Die Gartenlaube (1885)/Heft 40
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No. 40. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Unterm Birnbaum.
Frau Hradscheck war nun unter der Erde, Male hatte das Umschlagetuch gekriegt, auf das ihre Wünsche sich schon lange gerichtet hatten, und alles wäre gut gewesen, wenn nicht der letzte Wille der Verstorbenen gewesen wäre: die Geldsendung an den Krakauer Bischof um der zu lesenden Seelenmessen willen. Das machte Hradscheck Sorge, nicht wegen des Geldes, davon hätt’ er sich leicht getrennt, einmal weil Sparen und Knausern überhaupt nicht in seiner Natur lag, vor allem aber weil er das seiner Frau gegebene Versprechen gern zu halten wünschte, schon aus abergläubischer Furcht. Das Geld also war es nicht, und wenn er trotzdem in Schwanken und Säumniß verfiel, so war es, weil er nicht selber dazu beitragen wollte, die kaum begrabene Geschichte vielleicht wieder ans Licht zu ziehn. Ursel hatte freilich von Beichtgeheimniß und Aehnlichem gesprochen, er mißtraute jedoch solcher Sicherheit, am meisten aber dem ohne Namensunterschrift in Frankfurt aufzugebenden Briefe.
In dieser Verlegenheit beschloß er endlich, Eccelius zu Rathe zu ziehn und diesem die halbe Wahrheit zu sagen, und wenn nicht die halbe, so doch wenigstens so viel, wie zu seiner Gewissens-Beschwichtigung gerade nöthig war. Ursel, so begann er, habe zu seinem allertiefsten Bedauern ernste katholische Rückfälle gehabt und ihm beispielsweis in ihrer letzten Stunde noch eine Summe Geldes behändigt, um Seelenmessen für sie lesen zu lassen (der, dem es eigentlich galt, wurde hier unterschlagen). Er, Hradscheck, hab’ ihr auch, um ihr das Sterben leichter zu machen, alles versprochen, sein protestantisches Gewissen aber sträube sich jetzt dagegen, ihr das Versprochene wörtlich und in all und jedem Stücke zu halten, weßhalb er anfrage, ob er das Geld wirklich an die Katholschen aushändigen oder nicht lieber nach Berlin reisen und ein marmornes oder vielleicht auch gußeisernes Grabkreuz, wie sie jetzt Mode seien, bestellen solle.
Eccelius zögerte keinen Augenblick mit der Antwort und sagte genau das, was Hradscheck zu hören wünschte. Versprechungen, die man einem Sterbenden gäbe, seien natürlich bindend, das erheische die Pietät, das sei die Regel. Aber jede Regel habe bekanntlich ihren Ausnahmefall, und wenn das einem Sterbenden gegebene Versprechen falsch und sündhaft sei, so hebe das Erkennen [646] dieser Sündhaftigkeit das Versprechen wieder auf. Das sei nicht bloß Recht, das sei sogar Pflicht. Die ganze Sache, wie Hradscheck sie geschildert, gehöre zu seinen schmerzlichsten Erfahrungen. Er habe große Stücke von der Verstorbenen gehalten und allezeit einen Stolz darein gesetzt, sie für die gereinigte Lehre gewonnen zu haben. Daß er sich darin geirrt oder doch wenigstens halb geirrt habe, sei, neben anderem, auch persönlich kränkend für ihn, was er nicht leugnen wolle. Diese persönliche Kränkung indeß sei nicht das, was sein eben gegebenes Urtheil bestimmt habe. Hradscheck solle getrost bei seinem Plane bleiben und nach Berlin reisen, um das Kreuz zu bestellen. Ein Kreuz und ein guter Spruch zu Häupten der Verstorbenen werde derselben genügen, dem Kirchhof aber ein Schmuck sein und eine Herzensfreude für jeden, der Sonntags daran vorüberginge.
Es war Ende Oktober gewesen, daß Eccelius und Hradscheck dies Gespräch geführt hatten, und als nun Frühling kam und der ganze Tschechiner Kirchhof, so kahl auch seine Bäume noch waren, in Schneeglöckchen und Veilchen stand, erschien das gußeiserne Kreuz, das Hradscheck mit vieler Wichtigkeit und nach langer und minutiöser Berathung auf der königlichen Eisengießerei bestellt hatte. Zugleich mit dem Kreuze traf ein Steinmetz mit zwei Gesellen ein, Leute die das Aufrichten und Einlöthen aus dem Grunde verstanden, und nachdem die Dorfjugend ein paar Stunden zugesehen hatte, wie das Blei geschmolzen und in das Sockelloch eingegossen wurde, stand das Kreuz da mit Spruch und Inschrift, und viele Neugierige kamen, um die goldblanken Verzierungen zu sehn: unten ein Engel, die Fackel senkend, und oben ein Schmetterling. All das wurde von Alt und Jung bewundert. Einige lasen auch die Inschrift: „Ursula Vincentia Hradscheck, geb. zu Hickede bei Hildesheim im Hannöverschen den 29. März 1790, gest. den 30. September 1832.“ Und darunter Evang. Matthäi 6, V. 14. Auf der Rückseite des Kreuzes aber stand ein muthmaßlich von Eccelius selbst herrührender Spruch, darin er seinem Stolz, aber freilich auch seinem Schmerz Ausdruck gegeben hatte. Dieser Spruch lautete: „Wir wandelten in Finsterniß, bis wir das Licht sahen. Aber die Finsterniß blieb, und es fiel ein Schatten auf unsren Weg.“
Unter denen, die sich das Kreuz gleich am Tage der Errichtung angesehen hatten, waren auch Gendarm Geelhaar und Mutter Jeschke gewesen. Sie hatten denselben Heimweg und gingen nun gemeinschaftlich die Dorfstraße hinunter, Geelhaar etwas verlegen, weil er den zu seiner eignen Würdigkeit schlecht passenden Ruf der Jeschke besser als irgend wer anders kannte. Seine Neugier überwand aber seine Verlegenheit, und so blieb er denn an der Seite der Alten und sagte:
„Hübsch is es. Un der Schmetterling so natürlich; beinah wie’n Citronenvogel. Aber ich begreife Hradscheck nich, daß er sie so dicht an dem Thurm begraben hat. Was soll sie da? Warum nicht bei den Kindern? Eine Mutter muß doch da liegen, wo die Kinder liegen.“
„Woll, woll, Geelhaar. Awers Hradscheck is klook. Un he weet ümmer, wat he deiht.“
„Gewiß weiß er das. Er ist klug. Aber gerade weil er klug ist …“
„Joa, joa.“
„Nu was denn?“
Und der sechs Fuß hohe Mann beugte sich zu der alten Hexe nieder, weil er wohl merkte, daß sie was sagen wollte.
„Was denn, Mutter Jeschke?“ wiederholte er seine Frage.
„Joa, Geelhaar, wat sall ick seggen? Eccelius möt it weten. Un de hett nu ook wedder de Inschrift moakt. Awers een is, de weet ümmer noch en beten mihr.“
„Und wer is das? Line?“
„Ne, Line nich. Awers Hradscheck sülwsten. Hradscheck, de will de Kinnings und de Fru nich tosoamen hebb’n. Nich so upp enen Hümpel.“
„Nun gut, gut. Aber warum nicht, Mutter Jeschke?“
„Nu, he denkt, wenn’t los geiht.“
Und nun blieb sie stehn und setzte dem halb verwundert, halb entsetzt aufhorchenden Geelhaar auseinander, daß die Hradscheck an dem Tage, „wo’s los gehe“, doch natürlich nach ihren Kindern greifen würde, vorausgesetzt, daß sie sie zur Hand habe. „Un dat wull de oll Hradscheck nich.“
„Aber, Mutter Jeschke, glaubt Ihr denn an so was?“
„Joa, Geelhaar, worümm nich? Worümm sall ick an so wat nich glöwen?“
Als das Kreuz aufgerichtet stand, es war Nachmittag geworden, kam auch Hradscheck, sonntäglich und wie zum Kirchgange gekleidet, und die Neugierigen, an denen den ganzen Tag über, auch als Geelhaar und die Jeschke längst fort waren, kein Mangel blieb, sahen, daß er den Spruch las und die Hände faltete. Das gefiel ihnen ausnehmend, am meisten aber gefiel ihnen, daß er das theure Kreuz überhaupt bestellt hatte. Denn Geld ausgeben (und noch dazu viel Geld) war das, was den Tschechinern als ächten Bauern am meisten imponirte. Hradscheck verweilte wohl eine Viertelstunde, pflückte Veilchen, die neben dem Grabhügel aufsprossen, und ging dann in seine Wohnung zurück.
Als es dunkel geworden war, kam Ede mit Licht, fand aber die Thür von innen verriegelt, und als er nun auf die Straße ging, um wie gewöhnlich die Fensterladen von außen zu schließen, sah er, daß Hradscheck, eine kleine Lampe mit grünem Klappschirm vor sich, auf dem Sopha saß und den Kopf stützte. So verging der Abend. Auch am andern Tage blieb er auf seiner Stube, nahm kaum einen Imbiß, las und schrieb, und ließ das Geschäft gehn, wie’s gehen wollte.
„Hür’, Jakob,“ sagte Male, „dat’s joa grad’ as ob se nu ihrst dod wihr. Süh doch, wie he doa sitt. He kann doch nu nich noch moal wedder anfang’n.“
„Ne,“ sagte Jakob, „dat kann he nich.“
Und Ede, der hinzukam und heute gerade seinen hochdeutschen Tag hatte, stimmte bei, freilich mit der Einschränkung, daß er auch von der vorausgegangenen „ersten Trauer“ nicht viel wissen wollte.
„Wieder anfangen! Ja, was heißt wieder anfangen? Damals war es doch auch man so so. Drei Tag’ und nich länger. Und paß auf, Male, diesmal knappst er noch was ab.“
Und wirklich, Ede, der aller Dummheit unerachtet seinen Herrn gut kannte, behielt Recht, und ehe noch der dritte Tag um war, ließ Hradscheck die Träumerei fallen und nahm das gesellige Leben wieder auf, das er schon während der zurückliegenden Wintermonate geführt hatte. Dazu gehörte, daß er alle vierzehn Tage nach Frankfurt und alle vier Wochen auch mal nach Berlin fuhr, wo er sich, nach Erledigung seiner kaufmännischen Geschäfte, kein anderes Vergnügen als einen Theaterabend gegönnt haben sollte. Deßhalb stieg er auch regelmäßig in dem an der Ecke der Königs- und Klosterstraße gelegenen „Gasthofe zum Kronprinzen“ ab, von dem aus er bis zu dem damals in Blüthe stehenden Königsstädtischen Theater nur ein paar Schritte hatte. War er dann wieder in Tschechin zurück, so gab er den Freunden und Stammgästen in der Weinstube, zu denen jetzt auch Schulze Woytasch gehörte, nicht bloß Scenen aus dem Angely’schen „Fest der Handwerker“ und Holtei’s „Altem Feldherrn“ und den „Wienern in Berlin“ zum Besten, sondern sang ihnen auch allerlei Lieder und Arien vor: „War’s vielleicht um eins, war’s vielleicht um zwei, war’s vielleicht drei oder vier.“ Und dann wieder: „In Berlin, sagt er, mußt Du fein, sagt er, immer sein, sagt er etc.“ Denn er besaß eine gute Tenorstimme. Besonderes Glück aber, weit über die Singspiel-Arien hinaus, machte er mit dem Leierkastenlied von „Herrn Schmidt und seinen sieben heirathslustigen Töchtern“, dessen erste Strophe lautete:
Herr Schmidt, Herr Schmidt,
Was kriegt denn Julchen mit?
„Ein Schleier und ein Federhut,
Das kleidet Julchen gar zu gut.“
Dies Lied von Herrn Schmidt und seinen Töchtern war das Entzücken Kunicke’s, das verstand sich von selbst, aber auch Schulze [647] Woytasch versicherte jedem, der es hören wollte: „Für Hradscheck ist mir nicht bange; der kann ja jeden Tag aufs Theater. Ich habe Beckmann gesehn; nu ja, Beckmann is gut, aber Hradscheck is besser; er hat noch so was, ja wie soll ich sagen, er hat noch so was, was Beckmann nicht hat.“
Hradscheck gewöhnte sich an solchen Beifall, und wenn es sich auch gelegentlich traf, daß er bei seinem Berliner Aufenthalte, während dessen er allemal eine goldene Brille trug, keine Novität gesehen hatte, so kam er doch nie mit leeren Händen zurück, weil er sich nicht eher zufrieden gab, als bis er an den Schaufenstern der Buchläden irgend ’was Komisches und unbändig Witziges ausgefunden hatte. Das hielt auch nie schwer, denn es war gerade die „Glaßbrenner- oder Brennglas-Zeit“ und wenn es solche Glaßbrenner-Geschichten nicht sein konnten, nun, so waren es Sammlungen alter und neuer Anekdoten, die damals in kleinen dürftigen Viergroschen-Büchelchen unter allerhand Namen und Titeln, so beispielsweise als „Brausepulver“, feilgeboten wurden. Ja diese Büchelchen fanden bei den Tschechinern einen ganz besondern Beifall, weil die darin erzählten Geschichten immer kurz waren und nie lange auf die Pointe warten ließen, und wenn das Gespräch mal stockte, so hatte Kunicke den Stammwitz: „Hradscheck, ein Brausepulver.“
So verging der Sommer.
Es war Anfang Oktober, als Hradscheck wieder mal in Berlin war, diesmal auf mehrere Tage, während er sonst immer den dritten Tag schon wieder nach Hause kam. Ede, der mittlerweile das Geschäft versah, paßte gut auf den Dienst, und nur in der Stunde von 1 bis 2, wo sich kaum ein Mensch im Laden sehen ließ, gefiel er sich darin, den Herrn zu spielen und, ganz so wie Hradscheck zu thun pflegte, mit auf den Rücken gelegten Händen im Garten auf und ab zu gehen. Das that er auch heute wieder, zugleich aber rief er nach Jakob und trug ihm auf, und zwar in ziemlich befehlshaberischem Tone, daß er einen neuen Reifen um die Wassertonne legen solle. Dann sah er nach den Staarkästen am Birnbaum und zog einen Zweig zu sich herab, um noch eine der nachgereiften „Franzosenbirnen“ zu pflücken. Es war ein Prachtexemplar, in das er sofort einbiß. Als er aber den Zweig wieder los ließ, sah er, daß die Jeschke drüben am Zaune stand.
„Dag, Ede.“
„Dag, Mutter Jeschke.“
„Na, schmeckt et?“
„I worümm nich? Is joa ’ne Malvasier.“
„Joa. Vördem wihr et ’ne Malvesier. Awers nu …“
„Nu is et ’ne ‚Franzosenbeer‘. Ick weet woll. Awers dat’s joa all een.“
„Joa, wer weet, Ede. Doa is nu so wat mang. Heste noch nix maarkt?“
Der Junge ließ erschreckt die Birne fallen, das alte Weib aber bückte sich danach und sagte: „Ick meen’ joa nich de Beer’. Ick meen sünnsten.“
„Wat denn? Wo denn?“
„Na, so ’rümm um’t Huus.“
„Nei, Mutter Jeschke.“
„Un ook nich unnen in’n Keller? Hest’ noch nix siehn o’r hürt?“
„Nei, Mutter Jeschke. Man blot …“
„Un grappscht ook nich?“
Der Junge war ganz blaß geworden.
„Joa, Mutter Jeschke, ’mal wihr mi so. Mal wihr mi so, as hüll mi wat an de Hacken. Joa, ick glöw, et grappscht.“
Die Jeschke sah ihren Zweck erreicht und lenkte deßhalb geschickt wieder ein. „Ede, Du bist ne Bangbüchs. Ick hebb’ joa man spoaßt. Is joa man all dumm Tüg.“
Und damit ging sie wieder auf ihr Haus zu und ließ den Jungen stehn.
Drei Tage danach war Hradscheck wieder aus Berlin zurück, in vergnüglicherer Stimmung als seit lange, denn er hatte nicht nur alles Geschäftliche glücklich erledigt, sondern auch die Bekanntschaft einer jungen Dame gemacht, die sich seiner Person wie seinen Heirathsplänen geneigt gezeigt hatte. Diese junge Dame war die Tochter aus einem Destillationsgeschäft, groß und stark, mit etwas hervortretenden, immer lachenden Augen, eine Vollblut-Berlinerin. „Forsch und fidel“ war ihre Losung, der auch ihre Lieblingsredensart „Ach, das ist ja zum Todtlachen“ entsprach. Aber dies war nur so für alle Tage. Wurd’ ihr dann wohliger ums Herz, so wurden es auch ihre Redewendungen, und sie sagte dann: „I da muß ja eine alte Wand wackeln,“ oder: „Das ist ja gleich, um einen Puckel zu kriegen.“ Ihr Schönstes waren Landpartieen einschließlich gesellschaftlicher Spiele wie Zeck oder Plumpsack, dazu saure Milch mit Schwarzbrot und Heimfahrt mit Stocklaternen und Gesang: „Ein freies Leben führen wir“, „Frisch auf, Kameraden“, „Lützow’s wilde verwegene Jagd“ und „Steh’ ich in finstrer Mitternacht“. In Folge welcher ausgesprochenen Vorliebe sie sich in den Kopf gesetzt hatte, nur aufs Land hinaus heirathen zu wollen. Und darüber war sie 30 Jahr alt geworden, alles bloß aus Eigensinn und Widerspenstigkeit. Ihren Namen „Editha“ aber hatte die Mutter in Dittchen abgekürzt.
