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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[437]

No. 27.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sommerblumenzeit.

Von
Carl Weitbrecht.

Ist die Sommerblumenzeit
Endlich doch gekommen?
Hätt’ sie mir nur nicht so weit
Meinen Schatz genommen!

Blies ein kalter Wind im Mai,
Klagten alle Leute,
Aber heimlich doch wir Zwei
Wußten, was uns freute.

Jetzt von all der Sommerpracht
Schwatzen alle Staaren –
Daß ich weinte gestern Nacht,
Niemand hats erfahren.

In der Sommerblumenzeit,
In den schönsten Tagen,
Wär mein Schatz nur nicht so weit,
Wer hätt’ was zu klagen?




[438]

Trudchens Heirath.

Von 0W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Es war spät geworden, ehe Onkel Heinrich und Arthur ihren Heimweg antraten und spät, ehe der kleine Amtsrichter sein Zimmer aufsuchte. Sie hatten alle Drei noch lange in Franzens Wohnstube gesessen und gesprochen von alter und neuer Zeit.

„Das kann ganz lustig bei uns werden,“ meinte Franz, „wenn Tante Rosa’s Nichte kommt; Du bist dann auch nicht mehr so allein, Trudchen, wenn ich lange auf dem Felde zu thun habe.“

„Ich vermisse Niemand,“ erwiderte sie ruhig, „ich habe nie eine Freundin gehabt, jetzt aber erscheint es mir mehr als überflüssig.“ Und sie blickte zu ihm hinüber mit ihren tiefen Augen.

„Gnädige Frau,“ erkundigte sich der Amtsrichter, der eben den Rest seiner Cigarre in eine Meerschaumspitze steckte, „hat er Sie denn auch angedichtet?“ Und er wies verstohlen lächelnd auf Franz.

Trudchen wurde roth. „Gewiß!“ antwortete sie.

„Ja, das Dichten kann er nicht lassen,“ neckte der Kleine und schlug den Freund auf die Schulter. „Ich sage Ihnen, gnädige Frau, zuweilen ergriff’s ihn wie ein Fieber; und was so ein Mensch alles besingt! Die Poeten sind wirklich geborne Lügner; in dem Moment, wo die süßen Verse aufs Papier strömen, glauben sie freilich selbst jedes Wort, was sie schreiben – ’s ist wirklich rührend!“

„Aber ich bitte Dich, Richard,“ lachte halb ärgerlich der junge Hausherr.

„Ist’s etwa nicht wahr?“ fragte der Amtsrichter. „Denke doch nur an Dein berühmtes Gedicht von der Zigeunerin! Ich war ja dabei, als Du auf dem Römerberg die braune Maid erblicktest, und am Abend schon stand in Deinem Notizbuch, daß sie

‚Beschwingten Fußes durch die Straßen irrt,
Mit wirrem Haar und schwarzen scheuen Augen,
Darin die Sehnsucht nach der Haide lag
Und nach dem Wind, der durch das Riedgras schwirrt, –‘

Und was war’s? Ha! ha! Aus der Judengasse stammte sie und fragte in den Häusern herum: ‚Habens Hasenfelle, Hadern, Lumpe?‘“

Alle Drei lachten, Trudchen am herzlichsten. dann ward sie plötzlich nachdenklich.

„Du bist ein boshafter Mensch,“ erklärte Franz und erhob sich, um ein Licht anzuzünden. „’a ist apät, Richard, und unsereiner wird früh wach.“

Als sich die Herren dann vor dem Gastzimmer gute Nacht wünschten, sagte der Amtsrichter: „Na, Franz, ich gratulire, Du hast das große Loos gezogen; so ein liebes kleines verständiges Weib! Und das Andere – Goldsohn, was habe ich Dir gesagt von diesem Menschen? Na, gute Nacht! Ein charmanter Onkel übrigens, dieser Onkel Heinrich – nun mach’, daß Du wegkommst.“

Trudchen stand am offenen Fenster in ihrem Zimmer und sah in die schwüle Nacht hinaus; nur schwach drang der Lampenschein aus dem Nebenraum herüber. Es waren dunkle Wolken heraufgezogen, fern über den Bergen zuckte ein Wetterleuchten, und im Garten schlug und schluchzte ein Chor von Nachtigallen.

„Trudchen!“ klang es hinter ihr.

„Franz!“ erwiderte sie und legte den Kopf an seine Schulter. „Horch, horch! Es ist so schön heute Abend.“

Er stand eine ganze Weile schweigend; das Gespräch von heut Nachmittag ging noch in seinem Kopfe herum; der Onkel hatte nicht begriffen, warum der junge Mann nicht aus seinem Walde Bauholz schlagen ließ. Es war aber Alles zu sehr ausgeholzt, und frische Anpflanzungen kaum gemacht.

„Sage, Trudchen,“ begann er plötzlich, „wo liegt denn eigentlich die Villa ‚Waldruhe‘?“

Die junge Frau an seinem Arme fuhr auf wie von einer Schlange gebissen. „Unsere – meine Villa?“ stieß sie athemlos hervor, „woher weißt Du – wer sprach Dir von der Villa?“

Er blieb stumm. „Ich kann mich nicht besinnen, wer,“ sagte er nach einer Pause, „irgeud Jemand muß mir doch davon geredet haben, daß ein kleiner Wald, ein Naturpark dabei ist. Aber, Gertrud, was ist Dir denn?“ fragte er. „zitterst Du?“

„Ach, Franz, wer hat Dir davon erzählt?“ wiederholte sie, „und was?“ Es klang so traurig, daß er sofort empfand, er habe sie verletzt.

