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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[733]

No. 45.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.



  Herbsttage.

Herbstfrisch die Luft; im kahl gewordnen Wald
Mit bleichem Glast gehäufte Blätter glänzen,
Ein Hauch streift drüber wie von Todtenkränzen;
Dies Himmelblau wie matt, wie flimmernd kalt!

Verschüchtert spielt Kaninchenbrut am Pfad:
Die Welt im Sterben zeigt so fremde Züge!
Sie merkt verwirrt: die Sommerlust war Lüge,
Und weiß noch nicht, daß künftig Frühling naht.
 Victor Blüthgen.

[734]

Edelweißkönig.

Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


Tonlos hatte Jörg die Worte hervorgestoßen, starr vor sich niederblickend. Alle drängten sich um ihn, in der Erwartung, Näheres über das Unglück Hanni’s von ihm zu hören. Jörg aber schwieg – und als er sich endlich gewaltsam aus seinem verstörten Brüten emporraffte, irrten seine Augen mit scheuen Blicken über die Gesichter, während er mit hastigen, heiser klingenden Worten sprach:

„Morgen in der Früh, zwischen fünfe und sechse, kommt unser Bäuerin z’ruck aus der Stadt – und – da muß der Sarg in der Station nachher abg’holt werden. Valtl! Du machst den großen Planwagen zum Fahren fertig und deckst ihn mit die schwarzen Tücher zu, die der Herr Pfarrer heut’ noch schickt. Und bis um a drei in der Fruh, da fahrst nachher fort –“

„Was? Ich soll fahren?“ brummte Valtl. „Als Todtenfuhrmann, mein’ ich, hab’ ich mich dengerft net ein’dingt auf ’m Finkenhof!“

Dunkle Zornröthe übergoß das bleiche Gesicht des Bauern.

„Du – Du –“ fuhr er mit bebender Stimme auf, „Du kannst sitzen an mei’m Tisch und schlafen unter mei’m Dach – und so a Red’ kannst mir sagen – in so einer Stund’, wo mir ’s Herz schwer is zum Brechen! Da will Dir halt nachher ich jetzt ’was sagen –“

Mit heftigen Schritten wollte er auf den Knecht zutreten, als Dori sich ihm in den Weg stellte.

„Thu’ Dich net kränken, Bauer – net wegen dem!“ sprach der Bursche mit schunchzenden Worten zu Jörg empor, und dabei kugelten ihm dicke Thränen über die Wangen. „Mich laß’ fahren – ich bitt’ Dich gar schön – mich laß fahren! Mir is an Ehr’, Bauer – an Ehr’, daß ich mir a größere net denken kann!“

„Ja, Dori – ja – fahr’ Du!“ erwiderte Jörg gerührt, und die Hand über Dori’s Rothkopf streichend, fügte er bei: „Bist a guter Bursch!“

„Ja, ja – und fahren will ich, Bauer, fahren –“ Dori’s Worte erstickten völlig unter Schluchzen und Thränen, „weißt – ordentlich vermerken müssen’s d’ Roß’, was s’ da zum heimwärtsführen haben – und – und kein Steinl soll den Wagen stößen – so will ich fahren – so will ich fahren!“

Jörg nickte nur immer, und schwerer und schwerer wurde dabei seine Hand, die auf Dori’s Scheitel ruhte. Dann plötzlich preßte er die beiden Fäuste vor die Augen und als er sie wieder sinken ließ, sagte er: „So – und jetzt fangt’s zum beten an, wie’s Brauch is in ei’m christlichen Todtenhaus.“

Lautlos ließen sich die Knechte und Mägde auf die Kniee nieder, die Arme auf die Holzbank stützend, die sich an der Wand entlang zog. Emmerenz knieete vor dem Tische; mit lauter Stimme sprach sie das Vaterunser und dann die Absätze der Todtenlitanei – und wenn die Knechte und Mägde antwortend einhielten, hörte man aus allen andern heraus Dori’s inbrünstige Stimme. „Herr, gieb ihr die ewige Ruh’!“

Regungslos stand Jörg eine Weile inmitten der Stube, die Hände unter dem Kinne gefaltet, den Wortlaut der Gebete leise mitraunend. Als die Litanei zu Ende war und der Rosenkranz begann, schlug er ein Kreuz und wandte sich der Thür zu. Aufathmend trat er ins Freie – und da sah er Valtl auf der Hausbank sitzen, die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen. Weder dem Bauer noch den Anderen war es aufgefallen, daß der Knecht sich bei Beginn des Gebetes aus der Stube geschlichen hatte.

„Valtl!“ fuhr es mit drohendem Laute über Jörg’s Lippen; doch schien er sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen. „Ich mein’, Du könntst hören, daß drin schon ’bet' wird.“

„No ja – aber was geht denn mich das Beten an? Ich glaub’, ich bin fürs Arbeiten ’zahlt und net fürs Beten. Wenn aber der Bauer anders glaubt, kann er ’s ja sagen.“

„Was ich glaub’, das wirst morgen zeitig g’nug noch hören von mir. Jetzt aber – jetzt gehst ’nein in d’ Stuben.“

„Neinschaffen kann mich der Bauer freilich,“ erwiderte Valtl, indem er sich gähnend von der Bank erhob, „aber den möcht’ ich doch sehen, der mir mit G’walt ’s Maul auf- und zureißt, wenn ich’s net rühren mag.“

„Halt!“ Mit einem raschen Schritte vertrat der Bauer den Weg zur Thür. „Jetzt laß’ ich Dich gar nimmer ’nein in d’ Stuben. Schlafen kannst heut’ noch in der Kammer droben – morgen in aller Fruh aber gehst mir aus mei’m Hof. Dein Lohn bis Jakobi zahl’ ich Dir aus – und nachher sind wir g’schiedene Leut’.“

„Is mir auch net z’wider,“ lachte Valtl, indem er seinen alten Sitz auf der Bank wieder einnahm. „A Knecht, wie ich einer bin, braucht sich um an neuen Dienst net z’sorgen, der Leithenbauer nimmt mich auf der Stell’.“

„Ja – geh zu ihm – das is der richtige Herr für Dich – der Schlingenleger!“

„Geh’ – gelt, Bauer – nimm Dich fein in Acht! Es könnt’ Dir auch net lieb sein, wenn ich jetzt hinging zum Leithner und saget ihm, was ihn Du g’heißen hast.“

„So geh – er soll mich verklagen – nachher will ich ihm beweisen, was ich g’sehen hab’ mit eigne Augen.“

Kurz wandte Jörg dem Knechte den Rücken und schritt über den dunklen Hof hinweg dem Wohnhaus zu, dessen ebenerdige Fenster erleuchtet waren. In der Stube war der Tisch gedeckt, Jörg sah es nicht; kaum vermochte er einen Stuhl zu erreichen, so zitterten ihm die Kniee; seufzend sank er nieder und schlug die Hände vor das Gesicht.

Die Thür zum Nebenraume stand offen; es war das Schlafzimmer des Bauern und der Bäuerin, daran reihte sich die Kinderstube. Durch die beiden Thüren klang in leisem, melancholischem Gesange Veverl’s Stimme. Sie sang einen Nachtsegen, der die schlummernden Kinder vor bösem Zauber bewahren sollte.

Eine Weile lauschte Jörg dem Gesange; dann sprang er auf; es drängte ihn, seine Kinder zu sehen. Als er die kleine Stube betrat, erhob sich Veverl, den Gesang unterbrechend, von ihrem Stuhle.

„Sing’, Veverl, sing’!“ flüsterte Jörg; und während das Mädchen die seltsame Weise von neuem begann, trat er vor das Bett seines blonden Dirnleins und strich die zitternde Hand über das nackte Aermchen des schlummernden Kindes; dann zog er sich einen Stuhl vor das Bett seines Buben; und während er mit brennenden Augen an dem frischen, rothen Gesichte des Knaben hing, horchte er auf den Gesang des Mädchens; der weiche, innige Klang dieser Stimme that ihm so wohl.

Als Veverl den Gesang beendet hatte, wollte sie sich lautlos entfernen. Jörg winkte ihr zu, das Licht mit fortzunehmen. Sie that es – und nun saß er im Finstern, die gefalteten Hände netzend mit seinen rinnenden Thränen.

Nach einer Weile erschien Veverl wieder unter der Thür: „Jörgenvetter,“ flüsterte sie, „geh, komm doch zum Essen – wird ja alles kalt.“

Jörg folgte dem Mädchen in die Stube und ließ sich am Tische mit den Worten nieder: „Trag’ nur alles wieder ’naus – ich kann nix essen!“

Mit besorgten Blicken betrachtete Veverl den Bauer, dann trat sie auf ihn zu: „Jörgenvetter – schau – sollst mir doch sagen, was Dir fehlt. Weißt – mein Vaterl hat mir gar viel verrathen, was gut is für gache Leiden.“

Jörg schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, daß es für sein Leid keine Hilfe gäbe. Und brütend starrte er wieder vor sich nieder.

Veverl schickte sich an, den Tisch abzuräumen; plötzlich ließ sie die Hände ruhen und richtete mit ängstlichem Lauschen das Köpfchen empor.

„Jörgenvetter,“ stammelte sie, „drüben – im Ehhaltenhaus – da – da beten s’ ja! Um Gotteswillen – was is denn g’schehen?“

Nun sagte er es ihr – sagte es ihr fast mit den gleichen, scheu zögernden Worten, mit denen er seinen Dienstboten das Unglück verkündet hatte.

Veverl erblaßte, und die Thränen stürzten ihr aus den Augen, aber sie brachte kein Wort hervor.

[735] Ein einziges Mal nur hatte sie die „Hannibas’“ gesehen: das war im vergangenen Winter gewesen, da war die Finkenbäuerin mit der Hanni für einen ganzen Tag im Waldhause eingekehrt. Aber für Hanni’s liebes, freundliches Wesen hätte es keines ganzen Tages bedurft, da hatte eine Stunde genügt, um Veverl’s Herz zu gewinnen.

Wie hatte sich Veverl da in den letzten Tagen auf Hanni’s erwartete Heimkehr gefreut! Und nun!

Nun verstand sie auch, was sie wie eine unbegreifliche Kränkung empfunden hatte, als sie kurz nach dem Ausgang des Bauern den Kranz, den sie mit so liebevoller Freude um das „Willkommen“ gewunden, in der Herdflamme hatte verkohlen sehen.

Lange, stille Minuten verrannen – immer noch stand Veverl regungslos vor dem Tische. Und als sie endlich hätte sprechen mögen, da schloß ihr der Anblick des Bauern die Lippen, der da vor ihr saß, mit so gramvollen Zügen, stumm versunken in seinen Schmerz.

Mit zitternden Händen räumte sie den Tisch und nahm das Geschirr auf die Arme, um es in die Küche zu tragen. Als sie nach geraumer Weile wieder in der Stube erschien, legte sie vor sich auf den Tisch ein schmales Brettchen und einen rothen Wachsstock. Aus dem dünngezogenen Wachse schnitt sie kleine Kerzen von verschiedener Größe, die sie der Reihe nach auf das Brettchen klebte, so daß die kürzeste den Anfang, die längste den Schluß bildete. Dabei sprach sie keine Silbe, doch unablässig bewegten sich ihre Lippen, und in ihren thränenerfüllten Augen glomm ein schwärmerisch heiliger Ernst.

Wortlos ließ Jörg sie gewähren, obwohl er den Sinn und Zweck ihres Gebahrens nicht verstand. Er mochte sich wohl denken, daß sie wieder einmal einen jener seltsamen Bräuche übe, die der Vater im Waldhause sie gelehrt hatte. Und was die Kerzen zu bedeuten hatten, meinte er aus ihrer Zahl errathen zu können – zwanzig – es war die Zahl von Hanni’s Jahren.

Jetzt hob Veverl das Brettchen auf die schmale Brüstung des kleinen Hausaltars, der im Herrgottswinkel unter dem Krucifixe angebracht war – und während sie mit dem brennenden Wachsstocke die Kerzlein entzündete, raunte sie leise vor sich hin:

„Licht is Gottes Gab’,
Leben is Gottes Gnad’ –
Wie Du ’s Licht uns ’geben,
Wie Du g’schaffen das Leben,
Verlöschen Licht und Leben auch,
Herr Gott, vor Deinem Hauch.
Aber Du thronst in Allgütigkeit
Und richten thust nach G’rechtigkeit!
Herr Gott über Himmel und Höll’,
Sei gnädig der armen Seel’.“

Bei dem letzten Worte hatte sie die letzte Kerze entzündet. Mit sachtem Hauche löschte sie den Wachsstock, dann knieete sie vor dem Tische nieder, in stillem Gebete die Hände faltend, keinen Blick ihrer schwärmerischen Augen verwandte sie von den zuckenden Flämmchen. Es währte kaum eine Minute, da war das erste Kerzlein niedergebrannt – und als das bläuliche Licht in dem zerschmolzenen Wachse knisternd erlosch, sprach Veverl mit innig bewegter Stimme die Worte:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein erstes Jahr.“

Wieder versank sie in stilles Gebet – und wieder sprach sie, als das zweite Licht erlosch:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein zweites Jahr.“

So brannte Kerzlein um Kerzlein nieder – und jedes Mal beim Erlöschen eines Flämmchens wiederholte Veverl diesen Spruch mit steigender Zahl des Jahres. Je weniger der Kerzlein wurden, desto mehr erwachte in ihren Zügen der Ausdruck einer tiefinnerlichen Erregung. Die Wangen begannen ihr zu glühen, der feuchte Glanz ihrer Augen wurde zum Leuchten, hastiger und hastiger bewegten sich bei den stummen Gebeten ihre Lippen, ein leises Zittern kam über ihre gefalteten Hände – und wenn sie ihr Sprüchlein sagte, da war es nicht Trauer mehr, da war es fromme Freude, was aus dem Klange ihrer bebenden Stimme sprach.

Als das drittletzte der Kerzlein erloschen war, schmiegte sie, keinen Blick von den zwei noch zuckenden Flämmchen verwendend, das Köpfchen an die Schulter des Bauern, der lange schon neben ihr auf den Dielen knieete – und flüsterte: „Jörgenvetter – wie brav und fromm muß d’ Hannibas g’wesen sein!“

Mit keiner Silbe, nicht einmal mit einem leisen Nicken des Hauptes erwiderte Jörg diese Worte. Brennenden Blickes starrte er zu dem zitternden Lichtschein empor, während qualvolle Unruhe sich in seinen Zügen malte.

Anfangs hatte er mit zerstreuten, dann mit staunenden Augen das Gebahren des Mädchens verfolgt. Aber die rührende Innigkeit, die aus Veverl’s Blicken und Worten sprach, das Mystische des ganzen Vorganges, der Anblick der brennenden Kerzen, deren röthliche Flammen grelle Lichter und zuckende Schatten über das Krucifix und sein aus weißem Holze geschnitztes Bildniß warfen, das unter diesem Widerspiele von Licht und Schatten zu leben und sich zu bewegen schien – das Alles mochte in seinem von Schmerz durchzitterten Gemüthe eine Stimmung erweckt haben, die ihn unwillkürlich an die Seite des Mädcheus gezogen und niedergezwungen hatte auf die Kniee.

Nun wieder erlosch ein Flämmchen – und wie in verhaltetem Jubel klangen die Worte des Mädchens:

„Wie ’s Licht, lauter und klar,
So lauter von Sünden
Wird der liebe Herrgott finden,
Arme Seel’, Dein neunzehntes Jahr.“

Noch aber war das letzte Wort ihren Lippen nicht entflohen, als sich aus der Höhe des Herrgottwinkels ein leises Rascheln vernehmen ließ. Einer der geweihten Palmzweige, welche den frommen Schmuck des Krucifixes bildeten, hatte sich losgelöst, glitt zwischen der Wand und dem Kreuzholze hindurch und schlug mit der Spitze auf das Brettchen nieder, so daß das letzte noch brennende Kerzlein seinen Halt verlor, über die Brüstung des Altares kollerte, im Fallen erlosch und qualmend über die Tischplatte auf die Dielen rollte.

Erblaßt bis in die Lippen sprang das Mädchen auf und stammelte, zitternd am ganzen Leibe: „Heiliger Himmel – Jörgenvetter – d’ Hannibas’ is net g’storben nach Gottes Rath und Willen – da – is ’was net in der Ordnung – oder – oder a Mensch is schuld an ihrem Tod!“

Mit offenen, glasigen Augen starrte Jörg auf das Mädchen, während er sich mühsam emporrichtete.

„Wie kannst so ’was sagen. so ’was sagen!“ stotterte er mit heiserer Stimme.

„Ja, ja – sonst wär’ das letzte Kerzl niederbrennt – g’rad’ wie die andern –“

„Ah was – ah was – Dummheiten – Dummheiten – d’ Hitz’ von die vielen andern Lichter hat’s verschuld’t – da hat sich d’ Wieden[1] g’lockert –“

„Um Gotteswillen – Jörgenvetter – so mußt net reden –“ schluchzte das Mädchen mit angstvollen Augen zu Jörg emporstarrend, „das Wachs is g’weiht am Ostersonntag – und – und ’s Kerzeng’richt lügt net – da wacht unser Herrgott drüber – mein Vaterl hat’s g’sagt – mein Vaterl hat’s g’sagt –“

Jörg antwortete nicht, in sich versunken stand er da, seine Züge waren schlaff, und müde starrten seine Augen.

Weinend bückte sich das Mädchen, hob die halbverbrannte Kerze vom Boden auf und legte sie mit zitternder Hand auf den Tisch.

Aufseufzend griff Jörg nach dem rothen Wachse und drehte es hin und her zwischen seinen Fingern, dann plötzlich warf er es zurück auf den Tisch, und niedersinkend auf die Holzbank barg er das Gesicht in beide Hände unter den schluchzenden Worten: „Mein’ Hanni! Mein’ arme, arme Hanni!“

Hastig trat Veverl auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Jörgenvetter – geh’ – mußt net weinen,“ bat sie mit herzlicher Stimme, während ihr doch selbst die Thränen über die Wangen rannen, „weißt – so ’was verspürt die arme Seel’ – das thut ihr weh.“

[736]

Wolfsjagd.
Nach dem Oelgemälde von Anton Kowalski.

[737] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [738] Jörg richtete sich empor und fuhr sich über die Augen. „Geh’ – geh’ – Veverl – geh’ jetzt schlafen! Es is schon spat – und – und morgen – und morgen müssen wir ja Alle früh in d’ Höh’.“

„Na, Jörgenvetter! Wie könnt’ ich denn schlafen jetzt und g’rad’ so Du! Mir kannst es ja sagen – gelt – bist doch net gern allein jetzt? Schau - laß mich bei Dir bleiben!“

„Na, mein liebs Deandl, na, na! Leg’ Dich nur schlafen. Und da streckte er ihr die Hand entgegen, „und gelt – wann mir und meine Kinder gut bist, nachher – nachher sagst von wegen der Hanni zu kei’m Menschen so a Wort, wie vorhin g’rad zu mir. Versprich mir’s, Veverl – gelt?“ Fast versagte ihm die Stimme bei diesen Worten.

„Ja, Jörgenvetter, ich versprich’s!“ stammelte Veverl. Dann entzündete sie den Wachsstock und nachdem sie die Finger in den Weihbrunnenkessel neben der Thür getaucht und Stirn und Brust mit dem geweihten Naß besprengt hatte, verließ sie mit leisem „Gut’ Nacht!“ die Stube.

Lautlos stieg sie draußen im Flure die Treppe empor und betrat ihr Kämmerchen. Der kleine Glasschrein mit dem wächsernen Jesukinde, das von Goldleisten umrahmte Spiegelchen, die Schachteln und Schächtelchen und manch anderer Kram, womit die bunt bemalte Kommode bestellt war, verrieth, daß ein Mädchen die Kammer bewohnte, die im Uebrigen durchaus nicht das Aussehen einer Mädchenstube zeigte. Da hing an einem Wandhaken eine Büchse mit einem Bergstocke und drüber eine Cither, von welcher einzelne gesprungene Saiten niederschwankten; an einem anderen Haken hing ein Raupenhelm über einem kurzen Säbel mit schwarzlederner Kuppel. Soldatenphotographien in zierlich geschnitzten Rähmchen schmückten die weißen Wände.