So die Bekanntschaft, die Hradscheck während seines letzten Berliner Aufenthaltes gemacht hatte. Mit Editha selbst war er so gut wie einig und nur die Eltern hatten noch kleine Bedenken. Aber was bedeutete das? Der Vater war ohnehin daran gewöhnt nicht gefragt zu werden, und die Mutter, die nur wegen der neun Meilen Entfernung noch einigermaßen schwankte, wäre keine richtige Mutter gewesen, wenn sie nicht schließlich auch hätte Schwiegermutter sein wollen.
Also Hradscheck war in bester Stimmung, und ein Ausdruck derselben war es, daß er diesmal mit einem besonders großen Vorrath von Berliner Witzlitteratur nach Tschechin zurückkehrte, darunter eine komische Romanze, die letzten Sonntag erst vom Hofschauspieler Rüthling im Koncertsaale des königlichen Schauspielhauses vorgetragen worden war und zwar in einer Matinée, der, neben der ganzen haute volée von Berlin, auch Hradscheck und Editha beigewohnt hatten. Diese Romanze behandelte die berühmte Geschichte vom Eckensteher, der einen armen Apothekerlehrling, „weil das Räucherkerzchen partout nicht stehn wolle“, Schlag Mitternacht aus dem Schlaf klingelte, welche Geschichte damals nicht bloß die ganze vornehme Welt, sondern besonders auch unsern auf alle Berliner Witze ganz wie versessenen Hradscheck derart hingenommen hatte, daß er die Zeit, sie seinem Tschechiner Convivium vorzulesen, kaum erwarten konnte. Nun aber war es so weit, und er feierte Triumphe, die fast noch größer waren, als er zu hoffen gewagt hatte. Kunicke brüllte vor Lachen und bot den dreifachen Preis, wenn ihm Hradscheck das Büchelchen ablassen wolle. „Das müss’ er seiner Frau vorlesen, wenn er nach Hause komme, diese Nacht noch; so was sei noch gar nicht dagewesen.“ Und dann sagte Schulze Woytasch: „Ja, die Berliner! Ich weiß nicht! Und wenn mir einer tausend Thaler gäbe, so was könnt’ ich nich machen. Es sind doch verflixte Kerls.“
Die „Romanze vom Eckensteher“ indeß, so glänzend ihr Vortrag abgelaufen war, war doch nur Vorspiel und Plänkelei gewesen, darin Hradscheck sein bestes Pulver noch nicht verschossen hatte. Sein Bestes, oder doch das, was er persönlich dafür hielt, kam erst nach und war die Geschichte von einem der politischen Polizei zugetheilten Gendarmen, der einen unter Verdacht des Hochverraths stehenden und in der Kurstraße wohnenden badischen Studenten Namens Haitzinger ausfindig machen sollte, was ihm auch gelang und einige Zeit danach zu der amtlichen Meldung führte, daß er den pp. Haitzinger, der übrigens Blümchen heiße, gefunden habe, trotzdem derselbe nicht in der Kurstraße, sondern auf dem Spittelmarkt wohnhaft und nicht badischer Student, sondern ein sächsischer Leineweber sei. „Und nun, Ihr Herren und Freunde,“ schloß Hradscheck seine Geschichte, „dieser ausbündig gescheite Gendarm, wie hieß er? Natürlich Geelhaar, nicht wahr? Aber nein, Ihr Herren, fehlgeschossen, er hieß bloß Müller II. Ich habe mich genau danach erkundigt, sonst hätt’ ich bis an mein Lebensende geschworen, daß er Geelhaar geheißen haben müsse.“
Kunicke schüttelte sich und wollte von keinem andern Namen als Geelhaar wissen, und als man sich endlich ausgetobt und ausgejubelt hatte (nur Woytasch, als Dorfobrigkeit, sah etwas mißbilligend drein), sagte Quaas: „Kinder, so was haben wir nicht
[648][649] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [650] alle Tage, denn Hradscheck kommt nicht alle Tage von Berlin. Ich denke deßhalb, wir machen noch eine Bowle: drei Mosel, eine Rheinwein, eine Burgunder. Und nicht zu süß. Sonst haben wir morgen Kopfweh. Es ist erst halb zwölf, fehlen noch fünf Minuten. Und wenn wir uns ’ran halten, machen wir um Mitternacht die Nagelprobe.“
„Bravo!“ stimmte man ein. „Aber nicht zu früh; Mitternacht ist zu früh.“
Und Hradscheck erhob sich, um Ede, der verschlafen im Laden auf einem vorgezogenen Zuckerkasten saß, in den Keller zu schicken und die fünf Flaschen herauf holen zu lassen. „Und paß auf, Ede; der Burgunder liegt durcheinander, rother und weißer, der mit dem grünen Lack ist es.“
Ede rieb sich den Schlaf aus den Augen, nahm Licht und Korb und hob die Fallthür auf, die zwischen den übereinander gepackten Oelfässern, an der einzig frei gebliebenen Stelle, vom Flur her in den Keller führte.
Nach ein paar Minuten war er wieder oben und klopfte vom Laden her an die Thür, zum Zeichen daß alles da sei.
„Gleich,“ rief der wie gewöhnlich mitten in einem Vortrage steckende Hradscheck, „gleich“, und trat erst, als er seinen Satz beendet hatte, von der Weinstube her in den Laden. Hier schob er sich eine schon vorher aus der Küche heranbeorderte Terrine bequem zurecht und griff nach dem Korkzieher, um die Flaschen aufzuziehn. Als er aber den Burgunder in die Hand nahm, gab er dem Jungen, halb ärgerlich halb gutmüthig, einen Tipp auf die Schulter und sagte: „Bist ein Döskopp, Ede. Mit grünem Lack, hab ich Dir gesagt. Und das ist gelber. Geh und hol’ ne richtige Flasche. Wer’s nich im Kopp hat, muß es in den Beinen haben.“
Ede rührte sich nicht.
„Nun, Junge, wird es? Mach flink.“
„Ick geih nich.“
„Du gehst nich? warum nich?“
„Et spökt.“
„Wo?“
„Unnen … Unnen in’n Keller.“
„Junge, bist Du verrückt? Ich glaube, Dir steckt schon der Mitternachtsgrusel im Leibe. Rufe Jakob. Oder nein, der is schon zu Bett; rufe Male, die soll kommen und Dich beschämen. Aber laß nur.“
Und dabei ging er selber bis an die Küchenthür und rief hinaus: „Male.“
Die Gerufene kam.
„Geh in den Keller, Male.“
„Nei, Herr Hradscheck, ick geih nich.“
„Auch Du nich. Warum nich?“
„Et spökt.“
„Ins Dreideibels Namen, was soll der Unsinn?“
Und er versuchte zu lachen. Aber er hielt sich dabei nur mit Müh’ auf den Beinen, denn ihn schwindelte. Zu gleicher Zeit empfand er deutlich, daß er kein Zeichen von Schwäche geben dürfe, vielmehr umgekehrt bemüht sein müsse, die Weigerung der Beiden ins Komische zu ziehn, und so riß er denn die Thür zur Weinstube weit auf und rief hinein: „Eine Neuigkeit, Kunicke …“
„Nu, was giebt’s?“
„Unten spukt es. Ede will nicht mehr in den Keller und Male natürlich auch nicht. Es sieht schlecht aus mit unsrer Bowle. Wer kommt mit? Wenn zwei kommen, spukt es nicht mehr.“
„Wir alle,“ schrie Kunicke. „Wir alle. Das giebt einen Hauptspaß. Aber Ede muß auch mit.“
Und bei diesen Worten eines der zur Hand stehenden Lichter nehmend, zogen sie mit Ausnahme von Woytasch, dem das Ganze mißhagte, brabbelnd und plärrend und in einer Art Procession, als ob einer begraben würde, von der Weinstube her durch Laden und Flur und stiegen langsam und immer einer nach dem andern, die Stufen der Kellertreppe hinunter.
„Alle Wetter, is das ein Loch!“ sagte Quaas, als er sich unten umkuckte. „Hier kann einem ja gruslig werden. Nimm nur gleich ein paar mehr mit, Hradscheck. Das hilft. Je mehr Fidelité, je weniger Spuk.“
Und bei solchem Gespräch, in das Hradscheck einstimmte, packten sie den Korb voll und stiegen die Kellertreppe wieder hinauf. Oben aber warf Kunicke, der schon stark angeheitert war, die schwere Fallthür zu, daß es durch das ganze Haus hin dröhnte.
„So, nu sitzt er drin.“
„Wer?“
„Na wer! Der Spuk.“
Alles lachte; das Trinken ging weiter, und Mitternacht war lange vorüber, als man sich trennte.
(Schluß folgt.)
Eine verlassene Wüstenstadt.
Wem es vergönnt gewesen, fern von der vielbefahrenen Wasserstraße des Nils einen Einblick in die menschenleere Felswüste und in die starren Gebirgswildnisse zu gewinnen, welche sich auf der Ostseite Aegyptens bis an das Rothe Meer erstrecken, den wird die Seltenheit von Bauresten, Inschriften und anderen daselbst erwarteten Ueberbleibseln aus der alten Kulturwelt überraschen. Nur in dem Wüstenstriche, der in gerader Linie zwischen Theben und der nächsten Meeresküste gelegen ist, nur auf dem wahrscheinlich ältesten Wege, der Aegypten mit der Außenwelt in Verbindung setzte und auf welchem auch die erste Einwanderung in das Nilthal geschah, begegnen wir noch heutigen Tages Zeugen jener großartigen Thatkraft, die an der Ueberwindung von Naturhindernissen ihre Freude hatte.
Auf diesem alten Wege, der heutigen Qeneh-Qosseir-Straße, gelangt man, halbwegs zwischen Nil und Rothem Meere, in das Thal von Hamamat, wo zahlreiche Inschriften aus verschiedenen Epochen von den Thaten der alten Könige berichten. Hier waren die Steinbrüche in Betrieb, die bereits unter der elften Dynastie die Tempel des Nordens mit jenem schwarzen, bunten und feinkörnigen Porphyrgestein versahen, aus welchem Statuen, Sarkophage und andere Bildwerke gehauen wurden, die sich unter den alten Trümmern an allen Tempelstätten vorfinden.
Die alten Aegypter müssen vor der Wüste eine Art heiliger Scheu empfunden haben, dieselbe galt ihnen als das Reich des Todes. Noch heute verrathen die Nilthalbewohner eine eigenthümliche Furcht vor den Schrecken jener Einsamkeit und Menschenleere, welche ihre Einbildungskraft zum Sitze aller bösen Geister gestaltet. Die Beduinen spotten häufig über diese Furchtsamkeit der Aegypter. Gespenstergeschichten in unserem Sinne sind zwar den Letzteren fremd, ihnen graut keineswegs vor Gräbern und dunklen Gewölben, aber um keinen Preis wäre Mancher von ihnen zu bewegen, allein die Nacht in einer Felshöhle der Wüste zu verbringen. Die übertriebene Bewunderung und Verehrung, welche man im 4. und 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung den Anachoreten, jenen frommen Männern zollte, die, abgeschieden von aller Welt, in entlegenen Wüstenthälern und, wie man glaubte, unter beständigem Kampfe mit allen Anfechtungen der Dämonenwelt ihr Dasein verbrachten, finden in diesen Vorstellungen der Aegypter ihre Erklärung.
In ähnlicher Weise läßt sich auch die Frage beantworten, weßhalb die alten Aegypter nicht wenigstens direkte Wege von verschiedenen Punkten des Nils zum völkerverbindenden Meere erschlossen. Die dazu erforderlichen Brunnenanlagen, Fangdämme und ähnliche Wasserbauten hätten einen geeigneten Gegenstand für ihre Thatkraft abgeben können. Das geschah aber erst später unter den Ptolemäern bei zunehmender Handelsbewegung auf dem Rothen Meere. Als dann die Römer Herren des Landes geworden waren, begann in allen Richtungen eine Erforschung der [651] Wüste nach Metall- und Mineralschätzen. Neue Gesteinsarten gelangten in der Bildhauerei zur Verwendung; Marmor, Granit und der Schwarze Stein von Aegypten genügten nicht mehr; die wechselnde Geschmacksrichtung der Verfallszeit führte allerlei Versuche mit vielfarbigem Material herbei, und man war bemüht, mittelmäßigen Kunstgegenständen durch Kostbarkeit und Seltenheit der Masse Dasjenige zu ersetzen, was ihnen an wahrem Kunstwerth abging. Um etwas noch nie Dagewesenes und bei seiner schwierigen Beschaffung nur der Allgewalt des römischen Weltherrschers Zugängliches aufzustellen, kam seit Kaiser Claudius der echte rothe Porphyr in Aufnahme, der nur an einem Berge der östlichen Thebaide, tief in der Wüste und über 140 Kilometer in der Luftlinie vom Nil bei Qeneh entfernt, zu haben war. Zu dem Ende wurde am Porphyrberge, dem heutigen Gebel el Duchan, eine große Niederlassung gegründet, wo Tausende von Sklaven, wahrscheinlich Sträflinge oder Staatsgefangene, in den Steinbrüchen gewaltige Blöcke abzusprengen und von den unzugänglichsten Höhen herab nach dem Thale zu schaffen hatten. Auf einer mit Stationshäusern und Brunnenanlagen besetzten Straße wurden alsdann die, wie viele noch heute in den Kirchen und Museen Italiens prangende Schaustücke bezeugen, oft Tausende von Centnern schweren Massen vermittelst Rollen und Karren durch Ochsen fortbewegt, bis sie in der Nähe des heutigen Qeneh den Nil erreicht hatten.
Eine ähnliche Steinbruchsniederlassung wie am Porphyrites, nur in einem noch größeren Maßstabe und allein zur Gewinnung großer Granitblöcke angelegt, unterhielten die Kaiser Trajan und Hadrian am Mons Claudianus, dem heutigen Gebel Fatireh. Die direkte Entfernung desselben zur nächsten Stelle am Nil bei der heutigen Provinzialhauptstadt Qeneh beträgt 120 Kilometer, und der Weg bis dahin führt ohne jede Terrainschwierigkeit auf der ebenen Thalsohle des gleichnamigen Uadis, dessen flache und breite Rinnsale sich späterhin mit denen des großen Uadi Qeneh vereinigen, so daß die beiden alten Steinbruchstraßen vom Porphyrites und Claudianus auf der letzten Strecke zusammenfallen.
Den Porphyrberg habe ich auf meinen zahlreichen Streifzügen durch die ostägyptische Wüste wiederholt besucht, an den Mons Claudianus aber gelangte ich im vergangenen Winter zum ersten Male, und zwar war ich der dritte Besucher, der von seinem Dortsein Kunde gegeben hat. Zweiundsechszig Jahre sind es her, daß Wilkinson, der hochverdiente Erforscher der ägyptischen Kulturgeschichte, diesen Platz entdeckte und auf einer lateinischen Inschrift seinen alten Namen las. Die einzige Beschreibung, die wir bisher besaßen, rührt von ihm her; denn Lepsius, der im Jahre 1845 auf seinem Wege zum Porphyrberge hier durchkam, hat in seinen geistvollen Reisebriefen dieses Besuches keine Erwähnung gethan. Der unvergeßliche Altmeister der deutschen Aegyptologen hat am Berge des Claudius nicht einmal übernachtet, so wird er wohl nur flüchtig die alten Ruinen durchwandert haben. Auch Beduinen kommen nur sehr selten und vereinzelt, wenn sie ihre weidenden Kamele aufsuchen, in diese abgelegenen Thäler.
Das Gestein des Gebel Fatireh ist ausschließlich Granit. Von den nackten, wildzerklüfteten Höhen herab schimmert hier der Felsen, bei der jener Wüste eigenen Lichtfülle, in allen Farbenstufen vom zarten Aschgrau bis zum alpenglühenden Roth. Bräunliche Felsengänge durchsetzen denselben mit breiten Bändern und vermehren die Farbenpracht dieser nackten, zum Ersatz für den fehlenden Pflanzenschmuck in einer gewissermaßen mineralogischen Schönheit prangenden Gebirge. Es ist ein weiß und schwarz gesprenkelter glimmerreicher Granit, den die Römer hier aufgesucht und bearbeitet haben, von ziemlich lockerem Gefüge, so daß man mit einem Hammerschlage große Scherben abzusprengen vermag. Der Granit von Como, wo man riesige Säulen mit kaum größerer Mühe zuhauen sieht, als es anderwärts mit Holzbalken geschieht, schien mir dem vom Berge des Claudius sehr ähnlich zu sein.