„Trudchen, habe ich Dir weh gethan? Ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich dachte an nichts weiter als an billige Hölzer, die ich möglicherweise zum Winter dort schlagen lassen könnte.“

„Bauholz? Dort? Es ist ja nur ein Park. Ach Franz –“

„Aber was heißt denn das?“ fragte er etwas ungeduldig. „Ich kann doch unmöglich wissen –“

„Nein, Du kannst es nicht wissen,“ bestätigte sie. „Es war nur der Schrecken – ich hätte Dir es längst mittheilen sollen, es wird mir nur so furchtbar schwer, davon zu sprechen. Du sollst es auch hören, aber – sage mir, wer Dir davon erzählte!“

„Wenn ich doch die Versicherung gebe, Kind: ich weiß es nicht mehr.“

„Franz,“ sagte die junge Frau stockend und leise, „da draußen – in der ‚Waldruhe‘, ist mein armer Vater gestorben –“

„Mein Frauchen!“ tröstete er.

„Er ist dort – er hat – sich selbst das Leben genommen.“ Es klang kaum hörbar.

Er bog sich erschreckt zu ihr. „Armes Kind, das wußte ich nicht, daran wollte ich nicht rühren.“

„Und ich, Franz, ich habe ihn gefunden. Er hatte sich die ‚Waldrnhe‘ gebaut, da war ich noch ein Kind, und er zog sich wochenlang dorthin zurück. Es ist so schwer darüber zu sprechen – er war nicht glücklich, Franz, – ach, erlaß mir das! Mama verstand ihn nicht, und da, Weihnacht war’s, am ersten Feiertag, ich wußte, sie hatten wieder einen Wortwechsel gehabt; ein Wortwechsel ist nicht das Rechte, Papa widersprach ihr eigentlich nie, versuchte auch gar nicht Mamas Weinen und Jammern zu unterbrechen. Nach einer Weile hörte ich den Wagen fortrollen. Das war früh – mich packte eine seltsame Angst, und nach Tisch nahm ich Hut und Mantel und lief aus dem Bergedorfer Thor und die Chaussée entlang, immer weiter und weiter bis nach ‚Waldruhe‘. Und ich wunderte mich, daß die Läden in seinem Zimmer nicht geöffnet waren, ich sah doch die frischen Wagenspuren vor dem Hause. Die Gärtnerfrau, die im Hofgebäude wohnt, sagte, der Herr sei droben. Er war auch oben – ja – aber todt!“

Sie stand neben ihm, von seinem Arm umfaßt, wie sie das erzählte. Er fühlte ihr Zittern und wie kalt ihr die Hände. „Höre auf, mein Herz,“ bat er erschüttert, „Du machst Dich krank!“

„Ja, ich war krank, Franz, jahrelang,“ sagte sie. „Es war eine fürchterliche Zeit; ich konnte meiner Mutter nicht vergeben. Von diesem Augenblick that sich die Kluft auf, die zwischen uns liegt; und keine Brücke wollte hinüberreichen. Zum Sterben arm war ich, bis ich Dich fand, Franz. Aber die Villa? – ja, sie gehört mir, Papa hatte sie schon damals für mich bestimmt, als er sie baute. Ich habe dort ruhige schöne Zeiten mit ihm verlebt, – aber jetzt ist mir jeder Gedanke an das Haus schrecklich. Es steht öde und verlassen, ich habe es nie wieder aufgesucht. Es ist so grauenhaft, Franz, einen Menschen, den man verehrt und geliebt, so zu finden – so –“

„Verzeihe mir, Trudchen!“ bat er weich.

„Du konntest es nicht wissen, Franz. Es weiß Niemand davon außer uns, der Familie.“ Und als wollte sie ihn auf andere Gedanken bringen, fuhr sie hastig fort: „Ich danke Dir auch, Schatz, wie ist das Gedicht so schön ‚Du hast mich namenlos geliebt!‘“ Und sie streichelte seine Hand und drückte sie an die Lippen.

„Mein armes kleines Trudchen!“

So standen sie noch eine Weile, und an ihuen vorüber zogen die Wonnen des Frühlings, Duft und Lieder.

„Das Gewitter kommt herauf,“ sagte er endlich, und sie entwand sich seinen Armen und ging aus dem Zimmer. Franz hörte sie auf dem Korridor leise hin und her gehen, die Thüren und Fenster schließen und mit den Schlüsseln klappern. Sie sah nach, ob Alles versorgt und verwahrt zur Nacht.

Er legte die Hand an die Stirn und sann; wer hatte ihm von der Villa gesprochen? und er ging hinüber in sein erleuchtetes [439] Zimmer, als könne er dort besser nachdenken. Nach einem Weilchen kam die junge Frau zurück, das Schlüsselkörbchen am Arm. Das liebe Gesicht wandte sich zu ihm empor.

„Franz,“ sagte sie, „was wollte doch heute der Agent von Dir?“

Er sah sie starr an, als sei ein Blitz vor ihm niedergefahren. „Richtig, richtig!“ Und er schlug sich vor die Stirn, als falle ihm plötzlich ein, wonach er vergeblich gesucht.

„Was er wollte? O, nichts, Trudchen, gar nichts von Belang.“

Sie blickte ihn erstaunt an, aber sie schwieg. Es war nicht ihre Art, zum zweiten Male zu fragen, wenn sie keine Antwort bekam. Es mochte ja auch wirklich nichts von Belang sein.


In der Nacht hatte es stark gewittert, aber die Natur schien heute keine Lust zu haben, ihr kokettestes Kunststückchen auszuführen; sie lachte nicht wie sonst doppelt fröhlich in Himmelsbläue und Sonnengold auf Wald und Fluren; verdrießlich spannte sich ein graues Zelt über die Landschaft, so gleichförmig vertheilt, daß die Sonne auch nicht ein Ritzchen fand, nur einen freundlichen Gruß hinunter zu schicken, und es regnete; so ein richtiger Landregen war es, unverdrossen, ohne Aufhören.

Franz kehrte vom Felde heim, er freute sich über das Wetter; und Trudchen winkte aus dem Fenster, wie jeden Morgen.