Als Veverl die Kammer betrat, öffnete sie das Fenster, das gegen den Garten ging. Dämmeriger Mondenschein lag über dem Gehänge. Ueber die hochliegenden Wiesen huschte ein Etwas dahin, das sich ansah wie ein vor dem Nachtwinde treibender Nebelstreif. Veverl aber wußte das besser – das war die Hulfrau, die zu nächtiger Zeit im grauen Nebelkleide über die Wiesen schwebt, aus ihrem Wunderkrüglein den Thau ausgießend über die durstigen Gräser und Blumen.

Veverl begann sich zu entkleiden; dann knieete sie vor dem Jesuschreine nieder und verharrte lange in stillem Gebete.

Schon wollte sie sich zur Ruhe legen, als sie ganz erschrocken vor sich hinflüsterte: „Ja, wie ich nur so ’was hab’ vergessen können!“

In dem kurzen, dünnen Röckchen und barfuß, wie sie war, eilte sie aus der Kammer und hinunter in die Küche. Als sie wieder zurückkehrte, trug sie eine Schale mit Milch und ein weißes Brot in Händen. Sie schritt an ihrer Kammer vorüber und öffnete eine Thür.

Nun stand sie in Hanni’s Stube. Matt erleuchtete das flackernde Wachslicht in ihren Händen die mit mannigfachen Schnitzereien geschmückten Wände und Schränke, den Schreibtisch mit seinem Bücherregale, das weißverhangene Bett und das Klavier, an welchem der Deckel geöffnet und das Pult mit Noten bestellt war, als hätte eben erst die Spielerin den Stuhl verlassen.

Veverl stellte, was sie in Händen trug, auf den Tisch nieder. Dann öffnete sie die beiden Fenster. Als sie zum Tische zurückkehren wollte, war es ihr, als hätte eine dünne, lispelnde Stimme ihren Namen gerufen. Lauschend stand sie, unter tiefen Athemzügen, und blickte hinaus in das dunkle Gezweig der Kastanie, die ihre Aeste hoch empor über das eine Fenster recte. Sie hörte nichts mehr; die kühle Nachtluft nur durchstrich mit sanftem Hauche die Stube. Nun griff sie nach dem brennenden Wachse und da huschte ein Etwas mit summendem Schwirren um ihr Haupt; erschrocken hob sie die Augen; doch gewahrte sie nichts. im gleichen Augenblicke aber ging ein raschelndes Klingen durch die Saiten des Klaviers.

„Alle guten Geister loben Gott den Herrn!“ flüsterte das Mädchen, die Stirn bekreuzend; die Stimme bebte ihr nicht bei diesen Worten; ihre Augen leuchteten, und wie ein glückliches Lächeln lag es auf ihren Lippen, während sie innig und leise vor sich nieder raunte:

„Arme Seel’, thu’ Dich speisen,
Arme Seel’, thu’ Dich tränken,
Dein’ Reis’ is lang,
Dein Weg is drang,
Unser Herrgott soll Dich führen in Gnad’
Und Dir sein ewig’s Leben schenken.“

Nun trug sie die Schale mit der Milch und das weiße Brot nach dem Fenstergesimse, warf noch einen Blick hinaus in das dunkle Gezweig und verließ die Stube.

Als sie die Thür hinter sich abschloß, tönte rascher Hufschlag an ihr Ohr. Sie eilte an das Flurfenster und sah die dunkle Gestalt eines Reiters auf der Straße vorüberfliegen. Wer war dieser Reiter? Vielleicht der Billwizschneider? Aber nein – der waizt ja nur zur Zeit der Kornreife, reitet auch nicht auf einem Pferde, sondern auf einem schwarzen Bocke – und dann, es kann ihn ja nur Jener erblicken, der einen verwachsenen Maulwurfshügel auf dem Kopfe trägt. Wer war dieser Reiter? Vielleicht der wilde Jäger? Aber nein – der treibt ja nur in den Freinächten seine gespenstige Hatz, und niemals allein, immer begleitet von dem johlenden, tobenden Gejaide.

Wer war dieser Reiter? Lange noch, als Vevert schon in den Kissen lag, hielt diese Frage ihre Augen wach.

Als sie entschlief, träumte sie, die arme Seele der Hannibas’ säße vor ihrem Bette, das Milchschüsselchen im Schoße, das weiße Brot in den durchsichtigen Händen; sie hatte so traurige Augen und sieben blutige Wundmale auf der Brust; als sie gegessen und getrunken, erhob sie sich und beugte sich über das Lager, um das Mädchen zu küssen, ein eisiger Hauch entströmte dabei ihren bleichen Todtenlippen.

Darüber erwachte Veverl und immer noch spürte sie jenen kalten Hauch auf ihren glühenden Wangen; es war die Nachtluft, welche durch das offene, vom Mondschein hell erleuchtete Fenster strich.

Schon wollte sie wieder die Augen schließen, als dicht unter ihrem Fenster der Hofhund heftig anschlug. Veverl meinte zu hören, wie eine leise, fremde Stimme den Namen des Hundes rief und da verstummte jählings das laute Gebell und wurde zu freudigem Gewinsel. Veverl wollte sich erheben, um aus dem Fenster zu blicken – nun plötzlich aber vernahm sie ein Knistern und Rascheln, das an der Mauer emporzusteigen und dem Fenster sich zu nähern schien – und jetzt – das Mädchen erstarrte vor Angst und Schreck – jetzt tauchte im mondhellen Fenster eine Soldatenmütze empor, ein Kopf mit einem leichenblassen Gesichte, Schultern und Arme rückten nach, und zwei Kniee hoben sich auf das Gesimse. Lautlos zwängte sich der Bursche durch das enge Fenster und ließ sich niedergleiten auf die Dielen. Von dem Soldatenkleide, das die schlank und hochgewachsene Gestalt verhüllte, hingen die Fetzen, und unter dem offenen Rocke hervor starrte die nackte Brust durch das zerschlissene Hemd.

Vergebens rang das Mädchen in seiner Angst nach Athem und Worten; ihre Glieder versagten den Dienst, und es war ein Fühlen in ihr, als wäre das Blut ihr zu Eis geronnen. Doch als die Gestalt sich nun vom Fenster löste und dem Lager sich nähern zu wollen schien, brach die gesteigerte Angst den Bann, der das Mädchen gefesselt hielt – und unter dem gellenden Aufschrei: „Räuber – Räuber!“ sprang es aus den Kissen, die nackten Arme wie zum Schutze emporschlagend über das Haupt.

Erschrocken fuhr der Bursche in sich zusammen, wie vor einem Ungeahnten, Unerwarteten. „Ja – was is denn – um Gotteswillen Deandl – ich bitt’ Dich – sei stad, sei stad!“ stammelte er mit heiser bebender Stimme und haschte die Arme des Mädchens, das unter schrillenden Hilferufen der Thür zuflüchten wollte.

Veverl’s Schreie erstickten unter der Hand, die sich auf ihre Lippen preßte, und ihre ringenden Kräfte erlahmten unter dem starren Drucke des Armes, mit dem der Bursche den zarten, zitternden Körper des Mädchens an seine Brust geschlungen hielt.

Die Sinne drohten ihr zu vergehen – aber neu erwachten ihr plöglich die Kräfte, als sie die Schritte vernahm, welche draußen über die Treppe empor gehastet kamen. Es gelang ihr, das Gesicht frei zu ringen, und gellend schrie sie auf: „Hilf – Jörgenvetter – hilf — hilf —“

An der Thür knirschte die Klinke – aber es war ja von innen der Riegel vorgeschoben; doch unter wuchtigem Drucke klirrte das Eisen auf die Dielen, und Jörg erschien über der Schwelle, umzittert von dem Scheine des Lichtes, das draußen auf der obersten Treppenstufe stand.

Da gaben die Arme des Burschen das Mädchen frei, das zitternd in eine Ecke flüchtete, bangend vor dem Kampfe auf Leben und Tod, der ihrem Fürchten nach ja nun beginnen mußte – [739] und da wußte sie sich kaum zu fassen und meinte zu träumen, als sie gewahrte, was geschah.

„Jörg – Jörg!“ stammelte der Bursche und streckte die Hände dem Finkenbauer entgegen, der mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuwankte, unter den schluchzenden Worten: „Ferdl – mein Bua – mein armer Bua!“

So sanken sich die Beiden Brust an Brust und hielten sich weinend umschlungen.

Endlich wieder richtete sich Jörg empor, mit zitternder Hand die Augen trocknend. „Komm, komm – komm, Ferdl – komm!“ hastete es über seine Lippen, während er den Bruder mit sich hinauszog über die Schwelle.

Langsam fiel die Thür hinter ihnen zu.

„Jörg – wie kommt das Deandl in mein’ Kammer?“ hörte Veverl den Burschen mit erregter, stockender Stimme fragen. „Wer is das Deandl?“

„’s Veverl – von der ich Dir ja g’schrieben hab’ – ’s Bruderkind von meiner Mariann’. Aber – aber – Ferdl – um Gotteswillen – wie schaust denn aus – wie schaust denn aus?“

„Wie ich halt ausschaun kann – an Tag und zwei Nächt’ – auf solche Weg’, daß mich kein Menschenaug’ net hat dersehen können – g’rad aus über alle Berg, o mein, Jörg – Du weißt noch net Alles – Du weißt net –“

Die Stimme erlosch unter dem dumpfen Halle der über die Treppe niedersteigenden Tritte.

Eine Thür noch hörte Veverl gehen – dann vernahm sie nichts mehr, als nur noch ihre eigenen fliegenden Athemzüge und das hämmernde Pochen ihres geängstigten Herzens.

Noch immer kauerte sie auf den Dielen. Wirre Gedanken kreuzten sich in ihrem Kopfe. Kein Räuber also, kein Einbrecher war das gewesen, sondern der Bruder, der Stolz und die Freude des Jörgenvetter, der Ferdl, den sie wohl in ihrem Leben noch nie gesehen, von dem sie aber seit ihrer Ankunft auf dem Finkenhofe alltäglich hatte sprechen hören und immer in einer Weise, welche gar manchmal die Bäuerin in scherzender Eifersucht hatte beifügen lassen: „Ja – der Ferdl! wenn der kommt, da is aus mit ’m Bauern, da gelten wir Alle mit einander nix mehr!“

Weßhalb nun war er nicht am Tage gekommen, auf offener Straße? Weßhalb in der Nacht – weßhalb durch das Fenster wie ein Dieb oder – oder wie ein Flüchtling? Was hatte er zu fürchten, daß er Wege gehen mußte, auf denen ihn „kein Menschenaug’ net dersehen“ konnte? Was konnte Ferdl verbrochen haben, für den doch, wenn auf ihn im Finkenhofe die Rede kam, das beste Wort nicht gut genug schien? Oder war sein Gebahren nur ein Ausfluß der Verstörtheit, die ja der Tod der geliebten Schwester über ihn gebracht haben mußte? – denn mit diesem jähen Tode, da war etwas nicht in der Ordnung – das hatte das „Kerzengericht“ verrathen – und vielleicht wußte Ferdl um Alles, was da nicht in der Ordnung war, vielleicht hatte er selbst eine Rolle mitgespielt in dieser traurigen Geschichte!

Bei diesen Gedanken suchte sich Veverl auf die Züge des Burschen zu besinnen – aber sie hatte nur eine verschwommene Erinnerung an das blasse Gesicht, dem die Stoppeln des dunklen Bartes ein so verwildertes Aussehen gegeben und das ihr überdies in ihrer Angst und Verzweiflung wie ein entsetzenerregendes Schreckbild erschienen war. Und in Wahrheit hatte er doch gewiß ein gutes, freundliches Gesicht – das wußte sie sich nun gar nicht anders zu denken. Wie thöricht war ihre Angst gewesen! Er war ja wohl ebenso sehr vor ihr erschrocken, wie sie vor ihm. Er hatte ja nicht wissen können, wen er in der Kammer vorfinden würde – in seiner Kammer. Da war ja in Wirklichkeit nicht er der Eindringling, sondern sie selbst. Und dennoch war kein rauhes Wort über seine Lippen gekommen – und wohl mit unwiderstehlicher Kraft, doch nicht mit roher Gewalt war es geschehen, als er sie gehascht hatte, um sie an seiner Brust gefangen zu halten.

Und da schlug sie jählings die beiden Hände vor das Antlitz und brach in heftig erströmendes Schluchzen aus.

Lange, lange währte es, bis ihre Thränen versiegten. Sie richtete sich empor und begann sich anzukleiden – und sie wußte kaum, daß sie es that, noch weßhalb sie es that.

Als sie angekleidet war, stand sie lange inmitten der Kammer, vor sich nieder starrend, die Hände auf das pochende Herz gepreßt.

Nun horchte sie auf; aus der Stube herauf hörte sie wie dumpfes Murmeln die wechselnden Stimmen der beiden Brüder – im gleichen Augenblicke aber stieg es ihr heiß in die Wangen: sie lauschte! Hastig wollte sie die halb offene Thür schließen – aber der Riegel war ja abgesprengt.

Zitternd am ganzen Leibe setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes.

Vom Hofe herauf tönte das Heulen und Bellen des Hundes, der unablässig mit den Pfoten an der Hausthür scharrte und kratzte – und nun hörte das Mädchen, wie Jörg in den Flur trat, um das ungeduldige Thier einzulassen, das mit freudigem Gewinsel in die Stube sprang. Sie hörte, wie der Vetter das Haus verließ – und ein Geräusch verrieth ihr, daß er vor den Stubenfenstern die Läden schloß. Eine stumme Weile verstrich – dann wieder ließen sich die Schritte des Bauern vernehmen, der ab und zu ging in Küche und Keller.

Nun schrak das Mädchen in sich zusammen – aber nein, das waren ja nicht die Schritte des Anderen, das waren die Tritte des Bauern, die da über die Treppe empor geeilt kamen.

Jörg trat ein — ohne Licht; er schien sich einem der Schränke nähern zu wollen; plötzlich aber ging er auf das Mädchen zu – und Veverl fühlte, wie die Hand zitterte, die sich schwer auf ihre Schulter legte.

„Arms Deandl – gelt – bist recht derschrocken!“ hörte sie ihn sagen – und hätte Veverl den Jörgenvetter nicht so genau erkannt, sie hätte glauben müssen, ein Fremder stünde vor ihr, so verändert und tonlos klang diese Stimme. „Aber gelt – Veverl – gelt – mußt ja nix Args net denken – weißt – Unglück is Alles – Unglück – Unglück! Und schau – Veverl – bei Deiner Lieb’ zu Dei’m seligen Vaterl ― verrath’ kei’m Menschen ’was von Dem, was derlebt hast – heut’ in der Nacht. Du – Du darfst mein’ Ferdl net g’sehen haben – mit kei’m Aug’ net – gelt – gelt, Du verstehst mich schon.“

Der grenzenlose, unsagbare Jammer, der aus dieser gebrochenen Stimme sprach, that ihr in tiefster Seele weh. Sie vermochte keine Antwort zu geben – sie nickte und nickte nur immer mit dem Kopfe.

Jetzt wandte sich Jörg dem Schranke zu, riß ihn auf mit ungeduldigen Händen, belud seinen Arm mit verschiedenen Kleidungsstücken, und taumelnd wie ein Trunkener verließ er die Kammer.

Veverl saß auf dem Bette; es lag über ihr wie eine Lähmung; sie hatte keine Gedanken mehr; sie weinte nur.

Ob es Minuten, ob es Stunden waren, die ihr so verstrichen, sie wußte es nicht – es war ihr nur plötzlich, als hätte sie Tritte über den Kiesweg knirschen hören, der unter ihrem Fenster vorüber führte. Unwillkürlich sprang sie auf, um die noch immer offen stehenden Scheiben zu schließen – und da hörte sie unter sich eine flüsternde Stimme:

„Er ischt drin – er ischt drin –“

Ein einziges Mal erst hatte sie diese Stimme gehört, und dennoch errieth sie ohne Mühe den Sprecher. Eine Sekunde nur stand sie in zitterndem Schreck, dann huschte sie aus der Kammer. Pochenden Herzens verhielt sie vor der Stubenthür den Fuß. Schluchzende Worte schlugen von da drinnen an ihr Ohr.

„– – und wenn mir zehnmal sagst: ich versteh’s, ich versteh’s, und mir wär’s auch net anders ’gangen – es is ja doch so fürchtig, so fürchtig, a Menschenleben auf sei’m G’wissen z’ haben – und er g’rad – er – dem ich so gut war von ganzem Herzen! Aber es is über mich ’kommen, daß ich net g’wußt hab’, wie – und erst, wie er dag’legen is vor mir, übergossen von Blut –“

Mit schaudernden Sinnen drückte Veverl die Klinke nieder und wankte in die Stube. Sie wagte die Augen nicht zu erheben; zitternd stand sie, das Kinn auf der Brust, und sprach in stammelnden Worten von der flüsternden Stimme, welche sie gehört.

„Jesus Maria!“ stöhnte der Bauer. „Ferdl – Ferdl – fort – fort aus ’m Haus – da – da is der Rucksack – Alles is drin – Geld, G’wand und Essen – verhalt’ Dich an kei’m Platzl net – morgen am Abend mußt über der Grenz’ sein – fort – fort – in die hintere Stuben – und durch d’ Milchkammer ’naus –“

[740] Röthe und Blässe wechselten auf Veverl’s Wangen; sie brachte die Augen nicht von den Dielen los; sie hörte nur, wie er hinter dem Tische hervorsprang – jener Andere – wie er nahm, was der Jörgenvetter ihm reichte – wie er sich dem Bruder an den Hals warf und wie er schluchzte: „Jörg – Jörg – b’hüt Dich Gott, mein Jörg – bet’ Du für mich an unsrer Hanni ihrem Grab – und – der liebe Herrgott soll uns a Wiederfinden geben!“

„Fort – fort – fort – fort –“ das war das einzige Wort, welches Jörg noch über die Lippen brachte. Mit beiden Armen schob er den Bruder der Thür zu; nun kamen sie an Veverl vorüber, die das thränenüberströmte Gesicht verborgen hielt in den zitternden Händen; sie sah es nicht, sie fühlte es nur, wie jener Andere vor ihr die Schritte verhielt, als wollte er zu ihr sprechen – aber nur das stammelnde „Fort, Ferdl – fort – fort –“ des Bauern bekam sie zu hören, der den Bruder mit sich hinausriß über die Schwelle, während der Hund mit unruhigem Gewinsel ihnen voraussprang in den finsteren Flur.

Die Schritte verstummten – dann herrschte Stille, und nur der träge, schläfrige Pendelschlag der Wanduhr war noch zu hören.

Veverl wollte sich der Holzbank nähern; aufkreischend aber fuhr sie zurück. Unter schweren Faustschlägen dröhnte der Fensterladen, die Stimme fast übertönend, die draußen im Hofe den Namen des Bauern rief.

Mit angstvollen Augen starrte das Mädchen um sich; da sah es den Jörgenvetter lautlos unter der Thür erscheinen: mit beiden Armen stützte er sich an die Balken, seine Augen glühten, und fahle Blässe deckte sein Gesicht; er schien es nicht zu hören, als am Fenster die hallenden Schläge sich wiederholten; den Kopf über die Schulter zurückgeneigt, lauschte er der Tiefe des Hauses zu; jetzt flog ein Zucken über seine Mienen, und ein lang anhaltender Athemzug schwellte seine Brust.

Zum dritten Male dröhnte der Fensterladen unter rascheren, heftigeren Schlägen.

Straff richtete Jörg sich empor und trat in die Mitte der Stube.

„Was giebt’s da draußen – wer will was von mir – jetzt in der Nacht?“

Vor dem Fenster wurde ein kurzes Wispern hörbar, dann ließ eine fremde, scharfklingende Stimme sich vernehmen. „Georg Fink – im Namen des Gesetzes – öffnen Sie die Thür!“

Jörg nahm die Lampe vom Tische – ihre gläserne Glocke klirrte, so zitterte seine Hand – und verließ die Stube.