Welchen Zweck konnte es haben, so muß man sich fragen, in dieser entlegenen Wüstenei Tausende von Menschen und Thieren in Bewegung zu setzen, um ein Gestein auszubeuten, das keine besonderen Vorzüge besaß und das sich ebenso gut vor den Thoren von Syene, hart am Nil erlangen ließ? Der zur Fortschaffung der Porphyrmassen beanspruchte Kraftaufwand wird in Anbetracht der Schönheit des Materials und der Einzigkeit seines Vorkommens erklärlich. Wozu aber die Mühewaltung mit dem weit verbreiteten weißen Granit, dessen Blöcke 120 Kilometer weit über Land fortzuschaffen waren?
Der eigentliche Zweck, den diese großartigen Anlagen in der Wüste verfolgt haben können, läßt sich nur unter der Annahme begründen, daß die Präfekten Aegyptens große Scharen von Staatsgefangenen, die sich nach Niederwerfung der häufigen Aufstände in Syrien, in Alexandrien und anderwärts anhäuften, zu beschäftigen hatten und daß der gefährlichere Theil derselben, in den unzugänglichsten Wüsten mit Herbeischaffung von Materialen zu allen möglichen und unmöglichen Bauten betraut, auf solche Art unschädlich gemacht wurde. Die zahlreichen Wächterhäuschen, die auf jedem vorspringenden Punkte und auf jeder Hügelspitze im Umkreise der Steinbrüche zu sehen sind, ebenso die feste Beschaffenheit des Kastells sprechen deutlich von der Sorgfalt, welche die kaiserlichen Befehlshaber auf die Ueberwachung der ihnen anvertrauten gefährlichen Menge zu verwenden hatten. Das Kastell selbst bildet ein nach den vier Himmelsgegenden gerichtetes regelmäßiges Viereck, mißt 70 Meter auf jeder Seite und hat an den Ecken und an den Seiten im Ganzen acht Thürme, die theils halbkreisförmig, theils vierkantig vorspringen. Nur ein Thor führt von der Ostseite ins Innere und ist durch vorspringende Thürme und Mauern eigens geschützt.
Ich vermuthe, daß wohl nirgends in der Welt eine römische Niederlassung in so hohem Grade wohlerhalten auf die Nachwelt gekommen ist, wie die am Mons Claudianus. In Aegypten giebt es noch zahlreiche Burgen dieser Art, deren Mauern stehen geblieben[WS 1] sind, wie beispielsweise bei Abydos, bei Eleuthia, bei Kom-el-ahmar zwischen Esneh und Edfu, in der großen Oase etc., aber nirgends ist uns ein derartiger Einblick in die Einzelheiten der inneren Einrichtung geboten, wie hier. Wäre Pompeji in dieser Verfassung ans Tageslicht gelangt, so hätte man nicht nöthig auf spekulativem Wege Modelle von römischen Wohnhäusern zusammenzusetzen, denn die letzteren würden in Substanz vorliegen. Leider aber waren die Behausungen in einer abgeschiedenen Wüstenfestung höchst ursprünglicher Art und jedes Schmuckes bar, so daß hier wenig zum Verständniß der häuslichen Einrichtungen dargeboten erscheint. Zwar gewahrt man neben gefängnißartigen dunkelen Zellenlöchern geräumige Stuben, in denen zugehauene Säulen die Steinbalkenlagen des Daches tragen, steinerne Wasserbecken und Wannen, Fußgestelle zu Leuchtern, Hausaltäre und dergleichen umherliegen, das waren die Wohnungen der Vornehmen, der militärischen Hauptleute, der Ingenieure und Werkführer bei den Sprengungen („Philosophen“ genannt), der Steinmetzen von Beruf, aber alles ist hier von Stein, rohbehauene Granitplatten und -Balken sind als Thür- und Fenstereinfassung, als Sitze, als Gestelle zusammengethan, Bewurf und eigentliches Mauerwerk findet sich nur an den wenigen Luxusbauten, die sich außerhalb des Kastells vorfinden, nämlich am Tempel, am Wohnhause des Befehlshabers und am Bade. Diese sind der fanatischen Zerstörungswuth der späteren Besucher nicht entgangen und befinden sich daher in ähnlichem Zustande wie derartige Ruinen in anderen Gegenden Aegyptens.
Betritt man durch den hohen mit gewaltigen Granitbalken überdeckten Thoreingang das Innere des Kastells, so öffnet sich eine enge Hauptstraße, auf welche zu beiden Seiten je drei noch schmälere Parallelgassen folgen. Ein großer Theil der Mauern ist eingestürzt, wo die als Mörtel verwandte Lehmmasse durch gelegentliche Regengüsse längst weggespült wurde und in Folge davon die Bruchsteine ihren Halt verloren. Zahlreiche Häuser sind jedoch unverändert und besitzen noch ihre aus umfangreichen Platten und langen Balken von Granit gebildeten Decken. Sie waren heute noch wohlbewohnbar. Angehäufter Ziegenmist beweist in der That, daß vorübergehend hier Beduinen ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben. Freie Plätze giebt es im Innern des Kastells nicht, eine Wohnung lehnt sich dicht an die andere, und wahrscheinlich waren selbst die Gassen dazwischen zum Schutze gegen die Sonne überdeckt.
Vor dem Thore stößt an die Mauern des Kastells zunächst eine große Amtsstube mit an den Wänden umherlaufenden Steinbänken, nicht unähnlich einem heutigen „Diwan“ (Amtsstube). Dann folgen zwei von Mauern eingeschlossene vierkantige Räume, die je 20 Meter breit und 50 Meter lang mit der Längsseite auf einander stoßen und neben dem Kastell gegen die Thalmitte zu Front machen.
[652] Der nördliche Raum hat im Inneren zwei lange Reihen Steinbänke, es waren die Futtertröge für das Zugvieh, der südliche Raum enthält in fünf Reihen aufgestellte aus Bruchsteinen geschichtete Pfeiler, welche offenbar ein aus Stroh und Palmblättern gebildetes Schattendach trugen. Hier wurden die Zugthiere untergebracht, von denen zwischen den Steinpfeilern der Decke je eine Reihe Platz fand. Es war hier Raum für 250 Ochsen vorhanden. Kamele bedurften keiner Stallungen, und die Kornspeicher pflegen in Aegypten aus einfachen Mauereinfriedigungen zu bestehen, innerhalb welcher das Getreide zu hohen Haufen aufgeworfen wird.
Am Ostende des Viehhofs gewahrt man eine tiefe Grube ohne Mauerreste, die wahrscheinlich zur Aufnahme des bei gelegentlichen Regengüssen auf der Thalsohle zusammenfließenden Wassers diente. Die eigentliche Wasserstation lag in einer südlichen Seitenschlucht, ein Kilometer vom Kastell entfernt, in höherer Lage, so daß eine Röhrenleitung wohl zu diesem herunterführen konnte.
Alle diese Wasserwerke vermochten indeß für die Bedürfnisse einer so großen Niederlassung, in welcher sich die Vornehmen noch obendrein den Luxus von Bädern gestatten konnten, allein nicht auszureichen. Jedenfalls waren beständig Hunderte von Kamelen auf den Beinen, die Tagereisen weit, vom Nil oder von den natürlichen Cisternen der Gebirge das Wasser in größeren Mengen herbeitrugen.
Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges bietet der Tempel, welcher auf einer Felsanhöhe dicht unter dem Fuße der nördlichen Thalwand errichtet war. Von der Nordwestecke des Kastells führt an dem Wohnhause des Befehlshabers vorbei eine breite Rampe hinauf, die in eine Treppe mit 20 Stufen ausläuft. Letztere führt zu einer Plattform, auf der die Trümmer eines Altarsteins liegen, dessen Inschrift besagt, daß der Präfekt (Eparch) Sulpicius Simius ihn im 12. Jahre des Trajan (110 n. Chr.) errichten ließ.[1] Auf der Plattform folgt eine unvollendete Vorhalle. Der vollendete Theil des Tempelbaues besteht aus einem zweikammerigen festen Mauerwerk mit eigenthümlichen Nischen, Thür- und Fensteröffnungen.
Obgleich die baulichen Einrichtungen dieser Niederlassung auf einen weit größeren Maßstab im Betriebe der Arbeiten schließen lassen, als es am Porphyrberge der Fall war, so scheint doch die Annahme gerechtfertigt, daß die Werke am Mons Claudianus nur während der Regierung der genannten zwei Kaiser in Thätigkeit waren und dann für immer liegen gelassen worden sind. Der Porphyrites zeigt ein weit entwickeltes Netz von geebneten Wegen und aufgemauerten Rampen, die zur Fortschaffung der Blöcke an allen Berggehängen in Zickzackwindungen ansteigen. Man scheint am Berge des Claudius hauptsächlich große Säulenschäfte und Kapitäle gebrochen zu haben. Die größten Stücke derselben finden sich theils dicht am Kastell, theils auf den Höhen in Nordost von demselben, wohin eine breite Rampe mit an den Abgründen hochaufgemauerter Grundlage hinaufführt.
In einem kleinen Nebenthal, das unterhalb der Niederlassung von Osten her aus den Bergen herabsteigt, liegen auf einer in der Thalsohle errichteten Rampe vier Säulen von sechs bis neun Meter Länge aufgestapelt, gleichsam zum Aufladen auf Karren bereit. Der massigste Monolith, den diese Steinbrüche noch aufzuweisen haben, ist eine Säule von 18 Meter Länge und 2,6 Meter Durchmesser. Sie liegt geborsten am Ursprunge des soeben erwähnten Säulenthals. Auf jeder Seite sieht man an der roh zugehauenen Masse eine wulstartige Anschwellung, entsprechend den Zapfen an den Seiten einer Kanone. In diesem Wulst sind zwei tiefe Löcher angebracht, zur Aufnahme der bei der Fortschaffung in Anwendung kommenden Klammern. Durch eine derartige Einrichtung wurde die Masse des Säulenschafts vor Verletzung geschont. Zu demselben Zwecke waren alle Säulen mit einem verdickten Ende versehen. Zu welchem Tempelbau diese Säulen bestimmt waren, ist unbekannt, jedenfalls handelte es sich um ein Werk erster Größe. Wie in den Granitsteinbrüchen am Felsberg und bei Assuan wurden auch hier vorzüglich isolirte Blöcke in Angriff genommen, da diese mehr Gewähr gegen die Gefahr unerwarteter Risse boten. Das Absprengen geschah durch lange Reihen ausgemeißelter Löcher, in welche Holzkeile von 11 Centimeter Länge und 7 Centimeter Dicke trocken eingetrieben wurden, um später befeuchtet zu werden. Ueberall, wo die langen Zickzacklinien der Keillöcherreihen die mühsame Arbeit der Steinmetzen verrathen, liegen Kohlenreste und Eisenschlacken umher. Hier wurden die Meißel und Steinhauerwerkzeuge umgeschmiedet, geschärft und gehärtet. Die großen Rohblöcke (schlechtweg „marmor“ genannt), die bereits freigelegt waren, wurden zur leichteren Fortbewegung zunächst auf Füße von kleinen Steinen gesetzt. Dann wurden sie mit fortlaufenden römischen Nummern und der Chiffre des Werkführers (Philosophen) versehen, z. B. P D XLVI. Einem Jeden war wahrscheinlich eine bestimmte Zahl fertigzustellender Blöcke zugewiesen, vielleicht auch entsprach eine gewisse Zahl dem abzubüßenden Strafmaße des Staatsgefangenen.
Die zu den Steinbrüchen hinaufführenden Rampen und Wege waren, meist in Abständen von acht bis zehn Meter auf beiden Seiten, mit zwei Meter hohen kompakten Steinhaufen von halbtonnenförmiger Gestalt besetzt. In Ermangelung von Felsen mußten diese Steinhaufen als Stützpunkte zur Befestigung der Flaschenzüge, Krähne und anderer „ingenia artis“ dienen, wenn die abgesprengten Massen thalwärts fortbewegt wurden. Diese Einrichtung hat sich in anderen Steinbrüchen aus der Römerzeit bisher nicht nachweisen lassen.
Der Leser wird aus der Beschreibung des römischen Kastells mit dem Tempel dahinter, zur Linken auf unserm Bilde, den Viehhof erkennen. Der höchste Berg auf der rechten Seite ist der gegen 2000 Meter Meereshöhe erreichende Gebel Fatireh. Zum Verständniß des Lesers habe ich auch mit Fleiß eine Steinbruchstraße, besetzt mit den halbtonnennförmigen Steinhaufen, der großen Säule von 18 Meter Länge und einem auf Füße gestellten Rohblock, in den Vordergrund der linken Seite gebracht, während in Wirklichkeit diese Gegenstände auf die gegenüberliegende Thalwand im Nordwesten vom Kastell hingehören.
Die beigegebene Ansicht ist von einem auf der Südseite der römischen Niederlassung gelegenen Standorte, am Abhange der das Thal um 100 bis 200 Meter überragenden Hügel aufgenommen. Dem Auge des Beschauers bietet sich hier ein für die Granitregion der östlichen Wüste sehr charakteristisches Bergpanorama dar. Einem erstarrten Strome gleich zieht sich zu seinen Füßen die macadamartig ebene Thalsohle mit ihrem feinen hellleuchtenden Gerölle im Bogen durch die bald in Gestalt breiter Kegel und Kuppen, bald als dachförmige Rücken auftretenden Vorhügel hin; im Hintergrunde sieht man die Einmündungsstelle in das Hauptthal. Obgleich hier und dort durch eigenthümlich gestaltete höhere Einzelberge unterbrochen, verschmelzen doch alle die Vorhügel, wenn man von den Hauptbergen auf sie herabzublicken Gelegenheit findet, in ein endloses Gewirre, zu einem förmlichen Hügelbrei, und die Erdoberfläche erscheint wie eine Reliefkarte mit ihren zahllos verzweigten Thalsenkungen, Runzeln und Furchen. Dieses Gewirre weit überragend starren in stolzem Aufbau aus Tausenden und abertausenden von Zacken und Kegeln gebildet die großen Massen des Centralstocks in die Lüfte, es sind die Wirbelglieder des eigentlichen Gebirgsrückgrats. Wie aus dem Häusermeer einer großen Stadt die gothischen Dome, so überragen hier diese Götterburgen die kleineren Schöpfungen der Geotechnik, die menschlichen Verhältnissen näher liegen. Unsere europäische Gebirge bieten nur selten Beispiele einer derartig ausgeprägten Gebirgsaristokratie.
Alles strahlt hier wider und glüht in der Lichtfülle der ägyptischen Sonne. Die in einander geschobenen mannigfaltigen Bergumrisse, die mit ihren lang ausgezogenen Linien bei uns in Europa sich durch ebenso viele Farbentöne perspektivisch gliedern und sich in blauen und violetten Abstufungen von einander abheben würden, flimmern hier in einem unbestimmten Gemenge, nur die auffälligsten Gestalten, einige spitze Kegel und Zacken, selten einmal ein beschatteter Steilabsturz, unterbrechen diese Einförmigkeit, und Kontouren, die durch kilometerweite Abstände von einander geschieden sind, fließen in eins zusammen, als gehörten sie zu ein und derselben Bergwand. Ganz anders freilich gestaltet sich das Bild, sobald während der Wintermonate Wolken den Himmel überziehen; da treten plötzlich Tausende bisher versteckter Gestalten hervor und schwanken unstät im beständigen Wechsel der Schatten durch das kaleidoskopartig wogende Hügelmeer.
- ↑ Die zum Architrav bestimmt gewesenen Steinbalken, die Wilkinson beschreibt, habe ich nicht auffinden können. Die darauf befindliche Inschrift soll sich auf das zweite Regierungsjahr des Hadrian (119 n. Chr.) bezogen haben.
[653]
Andreas Achenbach.
Als einer der leuchtendsten Sterne strahlt dieser Name am Himmel der Kunst, und nur wenige Zeitgenossen werden sich finden, welche einer so allseitigen Anerkennung und Verehrung nicht nur im deutschen Vaterlande, sondern weit über dessen Grenzen hinaus, im großen, die ganze civilisirte Welt umfassenden Vaterlande der Kunst sich zu erfreuen hätten.
Kein Wunder also, daß in den weitesten Kreisen der Wunsch rege wurde, den 29. September 1885, den siebzigsten Geburtstag Andreas Achenbach’s, als sein fünfzigjähriges Malerjubiläum zu einem allgemeinen frohen Festtage zu gestalten, um dem verehrten Künstler die begeisterte Anerkennung seiner hohen Verdienste feierlich zu bethätigen.