„Alle Blüthen sind verregnet, Franz,“ rief sie ihm hinunter; „wie schade –!“

Er kam besonders gut gelaunt herauf. „Der Regen ist nicht mit Geld zu bezahlen, Liebling,“ sagte er; „nun bin ich nämlich schon so weit wie ein richtiger Oekonom, meine Stimmung hängt vom Wetter ab.“

„Meine auch!“ bemerkte die junge Frau, „so ein grauer Tag macht mich melancholisch.“

Er trat zu ihr, die an ihrem Schreibtisch saß und in Papieren und Büchern kramte. „Sieh einmal, Franz,“ und sie hielt ihm ein Päckchen entgegen, zierlich mit blauem Band gebunden, „das sind lauter Verse von Dir, der Reihe nach geordnet; wenn wir einst silberne Hochzeit feiern, lasse ich sie drucken und einbinden. Diese, auf dem crêmefarbigen Papiere, sind aus der Brautzeit, und diese verschiedenen Fetzen, weiß und blau und grau, die sind von jetzt, wo Du jedes Papier nimmst, das Dir in die Hände kommt, weil Du vermuthlich denkst, für die Frau Trude ist es gut genug.“

Sie sah ihn lachend an; er hatte sich tief zu ihr gebeugt.

„Und jetzt kaufe ich mir noch ganz besonderes Papier zu den nächsten Gedichten, Trudchen.“

„Warum?“

„Kunterbunt, wie die Klapperstörche Tüten unter den Flügeln haben. Und darauf schreibe ich.“

Sie war purpurn erglüht, „ein Wiegenlied –“ sagte sie leise ergänzend.

Er nickte und zog ihre Hand an den Mund. Sie aber schlang beide Arme um seinen Hals. „Dann wäre es erst traut, erst heimlich, Franz. Dann hätten wir uns noch lieber – wenn’s möglich ist.“

„Hier, kleine Frau, das habe ich Dir heute im Felde, im Regen, aufgeschrieben!“ Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und legte es in ihre Hände. „Ich will einmal nachschauen, wo sich der Amtsrichter umhertreibt, der Sakramenter!“ rief er von der Thür noch zurück. Und sie saß schon und las, und ihr Antlitz war so ernst, als lese sie in der Bibel.

Sie schreckte empor von dem Knall einer Peitsche vor den Fenstern, eilig blickte sie hinaus – dort unten hielt der Baumhagen’sche Wagen; der Kutscher im weißen Gummirock und ebensolchen Hutüberzug, die Eisenschimmel anzuschauen wie ein Paar Rappen, so naßgeregnet. Sie öffnete das Fenster, zu sehen, ob Jemand aussteige, es rührte sich nichts; dann kam Johanne, der Kutscher reichte ihr einen Brief und sie lief eilig ins Haus zurück.

Die junge Frau durchzuckte es wie ein Schrecken; ein Unglück zu Hause? Sie flog zur Thür. „Ein Brief, gnädige Frau!“ Hastig riß sie das Kouvert auf:

 „Komme sofort; muß Dich nothwendig sprechen.
 Deine Mutter.“

Das war der orakelhafte kurze Inhalt des Billets.

„Bringen Sie mir die Sachen, Johanne, und benachrichtigen Sie meinen Mann.“

„Franz,“ rief sie ihm entgegen, als er rasch eintrat, „irgend etwas ist passirt!“

„Aengstige Dich doch nicht,“ bat er, ohne seine Unruhe ganz verbergen zu können.

„Ja ja! Gott, wenn ich nur erst wüßte, was! Mir ist so schwer ums Herz.“

Er nahm dem Mädchen die Sachen ab und legte den Mantel um Trudchens Schultern.

„Wenn es nur kein Krach ist mit Arthur und Jenny! Sie waren wunderlich mit einander gestern.“

Trudchen sah ihn kopfschüttelnd an. „Nein, nein, sie sind nie anders zusammen gewesen.“

„Dann wundert’s mich, daß er nicht schon längst davon gelaufen ist,“ sagte er trocken.

„Oder sie,“ gab Trudchen zurück und band die Hutschleife.

„Ich ertrüge solch ewige Katzbalgerei nicht, Trudchen;“ er knüpfte ihr dabei den linken Handschuh zu.

„Ich auch nicht, Franz. Leb wohl! Ihr müßt mich beim Essen entschuldigen. Gott gebe, daß es nichts Schlimmes ist.“

Sie sah sich noch einmal im Zimmer um, ging dann rasch an den Nähtisch und schob das Notizbuch in die Tasche.

Als der Landauer ein paar Momente später das Gitterthor passirte, bog sich ihr Köpfchen noch einmal aus dem Wagenfenster. Er stand auf der Treppe und sah ihr nach; nun nahm er den Hut ab und schwenkte ihn. Wie hübsch er war, wie stattlich und wie gut!

Sie lehnte sich in die Polster zurück. Es war ihr bange – das erste Mal, daß sie ohne ihn das Haus verließ. Es kamen ihr so wunderliche Gedanken, wie schrecklich es wäre, wenn sie ihn nicht gefunden, oder gar – wenn sie ihn verlieren müßte! Ob sie wohl noch leben könnte, dann?

Leben – ja; aber wie!

Furchtbar, Wittwe zu sein! Noch furchtbarer, sich zu trennen, der Eine hier – der Andere dort, grollend oder gleichgültig!

Ob Jenny und Arthur wirklich –? Herr Gott im Himmel, bewahre uns vor solchem Leid!

Sie sah aus dem Fenster; der Kutscher fuhr in schwindelndem Tempo. Dort vor ihr im Dunst lag die Stadt. Wieder wanderten ihre Gedanken; schneller noch als die Fahrt. Sie zog das Notizbuch aus der Tasche, sie wollte lesen, aber die Buchstaben verrannen vor ihren Augen; sie schob es wieder an seinen Platz.

Auf dem Boden zu Hause stand noch die alte Wiege, in der einst Papa gelegen, und Jenny und sie. Die Großmutter aus der engen Gasse hatte sie zur Aussteuer bekommen. Die wollte sie dereinst sich holen, wenn Gott ihr jenen Wunsch erfüllen würde. Jenny’s Liebling hatte in einem anderen Bettchen gelegen, die alte plumpe Wiege paßte nicht in das elegante Schlafzimmer der jungen Mutter; aber in die schlichte Stube zu Niendorf, wo der Wein sich ums Fenster rankte und der alte große Kachelofen so breit und gemüthlich stand, da war sie an ihrem Platz, just zwischen Ofen und Wandschrank, so recht traut und heimlich. Sie lächelte glücklich wie ein Kind; daß ihr Leben so schön, so reich werden solle, sie konnte es gar nicht glauben.

