Sankt Bartholomä in der Morgensonne“ seiner Palette abzugewinnen. Oder ein junger Poet schaukelt im Kahne und kritzelt auf ein Blatt Papier pathetische Verse von der wilden Schönheit der Wasserfrauen, die den Fuß des Watzmann umgaukeln. Dann wieder gleiten ein paar Menschenkinder, bequem im Boote lehnend, über die Fluth und rechnen an der Hand ihres rothgebundenen Reisebuches dem See seine Tiefe, den Bergen ihre Höhe nach, daß die Tausende von Metern wie kleine Rechengroschen umherfliegen. Und auch solche Touristen sind mir begegnet, deren Einbildung nichts so sehr beschäftigte, wie der bevorstehende Genuß der Saiblinge aus den Fischkästen des Försters von Bartholomä.

So läßt jeder in seiner Weise die Natur auf sich Wirken, die Wenigsten aber fragen sich, worin denn nun eigentlich die Individualität des Königssees bestehe. Und gerade dieser See hat mehr als jeder andere, den ich kenne, seine ausgeprochene Individualität, die zugleich seinen vornehmsten Reiz bildet; daß er nur einen einzigen Zugang besitzt und, wo er aufhört, kein Reiseziel, keine Ausfahrt in die Welt bietet, daß er nicht eine Passage ist, sondern um seiner selbst wegen gesehen sein will, das ist seine Specialität. Er ist im wahrsten Sinne ein stolzer See. Und er hat deßhalb auch sein eigenes Wetter. Wenn der Wind aus dem See herauskommt, sagen die Leute, so ist gute Zeit; umgekehrt, wenn die Wolken von Reichenhall hereinziehen, kommt Sturm und Regen.

Herbsttage am Königssee – anfangs waren sie mild und weich, man nahm sie nur an dem raschelnden Laub, an den tieferen Farben des Wassers, an der lebhafteren Bewegung unter den leichtfüßigen Gemsen wahr. Dann aber kam der Wind und pfiff in kurzen Stößen aus dem See daher, die Nebel wurden dichter, und noch tiefer in den Wasserspiegel gesenkt schien das weiße Schlößlein von Sankt Bartholomä. Und eines Morgens waren die Berge allesammt, vom Hohen Göll bis zum Watzmann, fast bis an den Rand des Wassers herab von einer leichten Schneedecke umhüllt. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Ach, er ist mir trotzdem schwer geworden. Mir war’s, als ob ich von einem stolzen Menschenkinde schiede, dem sich nach langem Warten das Herz für mich geöffnet. Bald rückt der Schienenstrang diesem Einsiedler unter den Seen näher an den Leib, dann wird ein Stück seiner einsamen Herrlichkeit dahin sein. Modische Gasthäuser und Pensionen werden sich an ihn herandrängen, Komfort und Glanz werden ihn umgeben und vielleicht – ach, leider vielleicht – wird auch ein Dampfschiff ihn durchfurchen. Es ist kein Flüchten vor der Kultur; sie klettert über die steilsten Berge und was sie erfaßt, dem verwandelt sie die Physiognomie, zum Guten oder zum Schlimmen. Ade, du wundersam entlegener Erdenfleck, und wehre dich herzhaft gegen die Pfadfinder, auf daß du nicht entstellt bist:

     „Wann i komm’, wann i komm’, wann i wiederum komm’.“


Blätter und Blüthen.


Der photographische Hut. Das photographische Trockenverfahren, welches den Photographen von der Nähe einer chemischen Hexenküche unabhängig macht, ferner die Erfindung der mit einer lichtempfindlichen Bromgelatine-Schicht überzogenen Papptafeln, die dereinst vielleicht die theuren und schweren Glasplatten verdrängen werden, endlich die vielen Apparate zu schnellen Aufnahmen in Gestalt von Opernguckern, Gewehren und Pistolen – alle diese Momente haben der touristischen Photographie, wie wir sie nennen möchten, einen ungeheuren Aufschwung gegeben. Es vermögen jetzt Reisende, Künstler,

Berichterstatter, Gelehrte und Militärs ohne weitere Vorkenntnisse und ohne sonderliche Mühe die interessanten Gegenstände, die sich ihnen auf ihren Wanderungen darbieten, sofort photographisch zu fixiren. Die lichtbeschienenen Platten nehmen sie mit noch Hause, und sie lassen dieselben alsdann von einem geübten Photographen in Ruhe entwickeln, bezw. vergrößern, falls sie es nicht vorziehen, das Geschäft höchsteigenhändig zu besorgen.