Die Stadt Düsseldorf wollte sich das Vorrecht nicht nehmen lassen, ihrem großen Mitbürger, mit dem sie die längsten, die treuesten Beziehungen gepflogen, auch vor allen ihre Huldigung darzubringen. Sie beschloß, Andreas Achenbach in die Reihe ihrer Ehrenbürger aufzunehmen und ihm die Urkunde dieser Auszeichnung am Jubiläumstage feierlich zu überreichen. In wetteiferndem Bestreben trat aber gleichzeitig der Künstlerverein „Malkasten“ auf mit der ebenso vollgültigen Berechtigung, sein berühmtestes Mitglied nach Gebühr zu feiern. Die Inscenirung eines würdig schönen Festes lag also in guten Händen.
Als Kernpunkt desselben wurde von vornherein eine große Achenbach-Ausstellung in der Kunsthalle ins Auge gefaßt und mit allem Eifer ins Werk gesetzt. Betrachten wir diese Ausstellung, welche ein ebennso treues als überraschendes Bild von dem wunderbaren Entwicklungsgang und der eminenten Vielseitigkeit des Meisters giebt.
Da sehen wir zunächst „sein erstes Bild“ – als solches wenigstens vielfach bezeichnet – „Die alte Münze in Düsseldorf“. Der junge Andreas hat allerdings schon manches Bild vor diesem gemalt, und das wirklich erste mag schwerlich zu ermitteln sein, da das „Wunderkind“ schon in den frühesten Jahren in der Malerei Aufsehen erregende Versuche gemacht hat. (Ueber diese Jugendzeit ebenso wie über die spätere Entwicklung Achenbach’s giebt der ausgezeichnete mit dem Portrait des Jubilars geschmückte Artikel von Fr. Pecht („Gartenlaube“ Nr. 23, 1882) sehr interessante Aufschlüsse, denen nur wenig hinzuzufügen ist.)
Den staunenswerthen unermüdlichen Fleiß, welchen schon der Knabe im Zeichnen alles dessen, was ihn umgab, entwickelte, wissen noch jetzt seine Studiengenossen und näheren Bekannten nicht genug zu rühmen. Selbst während des Essens hatte er oft ein Blatt Papier neben sich liegen, und was auf dem Tische stand, wurde mit lebhafter Auffassung und schnellem Stift abkonterfeit. Als er nun mit 10 Jahren auf die Kunst-Akademie kam und hier vor lauter Beschäftigung mit der frischen Natur dem „langweiligen Gipszeichnen“ keinen Geschmack abgewinnen konnnte, malte er bald auf eigene Faust allerhand Landschaften, auf Leinewand oder Brettchen hingeworfene Skizzen; diese wurden flottweg „verklopft“ oder verloost und dann im Kreise fideler Genossen auch ebenso flott vertrunken, auf dem „Stockkämpchen“ in solennem Kaffee, wie es damals unter seinen Kameraden üblich war, und erhielten daher den Namen „Kaffeebildchen“. Diese gutherzige Freigebigkeit, aus dem Füllhorn seiner reichen Gaben die karger Bedachten ohne Bedenken mit genießen zu lassen, ist auch charakteristisch geblieben für den gereiften Mann.
Um nun aber wieder auf „Die alte Münze in Düsseldorf“ zurückzukommen, so kann dieselbe trotzdem Andreas Achenbach’s „erstes Bild“ in so fern genannt werden, als es das erste war, welches der damals siebzehnjährige Maler an den Kunstverein verkaufte. Dasselbe ist von einem Fenster seiner elterlichen Wohnnung aufgenommen und bekundet in seiner naiven, aber überzeugenden Lebenswahrheit den künftigen großen Realisten. Namentlich in der Auffassung des zur Darstellung gelangten bunten Straßenlebens birgt das Bild eine solche Fülle des Interessanten und Bedeutenden, daß es wohl verdient, als ein Grundstein der Entwicklung des Meisters betrachtet zu werden.
Und was dieses Erstlingswerk versprach. wie überaus glänzend ist es von dem hochstrebenden Genius erfüllt worden, den es in stolzem Selbstgefühl unermüdlich treibt, seiner Schaffenskraft stets die höchsten Aufgaben zu stellen! Die mehr als achtzig Nummern der Ausstellung, eine köstlicher als die andere, legen dafür das beredtste Zeugniß ab: die strenge Erhabenheit der norwegischen Bergesriesen, die ungebändigte Urkraft brausender Wasserfälle. die bestrickende Anmuth des italienischen Himmels, das farbensatte Getümmel der holländischen Handelsstädte, die stille Poesie des deutschen Waldes, die schaumgekrönte Schönheit des sturmdurchtobten Meeres – wo gäbe es größere Kontraste in der Stimmung der Natur, wo höhere wechselreichere Aufgaben für den nachbildenden Künstler, und wo wären sie mit so grandioser Meisterschaft gelöst wie von dem Einzigen – Andreas Achenbach!
Ja, welch eine übersprudelnde Fruchtbarkeit, welch eine Vielseitigkeit echt künstlerischer Gestaltungskraft bietet uns schon der Anblick dieser Ausstellung, und doch repräsentirt dieselbe nur einen ganz geringen Theil von der gesammten rastlosen Thätigkeit Achenbach’s! Wie manche seiner genialen Leistungen haben überhaupt nie eine Ausstellung gesehen und sind darum weniger bekannt – so seine Wandmalereien, viele seiner Studien, Aquarelle und Zeichnungen, seine Radirungen und Portraits, dann seine Dekorationen für festliche Aufführungen, seine ergötzlichen Karikaturen, seine Entwürfe zu Möbeln und dergl., seine Kompositionen für Thürfüllungen und Schränke etc. etc.
Ein paar vorzügliche Proben seiner Wandmalerei birgt ein Gut in der Nähe Düsseldorfs (im Tannenwäldchen), zwei Motive aus der römischen Campagna von entzückend großartiger Konception. Diese Bilder malte Achenbach im Juli des Jahres 1847 während eines Besuches als Bräutigam in der kurzen Zeit von zehn Tagen, leider werden diese kostbaren Kunstwerke zu wenig vor den schädlichen Witterungseinflüssen geschützt. Das „Schiff im Sturm“, welches der Meister Andreas für die „Gartenlaube“ auf Holz zeichnete (Seite 657), bringt die ganze erstaunliche Kühnheit der Achenbach’schen Auffassung und Kompositionsweise, die eminente Beherrschung der tollsten Bewegung klar zur Anschauung. Muß dieser wunderbare Künstler nicht einen photographischen Apparat für Momentaufnahmen im Auge haben? Und wie überzeugend spricht dieses Bild für die unverwüstliche, urgesunde Schaffenskraft des jugendlich frischen Jubilars!
Von dem übermüthig kecken Humor der früheren Brausejahre zeugt ein Kunststückchen, das er in einer Weinschenke in der Düsseldorfer Altstadt anbrachte, indem er die Wirkung der durchs Fenster hereinscheinenden Sonne auf Wand und Fußboden malte. Die bei trübem Wetter eintretenden Fremden waren nun immer, zum Ergötzen der Anwesenden, höchst erstaunt, wie hier so plötzlich die Sonne ins Zimnner scheine.
Dem im großen Ganzen so ernst schaffenden Künstler steckt überhaupt, als echtem Deutschen, doch der Schalk im Nacken, und der ist selbst mit den Jahren, wenn auch bedächtiger, doch nicht alt geworden. In jüngeren Jahren aber war er ein recht toller Durchgänger, der überall jubelnde Heiterkeit hervorzuzaubern verstand. Was war das beispielsweise ein Leben damals zum Düsseldorfer Karneval! Da war der „tolle Andres“ die Seele des lustigsten Treibens, überall mit Rath und That einwirkend, mit flotten Kostümzeichnungen unterstützend und mit höchst originellen witzreichen Einfällen belebend und erheiternd. Auf dem Bazar in der Lindenallee errichtete er seine Schaubude, selbst vor derselben den rastlos animirenden Ausrufer machend, und welch endlos fröhliches Lachen erscholl in allen Tonarten unter den herbeiströmenden Zuschauern beim Anblick der schelmischen Ueberraschungen! Das waren blendende Raketen und Schwärmer des echten rheinischen Humors. Auch bekundete sich derselbe in zahlreichen, mit Leichtigkeit hingeworfenen Karikaturen und Schnurren. Solche brachten seiner Zeit namentlich die vielverbreiteten „Düsseldorfer Monatshefte“, aber auch manches einzelne Blatt, Aquarell oder Radirung, fand seines zündenden Geistes wegen kaum weniger Verbreitung.
Und wie Bruder Humor und Schwester Satire meist zusammen gehen, so führte auch letztere gern dem neuen Simson den Stift zu kecken Strichen, so daß mancher dürre Philister [655] aufschrie, als wäre ihm mit eisennbeschlagenen Schuhen auf die vertrackten Hühneraugen getreten worden. Der junge Verkündiger des gesunden Realismus fühlte eben die wachsende Titanenkraft des Himmelsstürmers in seiner Faust und die thronende Ruhe der Olympier galt ihm nichts weniger als unantastbar. Das hatten schon seine ersten Lehrer spüren müssen, die er zwar nicht à la Herkules geravd direkt todtschlug, aber doch wenigstens sehr bald in die Lage versetzte, gestehen zu müssen, daß sie ihn nichts mehr lehren konnten. So wurde er verschiedene Male von der Akademie fortgeschickt, bis er schließlich zu dem vollen Bewußtsein gelangte, daß in der akademischen Zwangs-Glückseligkeitslehre für ihn kein Heil blühe. Er überwarf sich auch mit seinem letzten Lehrer W. Schirmer, wandte der Akademie vollständig den Rücken und wurde der Gründer des ersten Ateliers außerhalb des Bannes der Akademie in Düsseldorf, hiermit die Einwirkung des zielbewußten Reformators beginnend. Seinem radikalen Vorgehen folgte sofort eine Reihe der talenvollsten Mitschüler, die nun in genialer Ungebundenheit ein zwar oft etwas ausgelassenes, aber auch schaffensreiches Leben führten.
Daß ein solcher Sprudelkopf im Kreise seiner Freunde und Kollegen von vorneherein die erste Rolle spielen mußte, liegt auf der Hand. So hat er sich denn auch im „Malkasten“ um das gesellschaftliche Leben und Treiben, bei welchem der Humor in der Regel den Kapellmeister macht, die größten Verdienste erworben, und also war es selbstredend, daß der „Malkasten“ auch ihm in erster Linie seine Ovation darbringen wollte. Darum wählte er dafür den Vorabend des Festtages, den 28. September, um zugleich den ganzen Mann, den frischen, für sich zu haben.
Das Programm des Festes wird, wenn diese Zeilen in die Hände unserer Leser gelangen, gerade verwirklicht und darum wollen wir aus demselben nur das Wichtigste hervorheben. Die Eröffnung bildet eine von Musikdirektor H. Willemsen komponirte interessante und stimmungsvolle Fuge über den Namen Achenbach, das n als Pause nehmend. Nun folgt ein Festspiel von Hauptmann a. D. Henonmont welches im Lichte der laterna magica des Humors den Entwicklungsgang des Künstlers verherrlicht, indem es in drastischen Bildern (als Hintergrund Achenbach’sche Dekorationen benutzend) ihn auf seinen Studienreisen in Norwegen, Italien, Holland und Westfalen zeigt. Die „Jungfer Kunst“ erscheint hier Achenbach in verschiedenen abenteuerlichen Gestalten, bald als Eisbär, bald als Tochter eines Briganten, oder Fischhändlerin. Vergebens sucht der Maler ihren richtigen Namen zu errathen, bis sie in der Heimath als schmucke Müllerin vor ihn tritt und er in ihr endlich seine erste treue Geliebte, die Kunst, erkennt. Ein zum Schluß angebrachtes reizendes Müllerliedchen hat Musikdirektor Jul. Tausch komponirt, welcher auch die verbindenden Musikstücke der Zwischenakte wählte und leitete.
In dem nun folgenden von E. Daelen verfaßten Festspiel entspinnt sich ein drolliger Wettstreit zwischen Neptun, Venus, dem Wolkenschieber, einer Amsterdamer Fischhändlerin, einem Düsseldorfer Bürger und einem Hofrath aus Berlin um den Vortritt, dem Gefeierten in erster Reihe die passendste Gratulation darzubringen. Der Malkastenhumor führt diesen Disput zu befriedigendem Abschluß und überbringt dem Jnbilar einen Lorbeerkranz, „des höchsten Ruhmes Zeichen“ während die Festversammlung folgendes Lied anstimmt:
Stoßt an! Schönheit soll leben! Hurrah hoch!
Die von himmlisch heiterem Licht durchstrahlt
Das Paradies uns auf Erben malt,
Rein ist ihr Glück.
Stoßt an! Malerkunst lebe! Hurrah hoch!
Die mit herzentzückender Farbenpracht
Hell der Begeisterung Flammen entfacht,
Schön ist die Kunst.
Stoßt an! Achenbach lebe! Hurrah hoch!
Den die holde Muse wie nie zuvor
Sich zum besonderen Liebling erkor,
Weihend sein Werk.
Stoßt an! Achenbach lebe! Hurrah hoch!
Der uns zeigt in malerisch vollstem Licht,
Wie der Schönheit Strahl sich in Farben bricht,
Wonne dem Blick.
Stoßt an! Achenbach lebe! Hurrah hoch!
Drum jauchzt der Verehrung, der Liebe Dank
Zum Himmel als brausender Hochgesang:
Andreas hoch!
Als Vertreter des Vorstandes verkündet O. Erdmann in schwungvollen Worten die durch Acclamation erfolgte Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Vereins an den Jubilar und überreicht ihm die betreffende Urknnde, eine prächtige Aquarellzeichnung von Prof. Ad. Schmitz.
So werden denn von ungetrübtem Frohsinn, von echter Begeisterung
die hochgehenden Wogen des allgemeinen Jubels
getragen bis hinüber in den aufgehenden, hellen Morgen des
eigentlichen Jubiläumstages, des Freudentages der Stadt Düsseldorf,
des Ehrentages eines der großten Künstler Deutschlands,
ja der Welt. E. Daelen.
Zacharula
Ich befand mich auf Urlaub in der alten lieben Heimath, war
nach verschiedenen Kreuz- und Querzügen, auf denen ich bei
ehemaligen Studiengenossen und Freunden Anker geworfen hatte,
nach Wiesbaden gekommen, und dort hatte mich meine alte Freundin,
die Gräfin Ferréol bei einer Begegnung im Nerothale erkannt,
freudig begrüßt und eingeladen, sie zu besuchen. Dort nun war
es, wo ich zum ersten Male wieder nach so langen Jahren, mich
von einem weiblichen Wesen angezogen fühlte. Virginie, meine
kleine Feindin von einst, begleitete meine alte Freundin bei jener
denkwürdigen Begegnung, und diese Virginie erinnerte mich zu
stark an Zacharula, als daß sie mir hätte gleichgültig bleiben
können. Nur ihr schwermüthiger Ernst, ihr graziös elegantes
Auftreten und ihre voll erblühte Schönheit waren von der sonnigen
Heiterkeit der naiven Natürlichkeit und der frischen Anmuth meiner
ersten Liebe so verschieden, wie die dunkel glühende Purpurrose
von dem herzigen Wildröslein, das an den Hecken blüht.