Der Wagen rasselte jetzt durch das Stadtthor, sie war gleich daheim, und ihr Herz begann stürmisch zu klopfen. Wenn sie doch erst wüßte!

Der Hausmann öffnete ihr den Schlag und sie stieg die Treppe empor, vorüber an Jenny’s Wohnung; die Entréethür zur mütterlichen Etage stand geöffnet. Niemand zu sehen, und sie trat in den Flur. Wie grüßte sie Alles so lieb und vertraut, selbst die Standuhr erhob ihre Stimme, eben schlug sie dreiviertel auf Zwei. Sie legte den Mantel ab und ging zu dem Zimmer der Mutter hinüber. Auch hier die Thür nur angelehnt. Im Begriff einzutreten, zog sie plötzlich die Hand zurück.

„Und ich sage Dir, Ottilie, daß es der unüberlegteste Streich Deines Lebens ist, wenn Du dem Kinde das Alles so unvorbereitet ins Gesicht wirfst. Mag es wahr sein oder nicht, wozu willst Du ihr junges Glück zerstören? Da giebt es doch andere Mittel und Wege!“

Es war Onkel Heinrich; er sprach im Tone tiefster Entrüstung.

„Sie soll es von Fremden erfahren?“ scholl die Stimme der weinenden Mutter; „die ganze Stadt erzählt es sich, und sie soll wie eine Blinde umhergehen?“

[440] „Ich zittere an allen Gliedern,“ hörte Trudchen jetzt Jenny, „es ist empörend, wir sind auf ewig lächerlich gemacht! Gestern Abend erst sagte ich noch zur Frau von S.: ‚Sie können sich nicht vorstellen, welch ein idyllisches schäferhaftes Glück da draußen in Niendorf seinen Wohnsitz hat!‘“

„Zum Henker mit Eurer Logik! Ich sage Euch –“ rief jetzt der kleine Herr zornig. Aber er verstummte jäh, dort auf der Schwelle stand Trudchen Linden.

„Sprecht Ihr von uns?“ fragte sie, und ihre erschreckten Augen irrten über die Anwesenden und blieben an der Mutter hängen, die bei ihrem Erscheinen weinend in den Sessel zurücksank.

„Ja, Kind!“ Der alte Herr war zu ihr geeilt und suchte sie hinauszudrängen. „’S ist ein unüberlegter Streich von Deiner Mutter gewesen, daß sie Dich holen ließ, es ist nämlich gar nichts Schlimmes passirt, so eine dumme Rederei, ein Mißverständniß, lächerlich! Komm erst mal herüber in ein anderes Zimmer, ich will es Dir erklären.“

„Nein, nein, Onkel, ich möchte es wissen, genau wissen!“ Sie zog ihre Hand aus der seinen und schritt zur Mutter hinüber. „Hier bin ich, Mama, nun sage mir Alles, aber rasch – ich bitte Dich.“

Sie sah aus todtenbleichem Antlitz zu der weinenden Frau hinunter, und so stand sie in ihrer einfachen Sommertoilette fast regungslos, nur die Bänder des Hütchens, die zur Seite des Gesichtes in einen leichten Knoten geschürzt waren, bebten in raschen Schlägen und gaben Kunde von ihrer furchtbaren Erregung.

„Ich kann’s ihr nicht sagen,“ schluchzte Frau Baumhagen, „sag Du es, Jenny!“

Sofort wandte sich Trudchen zu der Schwester. Die junge Frau schlug die Augen nieder und wickelte die schwarzen Sammetschleifen ihres Morgenkleides nervös um die Finger.

„Dein Mann ist in eine unangenehme Situation gerathen,“ begann sie leise.

„In wiefern?“ fragte Trudchen.

„Eine fatale Geschichte ist es, aber nicht darnach angethan, solche Leichenbittergesichter zu machen,“ polterte der alte Herr, der am Fenster stand.

„Er hatte –“ Frau Jenny stockte wieder, „gestern ein Gespräch mit Wolff.“

„Das weiß ich.“ bestätigte Trudchen.

„Wolff hat eine Forderung an ihn, eine sehr diskrete Forderung; Dein Mann will sie nicht anerkennen, und –“

„So kommt in drei Teufels Namen zu Ende!“ Der alte Herr schlug zornig auf das Fensterbrett, „wollt Ihr der Frau das Gift tropfenweise geben?“

Er faßte wieder Trudchens Hand und suchte nach Worten.

„Sieh, Trudchen, es ist so schlimm nicht; es kommt manchmal vor, und der Wolff mag sich auch aufgedrängt haben – kurz und gut, er ist so ein lebendiges Lexikon, kennt alle Menschen hier herum, und was Einer wissen will, das erfährt er sicher bei ihm. Da hat Dein Mann sich nun – na, wie soll ich mich denn ausdrücken? – hat sich nach Deinen Verhältnissen erkundigt, verstehst Du? – ehe er um Dich anhielt, voilà tout. Es kommt hundertmal vor, Kind, Du bist vernünftig, nicht wahr, Trudchen?“

Die junge Frau stand wie eine Statue, nur allmählich kehrte die Farbe wieder auf ihr Antlitz zurück.