Veverl wollte sich im Finstern der Bank entgegentasten, doch ehe sie dieselbe noch erreichte, sank sie schluchzend auf die Kniee. Draußen rasselte der Riegel, die Thür knarrte – und dann hörte das Mädchen den Jörgenvetter sagen:

„Die Thür’ is offen – aber – aber eh’ daß wer an Fuß über mein’ Schwellen setzt, möcht’ ich wissen, was das alles zum bedeuten hat? Was hat a Schandarm in der Nachtzeit zum suchen in mei’m Haus?“

„Nix für ungut, Finkenbauer, nix für ungut,“ klang die sprudelnde Stimme des Kommandanten.

„Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ wurde Herr Wimmer von jener fremden, scharf und ungeduldig klingenden Stimme unterbrochen. „Georg Fink, ich fordere Sie auf, mir anzugeben, was Ihnen über den gegenwärtigen Aufenthalt des Unterofficiers Ferdinand Fink bekannt ist, der sich vor zwei Tagen widerrechtlich –“

Die Stimme verstummte, als lausche derjenige, der da sprach, dem heiser kläffenden Gebell, das von der Gartenseite des Hauses her plötzlich erscholl. Jetzt erlosch es mit einem stöhnenden Heulen – und gleich darauf bogen eilende Schritte um die Hausecke.

„Herr Kommandant, hab’ zu melden –“ schlugen keuchende Worte an Veverl’s Ohr, „drin is er g’wesen, drin im Haus – und durch’n Garten hat er fort wollen – ich hab’ ihn g’nau derkennt, an der Uniform, an der ich die Knöpf’ hab’ blitzen sehen – aber wie ich ihm nach will, fallt das Hundsvieh über mich her – und natürlich, bis ich mir da Luft g’schafft hab’ –“

Ein dumpfer Schlag, dem ein schmetterndes Klirren folgte, übertönte die Stimme und die enteilenden Tritte der Gendarmen.

Jammernd stürzte Veverl hinaus. in den jählings verfinsterten Flur und fand den Bauer neben der zerschellten Lampe wie leblos hingestreckt über die Steine. Während sie sich an seiner Seite niederwarf, füllte sich die Thür mit den herbeieilenden Mägden und Knechten; Emmerenz erschien mit einem Lichte; allen andern voraus aber drängte sich Dori:

„Ja was is denn – um aller Heiligen willen – Veverl – es wird doch Dir nix g’schehen sein?“

„Hilf, Dori, hilf, hilf – da schau – der Jörgenvetter –“ schlnchzte das Madchen.

Draußen vor der Thür aber ließ sich Valtl’s Stimme vernehmen. „Sauber! Sauber! Schandarmen und Haussuchung – und a Spitzbua unterm Dach. Da kann sich der Finkenbauer jetzt sein’ Kampl[2] scheren lassen. Goldfink? Ja, schön – ‚beim Mistfink‘ soll man’s heißen auf dem Haus.“ Und mit rohem Gelächter schritt der Knecht über den Hof hinweg der Straße zu.


Still und schwarz lag noch die Nacht über dem Dorfe, nur einzelne Bergspitzen hoben sich mit mattem, fahlem Schimmer aus dem alles umhegenden Dunkel – auf jenen Höhen ruhte noch der Blick des Mondes, dessen Scheibe dem Thale längst schon hinter dem waldigen Grate der Höllenleithe entschwunden war.

Mit sachtem Rauschen zog ein kühler Wind hernieder über die finsteren Gehänge, spielte um die Erker und Thürmchen des Schlosses, machte die Wetterfahnen knarren und singen und plauderte durch die kärglich belaubten Bäume des thalwärts ziehenden Parkes, als Gidi das an die Parkmauer angebaute Jägerhaus verließ und rüstigen Schrittes durch das schlummernde Dorf dahinwanderte.

Still und dunkel lagen die Häuser, nur am Wohnhause des Finkenhofes sah Gidi hellen Lichtschein durch die herzförmigen Ausschnitte der Fensterläden dringen.

Er frug sich, was wohl die Leute da drinnen so früh schon aus den Federn getrieben haben konnte, denn er wußte noch nicht, wem am verwichenen Abende der Ton der Todtenglocke gegolten hatte.

Lange hingen seine Blicke an dem dunklen Gesindehause, und besonders lange an einem kleinen, eng vergitterten Fenster des oberen Stockes.

„Ah ja!“ seufzte er endlich und dachte dabei an einen gewissen Morgen des verwichenen Frühjahrs, an welchem Emmerenz kurze Wochen nach ihrem Eintritt auf dem Finkenhofe die Bründlalm auf dem Höllberge bezogen hatte. Er wandte sich wieder der Straße zu, die er bald verließ, um dem über die steilen Wiesen der Höhe des Bründlkopfes zuführenden Steige zu folgen.

Mit eilenden Schritten suchte er die vor dem Finkenhofe versäumten Minuten einzuholen. Als er das Gehölz erreichte, wurde sein Gang wieder sachter und beinah lautlos sein Schritt. Er lüftete die Joppe und öffnete das Hemd; in langen, ruhigen Zügen ging sein Athem, während er zwischen Büschen und Bäumen den finsteren Weg emporstieg, auf dem nur ab und zu eine blanke Felsplatte das Dunkel mit mattem Weiß durchschimmerte. Gidi’s Augen und Gedanken eilten seinen Schritten voraus, denn sie brauchten sich um den Weg nicht zu kümmern, der lag ihm schon in den Füßen.

An die zwei Stunden stieg er so empor. Ueber ihm begannen die Sterne zu erblassen, ein mattes Dämmern erwachte unter den Bäumen, und von Osten her blickte der Himmel schon mit fahlem Grau durch das Gezweig, in welchem sich bereits vereinzelte Vogelstimmen schüchtern vernehmen ließen. Lautlos glitt der Fuß des Jägers über das Moos, die zerstreut liegenden Steine und Reiser achtsam vermeidend und oft in weitem Bogen die grauen, von Tannennadeln übersäten Schneeflächen umgehend, die unter dichter stehenden Bäumen ein spätes Dasein fristeten.

Ab und zu verhielt der Jäger die Schritte und lauschte lange Minuten bergwärts. Dann stieg er weiter – blieb wieder stehen – und endlich hörte er, was er zu hören hoffte: jenes matt und hölzern klingende Klippklipp, das kein rechter Jäger mit ruhigem Herzschlag vernimmt.

Eine Strecke von etwa fünfzig Schritten birschte Gidi noch unter den Bäumen dahin, dann begann er „den Hahn anzuspringen“. Regungslos wie eine Säule stand er, so lange der Auerhahn schwieg und so lange das Klippen währte, das nun schon näher klang und anzuhören war wie helle, rascher und rascher werdende Zungenschläge, doch wenn das Klippen mit dem „Hauptschlag“ überleitete in das „Rodeln“ und „Schleifen“ – in diesen seltsamen, aus Fauchen, Wispern, Blasen, Pfeifen und Gurgeln [741] gemischten Liebesgesang, während dessen der sonst so wachsame Auerhahn blind und taub ist für alles, was in seiner Nähe vorgeht – dann suchte sich Gidi mit drei oder vier hastig ausgeführten Sprüngen dem Baume zu nähern, auf dem er den Hahn vermuthete – und laut- und regungslos stand er wieder, ehe das Schleifen noch völlig zu Ende war. Einige Sekunden verstrichen, dann begann der Hahn sein „G’setzl“ aufs neue, und wieder sprang der Jäger. So wiederholte sich das vielleicht ein Dutzendmal. Als Gidi dem Standort des Hahnes sich so weit genähert hatte, daß er den „Falzgesang“ bis auf den leisesten Ton genau vernehmen konnte, ließ er mehrere Gesetzlein vorübergehen, ohne sich vom Platze zu rühren.

„Das ist der alte Hahn net – das is er net,“ raunte er vor sich hin und spähte mit vorgerecktem Kopfe durch das Gezweig der nahe stehenden Bäume.

Da sah er plötzlich den Hahn auf einem Aste einer noch laublosen Buche stehen. Scharf hob sich der mächtige schwarze Vogel von dem morgenblassen Himmel ab. Gidi’s scharfe Blicke unterschieden trotz der Dämmerung die weißen „Schilder“ und hinter dem rührsamen Hackenschnabel den Schimmer der grellrothen Augenbogen. Der Hahn falzte und schnackelte, daß es eine Freude war – ein „G’sangl“ um das andere, fast ohne abzusetzen – und dabei tanzte er so lustig auf seinem Aste hin und her, duckte und streckte sich, reckte und blähte den Hals, an dem sich die spitzen Federchen gleich Stacheln sträubten, spreizte und schloß die Schwingen und „radelte“ und fächerte den „Stoß“, daß es nur so klapperte.

„Ich hab’s ja g’sagt – a junger Hahn is,“ murmelte Gidi, als er die breiten weißen Sprenkeln der Stoßfedern zu erkennen vermeinte. „Da hat er ihn richtig g’holt, den alten Hahn, der Tropf, der miserablig! Aber wart’ – dem leg’ ich ’s Handwerk noch!“

Da fuhr der Jäger lauschend auf; es war ihm gewesen, als hätte er ein Reis knacken hören wie unter einem Tritte – und er konnte sich nicht getäuscht haben, denn der Hahn, der eben mit Klipp und Klipp ein neues Gesetzlein beginnen wollte, ließ plötzlich sein Falzlied verstummen und strich mit rauschendem Schwingenschlage thalwärts durch die Bäume.

Hastig wandte sich Gidi der Richtung zu, aus welcher jenes Geräusch gekommen war, und sah aus einem nahen Tannendickicht den in der Dämmerung matt blinkenden Lauf einer Flinte gegen seine Brust gerichtet.

„Wer da?“ rief eine rauhe Stimme; Gidi aber hörte diese Worte nicht – einen kurzen Pfiff nur stieß er aus, während er mit raschem Sprunge hinter einem Baume Deckung suchte – und schon lag ihm die Büchse im Anschlag an der Wange.

„G’wehr nieder, sag’ ich – oder es schnallt!“ so klang sein drohender Anruf.

Dort im Gebüsche senkte sich die Flinte, und Gidi hörte eine wohlbekannte Stimme flüstern: „Das ischt er ja net – das ischt er ja net – das ischt ja der Grafenjäger!“

„Jeh – da schau!“ murmelte Gidi und ließ die Büchse sinken.

(Fortsetzung folgt.)

Moderne Wandlungen und Neubildungen.

Von Fr. Helbig.
I.
Die Stadt von ehedem. – Die Wandlung zur Großstadt. – Centralisation und Decentralisation. – Barackenstadt, Keller- und Dachwohnung. – Die Miethskaserne. – Die Mittel des Verkehrs. – Die bauliche Modernisirung. – Straßenreinigung und -Pflasterung. – Die Beleuchtung. – Kanalisation und Entwässerung. – Wasserleitung. – Der menschliche Erfindungsgeist.

Größere Veränderungen in den Anschauungen und Ordnungen der menschlichen Gesellschaft pflegen zu ihrer Ausgestaltung meist Jahrhunderte in Anspruch zu nehmen, so daß innerhalb des Rahmens eines Menschenlebens dieselben gemeinhin nur wenig bemerkbar werden. Wie geradezu beispiellos rasch ist dagegen die Wandlung der Verhältnisse in unsrer Zeit erfolgt! Ein Mensch, der jetzt eben in sein fünfzigstes Lebensjahr eingetreten ist und von da einen vergleichenden Rückblick thut auf die ersten zwanzig Jahre seines Lebens, kann schon des gewaltigen Umschwungs inne werden, der sich innerhalb dieser dreißig Jahre in den Menschen und Dingen, ja sogar in der äußeren Physiognomie von Ort und Landschaft vollzog. In dieser kurzen Zeitspanne begegnen sich oft noch die alten überlebten Formen des Mittelalters mit den frischen Bildungen der Neuzeit. So rasch hat sich das Alles entwickelt!

Wir wollen in dem Folgenden einige solcher Wandlungen und Neugestaltungen zu schildern suchen und beginnen mit der Schilderung des Wachsens und Werdens einer modernen Großstadt und der dadurch bedingten Neubildungen.

Die alte Stadt mit ihren Thoren und Thürmen, Mauern und Wällen ist nach und nach gänzlich geschwunden, nur hier und da ist unter dem schützenden Einflusse eines stark entwickelten historischen Sinnes noch ein vereinzeltes altes Wahrzeichen stehen geblieben, ein zinnengekrönter Thurm, ein von Epheu und wildem Wein umrankter Mauerrest als bequemes Dekorationsstück einer gärtnerischen Anlage. Der Wallgraben, in welchem noch vor vierzig Jahren die Kinder der Vorstädte sich fröhlich im Spiele tummelten, die Frauen die Wäsche wuschen und bleichten und der Seiler langsam rückwärts schreitend seine hanfenen Fäden zog, wurde zuerst verschüttet und geebnet. Längst war ja schon der Unterschied zwischen Pfahlbürgerthum und Stadtbürgerthum, den er einst markirte, ausgeglichen. Das geebnete Terrain wandelte sich zu anmuthigen Anlagen, zu jenen Alleen von Linden und Kastanien, wie sie noch heute viele Städte kranzartig umgeben als „Graben“ oder Promenade. An die Stelle der Bäume trat aber dann meist ein Ring von Gebäuden und zwar Gebäuden von besonderer Pracht und Größe, da sie Raum genug besaßen, sich zu breiten und zu dehnen. So entstand jene in ihrer Großartigkeit, in dem theilweisen Zusammendrängen von Monumentalbauten ersten Ranges geradezu einzige Wiener Ringstraße, so entstanden die Pariser Boulevards und in Berlin die auf dem alten Stadtmauergrund sich erhebenden Avenuen der Königgrätzer, Gitschiner, Elsasser Straße.

Erst durch dieses allgemeine Nivellement wurde der Boden geschaffen, auf dem die moderne Großstadt entstehen konnte. Während in der alten mauerumgürteten Stadt sich Alles nach innen drängte, drängt sich nunmehr alles nach außen, nach Luft und Licht, vor denen man sonst eine wahre Scheu hatte. So bildeten sich zwei kontrastirende Elemente in unseren modernen Städten heraus. Findet nach dem Mittelpunkte zu die möglichste Koncentration statt, so herrscht in den äußeren Bezirken die möglichste Decentralisation. So wird die Innenstadt immermehr zu einer bloßen Stätte des Handels und Geschäftslebens. Die menschlichen Wohnungen werden dort immer seltener. Selbst die alten Patricierhäuser mit ihren mächtigen Portalen, weiten Treppenaufgängen und Raum verzehrenden Vorsälen, seit Jahrhunderten die wohnliche Herberge des Geschlechts, eine steinerne Chronik der Familie, werden von ihren alten Inhabern verlassen und zu Geschäftskomptoiren und Lagerräumen verwandelt. Die Familie des Kaufherrn löst sich von dem Geschäfte ab und zieht hinaus in die Vorstadt, in die stolze prächtige Villa. So ist es in der ältesten Großstadt des modernen Europas, in London, schon so weit gekommen, daß in der eigentlichen City, der Innenstadt, kaum noch Jemand wohnt.

Das Anwachsen der Bevölkerung bedingt nun auch eine größere räumliche Ausdehnung. Der Zuzug von außen, von kleineren Städten, aus dem Flachlande ist bei günstigen Bedingungen und zu manchen Zeiten dabei oft ein so rascher, daß ein Mißverhältniß zwischen Angebot und Nachfrage eintritt. So war namentlich der Zuzug nach Berlin, unmittelbar nachdem es zur Hauptstadt des Deutschen Reichs geworden, im Jahre 1871, ein so mächtiger, daß 163 Familien völlig obdachlos waren und vor dem Kottbuser Thore die Neubildung jener bekannten Barackenstadt („Barackia“) entstand, welche der Berliner [742] Galgenhumor lange Zeit in Entreprise nahm, bis die fürsorgende Stadtverwaltung dem Treiben sein Ende bereitete.

Dieser Massenandrang läßt den baulichen Boden immer gesuchter und werthvoller werden. Der Hofraum wird immer enger und beschränkter, die „Luftsäule“ immer ausgenutzter. So entstehen die Kellerwohnungen und die Wohnungsräume im fünften Stocke und unterm Dache. In Berlin existirten im Jahre 1881 23 289 Kellerwohnungen mit zusammen 100 301 Insassen; sowie 10 416 Dachwohnungen und 248 Wohnungen im fünften Stocke mit 2941 Einwohnern. So entsteht die moderne Miethskaserne besonders in dichtgedrängten Arbeitervierteln. Während man in Berlin im Jahre 1861 nur noch 167 Häuser zählte, in denen mehr als dreißig Wohnungen sich befanden, war zwanzig Jahre später die Zahl der Grundstücke, in denen mehr als hundert Personen wohnten, schon auf 2786 gestiegen und bei der letzten Volkszählung traf man sogar auf ein Gebäude, das 227 Wohnungen mit 1080 Bewohnern aufwies.

Dies Zusammendrängen vieler Menschen auf einen verhältnißmäßig kleinen Raum bedingt nun aber eine Menge Einrichtungen im Interesse des Verkehrs, der Gesundheit, der Lebensnothdurft und nicht zuletzt des gesteigerten Lebensgenusses. Dies regt den menschlichen Unternehmungs- und Erfindungsgeist auf das Lebhafteste an. Um den Verkehr innerhalb des sich mehr und mehr ausdehnenden städtischen Rayons zu erleichtern, entstanden die verschiedenen Vehikel des Transportes: die Droschke, der Omnibus, die Pferde-Eisenbahn, das Straßenlokomotiv, die Ring- oder Gürtelbahn.

In Berlin, wo ein organisirtes Droschkenwesen seit 1815 existirt, wuchs die Zahl der Droschken fortwährend, obwohl der billigere Omnibus, der im Jahre 1846 aufkam, ihnen einige Konkurrenz machte. Betrug sie im Jahre 1860 noch 999, so war sie im Jahre 1866 bis auf 2200 und im Jahre 1885 bis auf 4344 angewachsen. Im Jahre 1865 wurde in Berlin die erste Pferde-Eisenbahn auf der Strecke vom Kupfergraben nach Charlottenburg angelegt. Die Droschkenkutscher erhoben über das neue spottbillige Verkehrsmittel ein wahres Zetergeschrei. Sie meinten, daß für die Droschke nun das Ende aller Tage gekommen sei. Ihre Furcht war indessen, wie obige Zahlen ergeben, ganz grundlos. Nur die „Omnibusse“ erlitten dadurch einige Beeinträchtigung; ihre Zahl, die im Jahre 1860 noch 393 betrug, ist seitdem bis auf 135 zurückgegangen. Um so rascher dehnte sich das Netz der Pferde-Eisenbahn aus. Die Gesammtlänge seiner Stränge bezifferte sich im Jahre 1883 auf 197 789 Meter. Nach einer Uebersicht vom Jahre 1877 beförderten dort die Pferde-Eisenbahnen in einem Jahre 29 Millionen Passagiere, während auf die übrigen öffentlichen Transportwerkzeuge sich noch über 13 Millionen vertheilten.

Diese Ziffern werden von denen des Verkehrs in London freilich noch bedeutend überragt, denn dort besorgen, abgesehen von den ober- und unterirdischen Straßenbahnen, 50 000 Droschken (Cabs) und 1400 Omnibusse den Straßenverkehr. Diese neuen Mittel des Personentransportes hatten noch den besonderen segensreichen Einfluß, daß sie der Steigerung der Miethzinse im Stadtinnern und der Ausbreitung des Miethskasernenthums einen hemmenden Damm entgegensetzten, da man nun rasch und billig auch aus den entfernteren Stadttheilen nach den Centren des Verkehrs und Geschäftslebens hingelangen konnte.