Die junge Dame war unbestritten die Königin der Saison in Wiesbaden, wo alle Männer für sie schwärmten, und „wo Alles liebt, kann Karl allein nicht hassen“. An das krankhaft–reizbare Kind von einst erinnerte nur noch die zarte, bleiche Gesichtsfarbe und das ernste Wesen. Aus dem lang aufgeschossenen, mageren Backfische mit den eckigen Formen war ein wunderschönes Weib geworden; sie hatte sich prächtig entwickelt, und nun vollends die Aehnlichkeit der klassisch geformten Gesichtszüge mit denen meiner kleinen Herzenskönigin hatte mich gänzlich gefangen genommen. Virginie hatte eine eigene Art – und das seltsame Mädchen war sich dieser Macht über mich wohl bewußt – mich mit ihren dunklen, sprechenden Augen anzusehen, wobei ich das Gefühl hatte, ich könne vor ihr kein Geheimniß meines Innern verbergen. Zum größten Theile kam dies gewiß eben daher, daß sie durch den Ausdruck, den mitunter ihre Gesichtszüge annahmen, durch manche Bewegungen jene Erinnerungen in mir wach rief, die ich seit den sonnigen, goldenen Tagen von Gallipoli als meine schönsten Schätze hütete; es waren immer nur blitzartig aufleuchtende und schnell wieder verschwindende Momente, die am lebhaftesten auf mich wirkten, wenn ich den silbernen Klang ihres Lachens vernahm, was bei ihrem auffallend ernsten Wesen freilich selten genug geschah; wenn ich dann die Augen schloß, meinte ich den silbernen Brandungsstreifen des Marmarameeres und die herzige Zacharula vor mir zu sehen, wie sie mit ihren dunklen Augen in den Weiher blickte. Ich konnte mir dann wirklich einbilden, sie müsse mir im nächsten Augenblicke ein romäisches Liebeswort
[656][658] zuflüstern – aber wenn ich dann wieder aufsah – da stand Mademoiselle Virginie vor meinen Blicken, sie, mit dem anmuthig sinnenden Ernst und dem so eigenthümlich fragenden Blicke, in dem ich immer die Worte zu lesen glaubte: „Ja – liebst Du mich denn?“
Und obgleich ich kein Geheimniß vor ihr verbergen konnte, darauf konnte ich ihr doch keine Antwort geben, denn ich wußte wirklich selbst nicht, ob es Liebe war oder der unnennbare Reiz der von ihr heraufbeschworenen Erinnerungen, was mich mit so unwiderstehlicher Macht zu ihr hinzog. …
Zehn Jahre war ich in der Welt herumgeschleudert worden, hatte meine bei den Meistern der Diplomatie, den Türken, erworbene Gewandtheit im Verkehre mit Arabern, Aegyptern, Peruanern und Gauchos, Japanesen und Chinesen erprobt und war so glücklich gewesen, mir überall die Zufriedenheit meiner Vorgesetzten zu erwerben, da keine Zacharula mehr auftrat, die mich den Verschleppungskünsten exotischer Staatsmänner zugänglich gemacht hätte; sollte jetzt eine Virginie die gleiche Macht gewinnen? Ja, ich konnte es nicht leugnen, das schöne, ernste Mädchen hatte mich unbeschreiblich gefesselt, ohne doch Zacharula’s Bildniß zu verdunkeln, ein Widerspruch, der mich in einsamen Stunden lebhaft beschäftigte und mir doch unerklärlich blieb, da ich, wie der scharfsinnige Leser längst errathen haben wird, zu einem Don Juan ganz und gar keine Anlagen hatte. Ich war häufig, fast täglich bei den beiden Damen, was bei der übrigen eleganten Welt in Uniform und Civil nicht wenig Neid erregte, da die Gräfin leidend war und daher Geselligkeit weder suchte noch in ihrem eigenen Heim, einer von ihr allein bewohnten prächtigen Villa, pflegte.
Eines Abends frug mich die liebenswürdige, alte Dame, wie es doch komme, daß ich noch unvermählt sei, und ich bekannte ihr zögernd und mit einiger Verlegenheit, daß eine unglückliche Liebe, welche mein Herz nicht vergessen könne, die Schuld trage.
Ich glaubte Virginie außer Hörweite unseres Gespräches, da ich sie am Fenster stehen und träumerisch, ja, wie mir schien, wehmüthig in die mondhelle Sommernacht hinausblicken sah.
Die Gräfin erwiderte nichts auf dieses mein Bekenntniß; sie sah mich nur nachdenklich an, und ich nahm an, daß sie vielleicht im Schatze ihrer Erinnerungen nach einer weiblichen Persönlichkeit suche, die sie mit mir, dem einst so fröhlichen und heiteren Gesellen, in Zusammenhang bringen könne.
Natürlich mußte dieses Beginnen resultatlos bleiben.
So saßen wir eine kleine Weile stumm einander gegenüber, bis das Mädchen die silberne Theemaschine herein brachte und Virginie langsam herüber kam, um, wie allabendlich, den Thee zu bereiten. Jetzt kam das Gespräch wieder in Gang, berührte aber mit keiner Silbe die Frage der Gräfin und meine Antwort.
Wir verhandelten im Gegentheil recht harmlose Dinge, während ich jeder der graziösen Bewegungen Virginiens mit meinen Augen folgte. Beim Nachtische fehlten die Rosinen und Mandeln nicht, welche Virginiens Lieblingsspeise waren. Ich fand einen Doppelkern und wollte mit dem reizenden Mädchen Vielliebchen essen.
Wir benahmen uns, wie mir erst heute so recht klar wird, wie ein paar rettungslos Verliebte – ich für meinen Theil bot ihr die Hälfte meines Fundes so ungeschickt wie ein verliebter Schüler, und sie nahm sie so zögernd und verlegen wie ein Backfischchen – doch nur kurze Augenblicke währte ihre Verwirrung, dann schien ihr plötzlich ein sie lebhaft beschäftigender Gedanke zu kommen. Ihre Augen blickten mit dem lauernden Ausdrucke der kleinen Virginie von einst in mein Gesicht, und die kleinen spitzen Zähne schimmerten feucht und glänzend zwischen den rothen weichen Lippen, als sie mit einem zweifellos übermüthigen Lächeln erklärte: „Ich bin bereit dazu, mein Herr – aber – ich stelle eine Bedingung.“ Sie hielt dabei den Mandelkern zwischen ihren schlanken Fingern und sah mich noch immer an, fragend, verschmitzt, lauernd, ich finde keinen andern Ausdruck.
„Nun, und diese Bedingung?^ frug ich ein wenig zaghaft bei der Erinnerung an frühere Kämpfe und regelmäßige Niederlagen von meiner Seite.
„Der verlierende Theil muß sich verpflichten,“ begann sie weise und mit wichtiger Miene, „dem gewinnenden die Bestimmung der Buße zu überlassen, und jeder Bestimmung, die überhaupt im Bereiche der Möglichkeit liegt, nachzukommen.“
Auf dem feinen Gesicht der Gräfin zeigte sich unverkennbar Mißbilligung bei diesem Vorschlage ihrer Tochter – sie mochte an die Konsequenzen eines solchen Vorschlages denken – genug, sie begann zu protestiren, aber auf einen Wink Virginiens, den ich wohl nicht bemerken sollte, aber eben deßhalb gerade bemerkte, gab sie ihre Vorstellungen nach einem langen, fragenden Blicke auf ihre Tochter wieder auf – während ich mich galant zustimmend verneigte.
Gleich darauf berührte der Mandelkern die weichen, rothen Lippen des schönen Mädchens. Wie ich ihn beneidete!
So galant ich dem Vorschlage Virginiens beigestimmt – ich war fest entschlossen die Wette ungalanter Weise zu gewinnen.
Leider war aber Virginie ebenso fest entschlossen sie nicht zu verlieren, und in solchen Fällen ist bekanntlich das stärkere Geschlecht immer das unterliegende. Als ich am andern Morgen, mehr aus Mode als aus Bedürfniß, meinen Brunnen trinken ging, erscholl plötzlich unter dem dichten Schleier einer Dame hervor, die bis dahin durch ihren müden, schleppenden Gang und das Gebeugte ihrer Haltung mein aufrichtiges Mitgefühl erregt hatte, das verhängnißvolle „Guten Morgen, Vielliebchen!“
Meine Proteste gegen dies völkerrechtswidrige Verfahren blieben unbeachtet und wurden von der Gräfin, deren Entscheidung wir anriefen, als nichtige Winkelzüge charakterisirt und als unbegründet mit den Worten abgewiesen: „O, bitte, Sie sind mir auch ein sauberer Diplomat, der den abgeschlossenen Vertrag brechen möchte, kaum daß seine Unterschrift darunter trocken geworden ist.“
Was war da zu thun? Ich ergab mich auf Gnade oder Ungnade und bat, mein Urtheil zu fällen und, wenn irgend möglich, auch gleich zu vollstrecken, da ich alles Unvermeidliche gern hinter mir hätte.
Die Damen lachten, und Virginie begann grausam: „Ja, ich habe schon darüber nachgedacht und das Für und Wider erwogen, und ich bin zu dem Schlusse gekommen, daß – Sie müssen – Sie sollen –“ verlegen bohrte sie die Spitze ihres eleganten Sonnenschirmchens in den Kies des Weges, den wir eingeschlagen hatten – „ich bin dafür, daß Sie – arbeiten.“
„Arbeiten?“ frug ich verblüfft und trat entsetzt einen Schritt zurück, wobei der Ausdruck meines Gesichtes nicht eben geistreich gewesen sein mag. „Befehlen das gnädige Fräulein Frohne?“ setzte ich dann, mich fassend und die Dinge von der humoristischen Seite nehmend, hinzu; „bitte, wünschen Sie, daß ich für Sie Holz zerkleinere, oder unter Assistenz Ihrer Köchin Pasteten backe, ich muß natürlich alles unterschreiben, und wenn es mein eigenes Todesurtheil wäre.“
Virginie lachte fröhlich auf, und dies Lachen war wieder ganz das Lachen meiner ersten Liebe. „Nein! – – Welche Befürchtungen!“ beruhigte sie mich fast mitleidig, „natürlich wird das geistige Arbeit betreffen, was – nun, was man von Ihnen verlangt.“
Ich athmete auf.
„Es handelt sich dabei um Ihre – Fähigkeiten,“ fuhr sie tieferröthend und mit gesenkten Augen fort; „ich möchte –“ sie stockte.
Ich stutzte. „Um meine Fähigkeiten?“ wiederholte ich fassungslos und begann die Enden meines Schnurrbartes zu maltraitiren, „zweifeln die Damen an meinem Können? Soll ich einer Prüfungskommission vorgestellt werden?“
„Herr Legationsrath!“ warf die Gräfin lächelnd und kopfschüttelnd ein, „welche Idee!“
„O, nach meinen Erfahrungen in Konstantinopel, gnädigste Gräfin,“ begann ich diese „Idee“ zu vertheidigen, während ich mich. lebhaft an die zuletzt Sprechende wandte, „steht da nicht das Aeußerste zu erwarten? Ich befinde mich nicht zum ersten Male in dieser Situation. Sie werden sich erinnern, daß ich immer gezwungen war das Feld zu räumen. Sollte es Ihrem Gedächtniß gänzlich entschwunden sein, was ich gelitten habe in jenen lustigen Kriegen?“
Die Gräfin entgegnete nichts, aber ein Schatten flog über ihr Gesicht, als sie beschwichtigend abermals den Kopf schüttelte; ein Schatten, den ich nicht begriff und der mich nur noch mehr verwirrte.
„Bitte, hören Sie und erkennen Sie, wie gütig ich bin,“ begann Virginie auf der anderen Seite mit ihrer melodischen [659] Stimme. „Wie wäre es, wenn – menn Sie eine Erzählung schrieben? Jch mochte nämlich gern wissen, ob das ewige Aktenstudium die Beschäftigung mit der reinen Vernunft Jhnen einen ‚Rest‘ Poesie gelassen haben – das ist das Ganze.“
Eine Erzählung, mir fiel ein Stein vom Herzen; zwar war mir dieses Thätigkeitsfeld neu, doch hoffte ich, es leidlich bebauen zu können. Jch hatte immer ein Stück von einem Poeten in mir getragen, und in früheren Zeiten – sie lagen freilich weit hinter mir – unterschiedliche liebliche Verse verbrochen, die mich immer sehr gerührt hatten, ich glaubte also in „Prosa“ mit der „Poesie“ mich so ziemlich zu befreunden . . . Welches Thema aber behandeln ...
„Welcher Art soll nun dieses litterarische Kunststück sein?“ begann ich vorsichtig zu tasten. „Befehlen die Damen hochtragisch oder mehr humoristisch? sentimental oder realistisch-modern? Bleiben wir bei den Idealen stehen oder geht es auch ohne diese? Darf man sich an einen bereits vorhandenen Stoff anlehnen, oder muß das Ding ganz Original sein? Mein Talent befähigt mich, in dieser Hinsicht allen Ansprüchen gerecht zu werden.“
„,Sein‘ oder nicht ‚sein‘ – Eigenthum nämlich – das ist hier die Frage,“ lächelte die Gräfin fein.
„O, das wäre noch schöner,“ protestirte Virginie lebhaft. „Natürlich muß das, was ich im Auge habe, ein Beweis Ihres Talentes sein und nicht von den Gaben eines Anderen Zeugniß ablegen. Erfindung streiche ich dabei ganz, denn vor allen Dingen soll die Erzählung auf Wahrheit beruhen, Ihr Talent soll sich nur in der poetischen Art zeigen, in der Sie diese Wahrheit zu Papier bringen; auch was Sie sich bei dieser oder jener Stelle denken, sollen Sie ganz ehrlich beifügen. Die Hauptbedingung bleibt jedoch eine Handlung, die auf Thatsachen beruht; aus der Art, wie Sie diese ‚wahre Geschichte‘ erzählen, kann man schon ein – ein Urtheil gewinnen.“
„Aber das ist furchtbar leicht!“ jauchzte ich auf. „Die Erfindung der Handlung ist immer das Schwerste!“
„Wir wollen Sie dadurch vor litterarischem Diebstahl bewahren, der ja in Ihrer Stellung unverzeihlich wäre,“ erklärte Virginie. „Man kann von einem Anfünger nicht sofort das Schwerste verlangen. Sie sehen, wir sind sehr gütig. Doch noch eine Bedingung: Sie sollen den Stoff aus Ihrem Leben nehmen. Sie müssen doch so mancherlei schon erfahren haben. Wie, wenn Sie ...“ hier senkte sich ihr Köpfchen abermals tief nach dem kleinen Schirm herab, mit dem sie die alten, mystischen Zeichnungen im Sande wieder begann, „in einer fesselnden Art klar legten, warum Sie bisher unvermählt geblieben sind. Die Geschichte könnte die Ueberschrift tragen: ‚Wie ich ein alter Junggeselle wurde‘, gewiß ein vielversprechender Titel! Sie müßten das Ganze fein säuberlich aufschreiben und die betreffenden Gründe in glaubwürdiger Weise darlegen – und nun kommt noch eine Bedingung, die letzte: der Termin der Ablieferung darf nicht bis in die graue Zukunft verschoben werden, spätestens in acht Tagen müssen Sie fertig sein und denken Sie sich die Aufgabe nicht gar zu leicht. Eben darin, daß Sie das Ganze in eine fesselnde, poetische Form bringen und doch streng bei der Wahrheit bleiben sollen liegt die Schwierigkeit.“
Als ich mit dem Versprechen schied, die Arbeit in der verabredeten Zeit zu beenden und abzuliefern, sagte Virginie noch einigermaßen verlegen, indem sie mich ernst anblickte und der mir bekannte zartrosige Schimmer wieder über ihr feines Gesicht huschte: „Und versprechen Sie, das Thema nicht zu wechseln – ein anderes mird nicht acceptirt – und – und ehrlich, Herr Legationsrath, nichts hinzufügen und nichts davon thun – Sie wissen, kein Roman, sondern eine wahre Geschichte.“
Ich küßte ihr die Hand und versprach Offenbarung meiner Herzensgeheimnisse und unbedingte Wahrhaftigkeit. Dann setzte ich mich vor Zacharula’s Bild und blickte ihr in die treuherzig- schalkhaften Augen, und die Erinnerung an jene seligen Tage überkam mich mit solcher Gewalt, daß ich von ihr hingerisen, die einmal begonnene Erzählung, ohne aufzustehen in einem Zuge niederschrieb. Stunde auf Stunde verrann, und erst als meine Uhr Mitternacht zeigte, stand ich, im Innersten bewegt, auf. Die Beichte, welche den Anfang dieser Zeilen bildet, war fertig.
Die Vorlesung der „wahren Geschichte“ hatte durchschlagenden Erfolg; mehr als die anspruchslose Erzählung verdient. Virginie saß, als ich wieder aufblickte, mit abgewandtem Antlitz da und schien eigenthümlich ergriffen. Die Gräfin reichte mir dankend die Hand und lobte: „So war’s recht, mein Freund, Sie haben Ihr Versprechen ehrlich gelöst und werden es nicht zu bereuen haben.“
Sie blickte dabei auf ihre schöne Tochter, welche sich jetzt mit feuchten Augen zu mir wandte, und Virginie folgte dem Beispiel ihrer Mutter. Leise bebend, wie ich zu bemerken glaubte, lag ihre schlanke, feine Hand zwischen meinen Fingern, und die langen, seidenen Wimpern vermochten das nasse Auge nicht zu verbergen, als Sie lächelnd und bemüht, einen leichten Ton zu finden, hinwarf: „Ich hätte nie geglaubt, daß ein Mann in dieser Weise über einmal Verlorenes sprechen könnte. Ich meinte bisher, nur in der Gegenwart könne der Mann leben. Es ist brav von Ihnen, noch in dieser Weise von jenem – thörichten Mädchen zu sprechen, das sein eigenes Glück und das Ihre aus weiblichem Eigensinn zerstörte.“
Diese Worte Virginiens aber verletzten mich fast. Ich hatte das Gefühl, das Jeder empfindet, wenn in seiner Gegenwart eine ihm theure Person mit Recht oder Unrecht angegriffen wird, und ich vertheidigte meine erste Liebe in etwas heftiger Weise. Ich entschuldigte ihr Verhalten damit, daß ja doch in meinem Vorgehen eine gewisse Geringschätzung dessen gelegen habe, was Zacharula zu bieten gehabt, und daß ich von ihrem Standpunkte aus ihre Entrüstung sehr wohl begreife, daß ich überhaupt von einem Weibe wenig halte, das ohne jedes Selbstgefühl sei und das man nur schwer beleidigen könne, daß ich aber die Macht der Verhältnisse heute noch beklage, die mich um das Glück meines Lebens gebracht hätten.