„Das ist eine Lüge!“ sagte sie hoch aufathmend. „Deßhalb habt Ihr mich holen lassen?“

„Aber Wolff war bei mir,“ klagte Frau Baumhagen, „er rief meine Vermittelung an.“

„Nein, er war bei uns,“ berichtete Jenny, „schon in aller Morgenfrühe; er wollte Arthur sprechen. Aber Arthur –“ sie stockte, „Arthur ist gestern Abend –“

„Vielmehr in dieser Nacht urplötzlich verreist,“ ergänzte Frau Baumhagen schneidend, „ich habe Freude an den Ehen meiner Kinder.“

„Ich kann nichts dafür, daß er Alles gleich übelnimmt,“ lachte die junge Frau unbekümmert; „eigentlich sind wir doch sehr glücklich!“

„Das weiß was von Glück!“ brummte der alte Herr vor sich hin, so leise, daß es nur Trudchen verstand, neben der er Posto gefaßt hatte. Und laut setzte er hinzu: „Eine eilige Geschäftsreise; sagen wir, eine eilige Geschäftsreise, der eine kleine süße Gardinenpredigt voranging.“

„Allerdings eine Geschäftsreise,“ betonte Frau Baumhagen pikirt, „nach Manchester.“

„Was hat das mit Trudchens Angelegenheit zu thun?“ fragte Onkel Heinrich; „genug, Arthur war nicht da und der Gentleman stieg eine Treppe höher und sprach mit Deiner Mutter, mein Kind. Nicht der Rede ist’s werth – wäre ich nur früher hier gewesen! Es ist zwar fatal, daß Du es erfährst, aber glaube mir, Kind, sie erkundigen sich Alle heutzutage.“

Der kleine gutmüthige Herr klopfte ihr freundlich auf die Schulter.

Frau Baumhagen aber fuhr wie eine gereizte Löwin empor. „Rede nicht so wunderlich! Was ist da noch zu beschönigen? Eine ganz gemeine Heirathsvermittelung ist es gewesen. Ich hoffe, daß Gertrud soviel Ehrgefühl besitzt, Herrn Linden zu sagen, daß –“

„Vorläufig kein Wort!“ Die junge Frau trat förmlich drohend in die Mitte des Zimmers.

„Aber ich bitte Dich! Es wird der skandalöseste Proceß, den die Welt kennt,“ schluchzte die erregte Dame, „er will ja Linden verklagen – Du und er, Ihr werdet Beide vor Gericht müssen.“

Trudchen erwiderte keine Silbe.

„Habe die Güte, mir einen Wagen besorgen zu lassen, Onkel,“ bat sie.

„Nein, Du darfst nicht fort, so nicht! Du siehst erbarmungswerth aus!“ schlugen die Angstrufe von Mutter und Schwester an ihr Ohr.

„Laß doch mit Dir reden, Trudchen,“ klagte Frau Jenny, „wir beschwichtigen den Wolff. – Onkel kann ja fragen, wie hoch die Forderung ist für seine Vermittlung, und –“

„Und Du kommst wieder zu uns,“ schluchzte die Mutter. „Trudchen, Trudchen, mein armes unglückliches Kind, habe ich es nicht geahnt?“

„Da hört Alles auf!“ murmelte ingrimmig der alte Herr. „diese Weiberweisheit hole der Teufel! Laß Dir nicht dreinschwatzen, Kind,“ rief er kräftig dazwischen, „mach’s mit Deinem Mann allein aus.“

„Einen Wagen, Onkel!“ wiederholte die junge Frau ihre Bitte.

„Warte doch wenigstens,“ flehte Frau Jenny, „bis Mamas Anwalt –“

„Das fehlt auch noch!“ brummte Onkel Heinrich, „wäre nur Arthur hier gewesen, so konnte diese verfl .... Geschichte nicht gleich in die Hände der Frauenzimmer kommen. Ich hole Dir einen Wagen, Trudchen. Eure Gäule sind wohl auf der Fabrik, Jenny? Auch gut. Verziehe nur einen Moment!“

Trudchen war wie betäubt an das Fenster getreten, noch hatte sie kein klares Verständniß der Sache. „Die ganze Stadt spricht davon!“ hörte sie die Mutter schluchzen. Wovon denn? – Sie versuchte mit Gewalt ihre Gedanken zusammen zu fassen, aber es ging nicht. Nur das Eine: Es ist nicht wahr! stand deutlich vor ihrer Seele.

Sie ballte die kleine Faust im Lederhandschuh. „Lüge! Lüge!“ kam es über ihre Lippen. Aber wie ein schwerer Nebel hatte sich diese Lüge über ihr junges Glück gelegt, so beängstigend, daß ihr das Athmen schwer wurde.

„Soll ich mit Dir fahren?“ fragte Jenny hinter ihr. Eben kam der Wagen über den Marktplatz.

„Ich danke! Zwischen meinem Mann und mir brauche ich keinen Dritten!“ Kalt und schroff klang es.

„Du siehst so jammervoll aus,“ stöhnte die Mutter.

„Um so besser, daß ich bald heim komme.“

„Schicke doch wenigstens gleich einen Boten!“

„Vielleicht glaubt Ihr auch, daß er mich schlägt?“ fragte sie schneidend und sich zum Gehen wendend.

„Kind! Kind!“ rief Frau Baumhagen und streckte die Arme nach ihr aus, „nimm Vernunft an; sei doch nicht so verblendet, wo Thatsachen sprechen!“

Aber sie wandte sich nicht zurück; ruhig nahm sie draußen ihren Mantel vom Garderobenständer. Sophie blickte angstvoll in das blasse stille Gesicht der jungen Frau, die ganz vergaß, der alten Dienerin ein freundliches Wort zu sagen. Am Wagenschlag stand Onkel Heinrich.

„Ich will Dich begleiten, Trudchen,“ bat er.

Sie schüttelte den Kopf.

[441]

Rheinlandschaft in Graubünden.
Nach dem Oelgemälde von J. G. Steffan.

[442] „Es ist nur purer Egoismus, Trudchen,“ fuhr er fort. „Wenn ich nicht weiß, wie es da wird bei Euch, bin ich ein kranker Mann.“

„Nein, Onkel. Wir zwei brauchen Niemand, wir sprechen besser unter vier Augen.“

„Brich nicht gleich den Stab, Kind,“ sagte er weich.

„Das habe ich nicht nöthig, Onkel Heinrich!“

Er nahm den Hut ab über dem kahlen Scheitel. Es lag etwas wie Ehrfurcht in seinen Augen. „Leb wohl, Trudchen, kleines Trudchen, wenn’s nach mir gegangen wäre, Du hättest keine Silbe erfahren.“

Sie nickte ihm ernsthaft zu: „Es ist gut so, Onkel!“ Dann fuhr sie den Weg zurück, den sie gekommen.