Je größer die Stadt wurde, desto mehr überwog auch in Bezug auf ihren baulichen Charakter das Interesse des Ganzen das des Einzelnen. Es konnte nicht mehr der Willkür des Bauherrn überlassen bleiben, wie und wohin er bauen wollte. Die Obrigkeit nahm die Sache selbst in die Hand und bestimmte schon im Voraus Regel und Ordnung. In diesem höheren Interesse griff sie wohl mit eherner schonungsloser Hand noch weiter in das schon Bestehende hinein. Sie entfernte finstere Schlupfwinkel, hemmende Ecken, krumme Gassen, dumpfe Gänge, enge Wege, Dinge an denen die alte Stadt so reich war. So bekamen unsere Städte mehr und mehr ein modernes Gepräge. Also beschloß der Berliner Stadtmagistrat 1882 die alte Königsmauer, die Klosterstraße und die Neue Friedrichstraße zu beseitigen, um eine bessere Verbindung des Westens und Ostens mit dem Centrum zu gewinnen. Und welche Opfer dieser Zug des Modernen verlangt, bezeugt der Kostenanschlag für die Anlage der neuen großartigen Wilhelmsstraße im Belaufe von 10½ Millionen Mark.

Eine großstädtische Sorge von nicht geringer Kostspieligkeit bot sich in der verbesserten Herstellung und Reinigung des Straßenpflasters. Seit den Zeiten, da die Bewohner der Stadt noch auf hohen Stöckelschuhen oder Stelzen durch den Koth der ungepflasterten Straßen wandelten, wenn sie reinen Fußes in ein fremdes Haus kommen wollten, und die zahlreiche Gesellschaft der Vierbeiner noch für die möglichste Lockerung der Kehrichthaufen sorgte, sind kaum hundert Jahre vergangen. Dann kam das Straßenpflaster, allmählich von der Innenstadt nach den Vorstädten sich ausbreitend. Gefertigt aus unbehauenen Natursteinen, wurde es in seinen Hebungen und Senkungen oft zum Träger bitterer Schmerzen, bis die neue Zeit den ängstlichen Sparsinn der guten alten verdrängte und die theuern Kosten des Pflasterns mit behauenen Steinen nicht scheute: ein Fortschritt, der wieder durch die Asphaltirung überholt wurde. In Berlin, um auch hierfür ein Beispiel anzuführen, betrug Ende der siebziger Jahre die gepflasterte Straßenfläche gegen vier Millionen Quadratmeter. Seit 1880 begann dort die Einführung des Asphalts zu einer Zeit, als Paris bereits eine Asphaltfläche von 300 000 Quadratmetern besaß.

Der sich steigernde Verkehr bedingt dann wieder eine um so raschere Abnutzung des Pflasters und damit erneute Geldopfer. Man kann dieselbe abwägen, wenn man bedenkt, daß nach einer aufgestellten Berechnung vom Leipziger Platze bis zur Wilhelmsstraße in Berlin durchschnittlich täglich 7000 Fuhrwerke und 43 000 Fußgänger sich bewegen, eine Summe, die sich auf der Londonbridge auf täglich 20 000 Wagen und 200 000 Menschen steigert.

In Städten von noch kleinem Umfange konnte man die Reinigung der Straßen den Hausbesitzern überlassen. Es gab da, das weiß so mancher unserer älteren Lesern noch von seinem Heimathsorte, ein paar bestimmte Tage in der Woche, an welchen der Besen von Hausknecht oder Hausmädchen das Geschäft des Straßenkehrens „bis zur Mitte der Straße“ übernahm. Das Stadtregiment beschränke sich dabei darauf, die angesammelten Kehrichthaufen durch die städtischen „Marställer“ hinwegfahren zu lassen. Mit dem wachsenden Verkehre wurde die Last für den Einzelnen zu groß, die Kontrolle eine zu schwierige, und so sah sich die Stadt genöthigt, die Reinigung selbst zu übernehmen. In welchem Umfange dies geschieht, auch dafür bietet die Reichshauptstadt ein maßgebendes Beispiel. Dort ist nach dem Vorbilde von Paris das Geschäft förmlich organisirt, indem man die Stadt in Kehrbezirke eintheilte. Im Jahre 1876 gab es deren 90 mit 760 ständigen Arbeitern, abgesehen von den namentlich im Winter herangezogenen Hilfsarbeitern, mit besonderen Aufsehern und Oberaufsehern. Durch die Anschaffung von Kehrmaschinen wurde die Zahl der Arbeiter beträchtlich verringert und betrug 1883 nur noch 572. Die Reinigung erfolgt zur Nachtzeit, so daß der erwachende Bürger am Morgen die Straßen schon gereinigt findet und der Verkehr keine Stockung erleidet. Die Kosten dieser Reinigung beliefen sich im Jahre 1883 bis 1884 auf 1 243 683 Mark. Die Besprengung der Straßen ist an Unternehmer vergeben, welchen die Stadt eine Entschädigung von 148 500 Mark zahlt.

Wie jung ist weiter die Entwickelung des modernen Städtewesens in Betreff der Beleuchtung, und wie rasch hat auch hier der Fortschritt sich Bahn gebrochen! Die Zahl der Städte, in welchen die Einführung des öffentlichen Straßenlichts noch in das vorige Jahrhundert fällt, dürfte eine verschwindend kleine sein. Man überließ es dem Einzelnen, sich selber zu leuchten, und begünstigte zu Nutz und Frommen des guten Bürgers dessen nächtliches Daheimbleiben. Dann kam in langsamem Fortschreiten von den größeren zu den kleineren Städten die Beleuchtung durch jene Oellaternen, die an schwankendem Drahtseile über die Straße gesperrt waren, ein Spielball des Windes und des Uebermuths der Straßenjugend. Als die Stadt Leipzig im Jahre 1835 nicht weniger als 245 öffentliche Oellampen einführte, je eine auf 191 Einwohner, erregte diese außerordentliche Leistung weithin im Lande Neid und Bewunderung. Diese mäßige und dabei noch zweifelhafte Beleuchtung wurde durch die Entdeckung des Leuchtgases weit überholt. Kam doch Ende der siebziger Jahre in Leipzig eine öffentliche Gasflamme bereits auf 45 Einwohner, und da die Leuchtkraft einer Gasflamme im Gegensatze zu derjenigen einer Oelflamme eine dreifache ist, dieselbe Lichtstärke wie bei der alten Beleuchtung auf 15 Einwohner.

[743] In Berlin hat sich in den letzten zwanzig Jahren die Zahl der öffentlichen Laternen um 350 Procent vermehrt, die der Privatflammen sogar um 637. Was würde einer jener wohlehrsamen Bürger in Escarpins und Tressenrock mit Zopf und Dreimaster sagen, wenn er Abends durch die in ein Meer von Licht getauchten Straßen einer unsrer Großstädte ginge! Und dabei stehn wir jetzt wieder vor einem großen mächtigen Fortschritte, denn es wird die menschliche Erfindungskraft in Verbindung mit dem aller engherzigen Geldrücksichten entkleideten Unternehmungssinne sicher dafür sorgen, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo mächtige über Straßen und Plätze geleitete elektrische Bogenlichter den Unterschied von Tag und Nacht fast völlig ausgleichen.

Eine neue schwere Aufgabe bot sich für die wachsende Großstadt in der Nothwendigkeit, die Unmassen von Abfallstoffen und menschlichen Unraths, deren Anhäufung die Keimstätte epidemischer Krankheiten sein würde, in geeigneter Weise zu entfernen. Die Vergangenheit verfuhr in diesem Punkte noch mit der primitivsten Sorglosigkeit. Berlin hat gerade in jüngster Zeit die Aufgabe, die hier gestellt war, in wahrhaft großartiger Weise gelöst in dem Systeme seiner Kanalisation und Entwässerung. Unterirdische Kanäle vereinigen ihre Wässer in einem Hauptsammler, und von da aus werden dieselben mit den an allen Orten und Enden aufgenommenen Fäcalien der ganzen Stadt in Druckleitungen den von der Stadt angekauften Feldern zugeführt, für welche sie gleichzeitig ein reiches Düngmaterial bieten. Zum Ankaufe dieser Rieselfelder hat die Stadt allein elf Millionen Mark verwandt. Das ganze großartige Unternehmen hat einen Kostenaufwand von über 59 Millionen Mark verursacht.

Die mit dem Wachsen der Großstadt gleichmäßig wachsende Fürsorge für die Gesundheit, die Beschaffung der für des Leibes Nahrung und Nothdurft nothwendigen Lebensmittel, hat weiter die Gründung von Markthallen, Viehhöfen, Schlachthäusern und kostspieligen Wasserleitungen zur Beschaffung reinen Trinkwassers ins Leben gerufen, von welch letzteren jene der Stadt Wien die bedeutendste ist, welche aus einer Entfernung von 131/2 Meilen und aus einer Höhe von 363 Metern das Alpenwasser aus dem Kaiserbrunnen im Höllenthale und der Sixtensteiner Quelle am Fuße des Schneeberges nach der Stadt führt und einen Kostenaufwand von 17 Millionen Gulden verursachte.

Also ist die Großstadt, selbst ein Produkt der Neuzeit, wieder die Quelle einer Menge von Neubildungen. An ihr Regiment treten immer neue Anforderungen heran, welche der Lösung menschlichen Scharfsinns harren. Diese Lösung wäre nicht möglich ohne die großen Resultate, welche in unserem Jahrhunderte die realen Wissenschaften erzielten, die gerade im Dienste des Lebens ihre nutzbare Verwerthung finden. Je mehr sich die Menschen auf einen Punkt zusammendrängen, desto schwerer wird für den Einzelnen der Kampf ums Dasein, aber um so mächtiger ist auch die Anregung, welche dabei der denkende schaffende Geist empfängt. Je mehr in dem Gewühle unserer Großstädte die niederen Leidenschaften ihr verborgenes Dasein führen, um so weiter ist auch hier der Wirkungskreis gezogen für die Tugenden der Menschenliebe und der waltenden Fürsorge für Wohlfahrt und Glück.


Ein wunderlicher Heiliger.

Novelle von Hans Hopfen.
(Fortsetzung.)

Im Lichte der Gaslaternen tauchten ein Paar schnaubende ungarische Jucker auf, von denen der Rauch in die Nachtluft aufstieg, als kochte das Blut in ihren Adern, und vom Kutschbock herab bot ein Urbild von Wiener Fiaker, den flotten Cylinder auf dem einen Ohr, hinter dem anderen den langen Strohhalm einer Virginiacigarre, dem Herrn Baron ehrbar vertraulich seinen dienstwilligen Gruß. Die Pferde standen auf einen Ruck wie mit acht Beinen in den Boden gewurzelt.

Edgar hob Bianca in den Wagen, die andere Familie kroch nach. Eine männliche Maske schwang sich auf den Bock neben den rothnasigen Rosselenker, während Edgar sich bemühte, die Sängerin in die weite englische Decke zu wickeln, damit die grauverkappten Feenpfötchen nicht frören und die Nachtigallenstimme keinen Schaden litte.

Ein rascher Händedruck dankte ihm für seine Sorgfalt. Aber wie wenn ein plötzlicher Einfall sie erschrecken machte, zuckte das Mädchen zusammen und fragte, die Hand Edgar’s in der ihrigen behaltend, als könnte sie dadurch verhindern, daß die Pferde früher anzögen, als sie genügende Antwort erhalten haben würde:

„Wo ist denn Otto?“

„Hier!“ erklang es in wohllautendem Bariton vom Bock herunter, und wer hinauf sah, mochte im schwankenden Schimmer der Laternen und Fackeln ein schmunzelndes glattrasirtes Gesicht unter tief in die Stirn gedrücktem Cylinder erblicken, welches aber nur ich als das meines geistlichen Freundes erkannte.

„Gute Nacht!“ Ein leiser Pfiff vom Bock. Die Räder knirschten. Noch einmal „Gute Nacht!“ und „schönen Dank, Herr Baron!“ und „Auf Wiedersehen! auf Wiedersehen!“ Und Edgar stand allein im viereckigen Hofe des Theaters an der Wien. Allein, wie er sich nie im Leben gefühlt hatte. Allein, obschon eine Menschenwoge nach der anderen um ihn herumschlug und ihn wider seinen Willen vom Platze drängte. Derweilen er also, halb entzückt, halb betroffen, den Zauber auskostete, der aus so kurzer Begegnung und Unterredung über ihn erging, streckte sich Bianca nachdenklich schweigend in den Kissen des bequemen Wagens aus. Er war doch noch nicht recht sicher, ob er das gefährliche Mädchen wirklich morgen wieder sehen oder ob die ganze Sehnsucht und Bangigkeit, von der er sich glühen fühlte, nicht länger funkeln werde, als die Cigarre, die er sich eben ansteckte, brauchte, um zu eitel Asche verraucht zu sein.

Bianca gehörte zu denjenigen Naturen, die ein erhöhtes Lebensgefühl in sich verspüren, sobald vier Räder unter ihnen ins Rollen gerathen. Und wie rollten diese! Hurraxdaxdax! wie der Wind ging’s über das schallende Pflaster! Und dabei ward man so sanft gewiegt, wie ein Schmetterling in einer Blume! … Wie bequem, wie gut haben es die reichen Leute! …

Sie schmunzelte in ihren Gedanken vor sich hin. Niemand störte sie in ihrem Sinnen. Der Vater schnarchte neben ihr in der anderen Ecke. Die Schwestern ihr gegenüber erwachten nur auf Sekunden, wenn sie einmal mit den wackelnden Köpfen einander zu nahe kamen. Der Vetter … ja, der Vetter, was der wohl dachte? … aber er plauderte draußen mit dem Kutscher auf dem Bock. Sie wollte ihn morgen fragen, was er dachte. Heute nicht. Heute wollte sie träumen, daß der Wagen ihr gehörte, daß sie reich wäre, ach so reich! … so reich, wie Edgar von Sperber zum Beispiel.

… Er sollte sehr reich sein, dieser Edgar. Wirklich sehr reich. Und es war ein guter, liebenswürdiger, hübscher Mensch. Und er liebte sie … So schien’s wenigstens und er sagte so …

Freilich! Was sagen die Männer nicht alles in kleine Mädchenohren hinein!

Aber einen Mann toll zu machen, war das so schwer? Sie konnte es nicht recht glauben. Sie mochte es nicht glauben.

Sie mochte reich werden. Sehr reich … Sie konnt’ es. O gewiß, das fühlte sie … Aber um welchen Preis? …

Auch das stand bei ihr … Vielleicht … vielleicht auch nicht. „Otto!“ rief sie unwillkürlich, als könnte sie sofort sich bei ihm Raths erholen. Träumte sie mit offenen Augen?

Da standen die Pferde, die Sippe raffte sich aus dem Schlaf empor und der Wagenschlag flog auf. Bianca hüllte sich ganz fest in ihr knappes Mäntelchen ein und hielt es mit beiden Händen über der Brust zusammen, als könnte sie all ihr Denken und Wünschen damit an ihr Herz drücken und vor den Ihrigen verbergen.

„Gute Nacht, Kousin!“ rief sie aus dem Wagen springend und sich eng ans verschlossene Hausthor drängend, aber ohne ihm eine Hand aus dem Mantel zu reichen, ja ohne ihm gerad ins Gesicht zu sehen. „Komm morgen! Ich hab Dir was zu erzählen.“

Dann sagte sie nichts mehr, obwohl es nach angenehmer Wiener Sitte ziemlich zehn Minuten dauerte, bis der Hausmeister [744] durch wiederholtes Ziehen an der Klingel aus dem Schlummer geweckt war und endlich mit einem offenen, einem geschlossenen Auge, kaum wach, kaum bekleidet, einen brüchigen uralten Schlafrockpelz ungenügend übergeworfen, die nackten Füße in vorweltlichen Schlappschuhen, die Hausthür mit der einen Hand aufschloß und die andere schon mechanisch ausstreckte, um sein pflichtmäßiges Sperrgeld zu empfangen.

Auch der lustige Mönch sagte nichts mehr, und während die drei anderen Verwandten mit gesenkten Lidern an der Thür oder an der Wand lehnten, betrachtete er nur sein schönes Mühmchen und fragte sich dabei im Stillen, ob es ihm morgen wohl viel mehr erzählen werde, als er, der Menschenkenner, ohnehin schon wußte.

„Gute Nacht, Bianca!“ rief er nun, da einer nach dem andern ihm den hochgezogenen Buckel zudrehte und im Zwielicht des Treppenhauses verschwand. Dann schlug der ungeduldige Hausmeister knallend das Thor vor ihm zu. Und Pater Odysseus wandelte stillvergnügt nach seiner Herberge, das Schicksal eines Mädchens, das ihm lieb war, ernsthaft und, wie er glaubte, uneigennützig überlegend.


Edgar von Sperber hatte seit jenem Maskenball schon etliche hundert Cigarren verraucht und ein paar Dutzend Besuche im Hause Latschenberger gemacht, aber die Neigung zur schönen Bianca stand erst recht in voller Blüthe. Er achtete nicht mehr, wie gut seine Cigarren schmeckten, er achtete der kleinen Unannehmlichkeiten nicht, mit denen Besuche bei Bianca verbunden waren – er hatte für nichts mehr Sinn als für das kleine Mädel mit den großen Augen und der großen Stimme, er war glücklich, wenn er ihr einen Wunsch, wenn er ihre Launen erfüllen durfte, und jeder Tag, an dem es ihm ganz unmöglich gemacht worden, sie zu sehen und zu sprechen, galt ihm als ein verlorener.

Auch Bianca gewöhnte sich so sehr an Edgar’s Kommen und Verweilen, daß ihr etwas empfindlich fehlte, wenn er nicht erscheinen, ja schon wenn er nicht zur bestimmten Zeit erscheinen konnte. Ob sie ihn liebte, wußte sie nicht, fragte sie sich nicht einmal. Aber sie sagte sich, daß er der beste, bequemste und liebenswürdigste Anbeter war, den sie je gesehen. Mit ihm durfte sich keiner der schmachtenden Laffen in der Opernschule messen. Ihn sich so lang als möglich zu erhalten, gebot die Klugheit wie das Herz.

Ja, das Herz! Denn wär’ er nichts als ihr guter Freund und würde ihr nie mehr … man hat so wenig Freunde im Leben, sagte Pater Otto.

Ja, so sagte er. Und es hatte allen Anschein, als habe auch er den braven Edgar in sein Herz geschlossen. Denn dieser konnte selten bei Latschenberger eintreten, ohne den Chorherrn in derselben Stube wie Bianca zu finden.

Das hatte sein Mißliches, meinte der Baron. Man bespricht sich doch auch einmal gern zu Zweien. Indessen das war im Hause Latschenberger noch nicht zu erreichen, oder doch nur auf kurze ängstliche Minuten. Und lieber als die Gesellschaft der langweiligen häßlichen Schwestern, welche seiner Bianca wie Karikaturen einem schönen Urbild ähnlich sahen, oder gar die des mürrischen, mißtrauischen und eigentlich bei aller nothdürftigen Höflichkeit ungezogenen Vaters war ihm die Anwesenheit des gescheiten Priesters, so aufrichtig er auch diese verwünschte.

Sein Glück war, daß auch Bianca das Bedürfniß empfand, ihn wenigstens ab und zu, und war es nur für eine verstohlene Viertelstunde, unter vier Augen zu sprechen. Dazu bedurft’ es einiger List, um etwas früher, als eine ihrer Schwestern sie abzuholen kam, aus der Singstunde zu verschwinden und einen Umweg zu machen, wo sie eben so sicher war, dem sehnsüchtigen Edgar zu begegnen als ihrem schwesterlichen Drachen auszuweichen.

Sie waren keineswegs bequem diese Schwestern. Seit dem Tode der Mutter bildeten sie sich ein, Bianca nach Belieben und Laune dirigiren zu können. Sie war aber nicht darnach geartet, sich vor Anderer Grillen zu ducken. Und wäre nicht Pater Otto und sein weises begütigendes Zureden gewesen, weiß Gott, sie hätte aus Zorn und Trotz und Ungeduld am Ende gar einen dummen Streich gemacht.

Ja, zu irgend etwas war Pater Otto’s Anwesenheit schon gut.

Das fand manchmal selbst Edgar. Am meisten und dankbarsten, wenn er es durchsetzte, daß Bianca seinen Wagen benutzte.