Am Ende dieser Vertheidigung fiel mir erst ein, daß junge Mädchen in der Regel das Lob einer Abwesenden in ihrer Gegenwart nicht gern zu hören pflegen – ich dachte daran, wie theuer mir doch auch Virginie war, ich erschrak bei dem Gedanken, daß in meinem Innern eine Art Doppelliebe lebte – und das Alles verwirrte mich in einer Weise, daß ich erst nach längerer Zeit wagte, einen forschenden Blick auf mein schönes Gegenüber zu werfen – aber merkwürdig, Virginiens Augen begegneten den meinen leuchtend und zustimmend, es lag in ihrem Blicke eine Wärme und Herzlichkeit, die sie mir gegenüber noch nie gezeigt, und als sie mir abermals die Hand reichte und anerkennend versicherte: „Ich beabsichtigte nicht, Ihrer einstigen Freundin zu nahe zu treten und Ihnen wehe zu thun, Herr Legationsrath,“ glaubte ich einen leisen Druck ihrer Hand zu verspüren ... Ich begriff mich und sie – ja ich begriff die ganze Welt nicht mehr, und was wir noch weiter geredet haben an jenem Abende, ist mir nie so ganz klar gewesen. Ich war wie im Traume. Zacharula oder Virginie? – oder Beide? – War ich nicht auf dem besten Wege, die Institutionen eines Mormonenstaates in meinem Herzen praktisch zu bethätigen?
Ich ging mit seltsam getheilten Gefühlen nach Hause; nie hatte ich mit wärmerer Innigkeit meines verlorenen Lieblings gedacht und doch hatte ich dabei die Empfindung, Virginie könne mir einst die Verlorene ersetzen. Längere Zeit fand ich jedoch nicht den Muth, mich zu erklären, obgleich ich innerlich überzeugt war, daß auch Virginie meine Neigung theilte. Je länger ich sie kannte, desto mehr fühlte ich, wie der geheimnißvolle Reiz, den sie auf mich ausübte, gerade von den immer wiederkehrenden, wenn auch immer flüchtig vorüberrauschenden Aehnlichkeiten herrührte, die sie mit Zacharula hatte, und desto schwerer wurde es mir, die beiden Königinnen meines Herzens aus einander zu halten. Dieser Umstand war es auch, der schließlich die Entscheidung herbeiführte.
Ich erzählte Virginie ein drolliges Erlebniß aus China, und sie lachte darüber so herzlich und silberhell, so ganz meinem Liebling ähnlich, daß ich unwillkürlich laut ausrief: „Zacharula!“ Sie erschrak heftig und sah mich, die Hand auf das Herz pressend, mit großen Augen ängstlich an. Ich bat sie wegen des verursachten Schreckens um Verzeihung, und dann – ja dann machte ich eine Liebeserklärung, so ungereimt und verworren, wie sie der Klügste von uns zu machen pflegt, wenn er wirklich verliebt ist, eine jener Erklärungen, die, wortgetreu stenographirt, ein merkliches Kopfschütteln aller vernünftigen Leute erregen würden. Aber Virginie hörte mir hochathmend, erröthend und glückselig lächelnd zu, ja sie drückte mir zärtlich die Hand, als ich ihr in den [660] möglichst unzweckmäßig gewählten Worten und in der denkbar konfusesten Weise erklärte, warum ich sie eigentlich so sehr liebe; sie gestand mir, daß es ganz ähnlich bei ihr wäre und sie in mir gar manche Aehnlichkeit mit einem Andern entdecke, der zuerst ihr Herz gewonnen. Darüber empfand ich jene unvernünftige Art der Eifersucht, die von den Systematikern als die retrospektive bezeichnet wird; sie hielt freilich vor Virginie’s aus tiefster Seele hervorquellender, unbeschreiblich inniger Zärtlichkeit nicht lange Stand, zumal als sie dann sagte: „Wenn Du heute Abend nicht zu spät kommst, werde ich Dir ein Geheimniß entdecken, wonach Du nie mehr auf die Vergangenheit eifersüchtig sein wirst. Hörst Du? Komme nicht zu spät.“
Am liebsten wäre ich natürlich dageblieben, um dies Geheimniß gleich zu hören, aber daraus wurde nichts. Ich mußte fort, nachdem ich den Abschied durch alle jene Thorheiten möglichst verlängert hatte, welche das Entzücken der Liebenden, allen andern Menschen aber ein Gräuel sind.
Seltsamer Widerspruch: obgleich ich die Zeit nicht erwarten konnte, wo ich mich anständiger Weise in der Villa der Gräfin wieder einfinden durfte, war es mir doch wieder, indem ich Zacharula’s Bild betrachtete, als möchte ich niemals etwas zwischen mich und sie treten lassen, als wäre es besser, ich entflöhe auf eine einsame Insel, um dort meine liebenden Erinnerungen unparteiisch zwischen beiden zu theilen.Ich bat dem Bilde meine bevorstehende Untreue förmlich ab und hatte dabei wieder die Empfindung, als ob meine Neigung zu Virginie mit meiner Treue gegen Zacharula vereinbar wäre, weil sie der Wärme meiner Empfindung für diese keinen Abbruch that. Ich hätte zum Himmel aufjauchzen mögen, und doch –
Die Table d’hôte unterbrach eine Zeit lang die quälenden Gedanken; ich machte die alte Erfahrung an mir, daß Liebe nicht satt macht, nur gereichte meine Zerstreuung den Gästen zu empfindlichem Nachtheile, da ich in ganz barbarischer Weise unter Fisch, Braten, Gemüse und Früchten hauste und die subtilen Berechnungen des Wirthes vollständig zu Schanden machte.
Dann lief ich nach der griechischen Kapelle, machte einige Stunden lang die Umgegend mit langen Schritten und tiefen Seufzern unsicher und eilte endlich, sobald ich nur die entfernte Möglichkeit erkannte, meinen Besuch machen zu können, nach der Behausung der Gräfin.
So ungeduldig ich auch nach dem Anblick Virginiens trachtete, ich mußte mich vorerst mit der Gesellschaft der Gräfin begnügen und deren liebevollste Segenswünsche in Empfang nehmen. Wie eine Warnung, und als ob sie in meinem Herzen lesen könnte, klang es, als sie sagte: „Ich gebe meinen Liebling ungern fort, aber ich weiß, daß Virginie bei Ihnen geborgen ist und die Erinnerung an Zacharula ihr Glück nicht stören wird.“
„Aber wo bleibt sie denn?“ brach ich ungeduldig los.
Die Gräfin lächelte fast amüsirt.
„Ja, undankbar seid Ihr doch alle, Ihr Männer,“ versicherte sie. „Virginie macht ganz besondere Toilette, nur für Sie und um Sie noch fester in Ketten und Banden zu schlagen.“
Ich hätte fast laut aufgelacht.
„Als ob es dessen bedürfte!“ rief ich, „als ob es irgend eine Tracht gäbe, die Virginie in meinen Augen noch verschönern könnte!“
„Wer weiß!“ scherzte die Gräfin, und in ihren noch immer so ausdrucksvollen Augen blitzte es schelmisch. „In einer halben Stunde werden wir uns wieder sprechen; dann werde ich ja hören, ob Sie Ihr keckes Wort wiederholen werden. Doch nun gehen Sie! Ich will Sie Beide nicht länger trennen. Virginie erwartet Sie in der Veranda.“
Ich ging beflügelten Schrittes und stand in der Thür, gebannt – starr vor Staunen … das war ja nicht Virginie, sondern …
„Zacharula!“ klang es von meinen Lippen.
Sie war es – und doch auch wieder nicht. Virginie-Zacharula in einer Person – das verschönerte Abbild ihres Portraits stand sie vor mir – mit dem aufgelösten wundervollen Haar, in der griechischen Tracht, worin ich sie zuerst gesehen, in der Haltung und mit dem Gesichtsausdrucke, die ich an Virginie kannte und bewunderte. Sie streckte mir beide Hände entgegen und ruhte im nächsten Augenblicke an meiner Brust. Was wir dann alles gesprochen und nicht gesprochen haben, welche Unterbrechungen nöthig wurden, und wie wir uns gegenseitig hunderterlei erklärten, ohne den zehnten Theil davon zu begreifen, das weiß ich nicht mehr, und das läßt sich jedenfalls auch nicht in zusammenhängender Rede erzählen. Ich weiß nur noch, daß wir Beide zuletzt neben einander saßen, Zacharula ihren Kopf an meine Schultern gelehnt, von meinem Arm umschlungen, ihre Hand in der meinen ruhend und meine leise geflüsterten Liebesversicherungen mit eben so leisen griechischen Worten erwidernd, die ich, ganz wie in alter seliger Zeit, nicht verstand, aber nur allzugut begriff. Die ganze selige Vergangenheit schien mit einem Male in ungeahnter Pracht und Herrlichkeit wieder auferstanden zu sein, und ich frug mich immer wieder, ob ich nicht träume.
„Ja, das sind freilich pflichtvergessene Kinder!“ erscholl plötzlich neben uns die heitere und doch bewegte Stimme unserer mütterlichen Freundin. „Da wird innerhalb einer halben Stunde Bericht über die neue Toilette erwartet – aber hier scheint man eine ganz absonderliche Zeitrechnung eingeführt zu haben!“
Wir saßen dann noch lange beisammen und nach und nach – zu meiner Ehre sei es gesagt – begriff ich doch endlich, wie aus Zacharula Sidheridi Virginie de Ferréol geworden war, ohne daß der Zauberstab einer gütigen Fee bei der Verwandlung in Bewegung gesetzt wurde. Ach, es ging alles sehr natürlich zu.
Bald nach meinem Fortgang aus Konstantinopel war die Tochter der Gräfin, immer ein sehr zartes Geschöpfchen, kränkelnd aus Frankreich in das Haus ihrer Mutter zurückgekehrt und endlich gestorben. Der Zufall hatte der Dame meine kleine Zacharula in den Weg geführt, und die Ähnlichkeit zwischen den beiden jungen Mädchen in der Gräfin den Gedanken aufsteigen lassen, die kleine Griechin zu adoptiren. Das große Glück, welches die Eltern in diesem Anerbieten für ihr Kind sahen, denn Frau de Ferréol war nicht allein sehr reich, sondern auch als eine edle hochherzige Dame bekannt, hatte jene bewogen, die Entscheidung in Zacharula’s Hände zu legen. Zacharula aber, als sie hörte, daß die Gräfin beabsichtige nach Deutschland zu gehen, hatte in der Annahme des Anerbietens die Möglichkeit gesehen, mir vielleicht dort zu begegnen – war ich doch „der lange Deutsche“ gewesen, ehe sie mich mit einem zärtlicheren Namen nannte und so wurde sie die Adoptivtochter der Gräfin, unter der Bedingung, daß sie mit dem Familiennamen zugleich auch den Taufnamen der früh Verstorbenen annahm.
Jetzt begriff ich auch den Schatten, welcher bei der Erwähnung jener Zeiten in Konstantinopel und bei der Erinnerung an das einzige, vergötterte Kind über das geistreiche Gesicht meiner alten Freundin gezogen war – aber wie hätte ich ahnen können … ? Ich sah ihr jetzt bei dem Gedanken, wie weh ich ihr ohne mein Wissen und Willen gethan, bittend in die Angen und küßte ihre Hand, während ihr Blick feucht war und die Ferne suchte – die Mutter gedachte – der anderen Virginie. …
Jetzt sind Zacharula und ich seit fünf Jahren verheirathet, und mein Weibchen hat ihre ganze fröhliche Heiterkeit wiedergewonnen, welche der Kummer um mich so lange in den trüben Ernst verwandelt hatte, der mir an Virginie aufgefallen war. Unser ältestes kleines Mädchen ...
„Ja, Du entsetzlicher Mensch, was willst Du denn noch weiter erzählen?“ unterbricht mich hier ihr schmollender Mund im Vorlesen der Geschichte, die ich auf ihren Wunsch bis zum glücklichen Ende fortführen sollte. Sie hat eine so reizende Art, beim Sprechen die Worte gewissermaßen zu unterstreichen. „Nur daß Zacharula ganz Dein Ebenbild zu werden verspricht, und daß unser ältester Bube seinem Vater aufs Haar gleicht, und daß wir …“
Aber man sollte es wirklich nicht glauben, daß vor nun fünfzehn Jahren Zacharula in ihrer erröthenden Verwirrung genau so aussah wie in diesem Augenblicke, wo sie mir strafend die Hand auf den Mund legt und ihre lachenden Augen die zum Zeichen ernsten Mißfallens in krause Falten gezogene Stirn Lügen strafen.
[661]
Die Vogelkatze.
Auf der letzten Vogel-Ausstellung des Vereins „Ornis“ in Berlin zeigte sich ein Bild, dessen Seltsamkeit alle Besucher und selbst alte, vielerfahrene Liebhaber in Verwunderung setzte. Inmitten eines verhältnißmäßig engen Käfigs befand sich eine Hauskatze, umgeben von einer beträchtlichen Anzahl verschiedener Vögel, welche sich munter umhertummelten, neben und auf dem sonst so sehr gefürchteten Raubthier, über dasselbe hinweg etc. Da stand ein Edelfink ruhig auf dem Rücken der Katze, ein Lachtäuber machte sein Kukuruku unmittelbar vor ihrer Nase, sodaß er dieselbe berührte, eine kecke Meise flatterte über ihrem Kopf und hüpfte hin und wider einen Augenblick daraus, ein Staar suchte zwischen den Haaren herum und wandte ihren Schwanz mit dem Schnabel hin und her. Währenddessen lag sie regungslos da, indem sie sich anscheinend um all das kleine Gefieder gar nicht bekümmerte.
Hunderte von Zuschauer umstanden das anscheinende Wunder und staunten es an. Zunächst meinte nun der Eine, der sich wohl als Thierkenner dünkte, die ganze Geschichte sei doch nur Spiegelfechterei, denn die Katze müsse offenbar durch ein Betäubungsmittel in solchen Zustand gebracht sein, daß sie den Vögeln nichts thun könne. Ein Anderer entgegnete, sie sei ein matt gewordenes, jedenfalls durch Hunger und Mißhandlung in den Zustand völliger Gleichgültigkeit gebrachtes Thier, welches beim besten Willen keinen Vogel mehr zu fangen vermöge. Beide begründeten ihre Behauptung vornehmlich darauf, daß die Katze fast immer ruhig dalag – sie bedachten aber nicht, daß dies doch eben ihre Gewohnheit ist. Wenn sie, nach Katzenart, gegen Abend hin munter geworden, lustig zu spielen anfing, ihrerseits eine Taube zwischen die Pfoten nahm oder gegen den Schnabel des Staares mit der Kralle kämpfte, ohne ihn jedoch jemals zu verletzen, wenn sie dann, aus dem Käfig herausgelassen, das ganze Ausstellungslokal durchstrich, zur Entrüstung der vielen Papageien und insbesondere der Kakadus, welche sie, kopfnickend und die bunten Hauben sträubend, kampfbereit anschrieen, während sie, unbekümmert um diesen Tumult, sich mit hochgehobenem Schwanz vergnüglich schnurrend von einem Bekannten streicheln ließ, noch mehr aber, wenn der Aussteller, Herr Vogelhändler G. Maercker in Berlin, ihr eine lebende Maus in der Falle mitbrachte und sie, gleichviel zu welcher Tageszeit, blitzschnell aufspringend, mit einem Krallenschlag diese Beute tödtete und inmitten der Vögel verzehrte – dann war die Weisheit aller Erklärer doch völlig irre geworden.
Angesichts des hübschen Bildes, welches der Künstler nach der Wirklichkeit auf meinen Wunsch entworfen, kann ich folgende Mittheilungen über die Vogelkatze machen.