Den Bedürfnissen des touristischen Photographen kommt der vorstehend abgebildete, von dem Belgier J. de Neck erfundene photographische Hut noch mehr entgegen, als die oben erwähnten vervollkommneten Apparate. Derselbe besteht, wie ersichtlich, aus einem gewöhnlichen Filzhut, welcher einen Miniaturapparat zu photographischen Aufnahmen in seinem oberen Theile birgt. Die Linse des Apparats liegt der kleinen Oeffnung H. gerade gegenüber, die nichts Auffälliges hat, da man an Hüten vielfach ein Luftloch anbringt.

Ebenso wenig auffällig ist die Schnur C, mit welcher der Tourist den Verschluß des Apparates nach erfolgter Aufnahme bewirkt, und die vorn an der Krempe angeordnete Lorgnette L, deren Glas bis auf das Mittelquadrat B geschwärzt ist, und welche den auf die Platten festgebannten Gegenstand angiebt.

Sehr schöne Bilder wird man freilich mit diesem Apparate nicht erhalten; doch dürften sie nicht allzu hohen Ansprüchen genügen. Die Aufnahmen sollen ja nur gewissermaßen das Skizzenbuch ersetzen. G. van Muyden.     


Venetianisches Ständchen. (Mit Illustration S. 756 und 757.) O Venedig, alte Märchenstadt im Meere, welcher Zauber kommt dem deinen gleich! Auch jetzt noch mit deinen zerbröckelten Palästen, deinen verschlammten Kanälen und verödeten Plätzen schlingst du ein magisches Band um die Seele, enthronte Beherrscherin der Fluthen! Wie erst in jenen Tagen, wo deine großen Söhne dich mit verschwenderischem halb orientalischem Luxus schmückten, wo auf den Kanälen und Lagunen in reichvergoldeten Gondeln die glänzendste Gesellschaft der Erde sich bewegte, wo dein Hafen noch von Masten starrte, deine Piazza von Masken wimmelte, wo deine stolzen Gallionen alle Gewässer durchkreuzten, sich die fernsten Gestade unterwarfen, um heimgekehrt dich mit neuer, noch fremdartigerer Pracht zu überschütten!

In jene Zeiten deiner Herrlichkeit versetzt nun der Meister, dem es wie Wenigen gegeben war, uns durch die Gluth seiner Farben den märchenhaften Zauber solch sinnverwirrenden Prunkes vorzuführen. – Segelfertig liegen im Hafen die Prachtgaleeren, welche die „Serenissima“ ausgerüstet hat, um einen edeln Patricier mit allem Pomp, der seiner hohen Stellung gebührt, als Statthalter auf die ionischen Inseln zu entsenden. Schon ist die Familie an Bord, die Verwandten und nächsten Freunde den Hauses, welche den Damen bis zum Schiffe das Geleit gegeben haben, sind in ihren Gondeln heimgekehrt; vor den Blicken der Scheidenden geht wie das Meer die Zukunft reich an Wundern auf. Schon mischt sich mit der Wehmuth des Abschieds das Vorgefühl der Triumphe, die ihrer harren, des fürstlichen Empfanges, der dort bereitet ist, der Feste, wo sie wie Königinnen herrschen werden durch ihre Schönheit, ihren Rang und vor Allem durch jene eigene unnachahmliche Grazie, die der Venetianerin [772] dazumal denselben Nimbus verlieh, den in unserer heutigen Gesellschaft, nur in verringertem Grade, die Pariserin besitzt.

Da, im letzten Augenblick, als eben die Anker gelichtet werden, tönt Gesang und Lautenklang über das Wasser, ein kleiner Kahn durchfurcht die stille Fluth, und eine stattliche Männergestalt wird aufrecht im Boote stehend sichtbar. Es ist ein Freund, den seine bescheidenere Stellung – vielleicht auch ein tieferes Gefühl abgehalten hat, sich an den geräuschvollen Abschiedsceremonien zu betheiligen, und der nun spät noch allein erscheint, um seine Grüße hinaufzusenden.

Wehmüthig tönt die Weise:

„Sogna il guerrier le schiere,
Le selve il cacciator“ – – [1]

Der Sänger läßt sein Boot zu Füßen der reizenden Blondine halten, die, an der Seite der Gefährtinnen stumm und bewegt zu dem Freunde niederblickend, ihm zum Abschied eine Blume zuwirft, und während schon die Galeere langsam dem offenen Meere zufährt, tragen noch Wind und Welle die letzten Worte des wohlbekannten Liedchens zu ihr herüber, Worte, die noch lang in ihrer Seele nachhallen werden:

„Sogno anch’io cosi
Colei che tutto il dì
Sospiro e chiamo.“[2]

J. K.     

  1. Der Krieger träumt von seinen Scharen, der Jäger träumt von seinem Wald.
  2. So träume auch ich, von ihr, die ich den ganzen Tag mit Seufzern rufe.