Der Mai stand vor der Thür. Die Bäume schlugen aus, und die Kaleschen mehrten sich in den Prateralleen. Bianca hüpfte das Herz, als Edgar sie wie ein Verbrecher, der um Gnade bittet, darum ansprach, doch zuweilen in seinem Wagen ins Freie zu fahren.

Aber der Vater fand dies kompromittirend. Die Schwestern lehnten es bissiger Weise ab, weil ihre Toiletten zu schlicht wären, um in solch einem Wagen ausgelegt zu werden. Da half der kluge Chorherr dem zuckenden Herzchen seiner Muhme aus der Klemme.

An der Seite eines geistlichen Herrn in den Prater zu fahren, mochte die Kutsche wem immer gehören, das konnte kein Fräulein in übles Gerede bringen.

Ein überlegenes Schmunzeln strahlte von dem schweigsamen Gesichte des Paters Bibliothekar, wenn er also ferne von Zelle und Bücherei an der Seite seiner schönen Kousine durch die grünüberhauchten Alleen hinrollte wie ein Fürst und mit dem übermüthigen Mädchen von ihrer Kunst und ihrer Zukunft sprach.

Von Edgar von Sperber redeten Beide wenig oder gar nichts, bis dieser über kurz oder lang wie auf stillschweigende Verabredung in eigener Person erschien, über den Rasenstreif, der den Fußweg von der Fahrstraße trennte, lustig hinübersprang und an den Wagenschlag freundlich grüßend herantrat.

Dann lehnte er wohl in irgend einer bequemen Stellung an seinem rastenden Gefährt und verplauderte ein Viertelstündchen mit der Angebeteten, wobei der geistliche Vetter meist wohlwollend schwieg und nur selten und nur ehrenhalber ab und zu ein Wörtchen in die Unterhaltung fallen ließ, die ihn nur als Thatsache, nicht in ihrem Gehalt interessirte. Denn dieser war für einen Dritten ziemlich werthlos, wie bei den meisten Gesprächen Verliebter.

Es wäre gegen Edgar’s Gewohnheit und Ueberzeugung gewesen, seinem Idol mit leeren Händen zu nahen. Obwohl die Jahreszeit im Freien noch keine Blumen gedeihen ließ, glich Bianca’s Stube doch einem Treibhäuschen mit den schönsten Blüthen angefüllt, wie sie annoch allein aus dem warmen Süden zu beschaffen waren. Und nie hatten die weißen Zähne der jungen Sängerin an so köstlichen Bonbons geknabbert wie jetzt.

An den Bonbons fanden auch die Schwestern Gefallen; dagegen Pater Otto vor den frischen Blumen oft nachdenklich stehen blieb, mit der rechten Hand sein glattrasirtes Kinn reibend, mit den Nasenlöchern den süßen Duft einschnobernd, und dann halb warnend, halb mitleidig zu Bianca sagte: „Kind, Kind, Du solltest Dich nicht so verwöhnen! Was wird aus Dir, wenn diese kleine Narrheit zu Ende geht?“

„Ich will gar nicht, daß sie zu Ende gehe!“ rief dann die Sängerin, stampfte auch zuweilen einmal mit dem Füßchen den Boden, wenn der Vetter sie bei seiner Rede mit gar zu großen Augen ansah.

Wenn er aber weiter nicht viel sagte oder nur noch einen Seufzer ausstieß, drehte sie sich auf den Hacken um und ließ ihre Läufer und Triller, deren sie niemals müde wurde, durchs Haus schallen.

In der Regel sagte er nichts weiter. Er predigte nicht gern tauben Ohren, und daß die kleinen Ohren seiner Kousine für alles gegen Edgar zu Aeußernde taub sein wollten, dessen war er überzeugt. Manchmal hielt er’s nur für nöthig, sie zu warnen, von dem Baron nichts Anderes als Blumen und Konfekt anzunehmen, nichts was zu sehr verpflichte.

„Was verpflichtet denn?“ fragte sie, das Näschen in die Höhe reckend.

„Alles einigermaßen Werthvolle.“

Sie hielt ihm mit beiden Händen einen Haufen italischer Rosen dicht vor die Augen, wie sie sie grade vom nächsten Tisch griff. „Und glaubst Du, diese Blumen, diese wundervollen Blumen kosten nichts? in dieser Jahreszeit? Glaubst Du, man kriegt sie beim ersten besten Blumengreißler zu kaufen, zehn Kreuzer das Stück?“

„Das glaub’ ich nicht,“ entgegnete gelassen der Chorherr. „Aber Blumen erlaubt die Sitte jedem galanten Mann jeder Dame zu schenken. Blumen verpflichten nicht den Empfänger.“

„Und Bonbons auch nicht. Gelt, nein?“ sagte Bianca, den Kopf auf die Schulter gesenkt, die Augen halb geschlossen, die Lippen hochgezogen, auf eine verzuckerte Mandel beißend, daß sie knackte.

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Im Beguinenkloster zu Brügge.0 Oelgemälde von Klaus Meyer.
Original aus dem Gemälde-Salon von Honrath u. van Bärle in Berlin.

[746] Der Geistliche wiederholte mit dem Haupte nickend: „Blumen und Bonbons.“

„Und was weiter?“

„Nichts weiter!“

„Oho!“ lachte die Ungeduldige. „Das wäre schon aus? Sonst darf ein galanter Kavalier seiner Dame gar nichts verehren?“

„Wenn diese Dame nicht seine Verwandte oder die Frau eines alten intimen Freundes ist. Nein!“

„Na, aber es giebt doch Fälle …“

„Weihnachten.“

„Ach, geh weiter! so mein’ ich’s nicht.“

„Wie denn? Es giebt Intimitäten, die ... ja wohl ... aber das soll doch zwischen Dir und Sperber nicht der Fall sein, hoff’ ich.“

„Na nein! … Aber sag’, was schenkt man sich denn nach Blumen und Bonbons, wenn … wenn man intimer wird mit einander?“

Der regulirte Chorherr besann sich, die Augen an die Decke heftend, das Kinn wieder in der Hand, und sagte dann, als läs er das Wort von der graugewordenen Wand ab: „Parfüms!“

„Pfui, das ist aus der Mode! Die Wohlgerüche überspringen wir, es wären denn solche wie die da!“

Sie steckte das Näschen tief in die gelben Rosen. Und wieder aufblickend fragte sie: „Und was nachher?“

„Handschuhe, glaub’ ich,“ sagte der Priester wie vorhin.

„Ah, Du glaubst! Mhm! So schöne lange zehnknöpfige Pariser Handschuhe? bis hierher … Ça m’ irait bien!“

„Aber mit den Handschuhen wird gleichsam der Rubicon der Intimität überschritten!“ rief Pater Otto mit bedächtig erhobenem Zeigefinger drohend. „Mach keine Dummheiten und sei vorsichtig!“

„Keine Sorge! Und was kommt nachher? Sag!“

„Wenn man …?“

„Wenn man schon eine Zeitlang die längsten Handschuhe mit den meisten Knöpfen geschenkt hat ...“

Pater Otto zuckte die Achseln, als wüßt’ er’s nicht genau. Dann ließ er das Wort fallen: „Goldene Ketten!“

Das fürwitzige Mädchen lachte laut auf. Der weltweise Vetter beeilte sich hinzuzufügen: „Wenn man übrigens erst dabei angelangt ist, dann kann man sich getrost auch alles Uebrige verehren, was einem sonst gefällt, und der Andere muß es dulden. Also ...!“

Bianca fiel ihm in die Rede mit abwinkender Hand: „Ich werde es bei den Handschuhen bewenden lassen! Sei ganz ruhig!“

Und sie lachten beide, die zärtlichen Verwandten, bis Bianca wieder zu singen anhub, was nie lang auf sich warten ließ.

Manchmal, wenn sie sich ernsthaft und anhaltend im Gesang übte, durfte Edgar zuhören – natürlich in Gesellschaft des geistlichen Herrn.

Dann saßen die beiden Männer schweigsam in ihren Ecken, der eine andächtig wie in seinem Chorstuhl, der andere verzückt wie im siebenten Himmel.

Waren dann die Solfeggien, die Arien, die Lieder zu Ende, oder hielt es der vorsorgliche Vetter für gerathen, den Flügel zu schließen, damit Bianca ihrer Stimme, die er ihr zukünftiges Vermögen nannte, nicht zuviel zumuthe, so pflegte der reiche Mann den armen Mönch wohl um alle die schönen Stunden zu beneiden, in welchen derselbe schon früher dem Zauber dieser Nachtigall hatte lauschen dürfen, und ehrlichen Staunens voll rief er aus:

„Hochwürden, ich begreif’ es nicht, wie Sie diese Sirenenstimme so lang und in nächster Nähe hören können, ohne des Teufels zu werden, wie wir Andern alle!“

Mild lächelnd die Hände faltend versetzte dann der Priester: „Ich habe dafür gesorgt, daß ich, wie weiland Odysseus auf der Meerfahrt, dem Sirenengesange horchen kann, ohne darüber Leib und Seele zu verlieren. Ich bin mit unzerreißbaren Banden fest an den Segelmast gebunden jenes mächtigen Schiffes, das unsere heilige Kirche ist. Ungefährdet, ungefährbar streicht dies Schiff durch die brausenden Wogen der Welt, und mir ist darauf gestattet, unverführt dem herrlichen Gesang der Sirenen … Ach nein! … (damit ergriff er in wechselnder Rührung beide Hände seiner lächelnden Muhme und schüttelte sie herzhaft). Was sag ich der Sirenen! der lieben Engel … auf Erden zu horchen.“

Edgar von Sperber, obwohl ein waschechter Ketzer von Geburt und Ueberzeugung, war von solchen Beweisen der Bewunderung und Ergebenheit, mit welchen Pater Otto gerade nicht kargte, jedesmal sehr erbaut. Und diesem hinwiederum war es mit beiden Versicherungen gewiß heiliger Ernst, mit der der Verehrung seiner schönen und kunstreichen Kousine gleicherweise wie mit seiner in salbungsvoller Sanftmuth trotzenden Sicherheit vor den Anfechtungen der Welt.

Allein, wie es schon geht, der Hochmuth kommt immer vor dem Fall. Und etwas Hochmuth, wenn auch ein rein geistlicher, war eben doch in der gewaltigen Sicherheit, in welcher der Chorherr sich wiegte.

Nichts liegt mir ferner, als von dem trefflichen Freunde was Schlimmes zu behaupten oder ihm eine Schwäche, die mir nur allzu begreiflich bleiben wird, übel zu deuten! Wahrlich nicht!

Wer hätte mit Bianca des Genaueren verkehren können, ohne sich in sie einmal zu verlieben? Und so erging es auch dem sonst so regulirten Chorherrn, wenn er auch lange selber nichts davon merkte, daß ihn die Liebe bei allen noch so kurz geschorenen Haaren hielt.

Bianca kam eher dahinter als er selber, daß die unzerreißbaren Bande, mit welchen dieser neue Odysseus an den unerschütterlichen Mast der Kirche geknüpft war, sich denn doch nach und nach etwas gelockert haben mußten und jedenfalls seinem Herzen überraschenden Spielraum gestatteten.

Je öfter Edgar ins Haus kam, je länger dieser dem Gesange Bianca’s lauschen durfte, je mehr diese sich an den Besuch des flotten Anbeters gewöhnte und je vertraulicher und neckischer sie dann Wort und Gesang an diesen richtete, desto mürrischer, einsilbiger und seltsamer erschien der sonst so heitere, klare, redemächtige Mann.

Nach und nach ward er geradezu unausstehlich. Und wenn er in diesem schier krankhaften Zustande, der sich von Tag zu Tag verschlimmerte, des Wortes wieder mächtig wurde, so geschah es nur, um dem langweiligen Sperber, der ihm am liebsten jedesmal Recht gegeben hätte, mit boshaften oder gar heftigen Worten zu widersprechen und ihn, wenn irgend eine Gelegenheit dazu sich bei den Haaren herbeiziehen ließ, herunterzukanzeln wie einen Schuljungen oder geringzuschätzen wie einen Barbaren.

Edgar von Sperber war zu gut erzogen, um auf Heftigkeiten und gar eines Geistlichen heftig zu erwidern. Auch nahm er sich wohl in Acht, es mit dem gebietenden Vetter im Hause Latschenberger zu verderben, auch wenn dieser ihn reizte. Schien er es doch just darauf abgesehen zu haben.

Ein und anderes Mal, da derselbe es ihm doch gar zu bunt trieb, nahm er in der Sorge, daß der verhaltene Groll ihm auf die Zunge schlüpfen möchte, lieber in aller Eile Stock und Hut, küßte Bianca’s mollige Händchen und verließ mit ehrerbietigem Gruße gegen den Chorherrn den Kampfplatz, worauf er doch nur zu dulden, nicht zu streiten verurtheilt war.

Es schien Edgar tief zu gehen. Die Verstimmung wirkte so nachhaltig, daß er sich einen und anderen Tag aus Bianca’s Nähe selbst verbannte, bis seine männliche Seele die Ruhe wiedergewann, mit der er dem Geistlichen, auch wenn dieser ihn angriff, immer arglos begegnen und über dem Anblick der Geliebten die Ausfälle des Geduldeten überhören mochte.

Die Ausfälle des Paters schienen aber dem Baron in Bianca’s Werthschätzung durchaus nicht zu schaden. Jedesmal, wenn er nach solch einer freiwilligen Verbannung wieder im Hause Latschenberger eintrat, empfing ihn das Mühmchen des streitbaren Mönchs um ein weniges freundlicher, blickte ihm herzlicher in die Augen und ließ ihm die Hand zum Kusse ein klein wenig länger als früher, so daß nach und nach selbst Pater Otto diese kleinen, aber unleugbaren Fortschritte merkte. Darüber ward er seinerseits nicht artiger, nicht vergnügter, nicht nachgiebiger.

So kam es, nachdem Sperber eines schönen Juni-Abends sich wieder, nicht ohne Grund, verletzt zurückgezogen hatte, zwischen geistlichem Vetter und weltlicher Muhme zu einer heftigen Scene, beinahe zum Bruch.

„Sag mir doch einmal, Otto, was in Dich gefahren ist seit einiger Zeit? Du bist wie ausgewechselt, wie verhert! … Nimm mir’s nicht übel, aber ich leid’s nicht, daß Du Dich also selbst in Mißachtung setzest!“

[747] „Oho! oho!“ rief Pater Otto und lachte dann so in seiner Weise, wie er sich all Anfechtung und Bedenken vom Herzen wegzulachen pflegte.

Aber Bianca war es durchaus nicht zum Lachen, wie sie so in kaum zu meisternder Erregung auf ihren hohen Pantöffelchen in ihrer Stube hin und wider schritt und mit der langen lichtblauen Schleppe ihres spitzenbesetzten Künstlerinnenschlafrocks – das annoch kostbarste Stück ihrer ganzen Garderobe – bald am Pfeilerschränkchen hängen blieb, bald sich in ein Stuhlbein verwickelte. Das Weinen stand ihr nahe bei den Augen, und die Thräne der Wuth zitterte bereits in ihren höheren Tonen.

„So führt man sich im Salon einer Künstlerin nicht auf, und wenn man zehnmal der Vetter und der beste Freund ist! Nein, das thut man nicht! Das darf man nicht, als gebildeter Mann!“ Und dazu stampfte sie mit ihren Söhlchen einen langen Triller auf dem Teppich.

Pater Otto lachte zu Allem, zum gebildeten Menschen, zum besten Freunde, zum leiblichen Vetter und am allerunverschämtesten zu Bianca’s Prätension, eine Künstlerin zu sein. Zur Künstlerin werde höchstens er und sein rastloses Bemühen sie machen.

„Auf diese Art nicht!“ schrie ihn das Mühmchen an und kehrte ihm hastig den Rücken, da ihr die Thränen nun wirklich über beide Backen liefen. Und dann trommelte sie nervös mit den Fingerknöcheln einen Marsch auf dem Klavierdeckel – ob um ihren Zorn an dem unschuldigen Palisanderholz auszulassen oder um ein allenfallsiges Schluchzen zu übertönen, das bleibe dahingestellt.

„Du wirst Dir wehe thun mit diesem Zapfenstreich!“ rief Pater Otto ihr noch höhnisch zu. Bald aber merkte er, daß Bianca’s Aufregung nicht nur ihr selbst wehe that, sondern auch ihm.

Otto Fuchs war ein so großer Freund der Schönheit und der Musen, daß er ein junges Weib nicht weinen hören konnte, ohne daß es ihm ans Herz griff – und schon gar nicht, wenn diese Thränen mit einer Stimme schluchzten, wie Gott sie seiner Bianca in die Kehle gelegt hatte.

Das Mädchen, von ihrem Verdruß überwältigt, ließ ihre Thränen fließen. Sie hatte sich in einen ihrer kleinen Fauteuils geworfen, den linken Arm über der Lehne, das liebe Gesicht auf beiden Händen verborgen, dem Störenfried den Rücken zugewandt.

Pater Otto sprang auf die Füße. Er trat ihr näher. Er wollte nun erst recht aufbrausen. Aber er vergaß es, wie er ihre Schultern vom Weinen zucken sah.

Er legte einen Finger auf ihre Achsel und rief sie beim Namen.

Ohne sich umzuwenden, machte sie mit demselben Arm eine so heftige Bewegung, als wollte sie nach dem Vetter schlagen.

Er trat einen Schritt zurück. „Blanche, mach doch keine Dummheiten! Hör’ zu flennen auf! ... Verstehst?!“

„Geh doch weg, wenn Dich mein Flennen genirt! . . . Adio!“

„Bianca!“

Es war mit einem eigenthümlichen Ton gesprochen, dieses Bianca! Es hallte langhin, wunderseltsam durchs Gemach. Eine Welt von Sehnen und Verlangen schien in diesem Rufe auszuklagen und nachzuklingen.

Das Mädchen horchte betroffen auf, gesenkten Hauptes sah sie den Vetter, der mitten im Zimmer stand, mit den großen rathlosen blauen Augen starr an. „Otto, bist Du verrückt geworden?“ fragte sie leise.

Sie wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen. Aber als er nun die Augen aufhob und sie mit brennenden Blicken, die ihr immer näher und näher zu kommen schienen, betrachtete, da zuckte sie unwillkürlich zusammen und es war ihr, als lief ihr ein eiskalter Tropfen zwischen den Schultern hindurch.

Vor einem Geheimniß, das Beiden unbewußt weiß Gott wie lange mit ihnen gelebt hatte, war der Schleier zerrissen. Es erschreckte Bianca. Sie wollt’ es aus der Welt haben, um wieder frei athmen zu können. Sie wollte mit sehenden Augen nicht daran glauben müssen.

Derweilen rang Pater Otto nach Worten, die Alles erklären und Alles gewinnen sollten. Aber der sonst so redegewandte Meister brachte nichts hervor, als ein zwischen Vorwurf und Bitte schwankendes: „Du hast mich doch sonst immer lieb gehabt!“

„Ich habe Dich noch lieb!“ beeilte sich Bianca zu versichern.

„Aber wie?“ klang es bitter von spöttisch verzogenen Lippen zurück.

„Narr, der Du bist! So lieb, wie keinen anderen Menschen auf der Welt!“

„Aber . . .?“ fragte der Priester hastig.

„Aber,“ fuhr das Mädchen mit der Ruhe, die es wiedergewonnen hatte, fort, „ich kann mir denken, daß ich einen Anderen noch lieber haben könnte, als ich Dich lieb habe.“

„Herrn Edgar von Sperber vielleicht?“ rief der Mönch, und man sah dabei die blanken Reihen seiner Zähne.