Schon vor vielen Jahren theilte mir Herr Vogelhändler W. Mieth in Berlin, welcher alljährlich nach St. Andreasberg reist, um die herrlichen Kanarienvögel vom Trute’schen Stamm abzuholen, mit, daß man im Harz in den Kanarienzüchtereien vielfach Katzen finde, welche harmlos und verträglich zwischen den Vögeln umhergehen. Es fällt ihnen dabei niemals ein, bösartig gegen die letzteren zu sein, während sie sich doch als eifrige Mäusefängerinnen zeigen. Das Lebensbild einer solchen Vogelkatze habe ich dann in meinem Buch „In der freien Natur“ veröffentlicht. Später, als ich in Steglitz wohnte und in einem leicht gebauten Hause unter der Plage der aus der ganzen Nachbarschaft herbeiströmenden Mäuse die Züchtungen in meiner Vogelstube nur zu arg gefährdet sah, versuchte ich es selber, eine Katze so abzurichten, daß sie vogelfest, wie man zu sagen pflegt, wäre. Eine allerdings sehr harte Strafe in früher Jugend, welche späterhin nur durch Bedrohung und kaum in Wirklichkeit wiederholt wurde, dann aber namentlich die Gewöhnung an die fortwährende Nähe der Vögel hatten zusammenwirkend in der That dazu genügt, das gewünschte Ergebniß zu erreichen. Da diese Katze, ein einfarbig schwarzes, im ganzen recht wildes und unbändiges Thier, nichts weniger als zutrauenerweckend sich zeigte, so hatten wir noch keineswegs den vollen Glauben daran, daß sie vogelsicher sei. Eines Abends fand sie in unsrer Abwesenheit die Gelegenheit, durch die unvorsichtigerweise nicht sicher verschlossene Thür in die reich bevölkerte Vogelstube zu gelangen. Da saß sie aber ruhig auf dem Fensterbrett neben kleinen, arg verängstigten Wachteln und Tauben, welche sich nicht anders zu helfen gewußt, als daß sie sich in die Ecken gedrückt, und hatte keinem der Vögel ein Leid zugefügt.
Einige Jahre später schickte mir Herr Ed. Pfannenschmid, Inhaber einer großartigen Geflügelhandlung in Emden, der sich namentlich mit der Beschaffung von allerlei einheimischen Sumpf- und Wasservögeln, Raubvogeln u. a. m. für Liebhaber und zoologische Anstalten beschäftigt, eine Katze, welche von vornherein durchaus vogelfest sein sollte. Solche friesländische Katzen stammen von den sogenannten Polhüttenjägern, armen Leuten, welche lediglich vom Ertrag der Jagd und Fischerei leben, her und werden von diesen zwischen allerlei lebenden Vögeln und anderen Thieren aufgezogen, sodaß sie mit Finken und Staaren, Dohlen und Hühnern, Kaninchen und Hunden zusammen verträglich aus Einem Napf fressen. Das mir zugesandte Thier, ein schöner schwarzbunter Kater, zeigte und entwickelte bei mir eine fast menschliche Klugheit. Mein Töchterchen Margareth, eine lebhafte Kleine von damals vier Jahren, spielte mit dem Kater wie mit ihres Gleichen, und derselbe zeigte dabei Einsicht und Verständniß in staunenswerth hohem Grade. Verstecken und Greifen, gegenseitiges Zuwerfen und Fangen von Ball und Marmorkugeln etc. machten augenscheinlich beiden Genossen gleiches Vergnügen. Während der Kater sich sonst stets zur Wehr setzte und nachdrücklich zu vertheidigen wußte, sobald er von Jemand hart angegriffen wurde, ließ er sich von dem Kinde im Uebermuth am Kopfe oder Schwanz, selbst an den Ohren packen, kurz und gut in der empfindlichsten Weise umherzerren, und nur selten einmal, wenn es ihm denn doch gar zu arg geworden, hat er von der Schärfe seiner Krallen Gebrauch gemacht. Jede [662] Sorge, daß die Katze das Kind einmal gefährlich verletzen könne, war meinerseits völlig ausgeschlossen. Es würde zu weit führen, wollte ich hier noch mehrere derartige Züge, welche für die Klugheit dieses Thieres sprechen, anführen, ich habe ja überhaupt nur beiläufig davon erzählt. Vornehmlich in der Absicht es mit vollem Nachdruck hervorzuheben, daß nach meiner Ueberzeugung die Katze bei einsichts- und verständnißvoller Erziehung mehr oder minder eine gleiche Klugheit entwickeln kann, wie solche der gutgeartete Hund in hohem Maße zeigt.
Nun zurück zur Vogelkatze auf der Ausstellung des Vereins „Ornis“. Da kam sodann der Thierschutz und trat mit voller Entrüstung gegen die Vogelkatze oder vielmehr den Aussteller derselben in die Schranken. Vornehmlich die mildherzigen Schwärmerinnen von jener Seite des Thierschutzes, dessen Sinnbild ein in Thränenfluthen gebadetes Schoßhündchen ist, machten mir als Vorsitzenden des Vereins für Vogelkunde, -Schutz und -Liebhaberei das Leben recht schwer. Was nützte es mir, daß ich einige der Damen heranführte, um ihnen sachgemäß an allen vorhandenen Gesundheitszeichen den Beweis zu liefern, daß die Vögel sich sämmtlich in vortrefflichster Pflege befanden und des besten Wohlseins erfreuten; kopfschüttelnd suchte man immer wieder nach neuen Einwänden, um solche „unerhörte Thierquälereien“ zu verdammen, und endlich, als alle Pfeile an den schlagenden Gründen, welche ich aufstellen konnte, abprallten, wurde mir als letzter Einwurf die Grausamkeit der Dressur entgegengestellt. Ja, hieß es, wie viele harte Züchtigungen müssen dazu gehören, um eine Katze bis zu einer solchen völligen Verleugnung ihrer Raubthiernatur zu bringen, welche Qualen muß sie durchgemacht haben, um soweit abgerichtet zu werden, daß sie friedlich mit den Vögeln zusammenlebt! Hier aber, in diesem Punkte, waren die guten Thierschützerinnen nun eben dort angelangt, wo ich ihnen mit vollstem Nachdrucke entgegentreten konnte.
Gleicher Weise, wie jeder Mensch lernen und, je höher er stehen und je freier er sein will, desto mehr lernen muß, so ist auch Unterricht, oder nennen wir es Abrichtung, für jedes in näherem Verkehr mit dem Menschen stehende Thier nothwendig; je besser das Thier abgerichtet, je mehr es dazu gewöhnt zu werden vermag, seine thierischen Neigungen und Lüste abzulegen und menschliche Gewohnheiten anzunehmen, Kunstfertigkeit oder auch nur Kunststücke zu erlernen, beziehentlich nachzuahmen, desto näher steht es doch offenbar dem Menschen. Sollten wir nun also in der Abrichtung, das heißt Erziehung unserer Thiere, wirklich arge Thierquälerei sehen müssen? Da würden wir auf einen schlimmen Weg gerathen – den nämlich, daß wir durch Verwilderung unserer Genossen aus der Thierwelt das wieder verlieren, was der Mensch in tausendjährigem Streben errungen hat.
Vom Meeresstrand.
Du frägst, wie ich hier lebe? – Still, verträumt! –
Auf gelben Sand des Dünenhangs gestreckt,
Schau ich ins weite Meer. – Rings Alles einsam.
Strandhafer duftet stark zu meinen Häupten,
Die blaue Distel, die der Meersand nur,
Vom würz’gen Salzhauch stets gefeuchtet, trägt,
Lockt rings die Bienen an: sie summen emsig. –
Das Buch liegt aufgeschlagen neben mir;
Ich lese nicht: ein kleiner Schmetterling,
Mit Perlenäuglein auf den Unterflügeln,
Sitzt auf dem weißen Blatt und sonnt sich froh.
Am duftumzognen Himmel wandert rasch
Ein weiß’ Gewölk vor’m Seewind in das Land;
Ein braunes Fischersegel weit im Meer –
Rings Alles still. Eintönig rauscht der Anschlag
Der Wellen: denn die Ebbe fluthet rückwärts.
Manchmal ein schriller Schrei: und blitzgeschwind,
Mit blendend hellem Schein der weißen Schwingen,
Taucht in die blaue Fluth die Silbermöwe:
Dann wieder Alles still und groß und einsam. –
Du frägst, wie ich hier lebe? – Still, verträumt! –
* * *
Am Abend war’s. – Die Sonne sank ins Meer.
Ich blickte träumend in die Wolkenbilder,
Die Wind und Licht und Schatten wechselnd schufen. –
Bald Walhalls Zinnen, silberhell gethürmt,
Von dunkler Riesen ungefüger Schar,
Von Bär und Wolf und hochgebäumter Schlange
Bestürmt: – umsonst! Sie taumeln rücklings nieder.
Bald Geisternachen, die mit Purpursegeln
Weißarm’ge Jungfraun tragen durch die Luft.
Bald steigen aus der Fluth versunkner Städte
Hochgieblige Häuser, altersbraun, – –
Das Rathhaus mit der breiten Balustrade:
Es fehlt der Dom: doch leise hör’ ich’s klingen:
„Julin! Julin!“
Ja, aus der Tiefe läutets in Julin!
Bald Drachenschiffe, Schild an Schild am Bord:
Blutrothe Wimpel flattern von den Masten,
Im Adlerhelm am Bugspriet steht ein Held –
Die Büffelhaube deckt des Feindes Haupt:
Sie fahren grimmig auf einander! Schau,
Wahrhaftig! Lanzen fliegen durch die Luft: – –
Nein. Sonnenstrahlen waren’s: und ein Traum! –
Und dort, am Werderstrand, die weiße Maid,
Hochragend: – eine Kön’gin acht’ ich sie.
Es fliegt im Wind gelöst ihr gelbes Haar,
Sie ringt die lichten Hände über’m Haupt:
Du, Gudrun, bist’s! Getrost! Siehst du, schon zieht
Heran auf grauer Fluth der wilde Schwan,
Der dir die Rettung weissagt: dort vom Westen
Der treue Wate watet schon ans Land,
Und fernher aus den Nebeln tönt Gesang
Das ist Herrn Horand’s zaubersüßes Lied! – – –
Als ich erwachte, war es dunkle Nacht:
Verschwunden waren Goldgewölk und Bilder,
Verschwunden waren alle meine Träume! –
Fast schmerzte mich’s! – –
Doch vor mir rauschte stets noch groß das Meer,
Und über meinem Haupte stand ein Stern,
Und Meer und Stern, sie sprachen still zu mir:
„Nicht klage du um das in deinem Leben,
Was dir verging wie Goldgewölk und Traum:
Vergänglich war’s: drum mußt’ es untersinken:
Was ewig ist an dir – das bleibt bestehen.“ –
Berliner und Wiener Küche.
Ich weiß, es ist ein prosaisches Thema, das ich da im Begriff stehe zu berühren, aber gerade die Leserinnen, die „edlen Frauen“, denen am meisten daran gelegen ist, „daß Alles wohl sich zieme, was geschieht“, werden mir den Fehltritt, „vom Essen“ zu sprechen, vergeben; ach, die poetischste der Frauen hat Stunden gehabt, oder sie warten ihrer, wo die prosaische Küchenfrage an sie herantritt, und es ist eine erdrückende Last, die auf den Schultern des zarten Geschlechtes ruht.
Besonders die norddeutschen Hausfrauen leiden bitter unter dieser Bürde, es lastet wie ein Alp auf ihnen, dieses „was soll morgen gekocht werden?“ und ich kenne eine liebenswürdige reizende junge Hausfrau, auf welche die gewöhnlich beim Familiensouper erstattete Meldung: „Der Schlächter ist da“ (um die Bestellung für den nächsten Tag entgegenzunehmen) fast jedesmal eine verwirrende und niederschlagende Wirkung ausübt.
Die Berliner Küche, die fast durchweg den durch Naturanlagen nicht eben ausgezeichneten, vielfältig in Anspruch genommenen weiblichen Dienstboten überlassen ist, kennzeichnet sich durch eine Einfachheit, welche mich, als ich vor einer Reihe von Jahren Berlin zum ersten Mal betrat, erschreckte und erschütterte; jeder Oesterreicher hat ja ein unendlich feines Empfinden dafür. Ich war niedergeschlagen, vernichtet von dem Eindrucke, angenehme und wirklich charmante Menschen, die so gebildet und geistreich sprachen, bei einem dem süddeutschen Geschmack [663] widerstrebenden, spartanisch einfachen Mahl zu finden, welches augenscheinlich ohne jegliche Aufmerksamkeit eingenommen wurde. Schaudernd fühlte ich die Ueberzeugung sich in mir befestigen, daß Kochen und Essen hier vornehmlich als Bedürfniß aufgefaßt werden. Mit Bitterkeit erfüllte mich die Dürftigkeit der Restaurationsspeisenkarte, von stiller Wuth verzehrt schob ich die grünlichen, sich zerbröckelnden Kartoffeln, die jedes Fleisch oder Fischgericht herkömmlicher Weise begleiten, bei Seite, und alle Geister des Spottes erwachten in meinem Innern, als ich zum ersten Mal ein „Wiener Schnitzel“ vor mir stehen sah, dessen feuchte Oberfläche von einer sich in den Schwanz beißenden halben Sardelle gekrönt war, und dann erst die ganz überflüssige düstere Sauce!
O diese Sauce! Wer hat die Stirn, sie mit ehrlicher Ueberzeugung vertheidigen zu wollen? Ist es erhört, daß man jeden Braten ungeachtet seiner zoologischen Herkunft mit derselben charakterlosen, nichtssagenden Tunke übergießt? Ja der Schleier dieses offenen Küchengeheimnisses falle ganz und gar; vernehmt es, ihr Musen der hehren Kochkunst: diese Sauce wird von den Restaurants fertig bezogen aus dem Kaufmannsladen, von demselben dunklen Ehrenmann, der noch mehr derartige Präparate auf Lager hält: Suppenextrakte, Konserven, die nur aufgebrüht oder erwärmt zu werden brauchen; er verkauft uns einen fertigen Hasenbraten in der Blechdose und den Pudding in einem Pappschächtelchen. Man kann das ganze Diner in die Tasche stecken: die Suppe in die Westentasche, den Braten in die äußere Rocktasche, den Pudding in die innere. Die Anweisung zur Fertigstellung dieses Festgerichts ist auf die Verpackung gedruckt, sie umfaßt kaum zwei Zeilen, jedes Kind kann den Pudding bereiten. Eine Küche ist dazu kaum erforderlich, er kann im Eisenbahnkoupé, während des Marsches, überall hergestellt werden.
Der Berliner betrachtet seinen Sonntagspudding selbst mit leisem Spott. „Wonnekleister“ nennt er das aus feinem Stärkemehl bestehende, schreckensbleiche, rindenlose Gebilde, das vergeblich einen Halt sucht und in beständiger zitternder Bewegung verharrt. Wo verwöhnte Gaumen zu Hause sind, übergießt man ihn zuletzt mit einer versüßten Anilinlösung; um dem Auge Ruhepunkte zu bieten, hat man auch schon den Versuch gemacht, den Abhang dieses Zitterhügels mit einigen abgehäuteten Mandeln und ebenso viel Korinthen zu verzieren. Aber das ist eitel Zierrath – der Kern ist verderblich!
Welch überwältigendes Maß von Kunsttüchtigkeit setzt dagegen die Sonntagsmehlspeise des Wieners: sein Auflauf, seine Krapferln oder was es sonst ist, voraus; von dem kalten Berliner Sonntagspudding bis zu dieser festtägigen Leistung der Wiener Köchin ist ein Schritt, der gar nicht auszumessen ist. Das Reich der Wiener Köchin – die übrigens gewöhnlich aus Böhmen stammt – ist ein Laboratorium und auch wieder ein Atelier. Die Recepte der Alchemisten sind nicht verwickelter, verlangen nicht mehr Sorgfalt als die Vorschriften zur Bereitung eines „Tag- und Nachtpuddings“, eines „Schmankerlkochs“, eines „abgetriebenen Gugelhupfs“. Das ist ein ewiges Abzählen, Messen und Abwiegen aus Papiersäcken, großen und kleinen Düten, ein Mahlen und Stoßen, Rösten und Rühren, Durchsieben und Quirlen, und ein Sorgen und Zweifeln ohne Ende, ob der Auflauf zuletzt jene Höhe erreichen wird, welche eine sichtbare Garantie für seine innere Vollkommenheit bildet, ob er sich schlank und frei aus der Form lösen wird, denn gerade hier legen die boshaften Dämonen der trefflichsten Köchin noch die gefährlichsten Fallstricke.
Man schlage in einem österreichischen Kochbuch das Kapitel der Mehlspeisen auf, es umfaßt viele Bogen, denn die Entstehung ganzer Gattungen: der Aufläufe, der verschiedenen Nudeln, Nockerl, Koche, Krapfen, Knödel, Strudel, Wandel, Schmarn etc. wird hier mit liebevoller Genauigkeit beschrieben. Die meisten dieser Anweisungen erfordern ein Studium, z. B. jene für „Salzburger Nockerln mit Skarnitzen“, für „Gegossene Krautdalkerln“, für „Gebackene Hufeisen“ und „Schinkenfleckerln in Butterteig“ – das wird alles vorher in Milch gekocht, geröstet, geschält, geschnitten, ehe es überhaupt zur Verwendung kommt; da wird ein Teig mit kochender Milch – die vorher eine halbe Stunde „gesprudelt“ wurde – angemacht, dann wird Schnee geschlagen, Zucker gestoßen, Formen werden bestrichen und ausgelegt, und der Backofen wird von oben und unten geheizt, denn fast jedes Recept schließt mit den Worten … „und lasse es schön goldgelb backen.“ Der Kochherd einer österreichischen Küche ist in Folge dieser komplicirten Verrichtungen mit Hafen und Töpfen bedeckt; hier werden Semmelbrösel geröstet, daneben wird Butter gebräunt, Füllungen werden vorbereitet, selbst die Petersilie, welche die stolz emporragenden Köpfe der Backhühner krönt, wird zuvor noch in heißer Butter gebacken.