Der Regen schlug an die klappernden Scheiben und trommelte auf dem Lederdach des Wagens, und die Fahrt ging so langsam. Das junge Weib starrte hinaus in die dunstige Landschaft; verweht war die Blüthenpracht, die weißen Blumenblättchen schwammen auf den Pfützen der Landstraße. „Nur einen Sonnenstrahl!“ dachte sie, das Wetter drückte sie vollends zu Boden.

Lächerlich! Wie kann man sich so beeinflussen lassen durch thörichte Reden! Mama, die stets Alles schwarz sah, – und wenn sie auch stets die Wahrheit sprach – diese Geschichte hatte man ihr aufgebunden. Armer Franz! Nun wird es Aerger geben – den ersten Verdruß! – Sie wollte es ihm scherzweise mittheilen, – nach Tische, wenn sie allein im Zimmer, dann wollte sie sagen: „Franz, ich muß Dir noch etwas erzählen, zum Todtlachen, Franz! Denke Dir, Du hast Dir einen bittern Feind geschaffen, und seine Rache ist so komisch, er behauptet“ – sie lächelte jetzt wirklich – „Ja, so wird es gehen.“

Da kam sie eben an dem Wartthurme vorüber. Woran dachte sie doch gleich, als sie vor ein paar Stunden hier fuhr? Ach ja – eine Purpurröthe überflog ihr Gesicht – „an die Wiege auf dem Boden“. Sie sah das alte Geräth so deutlich vor sich; zwei rothe Rosen waren am Kopfende gemalt, in der Mitte ein goldener Stern, und darunter stand: „Wohl Dem, der Freude erlebt an seinen Kindern.“

Sie griff in die Tasche und holte das Notizbuch hervor – der Wagen kroch so langsam den Berg hinan – sie kannte die Worte noch nicht ganz, sie mußte es noch einmal lesen:

„Als ich vor Thau und Tag zu Felde ging –
Du schliefst noch fest mit purpurrothen Wangen,
Da wandt’ ich auf dem Wege mich zurück
Und sah mein Haus, und rings des Lenzes Prangen;

Vom Giebel flog ein Schwalbenpaar hernieder
Zum Nestlein, das es neulich erst gebauet,
Am Fenster schwanken grün die Lindenzweige,
Da hab’ ich Dich mit Seherblick geschauet.

Vor einer Wiege lagst Du auf den Knieen
Und sangst ein Schlummerlied im trauten Stübchen,
Vom Vater, der zur Jagd, zum Wald hinaus,
Und Schönes heimbringt seinem braven Bübchen.“

Sie ließ das Blatt sinken; sie wußte ja, welches Lied er meinte – das alte Wiegenlied, das sie einst dem Pathenkindchen gesungen, als er draußen vor dem Fenster gelauscht; er hatte es ihr erzählt, und daß er in jenem Augenblicke völlig bezaubert gewesen.

„Nun kommt Väterchen bald
Heim aus dem grünen Wald.“

Sie drückte das Buch an die Lippen. Ach, Menschenneid und Kleinlichkeit, wie lagen sie so tief unter ihr, wie wesenlos erschienen sie vor dieses Glückes Erwartung!

Da wehte ein Blatt hernieder, bläuliches Schreibpapier. Sie hob es auf, das Stückchen eines Briefes, auf der freien Rückseite Notizen von Franzens Hand: „Ein halber Centner Grassamen, Thiergartenmischung,“ die Adresse einer Fabrik landwirthschaftlicher Maschinen.

Sie wendete das Blatt, sah flüchtig darauf, dann starr – aus dem Gesichte war plötzlich jede Spur von Farbe gewichen –. Sie hob die Augen mit dem erschreckten Ausdrucke und senkte sie wieder – ja, da stand es!

„– Außer obengenannten Kapitalien besitzt Fräulein Gertrud Baumhagen noch eine Villa bei Bergedorf. Massives Gebäude, herrschaftlich eingerichtet, mit Stallungen, Gärtnerwohnung und einem zehn Morgen großen, von massiver Mauer eingefriedigten Gartengrundstück, zum Theil in Wald bestehend.

Das Besitzthum ist im Grundbuche auf den Namen der Dame eingetragen zum Schätzungswerthe von vierundzwanzigtausend Thaler.

Zu jeder näheren Auskunft gern erbötig

D., den 21. December 1882.

 Hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener
 Isidor Wolff, Agent.“

Trudchen wollte es noch einmal lesen, aber ihre Hand zitterte so heftig und flimmernd tanzten die Buchstaben vor ihren Augen. Sie hatte es ja auch gesehen, klar und deutlich, es wurde nicht anders, und wenn sie den Zettel noch so oft las. Mit erbarmungsloser Gewalt drang die Ueberzeugung auf sie ein. Es ist Wahrheit, schreckliche Wahrheit! Und Lüge war ein jedes Wort von ihm!

Wie eine Waare hatte sie sich verschachern lassen, sie, sie war nun doch in ein solches Netz gegangen!

Sie hatte das für Liebe gehalten, was nur die gewöhnlichste Berechnung gewesen!

Ach, die Demüthigung war ja nichts gegen das furchtbare Gefühl, das so unheimlich kalt in ihrem Herzen aufstieg – die Pein gekränkten Stolzes und mit ihr der Trotz, der alte herbe Trotz. Sie hatte ihn nicht mehr gekannt, sie war gut gewesen, das Glück macht so gut – Und nun? Und jetzt?

(Fortsetzung folgt.)

Deutsche Turnfeste.

Seit Monaten regt es sich gewaltig in den deutschen Turnvereinen. Mit erhöhtem Eifer wird geturnt, die schwersten Uebungen werden versucht, erprobt, eingeübt. Alle guten Turner werden zum fleißigen Besuch des Turnsaales angehalten, die tüchtigsten noch besonders vorgenommen und durchgebildet. Gilt es doch, auf dem bevorstehenden großen Allgemeinen deutschen Turnfest in fröhlichem Zusammenturnen in heißem, schweißtreibendem Wettkampfe die Ehre des heimathlichen Vereins zu wahren und – als höchstes Ziel – einen Siegespreis, dem Vereine zum dauernden Ruhme, zu gewinnen.