„Das weiß ich nicht.“

„Wirklich nicht?“

„Meiner Seel’, nein! Vielleicht, vielleicht auch nicht! . . . Du kennst mich. Ich bin nicht verliebter Natur. Ich habe nichts im Kopf als meine Kunst und mein Singen. Daran hängt mein Herz mit aller Leidenschaft. Die Menschen sind mir mehr oder weniger gleichgültig, meine Verwandten und etliche Musikanten vielleicht ausgenommen. An Baron Edgar hab’ ich mich gewöhnt. Er ist so ein guter, braver, artiger Mensch. Ich mag’s gern, wenn er andächtig vor mir dasitzt und jeden Ton von mir nur gerade so auffangen möcht’ mit Ohren und Augen. Und ich ärgere mich, wenn Du ihn ohne Grund verjagst. Mir fehlt was, wenn er nicht da ist.“

„Möchtest Du ihn heirathen?“ rief jetzt Pater Otto laut und bestimmt, nachdem er hastig an sie herangetreten war und sie beim Handgelenk ergriffen hatte, just als fürchtete er, sie möchte ihm entschlüpfen, ohne diese Frage zu beantworten.

Bianca erschrak, aber gleich darauf fing sie herzlich an zu lachen, sie wand sich an seiner Hand und bog sich vor- und rückwärts, so überwältigend komisch klang ihr diese Frage.

„Ich heirathen? . . . und Den?! . . . Unsinn! Wer denkt an so was! Aufs Theater will ich. singen will ich, gefallen will ich, sehr gefallen, wie die Lucca, wie die Patti gefallen haben, berühmt und reich will ich werden, eine große Sängerin werden ! . . . aber heirathen? jetzt schon? eh’ ich nur einmal aufgetreten bin? Und das glaubst Du von mir? Ich hab’s ja gesagt, Du bist übergeschnappt! Ahaha! Mir thut das Herz weh vor lauter Lachen.“

Sie mußte sich niedersetzen und hielt die Hand an die linke Seite.

Pater Otto ergriff einen Stuhl und stellte ihn hart neben den ihrigen. Er war im Tiefsten erschüttert, und doch war ihm, als hätt’ ihm Jemand einen Mühlstein von der Brust genommen. Er war darauf gefaßt gewesen, daß ihm Bianca nicht mehr von der Wahrheit in ihrem Herzen bekennen würde, als ihr zuzugestehen räthlich schiene. Allein dies Erstaunen ob seiner von Eifersucht eingegebenen Zumuthung, dies Gelächter und diese Worte kamen von Herzen, sie sprachen Bianca’s seelische Ueberzeugung aus und bliesen den quälenden Argwohn, daß die geliebte Muhme daran dächte, sich dem Baron hinzugeben, in alle Winde.

Der kleinen Scandrini war in der That noch nie der Einfall gekommen, ob sie den reichen jungen Mann, der sie so sehr verehrte, heirathen könnte. Daß eine große Sängerin – und sie hielt sich bereits in ihrem Sinnen und Denken für eine solche – Anbeter hatte, die ihr Blumen und Bonbons und, trotz Pater Otto’s kurzgezogenem Register, noch andere und kostbarere Dinge in Hülle und Fülle zu Füßen legen durften, das verstand sich bei ihr von selbst; das gehörte zu einer richtigen Primadonna. Daß aber solch eine Primadonna noch irgend etwas Anderes dafür zu gewähren oder zu leisten hätte, als jeden Abend auf den Brettern vor den Lampen schön zu singen und vielleicht etwa noch schön auszusehen, das stand nicht in ihrem Codex, das war ihr rein zum Lachen. Wenn sie sich eine Huldigung gefallen ließ, wenn sie ein Geschenk aus den Händen eines Verehrers anzunehmen geruhte, wenn sie vollends beim Singen Jemand in ihrer nächsten Nähe duldete, war das nicht hohe Auszeichnung und Gnade genug? Sie hatte eine gewaltige Meinung von ihrer Kunst und dem Adel der Kunst.

Da ihr der Vetter den verrückten Vorschlag ins Gesicht warf, ob sie den Baron heirathen möchte, klang ihr das nicht viel besser, als wenn er ihr zugemuthet hätte, drei Stock hoch zum Fenster hinaus zu springen.

[748] Und wie sie dann anfing, ein wenig darüber nachzudenken – nicht etwa geflissentlich, es schössen ihr nur so unwillkürlich die Gedanken durchs Köpfchen – da war sie überzeugt, daß auch Edgar von Sperber an derlei nicht dachte. Und auch darin hatte sie Recht.

In Otto’s Brust ging es dabei seltsam zu. Durch Bianca’s Gehaben überzeugt, daß sie in ihrem Herzen noch keine Geheimnisse barg, aber doch voll Angst, ihr Herz möchte eines Tages zu Gunsten eines Anderen sprechen, ließ er sich mehr und mehr von seiner Sehnsucht überwältigen. Der Mann, welcher sich selbstgefällig den Unnamen eines anderen Odysseus gefallen ließ, verlor sein Vorbild ganz und gar aus den Augen, und zeigte sich so thöricht, wie es andere Verliebte zu sein pflegen.

Da saß er nun, dicht an der Seite seiner horchenden Muhme, hielt ihre Hand in der seinen und meinte, seine ganze Ruhe wieder gefunden zu haben, und meinte, mit dieser Ruhe einen ganz annehmbaren Lebensplan zu entwickeln, der jedem Dritten so einleuchten müßte, wie das Einmaleins.

Von Bianca’s Lippen schwand allmählich jede Spur von Lächeln, und von ihren Wangen die lustige Röthe. Ihr Angesicht ward blaß und starr. Sie schwieg und nagte nur manchmal sachte die Lippen und horchte, horchte, ohne den Vetter nur ein einziges Mal zu unterbrechen, ohne ihn anzusehen, ohne durch eine Bewegung die Ungeduld ihres Herzens, den ganzen Schauder, der sie faßte, anzudeuten.

Sie wollte ihn ganz ausreden lassen, er sollte Alles, Alles heraussagen, was er auf dem Herzen hatte. Vieles Reden mußte ihn erleichtern; der sündige Wahn, der sich in seinem Innern wie eine Krankheit angehäuft und eingenistet hatte, sollte verdampfen in den heillosen Worten und seine Seele sich also ernüchtern.

Und der hingerissene Vetter erzählte einleuchtend und ausführlich von Josefinischer Zeit und wachsender Aufklärung, und wie schon damals eine Menge Mönche die Kutten ins Feld geworfen hätten und lieber nützliche Bürger und ganze Menschen geworden wären, was sie vordem doch nicht gewesen. Und wie es doch nur ein wahres Glück auf Erden gäbe: Liebe, Ehe, Familie und nutzbringendes Wirken, nutzbringend für die Seinen und fürs Allgemeine …

Warum, ja warum sollte er nicht glücklich sein?

Er fragte es laut und seine Augen füllten sich mit Thränen.

Und er ballte die Faust und sagte, daß er glücklich werden wollte – glücklich mit Bianca!

Die Welt würde ihn mit offenen Armen aufnehmen. Er konnte was leisten. Er konnte die Kanzel auf einem Lehrstuhl verschmerzen. Bibliotheken gab es überall, und er hatte persönliche Verbindungen, soweit auf dem Erdboden Gelehrte wohnten.

Sie Beide waren vertraut mit einander, so lange Bianca auf der Welt war, er hatte sie das Schöne lieben und das Erhabene begreifen gelehrt. Und er wußte, was er wollte. Er konnte nicht leben ohne Bianca. Konnte Bianca leben ohne ihn?

Sie antwortete nicht. Er hatte zu Ende, er hatte sich müde geredet. Er lechzte nach einem Wörtchcn Antwort. Er wollte die Antwort ihr vom Gesicht ablesen ... Aber über dem vielen Reden war unvermerkt die Dämmerung ins Zimmer geschlichen; als er sich zur Seite wandte, um der Geliebten Züge zu befragen, vermochte er diese kaum mehr zu unterscheiden. Ein fahles, blasses, räthselhaft undeutliches Gesicht fand er sich gegenüber, das ihn ansah mit unheimlich ins Dunkel glänzenden Augen.

Sie erhob sich jetzt. Es war so düster, daß er ihre Bewegungen im Zimmer nur ungewiß verfolgen konnte.

Da blinkte ein Flämmchen auf, das ihre rosigen Fingerspitzen beleuchtete. Gleich darauf warf eine Lampe ihre Strahlen über ihn und sie und durch das ganze Zimmer.

„Es werde Licht!“ sagte Bianca dabei, und dann sah sie sanft, aber ernsthaft auf den dunklen Mann, der sich nicht rühren wollte, eh’ ihm Antwort würde, und der wie gelähmt vor Aufregung und Erwartung dasaß, die Hand auf dem leeren Stuhle, den sie verlassen hatte, die Augen wie Einer, der sein Urtheil erwartet, auf seinen Richter, auf sie geheftet.

(Fortsetzung folgt.)

Offene Briefe an Henry M. Stanley.

Von Dr. Pechuël-Loesche.
III.[3]

Sie behandeln auch das Klima des Kongostaates, Herr Stanley! Zwei ganze lange Kapitel widmen Sie dem Thema. Sie behaupten, daß ein großer Theil des Kongobeckens, der für Einwanderer noch unzugänglich ist – Sie hätten hinzufügen sollen, daß dieser Theil Ihnen freilich auch gänzlich unbekannt – mit einer Temperatur gesegnet sei, unter der jeder Europäer gedeihen und sich vermehren kann, in welcher Ansiedler jahrelang leben können. An anderer Stelle (II, 340) rathen Sie dagegen den künftigen Bürgern des Kongostaates, nach achtzehnmonatlichem Aufenthalte eine dreimonatliche Erholung im nördlichen Europa zu suchen! Wie verheißungsvoll für die Besiedler des Kongostaates! Wer aber bezahlt die weite theure Reise? Warum behandelten Sie Ihre Beamten nicht nach dieser Regel?

Es sind doch recht verwirrende Ansichten, Herr Stanley, die Sie über eine so wichtige Frage kundgeben. Fürwahr, Sie spielen das sehr komplicirte Instrument, die öffentliche Meinung, mit außerordentlicher Kühnheit.

Andere aber auch, wie wir gleich sehen werden. Sie sprechen (II, 235) vom neuen Sanatorium in Boma. Sie bewundern den Bau und seine Lage. Das Institut soll einem anständigen Hôtel gleichen. Jüngst ist nun auch der Erbauer dieses Sanatoriums nach Europa zurückgekehrt. Er lobt natürlich auch sein Werk, und seine Angaben durchlaufen die Tagespresse. Ihr Vivi, Ihr Werk, Herr Stanley, lobt er dagegen ganz und gar nicht. Was hat das zu bedeuten? Verpflichtet Bewunderung im Kongolande nicht mehr zur Gegenleistung?

Wie steht es in Wirklichkeit mit dem Sanatorium? Die bevorzugten Beamten eilen zur Herstellung ihrer Gesundheit nach dem Süden, nach Mossamedes! Der Erbauer und dirigirende Arzt selbst traut seinem Sanatorium nicht. Zweimal während des kanm einjährigen Bestehens desselben hat er es um seiner eigenen Gesundheit willen längere Zeit verlassen; zuletzt weilte er ebenfalls wochenlang in Mossamedes an der Südküste. Schließlich eilte er heim! und preist nun sein Werk.

Hat der Volkswitz am Kongo Unrecht, wenn er das Sanatorium ein Moratorium nennt? Wie viele Kranke hat der Herr Direktor je in der Anstalt behandelt, wie viele geheilt, wie viele begraben?

Und wie sind die Todten begraben worden? Sollen vielleicht Zeugen die schmachvollsten Scenen schildern, die sich im und am Sanatorium abgespielt haben?

Doch diese Schande fällt nicht auf Sie, Herr Stanley; daran sind Sie unschuldig. Sie bewundern jedoch die Lage des Sanatoriums, dieses anständigen Hôtels (II, 235). Wie doch Ihre Anschauungen sich den Zwecken anpassen! Hätte ich eine Station in so widersinniger Lage angelegt, wie würden Sie in Ihrem Buche über mich herziehen! Dort in der verrufenen, öden, in der Hitze zitternden Landschaft von Boma, mit ihren locker verstreut wachsenden riesigen Affenbrotbäumen, welche die Hälfte des Jahres unbelaubt stehen, etwas zurück vom Kongo liegt die Anstalt auf einem Laterithügel in herrlichster, ungemilderter Sonnengluth, neben einem versumpften Flußthälchen und schutzlos ausgesetzt den verderblichen Trichterwinden! Eine sehr gesunde Lage! Doch ich könnte zu schwarz schildern. Hier, Herr Stanley, lesen Sie, was Ihr eifrigster Apostel, der vielgelesene Prophet des Kongostaates, über Boma sagt.[4]

Getreu dem Principe, daß das Innere, weil es unbekannt ist, gegenüber den bekannten Küstengebieten gefahrlos zu loben ist, wird auch verkündet, daß die Regen, je weiter nach dem Inneren um so reichlicher fielen. Sie, Herr Stanley, drucken sogar Ihre angestellten Beobachtungen seitenlang ab (II, 346) und ahnen nicht, welch großen Fehler Sie damit begehen. Sie drücken ja selbst der Kritik die schärfsten Waffen zu Ihrer Bekämpfung in die Hand!

Ihre Beobachtungen sind zwar mangelhaft, aber dennoch lehrreich. Sie notirten die Dauer und Zahl der Regenfälle nach Stunden und Tagen. Die Methode ist roh, aber sie genügt doch für Gebiete mit Lateritboden wie die betreffenden, weil für die Fruchtbarkeit dieses überaus porösen Bodens vornehmlich die Häufigkeit der Niederschläge und deren Vertheilung auf möglichst viele Monate im Jahre bedingend ist.

Während der Regenzeit 1880 bis 1881 notirten Sie zwischen Vivi und Manyanga, also in seewärts gelegenen Landstrichen 281 Stunden Regen an 80 Tagen. Dagegen notirten Sie während der Regenzeit 1881 bis 1882 zwischen Manyanga und Kuafluß, also viel weiter im Inneren, nur während 250 Stunden Regen an 59 Tagen. Dieses ist [749] das einzige Material, welches das große Kongo-Unternehmen aus dem Inneren geliefert hat. Darauf also stützen sich Ihre und Ihrer Nacheiferer Behauptungen über die weit günstigeren Regenverhältnisse des Inneren! Wie schlimm für Sie, daß diese Ihre Beobachtungen gerade das Gegentheil beweisen! Nicht nur die Länge der Regenzeit, sondern auch die Zahl der Regentage und Stunden nahmen in der Richtung nach dem Innern ab statt zu!

Im Jahre 1882 beobachteten Sie im Herzen des Kongostaates! nach dem 5. Mai keinen Regen mehr. In Vivi fielen dagegen in demselben Mai noch am 12. und 13. schwere Regen.[5] Sie geben selbst zu, daß im Inneren die schlimme Trockenzeit 4 Monate danere. Sie führen sogar die Beobachtungen von Pogge und Wißmann an, die weit im Süden vom Kongo zwischen dem Lubilasch und Lumamifluß ebenfalls eine Trockenzeit von 4 Monaten nachwiesen. Also 8 Monate Regenzeit; 4 Monate dagegen Trockenzeit, während welcher das Land, die Vegetation, die Feldfrüchte verdorren! Und daraufhin wird behauptet, das Innere wäre gesegneter als die Küstenstriche? Wir wollen prüfen, mit welchem Rechte. Von den dreijährigen Arbeiten der deutschen Loango-Expedition haben Sie keine Kenntniß, – sonst wären Sie vorsichtiger gewesen. Die Loangoküste beginnt unmittelbar am untern Kongo und dehnt sich nordwärts gerade über die Breitengrade aus, welche Sie im Inneren durchmaßen, während Sie die Regen nach Tagen und Stunden aufschrieben. An dieser Küste fielen aber zu Tschintschotscho laut exakter Beobachtungen in zwei vollen Jahren nur im Juni und Juli keine meßbaren Regen, die Trockenzeit umfaßte also bloß 2 Monate! Etwas nördlich von Tschintschotscho, im Küstengebiete des Kuilu-Nyadi und in der Landschaft Yumba, namentlich am Westhange des Gebirges, verkürzt sich die Trockenzeit sogar auf den Monat Juni und in normalen Jahren verläuft überhaupt kein Monat ohne Regenfälle.[6]

Um so viel günstiger sind also in gleicher Breitenlage die Gebiete der Küste gestellt, als die des Inneren. Wiederum erkennen Sie, Herr Stanley, wie gefährlich es ist, wenn Sie, statt nur so ganz im Allgemeinen zu rühmen und das Wesentliche zu umgehen, sich mit bestimmten Angaben hervorwagen. Wollen Sie den schönen Glauben bei Anderen erwecken und erhalten, so dürfen Sie am wenigsten Zahlenmaterial veröffentlichen. Sonst müssen Sie vor den exakten Forschungsresultaten die Flagge streichen – und wie soll da der Glaube an Sie fortbestehen? Darum haben Sie wohl auch instinktiv einen so großen Widerwillen gegen die „unreifen Dilettanten“, die Vertreter von „ologien“?

Der deutsche Meteorologe zu Vivi hat nur auf meine dringende Verwendung seine Beobachtungen durchführen können – sonst hätten wir diese nicht einmal. Die Wissenschaft erscheint ja im Kongostaate wie ein gefährliches Element; ihre Resultate bedrohen Utopia. Sie, Herr Stanley, haben in Ihren Stationen weder Instrumente auf-, noch Leute, die sie beobachten könnten, angestellt. Und Sie sprechen vom Klima, als hätten Sie die Tabellen in der Mappe! Ihre Kranken, Ihre Todten, die erlagen nicht der unzureichenden Verpflegung, nicht dem Klima, o nein! nur dem eigenen Unverstand, dem Alkohol und anderen bösen Dingen.

*               *
*

Und der Handel? Der Handel der Küstenzone des westlichen Kongogebietes im weitesten Sinne ist bedeutend, aber er ist es schon seit langer Zeit. Wir verdanken ihn den Kaufleuten aller Nationen, die in den Küstenstrichen und an den Wasserläufen sitzen, so weit diese vom Meere aus brauchbare Verkehrsstraßen bilden. Durch Jahrzehnte lange mühselige besonnene Arbeit haben diese ihn selber geschaffen. Was da geleistet worden ist, Herr Stanley, daran haben weder Sie noch das Unternehmen irgend welchen Antheil. Ihre Thätigkeit hat nichts daran gefördert.

Die Kaufleute beherrschten die Küstenstriche und die befahrbaren Wasserwege, ehe Sie kamen, und sie sind trotz Ihrer Versprechungen noch nicht weiter vorgegangen. Da die Unternehmung selbst Handel zu treiben begann, hat sie die Kaufleute gezwungen, andernfalls unnöthige Opfer zu bringen und der Konkurrenz wegen ein paar Kilometer weiter am Kongo hinaufzugehen: von Mussuku und Noki – wo bereits im Jahre 1873 Faktoreien bestanden – bis in die Nähe des benachbarten Vivi. Das ist Alles. Eine einzige schlechte Regenzeit wird die Schließung aller dort errichteten Faktoreien im Gefolge haben, trotz Ihrer Expedition, Herr Stanley, ganz wie es an anderen Flüssen des Küstengebietes geschehen ist, die Sie nie befahren haben.

Sie erzählen (I, 171), daß Sie als der erste Mundele (Kaufmann) nach Vivi gekommen seien. Ganz abgesehen von früheren Reisenden waren vor Ihnen (1878) dort bereits der Direktor und Hauptagent des holländischen Handelshauses, errichteten jedoch aus guten Gründen in der wenig versprechenden Gegend keine Faktorei!

Die Handelsfahrzeuge aller Größen, Segler und Dampfer, belebten vor Ihrer Ankunft den Unterlauf des Kongo wie sie ihn heute noch beleben. Keiner der dortigen Kaufleute hat, wie Ihr Apostel so phantasievoll beschrieben, mit staunenden Augen auf den Anbruch einer neuen Zeit geblickt, die durch Ihre Dampfer charakterisirt sein sollte! Wenn die Händler über Etwas staunten, so war es über das Unfaßbare, daß die großartige Opferwilligkeit eines Königs in der gekennzeichneten Weise benutzt wurde.