Die Wiener Hausfrau steht in Person in der Küche, ja es giebt Momente, wo selbst die übrigen Familienangehörigen (von der Tochter, wenn eine vorhanden ist, gilt das vor Allem) mit in Aktion treten müssen. Ich erinnere mich wohl noch jener schönen Jugendtage, da ich vom Lateinischen Vokabelbuch zum – Mandelstoßen abkommandirt wurde, die Pflichten des Schülers wurden ohne Frage denen des Hauses untergeordnet, es galt als etwas Selbstverständliches. Giebt es ein schöneres Bild, als eine kinderreiche Familie, wenn ein Strudelteig „ausgezogen“ wird, wenn selbst die Kleinen verständnißvoll Hand anlegen und mit den in Mehl getauchten Pfötchen am Rand des Teiglappens so lange hin- und herzupfen, bis die zarte Masse sich über den ganzen Tisch ausgedehnt hat? Wie oft wurden ich oder meine Brüder in der Küche angestellt, einmal um die den mannigfachen Aufgaben nicht mehr gewachsene Köchin bei irgend einer mechanischen Verrichtung, beim Schneeschlagen oder Rühren abzulösen, denn gerührt wird immerzu, stundenlang, je länger je besser; ein anderes Mal, um aufzupassen, bis sich an irgend einem in der Entstehung begriffenen Gericht diese oder jene wichtige Erscheinung zeigte. Da kam es vor, daß ich Posten stand bei einem Teig, der im Begriffe war zu „gehen“, das heißt sich durch den Einfluß der Hefe zu heben, während mein Bruder Aepfel schälen oder Semmeln zerreiben mußte, denn die Wiener Köchin würde die Zumuthung, mit fertig gekauften „Semmelbröseln“ oder gar mit Paniermehl zu arbeiten, als eine schimpfliche betrachten.
Dieser Ernst, mit welchem das Kochen betrieben wird, findet in der hohen Genußfreudigkeit des Oesterreichers ein Gegengewicht. Mehr als irgendwo betrachtet man in Wien den guten Zustand der Küche als Gewähr für das Glück einer Ehe, und die zahlreichen Stifte und Abteien, die im ganzen Lande anzutreffen sind, bilden jährlich viele tausend angehende Hausfrauen zu Köchinnen höheren Stils aus. Der Oesterreicher besitzt unendlich viel Sinn für die gastronomischen Freuden, ohne ein Feinschmecker zu sein, denn er verlangt nicht nach erlesenen Genüssen, die dagegen in Berlin ziemlich leicht zu beschaffen sind.
Charakteristisch an der Wiener Küche ist – und das unterscheidet sie zunächst von der Berliner – das hohe Maß der Arbeit, welches sie erfordert; durch eine höchst komplicirte Behandlung entstehen Gerichte, deren Zusammensetzung und Urgestalt kaum mehr zu erkennen ist, in einem „Kalbfleisch-Hachée mit verlornen Eiern“ steckt eine achtunggebietende Summe von Arbeit, und eine gelungene „farcirte lämmerne Brust“ ist eine That!
Ich habe oft beobachtet, wie ein nicht ganz gelungener Braten, eine nicht vollkommene Mehlspeise die Sonntagsstimmung einer ganzen Familie verdüstern konnte, die Köchin aber schwimmt dann stets in Thränen, und es giebt Hausvorstände, welche einen „speckigen“ Strudel als Ausgangspunkt zu großen Familiendramen benutzen. Ich selbst habe einmal eine solche Scene erlebt: Ich war vor Jahren häufig der Gast eines wohlsituirten Wiener Bürgers von der guten alten Art. Eines Sonntags hatte es Vormittags einen fatalen Auftritt gegeben. Die Tochter des Hauses hatte sich geweigert, in eine von ihrem Vater längst vorbereitete Verbindung zu willigen. Es herrschte eine sehr gedrückte Stimmung bei Tisch, nur selten fiel ein Wort, ganz schweigsam aber verhielt sich der am ärgsten verstimmte Herr vom Hause. Eine gebratene Gans wurde aufgetragen, der Chef der Familie erhob sich mit einer dem Augenblicke angemessenen Feierlichkeit, als handle es sich um einen rituellen Akt. Bedächtig versenkte er die große Gabel und die blanke Tranchirklinge in den Leib der Gans, aber da quoll auch schon die röthliche Brühe heraus, die Gans war nicht gar. Der alte Wiener legte Gabel und Messer auf die Schüssel, ballte die Serviette zusammen und grollte dumpf vor sich hin: „Heut’ kommt aber auch Alles zusammen!“
Der Oesterreicher, vor Allem das Kind der „Phäakenstadt“, hat ein kulinarisches Vaterland, der Wiener wurzelt mit seinem Küchengeschmack tief in dem üppigen Heimathsboden, eine Versetzung in fremde und gar in dürftigere Erde vertragen nur robuste Naturen; sensiblere werden an der Sehnsucht nach den gewohnten „gut’n Essen“ zu Grunde gehen. Was bietet ein Leben ohne „g’röste Nierndln“, ohne „Erdäpfelschmarn mit Paradeissauce“! – Den Wiener überfällt in der Fremde ein unstillbares Heimweh nach der gewohnten Küche, ein Gefühl, das nicht so poetisch, aber mindestens ebenso gewichtig begründet ist, wie die Sehnsucht der Kinder der Berge nach dem Kuhreigen. Die schroffen Unterschiede der Küche sind es auch, die den Wiener zum großen Theil vom Reisen abhalten, man wird kaum einen Oesterreicher in der Fremde treffen, der nicht „über’s Essen“ klagt; „’s Essen“, es ist das Alpha und Omega der Leiden des aus seiner genußfreudigen Heimath verpflanzten Wieners. Der Norddeutsche, der auf das Leben in Restaurants angewiesen ist, rühmt das „schöne Bier“, weiter geht seine Kritik nicht, man wird niemals hören, daß der Oesterreicher sich durch diese Rücksicht für ein Restaurant bestimmen läßt, für ihn ist die Qualität des „Essens“ allein maßgebend.
Welche rührende Anhänglichkeit beweist der Wiener seiner „Küche“ im Auslande! Es gab in Berlin vor einiger Zeit ein Wiener Restaurant, in welchem streng nach Wiener Art gekocht wurde; die Berliner hatten für das sehr umfangreiche Menu oft nicht mehr als ein überlegenes Lächeln, dann bestellten sie eine „Harzerkäsestulle“, aber man mußte die Wiener hier ihr stilles Glück, ihre heimathliche Kost genießen sehen! Was an Künstlern, Sängern, Musikern, Schriftstellern aus Oesterreich nach Berlin kam, pilgerte Mittags und Abends nach dem „Wiener Restaurant“: der nordische Götterstaat und die Wagner’schen Nibelungenhelden von Wotan-Scaria an bis zum kleinen Mime-Lieban, sie alle stiegen hier zur gemeinen Menschlichkeit herab, zu Paprikaschnitzel und Pilsener Bier.
Der Inhaber jenes Restaurants ist nach Paris ausgewandert, um dort den Altar der Wiener Küche aufzurichten und das Evangelium des „Schönbrunner Reis“ und der „Oedenburger Nudel“ an der Seine zu verkünden. Unter den in Berlin lebenden Oesterreichern herrschte Niedergeschlagenheit und Verwirrung, diese Insel der Seligen war von dem Meer der Großstadt verschlungen worden, das letzte Band, welches sie in der Fremde mit der Heimath verknüpfte, war zerrissen.
Ich komme zum Schluß, und da stehe ich vor der Aufgabe, diese mitunter vielleicht etwas zu leidenschaftliche Besprechung mit einem Resümé zu beendigen und die Vorzüge und Nachtheile dieser grundverschiedenen Küchen gegenüber zu stellen. Ich gestehe, daß ich nicht unbefangen genug bin, diesen Vergleich zu Ende zu führen, ich gebe aber gern zu, daß die Ernährung durch die Wiener Küche mit ihrem Ueberfluß an Mehlspeisen und relativem Mangel an gebratenem Fleisch in hygienischer Beziehung anfechtbar ist, daß das Opfer der Frauen, die einen großen Theil ihrer Zeit den Küchengeschäften widmen, eine übertriebene Hingebung in sich schließt und daß dadurch nothwendiger Weise Manches versäumt wird, was im Grunde denn doch wichtiger ist, als die Tischfreuden.
Daß Derjenige, der die wenigsten Bedürfnisse hat, der Freieste und daher der Glücklichste ist, das zeigt sich bei den an norddeutsche Küche Gewöhnten. Man kann es immer wieder auf Reisen beobachten, wo der Norddeutsche seine Ansprüche immer erfüllt, sehr häufig aber übertroffen sehen wird, während die anderen Nationen – und in kulinarischer Beziehung repräsentiren auch die Oesterreicher einen ganz fremden Stamm – Entbehrungen ertragen müssen.
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Der Erstgeborne. (Mit Illustration S. 648 und 649.) „Hops, mein Bübel, hops! Und lustig sein, Micherl! Schau, der Oheim und die Base sind da. Zeig’ einmal, was Du kannst! Händelpatschen! So! Schau, der Oheim ist auch ein braves Bübel, der thut Dir nichts!“
So plaudert die junge Mutter mit ihrem Knäblein. Und der Oheim und die Base, ei ja freilich, die sind am Heimwege von der Schule auf Besuch gekommen zu der verheiratheten Schwester, um ihr kleines Bübel wieder einmal zu sehen. Aber heute werden der kleine blondlockige Oheim und die kleine schwarzäugige Base in den Hintergrund gedrängt; mit ketzermäßigem Gepolter schnaufen der Wurzelstecher Fabian und seine Dudel in die Stube.
„Gelobt sei’s Christi! Ein Bissel rasten thäten wir gern, kreuzsaubere Brunnbäurin, mit Verlaub!“ sagt der alte Waldbär, „die Täg sind lang, und der Athem wird alleweil kürzer, der Sakra! Ei ja, wenn ich zu den Gamswurzen hinauf kunnt auf die Höh’, nachher wollt’ ich der Weltkugel schon wieder ein paar Löcher schlagen, nachher!“
„Sei still, alter Dodel, und schrei’ nicht so ungeschickt daher!“ verweist die mit ihm eingetretene Weibsperson den polternden Alten, „siehst es denn nicht, daß sich das Kind vor Dir schreckt?“
Denn das kleine Micherl beginnt sein Mäulchen bedenklich zu krümmen, aber nicht so sehr des possirlich daherwackelnden Alten wegen, als vielmehr aus Angst vor dem gewaltigen Hut, den die Weibsperson auf dem Kopfe hat.
„Vor Deiner Kopfbutten dadert (ängstigt) es sich!“ sagt ihr der Alte zurück, „und nicht vor mir. – Gelt?“ und diese Worte richtet er an das Knäblein, das auf dem Mutterschoße verzagt dreinschaut, noch tapfer bestrebt, das drohende Schluchzen zu überwinden. „Gelt, wir zwei, wir werden uns bald verstehen.“
„Wie heißt es denn?“ fragt die Dudel. „Ah so, Micherl heißt es. Das ist aber brav, daß es Micherl heißt. Schau, Dein heiliger Namenspatron, der heilige Michael, ’s ist richtig wahr auch, der thut den höllischen Drachen verjeiken (verjagen).“
„Wohl, wohl, und auch die alten Weiber!“ setzt der Wurzelstecher Fabian bei.
„Los (höre) nicht auf den alten Ameismarder da!“ sagt die Dudel zum Kleinen. „Bist ja so viel klug und fein! Und die feisten Händeln, ’s ist aus der Weis’! Wirst heut’ halt müssen mit mir gehen, ich hab’ auch gern so ein liebes Bübel, ich.“
Jetzt aber platzt das geängstigte Micherl los, und weinend birgt es sein kleines Haupt an dem zarten, trauten Busen der Mutter.
„Da hast es!“ knurrt der Fabian vorwurfsvoll gegen die Dudel. „Es thut Dir kein gut, so lang nicht Eins schreit. Du bist die helle Kinderscheuchen, Du! Geh mir weg mit Deiner Pfundnasen! Die kleinen Kindlein ärgern, das kann ich was nicht leiden! – Sei gut, Micherl, sollst hübsch bei Deiner Mutter bleiben. Los’ einmal!“
Er spitzt den Mund und ahmt das Zwitschern der Amsel nach. Das muntert den Kleinen auf, er stellt das Weinen ein; wohl mit einigem Mißtrauen, aber doch mit Interesse wendet er sein Gesichtlein dem Alten zu. Dieser hat sich auf einen Stuhl niedergelassen, seinen Stock unter das bärtige Kinn gestemmt, macht allerhand komische Geberden und drällert:
Stieglitz, Stieglitz,
’s Zeiserl is krank,
Gehn ma zum Bader,
Lassn ma ’n zur Ader,
Stieglitz, Stieglitz,
’s Zeiserl is krank!“
Jetzt lächelt der kleine Schelm, und der Alte sagt: „Guck! Guck! Ein herziger Kerl bist! Guck, Bäurin, Du bist so gut und laßt mich ein wenig hocken da, vor Deinem kleinen Himmelreich. Schau, wenn ich einem Kindel kann ins Gesicht schauen, das sind meine Weihnachten und Ostern und alle heiligen Zeiten.“
Wer jetzt das Lächeln der Mutter betrachten wollte! Wenn einst die Sterne vom Himmel fallen und die Sonne blind wird, und es ist so dunkel auf der Welt, daß der Mensch die Blümlein auf der Au nicht mehr sieht und das Mein und Dein nicht mehr unterscheiden kann – ein einziges solches Lächeln einer jungen Mutter, und es wird wieder licht. Ihr seht ja, wie auch hier auf dem Bilde das Mutterglück und Kindeslächeln auf allen Gesichtern wiederstrahlt; die Dudel lacht, der kleine Oheim lacht, die junge Base lacht – das wird auch einmal Eine, die! – der alte Fabian schmunzelt.
„Und mein liebherzig Bürschel!“ sagt er zum Knäblein, „wenn ich Dir einen guten Rath darf geben: laß Dir Zeit mit dem Großwerden, und verlang’ Dir dieweilen kein Brüderl oder Schwesterl. Bleib’ sitzen auf dem warmen weichen Sessel, wo Du jetzo sitzest, so lang’ sie Dich lassen. Glaube mir, man sitzt nirgends auf der Welt – gewißlich auch auf güldenem Königsthron nicht – so gut, wie auf dem Mutterschoß. Bleib sitzen, Micherl, so lang’ sie Dich lassen, und behüt’ Dich Gott!“ Damit erhebt sich der Wurzelstecher mühselig und knurrt: „Alte Dudel, jezt mach’, wir rucken weiter.“ P. K. Rosegger.
Kleiner Briefkasten.
G. Z. in A. Nein, der durch seine Logarithmischen Tafeln berühmte Freiherr von Vega wurde am 26. September 1802 von einem Müller ermordet. Der Verbrecher wurde erst nach Verlauf von 9 Jahren ermittelt.
[Inhalt dieser Einzelnummer, hier nicht dargestellt.]
Ein Besitz von bleibendem litterarischen und Kunstwerthe, ein hervorragender Schmuck für jede Hausbibliothek, kann das von einer Anzahl der bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Künstler geschaffene Prachtwerk genannt werden, von welchem gegenwärtig eine neue Subskriptionsausgabe in Lieferungen zum Preise von M. 1.— erscheint. – Das Werk zerfällt in folgende selbständige Abtheilungen, auf welche einzeln subskribiert werden kann:
Wanderungen im bayerischen Gebirge und Salzkammergut.
Gr. Folioformat. 18 Lieferungen à M. 1.— Preis in glänzendem Prachtband M. 24.—
Wanderungen durch Tirol und Vorarlberg.
Wanderungen durch Steiermark und Kärnten.
Die obigen Prachtwerke eignen sich vermöge ihrer glänzenden Ausstattung besonders auch zu Festgeschenken. Jedes einzelne derselben kann sowohl in Lieferungen' (sammt Original-Einbanddecke) nach und nach – als auch vollständig gebunden durch alle Buchhandlungen bezogen werden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: geglieben.