Nicht allein die Jungen, die noch mit jugendlicher Elasticität Begabten rüsten sich für das Fest, auch die Alten, welche bereits die Höhe des Lebens erreicht oder gar überschritten haben, wollen in besonderen „Altersriegen“ zeigen, daß, wenn auch manchem bereits das Haar ergraut ist, doch das Herz sich noch frisch erhalten hat, das Mark in den Knochen noch nicht vertrocknet ist, daß auch sie noch an Reck, Barren, Springpferd das Ihrige leisten.

Nicht weniger lebhaft geht es in dem Festorte zu. Zahlreiche Komités sorgen unermüdlich, daß der gewaltige Festplatz hergerichtet, würdig mit allem nöthigen Turngeräth ausgestattet werde, daß die von nah und fern eintreffenden Turner ein gutes Unterkommeu finden, daß es nicht an alledem mangele, was zum Behagen der willkommenen Gäste dienen könne.

Es ist das sechste allgemeine deutsche Turnfest, das vom 19. bis 23. Juli in Dresden, Sachsens schöner Hauptstadt, gefeiert werden soll. Es wird zugleich ein Jubelfest der seit nunmehr 25 Jahren bestehenden trefflich bewährten, einheitlichen Gestaltung des deutschen Vereinsturnens sein, es wird auch ein Ehrenfest für zwei Männer werden, welche in diesem Zeitraum, seit 1860 von der deutschen Turnerschaft stets wieder an ihre Spitze berufen, ihr beschwerliches Ehrenamt mit größter Treue, „alle Stund’ aufrecht“ zu aller Dank verwaltet haben, für den Rechtsanwalt Theodor Georgii in Eßlingen und den Dr. med. Ferdinand Götz in Lindenau bei Leipzig.

Die deutschen Turnfeste sind auf keinen Geringeren als den Turnmeister Friedrich Ludwig Jahn selbst zurückzuführen. Von dem Gedanken: „die Seele des Turnens ist das Volksleben und dieses gedeiht nur in Oeffentlichkeit, Luft und Licht“ ausgehend, machte er von Anbeginn das Turnen auch zu einer öffentlichen Angelegenheit. Schon 1814 hielt er, als Nachfeier [443] der Schlacht bei Leipzig, am 19. Oktober auf dem Turnplatz in der Hasenhaide bei Berlin ein großes Schauturnen ab. „Alle Stände waren unter den Zuschauern vertreten; aus sechs benachbarten Städten waren Abgesandte zugegen. Auf dem Platze selbst hielten sich der Kronprinz (späterer König Friedrich Wilhelm IV.) und viele Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses und andere hervorragende Persönlichkeiten auf. Rings um den Turnplatz stand das übrige Publikum in gedrängten Reihen, auch die benachbarten Bäume waren besetzt. Man schätzte die Menge auf zehntausend.“ Am 18. Oktober 1818 feierte Jahn das letzte Schauturnen in der Hasenhaide; im folgenden Jahre saß er in Haft, der Turnplatz war geschlossen!

Eine neue Zeit brach für das deutsche Turnen erst wieder an, nachdem durch die bekannte Kabinetsordre Friedrich Wilhelm’s IV. vom 6. Juni 1842 in Prenßen der Bann von dem Turnen genommen worden war. Es war dies in gewissem Sinne erlösend auch für das Turnen in den anderen deutschen Staaten, selbst in denen, in welchen dasselbe niemals verboten gewesen.

Es bildeten sich Turnvereine und wurden auch, besonders in Schwaben, Turnfeste gefeiert, es ward 1846 in Dresden der erste sächsische Turntag abgehalten. Der eigentliche Aufschwung des Vereinsturnlebens aber ist für alle Zeiten mit dem ersten „allgemeinen deutschen Turn- und Jugendfeste“ verknüpft, das, besonders durch Theodor Georgii zu Eßlingen und Karl Kallenberg zu Stuttgart angeregt, von etwa 1000 Turnern vom 16. bis 19. Juni 1860 in Koburg gefeiert wurde.

Die unter Georgii’s Vorsitze abgehaltene Turnerversammlung führte zu keinem besonderen Resultate, in verständiger Weise widerstand man aber dem Antrage auf Gründung eines deutschen Turnerbundes. Von der Politik hielt man seit 1860 das deutsche Turnen fern – sehr zu seinem Segen und fröhlichen Gedeihen!

Das fünfzigjährige Jubelfest der Begründung des Turnens durch Jahn (1811) führte die Turner im folgenden Jahre nach Berlin. Es wurde hier vom 10. bis 12. August ein Fest gefeiert, von dem der Berichterstatter der „National-Zeitung“ (Lothar Bucher) äußerte: „Wir haben in den Hauptstädten Europas viele Feste gesehen, nie ein ähnliches; nie haben wir von einem ähnlichen in diesen Zeiten gehört oder gelesen; nie, wir schreiben die Worte mit Bedacht, nie ist ein solches Fest gefeiert worden, seit Griechenland unterging. Nie seitdem sind diese materiellen Hilfsmittel und diese günstigen Momente vereinigt gewesen. Es war das Fest einer großen Stadt, das Fest der Bürgerschaft, die ihre Behörde entsandt, der Regierung, die durch den Minister des Innern vertreten war, der Einwohnerschaft, die, ein lebendiger Rahmen, das Ganze umgab; das Fest einer Bevölkerung, die sich selbst zu regieren, selbst Ordnung zu halten weiß, ein Fest froher, guter, strebender, sinniger Menschen, ein Fest körperlicher und geistiger Vervollkommnung, ein Fest der Humanität; ein Fest der Verbrüderung von mannigfach gearteten Stämmen, ein Fest des deutschen Volkes; ein Fest, das in demselben Augenblicke rings um die Erde gefeiert ward, wo Deutsche bei einander wohnen.“