Für die Hausbibliothek. Die billigen Ausgaben deutscher Klassiker haben selbst die weniger bemittelten Familien in die Lage versetzt, die unvergänglichen Werke unserer großen Dichter in ihre Hausbibliotheken aufzunehmen. Man kann sogar weitergehen und behaupten, daß erst in der neuesten Zeit durch die billigen Ausgaben die Hausbibliothek, die man früher nur bei Gelehrten vorfand, zum Gemeingut des Volkes wurde. Und wie groß ist der Werth eines solchen Bücherschatzes, wenn bei der Wahl der Werke Geschmack und Einsicht walten! An den Meisterschöpfungen großer Dichter und hervorragender Schriftsteller bildet nicht allein die heranwachsende Jugend des Hauses Geist und Herz, auch für die Aelteren sind sie eine nimmer versiegende Quelle edler Unterhaltung und geistiger Erholung. Ja, richtige Auswahl, das ist die Hauptsache beim Sammeln einer Hausbibliothek, namentlich für Denjenigen, der mit dem Gelde rechnen muß. Leider aber verfügt nicht ein Jeder über die Summe der nöthigen litterarischen Erfahrung, um die Wahl stets richtig zu treffen, und daraus entstehen jene Fehlgriffe, die so Viele von weiterem Bücherankaufe abschrecken.

Diesem Uebelstand versuchten die Herausgeber der „Cotta’schen Bibliothek der Weltlitteratur“ abzuhelfen, als sie beschlossen, die anerkannten Meisterwerke der Litteratur aller Völker in vorzüglichen Ausgaben den weitesten Kreisen auf die denkbar billigste und bequemste Weise zugänglich zu machen.

Die bereits abgeschlossene erste Serie enthielt die Werke von Goethe, Schiller, Lessing, Shakespeare, Molière, Calderon, Dante, Chamisso, Körner, J. v. Kleist, Platen, Lenau. In der zweiten Serie, deren Ausgabe soeben beginnt, werden den obengenannten Werken diejenigen von Homer, Sophokles, Horaz, Cervantes, Tasso, Ariost, Racine, Camoëus, Tegnér, Byron, Klopstock, Wieland, Herder, Bürger, Tieck, Hauff, das Nibelungen- und Gudrunlied folgen.

Dreierlei Vorzüge sind es, welche diese Ausgaben auszeichnen: erstens sind sie sämmtlich von den kompetentesten Herausgebern durchgesehen und eingeleitet, zweitens ist ihre gleichmäßige Ausstattung eine sehr elegante und solide (stattliches Oktavformat, guter Druck), und drittens ist der Preis derselben – eine Mark für den vollständigen, elegant in Leinwand gebundenen Band von durchschnittlich 300 Druckseiten – ein so mäßiger, daß man sich hier in der That mit fast unmerklichen Geldopfern nach und nach – je in Zwischenräumen von zwei Wochen erscheint ein Band – in den Besitz einer klassischen Büchersammlung von nie veraltendem Werthe setzen kann. Für Solche, welche einzelne der genannten Dichterwerke schon besitzen, ist die Einrichtung getroffen, daß man ohne Preiserhöhung auch nur auf einzelne oder mehrere Dichter subskribiren, ja sogar einzelne Bände zum Preise von 1 Mark (gebunden) haben kann.

Das Unternehmen erleichtert die allmähliche Anschaffung gediegener Hausbibliotheken in außerordentlicher Weise. Die „Cotta’sche Bibliothek der Weltliteratur“ spricht so sehr für sich selbst, daß sie kaum einer besonderen Empfehlung bedarf.



Inhalt: Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 753. – Sonntag Nachmittag. Illustration. S. 753. – Eine fürstliche Malerin. Von Anton v. Werner. S. 761. Mit Illustration S. 761, 764 und 765. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen (Fortsetzung). S. 762. – Terrain-Kurorte. Eine neue Heilmethode, geschildert von Dr. med. Taube-Leipzig. S. 768. – Herbsttage am Königssee. Von Wilhelm Goldbaum. Mit Illustration. S. 770. – Blätter und Blüthen: Der photographische Hut. Von G. van Muyden. Mit Abbildung. S. 771. – Venetianisches Ständchen. S. 771. Mit Illustration. S. 756 und 757. – Für die Hausbibliothek. S. 772.



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[ Verlagsanzeige von Ernst Keil's Nachfolger; hier nicht dargestellt. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.