An die Reichthümer des Inneren, die Sie, Herr Stanley, verheißen, glauben die Kaufleute nicht. Sie beziehen ihre minderwerthigen Massenprodukte, welche alljährlich durch Arbeit erneuert werden, aus den Küstengebieten und angrenzenden Landschaften, wo sie seit Langem anregend gewirkt haben; also aus Entfernungen, welche die Transportkosten nicht in so hohem Maße steigern, daß die Produkte marktunfähig werden. Ueber die derartig umschriebenen äußersten Grenzen hinaus giebt es folgerichtig keine Massenproduktion mehr. Die Jnnerafrikaner müssen erst arbeiten lernen, wie es in verschiedenem Grade die seewärts Wohnenden gelernt haben. Und wenn das erreicht ist, dann bleibt es immer noch sehr fraglich, ob für die ausschlaggebenden Massenprodukte eine hohe Eisenbahnfracht bezahlt werden kann.

Nur die werthvolleren Produkte: Kautschuk, besonders Elfenbein können aus größeren Entfernungen zugeführt werden. Aber nirgends lagern dieselben zum Abholen bereit an großen Stapelplätzen oder auch nur in bestimmten Distrikten, sondern finden sich allenthalben verstreut. Sie wandern von Hand zu Hand, von Stamm zu Stamm und gelangen, je nach Lage der Gebiete in verschiedenen Richtungen zu bestimmten Küstenpunkten, zu den Kaufleuten, die sie dort erwarten.

Die erfahrenen Kaufleute wissen sehr wohl, daß ein überhastetes Vordringen in unproduktive Gebiete, das Einsammeln selbst der kostbarsten Produkte im Innern und das Herausschaffen derselben so bedeutende Kosten und Gefahren mit sich bringen würde, daß der mögliche Gewinn in keinem Verhältniß stünde zu den aufgewendeten Mitteln. Sie wissen ferner, daß die Auslagen für ein solches Vorgehen sich unter allen Umständen nicht verringern würden, während der Preis der Produkte im Innern durch gesteigerte Nachfrage immer höher geschraubt werden würde. Nur zu bald würden die Afrikaner für ihr Elfenbein, und wo sie sich zur Gewinnung von Kautschuk bewegen ließen, auch für dieses, weit im Inneren denselben Preis fordern, für welchen sie dasselbe jetzt noch bis zur Küste liefern. Es ist eben im unkultivirten Afrika kein Transportdienst zu Lande so billig, als der, den die Afrikaner sich selber leisten: das Befördern der Güter durch Träger.

Sie, Herr Stanley, wissen so gut wie alle Kenner Ihrer Kongolinie, daß gerade diese keine Handelsstraße ist, keine Gegend durchschneidet, wo sich etwa die den weiten Transport noch lohnenden Produkte des Inneren ansammelten. Sie wissen, daß das etwa dort wie allenthalben im ungeheuren Gebiete verstreut vorkommende Elfenbein nach ganz verschiedenen Richtungen abfließt und so erst auf die weit ab von Ihrer Linie verlaufenden alten Handelsstraßen zum Meere gelangt. Mit welchen Mitteln wollen Sie diese Produkte an sich ziehen? Welchen Kostenanschlag haben Sie dafür aufgestellt?

Die Resultate der kaufmännischen Unternehmungen der Association am oberen Kongo sind doch abschreckend genug. Was kosten wohl der Expedition die mühsam erlangten wenigen Elefantenzähne, die man doch in gleicher Anzahl und in kürzester Zeit billiger und bequemer an irgend einem Elfenbeinplatz der Küste hätte kaufen können? Wie groß waren wohl bis dahin die Auslagen für ein solches Geschäft? Und was haben Sie um so enormen Preis erworben? Nichts als die Zähne, die einige Wochen oder Monate später, aber nichtsdestoweniger mit unfehlbarer Sicherheit, dennoch in die Magazine der Kaufleute an der Küste gelangt waren. So mögen Sie wohl, Herr Stanley, wenn Gewinn und Verlust nicht in Betracht gezogen werden, mit gewissenhaft rechnenden Kaufleuten konkurriren, die Produkte etwas weiter binnenwärts vorweg kaufen – aber das Gesammtresultat des Handels können Sie damit nicht vergrößern. Die Güter gehen einfach bloß durch andere Hände. Diese Thatsache würde auch dann keine Veränderung erleiden, wenn die Association die wesentlichsten Handelshäuser in sich aufnähme und somit in Wirklichkeit, zum Schaden kleinerer Kaufleute, für sich nichts weniger als ein Monopol schaffte.

Kurzum: Sie haben dem Handel weder neue Produkte zugeführt, noch neue Bahnen gewiesen, noch haben Sie seine Bedeutung in irgend welcher Weise vermehrt – es sei denn durch phantastische ungeheuerliche Exportlisten. Die Produkte Afrikas, welche die Association in Brüssel aufgestellt hat und jetzt wohl auf der Weltausstellung in Antwerpen vorführt, haben Sie nicht aus dem Kongostaate gebracht, Herr Stanley. Sie sind von englischen Kaufleuten in Liverpool zusammengestellt worden. Sollen Sie vielleicht dem Publikum beweisen, welche Schätze der Kongostaat liefert?

Doch halt! ein echtes Produkt des Kongolandes ist – oder war? – in Antwerpen doch zu sehen. Ein Eingeborener, der sonst bei Vivi wohnt, Massalla heißt und im Uebrigen ein recht respektabler Mann ist. Sie selbst, Herr Stanley, erwähnen seiner (I, 135, 142, 145, 498) als eines Dolmetschers, einer untergeordneten Persönlichkeit. Sie zählen ihn nicht einmal zu den Häuptlingen von Vivi, und mit Recht nicht, denn er ist der kleinste der Kleinen, nennt ein Dorf von einem Dutzend Hütten und Land so weit ein Pfeilschuß trägt, sein ganzes Reich! Dieser respektable Dorfschulze ist mit seinen vier Weibern importirt worden und bildet als der große König vom Kongo eine der interessantesten Sehenswürdigkeiten auf der Weltausstellung zu Antwerpen. Das Volk staunt ihn an, den großen Herrscher vom Kongoland, und kauft seine Büste, die flugs modellirt worden ist. Wer könnte nun noch am Kongostaate zweifeln? Und wäre es wirklich wahr, was man hört und liest, daß dieser Dorfschulze mit entsprechendem Schaugepränge dem König der Belgier vorgestellt und sogar mit königlichen Ehren empfangen worden ist. Was soll man dazu sagen? was wird die Menschheit noch erleben, Herr Stanley?

Es sind merkwürdige Dinge geschehen, und scheinen auch noch zu geschehen. Aber mit alledem werden die Reichthümer Utopias nicht gewonnen, die Großhändler nicht geblendet. Die gehen ihren eigenen übersehbaren Weg! Sicherlich, Herr Stanley, wenn es möglich wäre, das Innere auf so billige Weise zu erreichen, daß dort baldigst lohnende Geschäfte betrieben werden könnten – die Kaufleute, welche doch weder des gesunden Menschenverstandes noch der Rührigkeit entbehren, die wären schon vor Ihrer Geburt in Innerafrika eingezogen. Der letzte Elefant hätte sein Leben gelassen. Die unsere Gemüther erregende Frage wäre endgültig beantwortet.

Dann wäre auch das Problem der Besiedelung gelöst, welches nicht minder kühn befürwortet wird. All unser Wissen, welches wir [750] gegenwärtig über das tropische Afrika besitzen, berechtigt uns nicht nur, sondern verpflichtet uns, die als ein weiteres Lockmittel gebrauchte Idee, Ackerbauer, die ihre Felder selbst bestellen sollen, mit ihren Familien im Kongostaate anzusiedeln, auf das Entschiedenste zu bekämpfen. Um diesen Vorschlag so scharf als möglich zurückzuweisen, habe ich vor mehr als Jahresfrist ausgesprochen, daß jeder derartige Versuch mit dem Friedhofe beginnen und mit dem Friedhofe enden werde.

Möglich ist es, wenn auch nicht wahrscheinlich, daß im unbekannten Afrika noch einzelne in jeder Hinsicht begünstigte Gebiete aufgefunden werden, wo Familien von Europäern bei eigener körperlicher Arbeit gedeihen können. Möglich ist es auch, daß die Wissenschaft ein Mittel entdeckt, die künftigen Besiedler gegen die üblen Einflüsse des Klimas zu schützen. So lange dies aber nicht geschehen, müssen wir die Ausbeutung des tropischen Afrika dem Kaufmann und dem Pflanzer überlassen, im engsten Bunde mit dem Missionar und dem Forscher. Sie alle haben die wichtigste Aufgabe zu lösen: den Afrikaner zur Arbeit zu erziehen, die Hilfsquellen des Landes zu entwickeln.

Wir kommen zum Schluß, Herr Stanley. was ist nun, nachdem vieler Menschen Gesundheit und Leben, nachdem viele Millionen geopfert worden sind, nach einer sechsjährigen Arbeit gewonnen? Nichts als die Gewißheit, daß dem Unbekannten gegenüber nur die gründliche, sicher vorgehende Forschung und die gewissenhafte geduldige Arbeit den Erfolg verbürgen kann.

Noch leben wir in einer Zeit, in welcher die sensationelle Leistung die schnellste Anerkennung findet, in welcher die Arbeiten, die Autorität eines Forschers wenig gelten, wenn er nicht das Glück hatte, eine große Anzahl Kilometer zurückzulegen, unter mannigfaltigen Abenteuern ein unbekanntes Gebiet zu durchmessen, wenn er nicht zu den Berühmtheiten des Tages gezählt wird. Auch diese Strömung hat ihre Zeit, wie sie ihre Berechtigung haben mag. Die Lösung der einen Aufgabe schließt aber die Lösung der andern fast aus. Entdecker, die unter mancherlei Beschwerlichkeiten das unbekannte im Fluge durchmessen, nichts untersuchen können, als bestenfalls die nächste Umgebung ihrer Marschroute, gewinnen nur ein sehr bedingtes Urtheil über die Beschaffenheit großer Gebiete. Diese kennen zu lernen, ist aber jetzt die allen anderen voranstehende Aufgabe. Vielleicht ist der Wendepunkt bereits erreicht. Die eiserne Nothwendigkeit wird es mit sich bringen, das Touristen- und Entdeckerthum, den sensationellen Erfolg mit seinen vornehmlich die Phantasie erregenden und die große Menge bestechenden Gaben unterzuordnen den gemeinnützigen Resultaten der Wissenschaft. Eine gründliche Erforschung des Nächstliegenden, Kulturversuche mit Handelsgewächsen, die Entdeckung eines neuen Produktes für den Weltmarkt werden für wichtiger gehalten werden, als die Entdeckung eines neuen Berges oder Gewässers, als die Bereicherung der Karten um einige nach ihrer Lage meistens noch zweifelhaft bleibende Linien und Marken, als spannend beschriebene Reise-Erlebnisse.

Ihr Kongo-Unternehmen, Herr Stanley, ist verfehlt. Central-Afrika ist kein zweites Indien und wird es nicht werden, so lange wir leben. Verfehlt ist der Versuch, seine verheißenen Reichthümer der Menschheit zu Füßen zu legen. Der mögliche Gewinn für die Weltwirthschaft steht in gar keinem Verhältniß zu den aufgewendeten ungeheuren Mitteln. Diese Thatsache wird bestehen bleiben, auch wenn noch Jahre hindurch ungezählte Millionen in derselben Weise geopfert werden.

Kein vorsichtiger Beurtheiler wird behaupten, daß Innerafrika eine einzige große Wüstenei sei; er wird aber auch nicht behaupten dürfen, daß es ein einziges fruchtbares Gefilde sei. Auch dort werden meistbegüustigte Landschaften neben wenig begünstigten sich finden. Alle Anzeichen sprechen aber dafür, daß die letzteren: Grassteppen und Savannen die größte Ausdehnung besitzen. Wer sollte sich verlocken lassen, in der unbekannten Ferne, unter zehnfach größeren Schwierigkeiten und Gefahren seine Kraft einzusetzen, so lange ihm die Nähe, manche in jeder Hinsicht begünstigte Küstenlandschaft noch Raum für seine Thätigkeit bietet?

Vergeblich ist Ihr Bemühen, Herr Stanley, den Kongostaat als ein Dorado darzustellen. Die eigentliche, die mühevolle, die lange Arbeit hat erst zu beginnen – und, ich wiederhole, wer möchte die gerade dort beginnen, wo alle Verhältnisse ungünstiger liegen als sonst wo? Mit weit geringeren Mitteln, aber mit größerer Gewissenhaftigkeit und Besonnenheit, wird man in den bequem liegenden begünstigten Küstengebieten das mit ausdauerndem Fleiße erarbeiten, was Sie und die Association vom Unbekannten im Fluge erhaschen wollten. Und wenn dies voll und ganz geschehen, dann erst wird man seine Blicke weiter richten. Die künftige Eisenbahn, die dann Innerafrika uns näher bringt, die wird nicht Ihrem Wege folgen, Herr Stanley – es sei denn, sie würde als ein unfaßbar hochherziges Geschenk für alle Völker gebaut, als ein Hochweg für die Civilisation, der ein Menschenalter hindurch Jedwedem so gut wie unentgeltlich zu Diensten sein müßte.


Wolfsjagden.

(Mit Illustration S. 736 und 737.)

Wolffen und Beeren, an den brichet nyemand keynen Frid,“ lautet eine Stelle im Gesetz Karl’s des Großen. Gottlob, die Zeiten, wo wir uns in Deutschland mit den Wölfen so ernstlich herumplagen mußten, sind glücklich überstanden. Der berüchtigte Wolf, der nach Kobell’s Angabe neun Jahre lang in der Gegend von Schliersee und Tegernsee sich umhertrieb und in dieser Zeit, vom Wildprett abgesehen, gegen 1000 Schafe gerissen und also einen Schaden von etwa 20000 Mark gestiftet hat, zählt längst zu jenen historischen Merkwürdigkeiten, an welche die jüngere Generation nur schwer glauben mag. Unsere Vorfahren haben, wie schon der alte Geßner berichtete, den Wolf so gründlich „verletzt, geschedigt und getödt, mit etlichen Instrumenten, gruben, gifft und aatz, Wölffallen, angel, strick, garn und Hünden, geschoß und dergleichen, daß wir richtige Wolfsjagden jetzt nur in Bildern aus fremden Ländern zu Gesicht bekommen.

An den Marken der Kultur aber wird der Vertilgungskrieg gegen den gefräßigen Räuber noch immer mit alter Energie fortgesetzt und ist bis auf den heutigen Tag so mannigfaltig geblieben, wie ihn Geßner vor Jahrhunderten schilderte. In allen Ländern werden auf ihre Erlegung Prämien ausgesetzt und die Jäger hierdurch besonders angespornt, alle Kunstgriffe und Listen zur Anwendung zu bringen. Rechnet man den Ertrag des Pelzes und die Schußprämien zusammen, so ergiebt sich nach Brehm in manchen Ländern ein Reingewinn von etwa 60 Mark für jeden erlegten Wolf.

Die Treibjagden, wie sie auf Wölfe in der Regel veranstaltet werden, sind schon oft beschrieben worden und bieten kaum ein besonders originelles Schauspiel. Sie müßten denn sonst unter Trommelschlag stattfinden, wie dies in manchen Ländern der Fall ist. Dann wird die Sache abenteuerlicher, wenn die Sturmwirbel durch den Wald erschallen und sich mit den lauten Rufen der Treiber zu einem wilden Lärm vereinigen.

Zu den interessantesten Jagdmethoden gehören ohne Zweifel diejenigen, die im Grunde genommen regelrechte Parforcejagden bilden. Hoch im Norden und an den Südgrenzen Europas sind sie noch im Brauch, unter Anwendung verschiedener Mittel, die der Natur des Landes entsprechen. In Norwegen haßt man den Wolf ganz besonders, da er dort ungeheuren Schaden anrichtet, so daß in Lappland z. B. das Wort „Frieden“ gleiches bedeutet wie Ruhe vor den Wölfen. Kein Wunder also, daß man in jenen nördlichen Gebieten mit dem Raubthier möglichst kurzen Proceß macht. Sobald der erste Schnee gefallen, rüsten sich die Lappen mit einem Stocke aus, an dessen Ende ein scharfes Messer festgebunden ist, schnallen ihre Skys, Schneeschuhe, an und treiben die Wölfe auf. In tiefem Schnee auf waldloser Ebene kann der Wolf gegen den Skyläufer nicht aufkommen, er wird bald eingeholt und mit dem scharfen Messer aufgespießt. Diese eigenthümliche Jagdart dürfte bald in Mode kommen, denn die sportbedürftigen Engländer haben an ihr einen besonderen Geschmack gefunden, und man sieht schon in illustrirten englischen Blättern pelzverhüllte Touristen aus dem stolzen Albion abgebildet, wie sie mit Speer und auf Schneeschuhen die Schneefelder Norwegens unsicher machen.

Buntfarbiger gestaltet sich die Wolfsjagd auf den endlosen Ebenen der russischen Steppe. Der Wolf wird hier förmlich zu Tode gehetzt. Auf munteren Rossen ziehen die Kosaken oder Pferdehirten aus ihren Siedelungen in das wogende Grasmeer hinaus. Werden die Wölfe aufgetrieben, so folgen ihnen die Reiter nach, und vorwärts, mit dem Wind um die Wette, stürmen der Flüchtling und die Verfolger. Nach einigen Stunden erlahmt die Kraft des Raubthieres; mit geiferndem Maule, die dürrgewordene Zunge lang vorgeschreckt, keucht der Wolf mühsam vorwärts, bis er den Rest seiner Kräfte zusammennehmend, still stehen bleibt und sich gegen seine Verfolger zur Wehr setzt. In demselben Augenblick aber fliegt ihm ein Lasso um den Hals, oder der Jäger springt vom Pferde ab und schlägt das müde gewordene Thier mit einem Knüppel todt. Manche schieben ihm einen alten Lappen in den Rachen, packen ihn am Genicke und bringen ihn geknebelt und lebend nach Hause. In diesem Wettlaufe auf Leben und Tod spart man Pulver und Blei.

Aehnlich verfahren die Czikos in der Pußta, bei denen der Lasso bei Wolfsjagden eine hervorragende Rolle spielt.

Ein eigenthümlicher Reiz liegt in einem solchen verwegenen Jagen. Den Bergbewohner mag die Steppe durch ihre Monotonie ermüden, für den Sohn der Ebene ist sie der Innbegriff der Freiheit. Wie den Seemann eine unbegreifliche Sehnsucht auf die unendlichen Wogen des Oceans hinauslockt, so fühlt sich auch der Kosake in seiner Stimmung gehoben, wenn er auf seinem muntern Pferde durch die Wogen der grünen Kräuter dahinjagt und über die unermeßlichen Flächen bis zum fernen Horizonte sein Auge ungehindert schweifen läßt. Von seinem hohen Sattel beherrscht er die weite Umgebung, nichts kann ihm entgehen, er ist der unbeschränkte Herrscher – der wahre König der Steppe.

Nur im Winter drohen ihm hier Gefahren. Wenn plötzlich der Schneesturm losbricht, den Tag zur Nacht verwandelt, die Stege und Pfade verweht, dann schreitet das müde Pferd mit weit vorgeschobenen Nüstern langsam vorwärts, und der Reiter horcht hinaus in das Heulen des Windes, um das Geläute der Glocken einer fernen Kirche zu vernehmen, das für den Verirrten im Aufruhr der Elemente allein den rettenden Wegweiser bildet. Dann mag er zusammenzucken, wenn aus der Ferne das Geheul der Wölfe an sein Ohr dringt, dann muß er manchmal vor der hungrigen Meute flüchten, auf Leben und Tod von den Wölfen gejagt. J.     


[751]

Der Regent des Herzogthums Braunschweig.

Am 21. Oktober prangte die alte Stadt Braunschweig im festlichen Flaggenschmuck, der den sichtbaren Ausdruck einer freudigen, alle Herzen bewegenden Stimmung bildete. An jenem Tage wurde die Bevölkerung des Landes, Tausende deutscher Bürger, von dem lästigen Alp der Ungewißheit befreit, die seit Herzog Wilhelm’s Tode über der Zukunft des Herzogthums schwebte. Im Hause der Abgeordneten wurde jener Beschluß gefaßt, wie er „wichtiger und folgenschwerer“ von der braunschweigischen Landesvertretung noch niemals gefaßt worden war: auf den verwaisten Thron der Welfen beriefen die Abgeordneten des Volkes einstimmig den Prinzen Albrecht von Preußen zum rechtmäßigen Regenten des durch Fleiß und Gewerbe blühenden Landes. Trübe Aussichten wurden durch diese Wahl verscheucht und dem Herzogthume wurde der ibm gebührende Platz unter den Bundesstaaten des deutschen Reiches dauernd gesichert.

Prinz Albrecht von Preußen dürfte in der Regierung Braunschweigs ein würdiger Nachfolger jener Herzöge sein, die einst durch kriegerische Thaten sich unsterblichen Lorbeer erwarben. Geboren am 8. Mai 1837, steht er heute auf jener Stufe des alters, in welcher die Vorzüge des männlichen Charakters und der geistigen Schaffenskraft zum vollendetsten Ausdruck gelangen. In der kleidsamen Reiteruniform bietet er eine echt ritterliche Erscheinung, wie wir sie in dem kriegsgewaltigen Hause der Hohenzollern so oft zu schauen gewohnt sind, und, dank seinem sicheren Auftreten, war er von seinem kaiserlichen Oheim oft mit Missionen beauftragt worden, in denen es schon auf die äußere Erscheinung des Mannes ankam.

Frühzeitig, im Jahre 1847, trat er wie die meisten Prinzen des preußischen Königshauses in die Armee ein, stieg hier zu hohen Stellungen empor, und an allen Kriegen, die in den letzten Jahrzehnten die preußischen und deutschen Waffen mit Ruhm bedeckten, hat er ehrenvollen Antheil genommen.

Prinz Albrecht von Preußen.
Nach einer Photographie von W. Höffert, Hofphotograph in Hannover.

So stand er 1864 in Schleswig im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl, kämpfte zwei Jahre später in den Schlachten von Skalitz, Schweinschädel und Königgrätz und führte im deutsch-französischen Kriege, gleich seinem 1872 verstorbenen Vater, deutsche Kavallerieregimenter zu Kampf und Sieg. Auf dem blutigen Schlachtfelde von Gravelotte und in den großen Kämpfen um Sedan that sich der kühne Reitergeneral besonders hervor. Auch im Frieden wußte er sich dem Vaterlande nützlich zu machen und wirkte durch eine Reihe von Jahren als Kommandeur der 20. Division in Hannover.

Das rauhe Kriegshandwerk allein konnte jedoch alle Wünsche seines Geistes und Herzens nicht befriedigen. In Wissenschaften und schönen Künsten pflegte er von Zeit zu Zeit Erholung und Erhebung zu suchen, und eignete sich hierdurch jene reichen Kenntnisse an, die ihm jetzt als dem Regenten einer strebsamen und kunstbeflissenen Bevölkerung zum hohen Nutzen gereichen werden. Nicht unbekannt ist es auch in weiteren Kreisen geblieben, daß Prinz Albrecht auf dem Gebiete der Musik selbstschöpferisch thätig war.

Glückliche Tage mochte er in dieser Weise mit seiner feingebildeten, durch Anmuth und Herzensgüte ausgezeichneten Gemahlin auf seinem prachtvollen Schlosse Kamenz verlebt haben. Der Strom der Touristen Süd- und Westdeutschlands berührt nur äußerst selten die Grafschaft Glatz, wo auf dem Wege nach dem berühmten Bade Landeck, am Fuße des gleichnamigen Klosters, terrassenförmig der bewaldete Berg aufsteigt, dessen Spitze das Schloß Kamenz krönt. Es ist ein stolzer sehenswerther Bau, der nach dem Muster der angelsächsischen Burg des Grafen Ripon an der schottischen Grenze und nach dem Plane Schinkel’s im Jahre 1838 aufgeführt wurde. Einhundert Zimmer und Säle bieten hier heimische Unterkunft, und zehn Thürme schauen von der Höhe weit in die schlesischen Lande hinein, wo im Norden an dem fernen Horizont sich die zahllosen Städte und Dörfer der Ebene im blauen Dunstschleier verlieren und im Süden die dunklen Gebirgszüge lachende Fluren begrenzen.

In diesem romantischen, echt fürstlichen Sitze suchten am 24. Oktober die Gesandten Braunschweigs den Prinzen Albrecht auf, und hier haben sie von ihm die Zusage erhalten, daß er zum Wohl des Landes die ihm angetragene Regentschaft des Herzogthums übernehmen werde. Siegfried.     


Blätter und Blüthen.

Martin Greif’s Gedichte. Martin Greif gehört nicht zu den Dichtern, die dem Zeitgeschmacke huldigen; er singt wie’s ihm ums Herz ist, und gerade das kennzeichnet ja den echten Dichter, daß er einzig und allein der Stimme seines Herzens Gehör schenkt. Dadurch erlangen aber seine Lieder einen dauernden Werth, denn was er in ihnen denkt und fühlt, und wovon er uns singt, das hat auch Jedem von uns wohl bereits des Oeftern das Herz bewegt. In fast allen seinen Gedichten kommt eine gewisse Schwermuth zum Ausdruck. Schwermuth im bessern Sinne des Wortes, eine sanfte Melancholie, wie sie den gereiften Mann kennzeichnet und diesem so schön steht, auf alle Fälle aber auf den Leser nicht verstimmend wirken kann. Manche dieser kleinen Liederperlen muthen uns sogar so traulich an, wie es nur das echte Volkslied vermag, so, um nur eine Probe hier anzuführen, die für das schöne Ganze sprechen mag, das kleine Gedichtchen:

Die schöne Blumenverkäuferin.

Am Marktplatz bei der Ecke
Da hab’ ich niemals Eil’,
Da sitzt ein schönes Mägdlein
Und bietet Blumen feil.

Im Frühjahr waren’s Veilchen,
Jetzt Maienglöckchen fein,
Im Sommer werden’s Rosen,
Im Herbste Nelken sein.

So nehm’ ich jeden Morgen
Ein frisches Sträußchen mit,
Doch wenn es Winter worden –?
O weh. d’ran dacht’ ich nit!

Hoffen wir, daß der Dichter Fr. Hermann Frey, der sich unter dem Pseudonym Martin Greif verbirgt und namentlich als Dramatiker schon so manchen glücklichen Wurf gethan, auch als Lyriker in immer weiteren Kreisen Boden gewinnt. Haben doch seine lyrischen Gedichte, die zuerst 1868 erschienen sind, nach der im Jahr 1883 nöthig gewordenen dritten bereits jetzt, 1885, die vierte Auflage erlebt, und – Zahlen beweisen, wenn irgendwo, so namentlich auf dem vielbebauten Felde der Lyrik besser als es die ruhmredigsten Empfehlungen je im Stande wären. Dr. Karl Siegen.     


Beguinenkloster in Brügge. (Mit Illustration S. 745.) Auf der so reich von allen Nationen beschickten Münchener Kunstausstellung von 1883 erregte neben den Meisterwerken Defregger’s, Knaus’, Leibl’s und anderer ein Bild das größte Aufsehen, welches einem noch ganz unbekannten jungen Künstler, einem Schüler des Löfftz, Klaus Meyer aus Hannover angehörte und dessen Reproduktion unser Holzschnitt bringt. Es stellt das Arbeitszimmer in einem jener Beguinenklöster dar, wie deren Belgien so viele besitzt und wie sie ein wahrer Segen für das weibliche Geschlecht dort sind, da sie unzähligen Frauen Schutz und eine stille Zuflucht gewähren, welche sonst in die Welt hinausgestoßen worden und wohl auch zu Grunde gegangen wären. Hier nach strenger klösterlicher Regel lebend, dürfen sie aber doch Besuche empfangen, ja sogar wieder austreten und sich verheirathen, was indeß sehr selten geschehen soll. So sehen wir denn in der weißgetünchten Stube, genau so wie sie in Gent und Brügge, ja in ganz Niederdeutschland noch immer allgemein zu finden sind, hier mit der Aussicht auf den engen Klosterhof, fünf ältere und jüngere Frauen mit Weißzeugnähen emsig beschäftigt um einen Tisch herumsitzen, wahrend die Oberin ein Stück Leinwand, das die neben ihr stehende Schwester verarbeiten soll, auf seine Güte prüft. Eine achte, wohl die Küchenmeisterin, kehrt eben mit dem gefüllten Korb vom Markte heim, um das bescheidene Mahl zu bereiten. Wie verschieden auch unter sich, zeigen doch alle diese Frauen eine solche Reinheit und innere Ruhe, solch’ schönen Seelenfrieden, so wohlthuend kühle Stille liegt über dem Gemach, daß man das Ticken der Uhr hören zu müssen meint, nicht nur [752] den leisen Schritt der Nahenden im Vorzimmer. Dabei ist aber die Charakteristik der verschiedenen Frauen, wie ihrer flamändischen Abstammung so vortrefflich, daß man jeder einzelnen vom Gesicht ablesen zu können meint, was sie in dieses Asyl getrieben, wo sie ein stilles Glück gefunden, das ihr draußen in der Welt versagt geblieben.

Diese Klosteratmosphäre ist denn auch geradezu unübertrefflich gegeben, und wenn sich Klaus Meyer’s Bild offenbar an die alten Niederländer, so an Pieter de Hooghe’s ähnliche Darstellungen anlehnt, so unterscheidet es sich doch dadurch durchaus von ihnen, daß es viel tiefer in die Darstellung des Seelenlebens eingeht und dabei doch nicht eine Spur modern krankhafter Sentimentalität zeigt. Dadurch erklärt sich auch der große Erfolg des Bildes, welches erst in München, dann das Jahr darauf in Berlin dem Maler Auszeichnungen errang, wie sie nur den Besten gegeben werden. Fr. P.     


Hermann Fürst von Pückler-Muskau, seit dessen Geburt am 30. Oktober d. J. hundert Jahre verflossen sind, war seiner Zeit eine vielgenannte Persönlichkeit. Manche seiner graziös geschriebenen und von scharfer Beobachtung zeugenden Reisewerke interessiren auch heute noch; ganz hervorragende und nachhaltige Verdienste erwarb er sich aber namentlich um die Gartenbaukunst. Seine berühmten Park- und Gartenanlagen in Muskau und Branitz, sowie die ebenfalls von ihm geleiteten Anlagen des Schlosses Babelsberg, müssen als wahre Muster bezeichnet werden. Die „Gartenlaube“ brachte mehrfach eingehende Artikel über den Fürsten und seine Schöpfungen, so u. A. 1871 im Anschluß an seinen am 4. Februar desselben Jahres erfolgten Tod über einen Besuch auf seiner Besitzung Branitz und eine längere Unterredung mit ihm, im folgenden Jahre dann den interessanten Briefwechsel zwischen dem Fürsten und E. Marlitt und endlich 1874 eine Schilderung seiner letzten Lebenstage.–th.     


Allerlei Kurzweil.

Kryptogram: „Kreuzstichstickerei“.


Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 43. Wenn man die unter den Runenschriftzeichen befindlichen Buchstaben in jener Reihenfolge aneinanderreiht, wie sie die Anzabi der einzelnen Theile anzeigt, aus welchen jedes Runenzeichen zusammengesezt ist, so erhält man das Wort: „Brahma.“


Kleiner Briefkasten.

K. T. in Leipzig. Ihre Geldsendung von 100 Mark für die Hinterbliebenen der Mannschaft der Augusta“ haben wir an die Sammelstelle der Expedition des „Leipziger Tageblattes“ abgeliefert. Hauptsammelstelle ist die Präsidialkasse des Königlichen Polizeipräsidiums, Berlin C, Molkenmarkt 1, welcher alle Beiträge am besten direkt übermittelt worden.


Inhalt: Herbsttage. Gedicht von Victor Blüthgen. Mit Illustration. S. 733. – Edelweißkönig. Eine Hochlandsgeschichte. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 734. – Moderne Wandlungen und Neubildungen. Von Fr. Helbig. I. S. 741. – Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen (Fortsetzung). S. 743. – Offene Briefe an Henry M. Stanley. Von Dr. Pechuël-Loesche. III. S. 748. – Wolfsjagden. S. 750. Mit Illustration S. 736 und 737. Der Regent des Herzogthums Braunschweig. Von Siegfried. Mit Portrait. S. 751. – Blätter und Blüthen: Martin Greif’s Gedichte. Von Dr. Karl Siegen. S. 751. – Beguinenkloster in Brügge. S. 751. Mit Illustration S. 745. – Hermann Fürst von Pückler-Muskau. – Allerlei Kurzweil: Kryptogramm: „Kreuzstichstickerei“. – Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 43. – Kleiner Briefkasten. S. 752.



Empfehlenswerthe Bücher für das deutsche Haus.

Der Jugendgarten.

Eine Festgabe für die deutsche Jugend (von 9–15 Jahren).
Gegründet von
Ottilie Wildermuth.
Mit zahlreichen farbigen und Tondruckbildern.
Preis elegant kartonnirt Mk. 6. –., in glänzendem Prachtband mit Rücken- und Deckelvergoldung Mk. 6. 75.
Jedes Jahr erscheint ein neuer Band in gleicher Ausstattung.

Der „Jugendgarten“ hat sich rasch allerorten eingebürgert und darf mit Recht als eines der beliebtesten Festgeschenke für die Jugend bezeichnet werden. Sein Jnhalt, bestehend aus anziehenden Erzählungen, Biographien, Schilderungen aus der Länder- und Völkerkunde, Gedichten, Räthseln, belehrenden Aufsätzen aus den verschiedensten Gebieten, gewährt den Kindern eines Hauses die vielfältigste Anregung und Unterhaltung und kann deßhalb als ein wahrer Hausschatz für jede Familie bezeichnet werden.

Der neueste Band enthält: Als die Schweden kamen. Erzählung von Victor Blüthgen. – Die Prinzessin im Glaspalast. Eine betrübliche Geschichte von Julius Duboc. – Dreisilbige Charade. – Am Wiesen- und Waldsaum. Naturschilderungen von Ernst Lausch. – Räthsel. – Seltsame Geschichte. Gedicht von A. Fromm. – Elschen. Erzählung von Agnes Willms. – Die Falknerei. Von G. Mensch. – Räthsel. – Oer Sieg der Wahrheit oder Meines Bruders Taschenbuch. von A. v. W. – Bilder aus der Thierwelt von Friedrich Sattler. – Weihnachten im Walde. Von Emma Schöne. – Aus Dr. David Livingstone’s Leben und Wirken. Von A. Willms. – Glücklos und Wunschlos. Märchen von A. Fromm. – Künstlergeschichten. Von C. Michael. – Wer hat Recht? Eine Geschichte, die geschehen ist. Von Adelheid Wildermuth. – Räthsel. – Aus Herder’s Jugendzeit, von Dr. G. Plieninger. – Der Bruderkuß. Gedicht von Agnes Willms. – Ist die Donau ein Nebenfluß des Rheins? Von W. Quaas. – Ein Fürstenleben. Von A. Carolis. – Bei den Strandräubern. Erzählung von S. v. Rüts. – Räthsel. – Magisches Buchstabenquadrat. – Der Königsritt. Geschichtliche Erzählung von Luise Pichler. – Prinz Georg. Schauspiel für die Jugend. von A. Fromm.


Diademe und Myrten.
Historische Erzählungen
von
Luise Pichler.
Mit sechs Bildern in Farbendruck von R. E. Kepler
und fünf in den Text gedruckten Holzschnitten.
Eleganter Leinwandband mit Schwarz-, Gold- und Silberdruck Mk. 5.50.

Inhalt: Thusnelda. – Rapperga. – Mathildis. – Ein Weihnachtsfest in Worms. – Kaiser Rothbart’s Brautwerbung – Irene. – Die Mutter des letzten Hohenstaufen. – Konradin.

Die Verfasserin ist längst dafür bekannt, daß sie, wie Friedrich von Raumer von ihr sagte, „es versteht, der Geschichte Fleisch und Blut zu geben, wie der Geschichtschreiber selbst es nicht thun darf, aber gern gethan sieht; daß sie der Geschichte nicht sowohl durch Fiktionen, als durch die Kraft dichterischen Bildens und Darstellens zu Hilfe kommt, um dieselbe dadurch erst recht ins Leben einzuführen“; daß ihre Darstellung, wie Ludwig Uhland von ihr rühmte, „fesselnd und spannend, voll dramatischer Lebendigkeit ist“, so daß ihre historischen Gestalten und die ihnen an die Seite gestellten poetischen Gebilde wie leibhaftige Menschen sich abheben und über die Bretter der Weltgeschichte zu schreiten scheinen. Ihr neuestes Buch „Diademe und Myrten“ führt den Leser in die germanischen Wälder, in die Zeit der Völkerwanderung, die Kloster-, Ritter- und Städtezeit und schließt diese poetischen Illustrationen unserer Volksgeschichte mit der erhabenen Gestalt der Mutter des letzten Hohenstaufen. Es ist so recht ein Buch für das deutsche Haus, für die Mütter, die aufblühenden Töchter und die heranwachsenden Söhne – ein Buch, an welchem jedes warmfühlende Herz sich immer wieder von Neuem erbauen wird.


David Livingstone.
Ein Lebensbild des großen Entdeckers und Missionars,
für die
deutsche Lesewelt, besonders die reifere Jugend
nach den Quellen dargestellt von
Dr. Gustav Plieninger.
Mit Livingstone’s Portrait, 43 in den Text gedruckten Illustrationen,
6 Farbdruckbildern und einer Karte.

Eleganter Leinwandband mit Schwarz-, Gold- und Silberdruck Mk. 5.50.

Inhalt: Jugend und Vorbereitungszeit. – Die ersten sieben Jahre in Afrika – Die Entdeckung des Ngami-Sees. – Reise zu den Makololo. – Eine tragische Episode. – Von den Bamangwatohügeln bis Linjant. – Zwei Fahrten auf dem Sambesi bis zum Liba. – Landreise vom Liba nach der Westküste. – Aufenthalt in San Paolo de Loanda, und Rückkehr nach Linjanti. – Von Linjanti nach der Ostküste. – Rückkehr nach England und Aufenthalt daselbst. – Auf dem unteren Sambesi und an den Kebrabasa-Fällen – Erforschung des Schire und Entdeckung des Schirwa- und Njassa-Sees. – Rückkehr mit den Makololo in ihre Heimath. – Die Universitätenmission und der Njassa-See. – Auf dem Rovuma und im Westen des Njassa. – Zweiter und letzter Besuch in der Heimath – Von Sansibar an den Tanganjika-See. – Entdeckung des Moero- und des Bangweolo-Sees. – Im Manjuema-Lande – Stanley und Livingstone. – Livingstone’s letzte Reise und Tod.

Verlag von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Die dünne Weidenruthe, mit welcher die geweihten Zweige zu einem Bündel gebunden werden.
  2. Kamm.
  3. Wir schließen hiermit die „Offenen Briefe an Stanley“. Dieselben erscheinen demnächst, wesentlich erweitert, als Broschüre, unter dem Titel: „Herr Stanley und das Kongo-Unternehmen. Eine Entgegnung von Dr. Pechuël-Loesche“ im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig und verweisen wir auf diese Broschüre Alle, die sich für die Zustände am Kongo interessiren. Die Red. 
  4. Johnston: The River Congo. 2nd Edition, pag. 42. London 1884. „Boma ist vielleicht der ungesündeste Platz am ganzen Kongo. Die Hitze ist übermäßig, und hinter den europäischen Häusern liegen große Sümpfe und stinkende Marschen, welche nicht nur viel Fieber erzeugen, sondern auch die fürchterlichsten Moskiten, die ich an Größe und Blutdurst jemals kennen gelernt habe.“ –
  5. Dr. A. von Danckelman: Mémoire sur les Observations Météorologiques faites à Vivi. Berlin 1884. Asher et Co. Diese Arbeit des auf mein Verwenden nach Vivi gesandten deutschen Forschers ist die einzige wissenschaftliche von der Association unterstützte Publikation.
  6. Die Loango-Expedition. Abtheilung III, Seite 63 und ff.