So gewaltig war der Eindruck dieses Festes auf alle Theilnehmenden. Allerdings erhielt dasselbe eine besondere Weihe durch die feierliche Grundsteinlegung für ein Denkmal Jahn’s in der Hasenhaide. Das Turnen auf dem Festturnplatze zu Moabit leitete der vor zwei Jahren verstorbene, allen seinen Schülern, zu denen auch ich mich mit Stolz rechne, unvergeßliche H. O. Kluge. In Berlin tagten die Turner unter Dr. Eduard Angerstein’s Vorsitz. Wieder wurde der Antrag auf Gründung eines deutschen Turnerbundes abgelehnt; dagegen wählte man als Vertreter der deutschen Turnerschaft fünf Männer (Theodor Georgii, Dr. Götz, Dr. Eduard Angerstein, Dr. J. C. Lion aus Bremerhaven – jetzigen Direktor des städtischen Schulturnens in Leipzig – und Dr. Konrad Friedländer aus Elbing – jetzt Realschuldirektor zu Hamburg) mit dem Auftrage, sich auf 15 zu ergänzen.

Einen ungeahnten Aufschwung nahm nun das Vereinsturnen in jener Zeit. Die 224 Turnvereine des Jahres 1860 waren 1861 auf 506 gestiegen. 1862 gab es bereits 1279 Vereine mit 134507 Angehörigen in dem Alter über 14 Jahre, und die Zahl derselben ist so bis zum Jahre 1884 im Verbande der 1868 gegründeten „Deutschen Turnerschaft“ auf 2655 Vereine mit 243677 Angehörigen gestiegen!

Das Gedenkjahr der Schlacht bei Leipzig führte vom 2. bis 5. August 1863 die Turner zum dritten allgemeinen deutschen Turnfeste nach Leipzig. Ueber 20000 Theilnehmer zählte dieses Fest, wohl das gewaltigste, das in neuerer Zeit in Deutschland gefeiert worden ist. Unter Dr. J. C. Lion’s Leitung führten etwa 7000 Turner Freiübungen aus!

Damals, 1863, gingen die Wogen der Begeisterung für das Turnen wohl am höchsten. In den folgenden Jahren, besonders im Kriegsjahre 1866, blieb der Rückschlag nicht aus. Das 1866 für Nürnberg geplante vierte Turnfest gelangte nicht zur Ausführung.

Im Jahre 1870, beim Ausbruche des französischen Krieges, fanden sich die deutschen Turner zusammen in der allgemeinen Begeisterung für den Kampf gegen den Erbfeind des deutschen Volkes. Leider sind die statistischen Erhebungen über die Betheiligung der Vereinsturner an dem Kriege nicht ganz vollständig. Von 74595 Tnrnern aus 1038 Vereinen waren 14715 einberufen; 11060 standen im Felde, von denen 589 das eiserne Kreuz erhielten, 1159 verwundet wurden, 793 im Kampfe fielen oder in Folge von Verwundung oder an Krankheit starben. Außerdem waren 1010 Mann als freiwillige Krankenpfleger hinausgezogen und erwarben sich Lob und Anerkennung wegen ihrer unermüdlichen und aufopfernden Bemühungen um die Verwundeten und Erkrankten. –

Erst im Jahre 1872, vom 3. bis 6. August, wurde wieder ein Turnfest, das vierte allgemeine deutsche, zu Bonn abgehalten, That auch das ungünstige Wetter diesem Feste großen Abbruch, so gänzlich „ins Wasser gefallen“ war es doch nicht. Es ist vielmehr dieses Fest nach meinem Dafürhalten das bedeutsamste das bis dahin gefeiert worden war, und wohl hätte man Jahn und Arndt gönnen mögen, dasselbe noch erlebt zu haben. Was beide Männer so heiß erstrebt, wofür sie gekämpft und gelitten, – das war jetzt erfüllt! Jahn war es in den zwanziger Jahren als Verbrechen angerechnet worden, daß er die „höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands aufgebracht“ habe; er war Derjenige, welcher bereits 1809 den Ausspruch that: „Deutschland, wenn es einig mit sich, als deutsches Gemeinwesen, seine ungeheuren, nie gebrauchten Kräfte entwickelt, kann einst der Begründer des ewigen Friedens in Europa, der Schutzengel der Menschheit sein.“

Im Jahre 1813, unter dem unmittelbaren Eindrucke des Riesenkampfes, verlangte er eine einheitliche Verfassung des gesammten Deutschlands und rief aus: „Wer die lang Getrennten einte, Sei als König uns gegrüßt.“ 1815 schrieb er in das Stammbuch der Wartburg: „Deutschland braucht einen Krieg auf eigene Faust, um sich in seinem Vermögen zu fühlen. Es braucht eine Fehde mit dem Franzosenthum, um sich in ganzer Fülle seiner Volksthümlichkeit zu entfalten. Diese Zeit wird nicht ausbleiben; denn ehe nicht ein Land die Wehen kriegt, kann kein Volk geboren werden.“

Immer wieder kam Jahn auf diesen Gedanken zurück. 1828 schrieb er: „Deutschlands Wehrkraft ist sehr groß, wenn alle seine Marken sammt und sonders in einer Landwehr begriffen sind und alle zugleich immerdar ihren Zuzug zum Heerbanner stellen. Deutschland hat noch in keinem Kriege seine Riesenkräfte entwickelt. Eine Kleinigkeit ist genug gewesen, bei rechtem Gebrauche unser Land zu schirmen. Ländergierige Nachbarn, zwingherrliche Störenfriede haben zu unserem Glücke von Zeit zu Zeit den faulen Friedenspfühl entrückt. Sicher und gewiß werden wir, durch des Auslandes erneuerte Fehden gestärkt und gereinigt, in weiser Bundesverfassung einen Hort gewinnen, dann die Mittlerschaft allmählich erwerben, uns durch innigen Verein die leibliche, sittliche und geistige Wehrschaft bewahren.“

1833 verspricht Jahn den Nachbarn „jenseit des Wasgaues und der Argonnen“ treu-freundliche Nachbarschaft. „Sollte aber der Geist der Eroberung und die Sucht zur Ueberziehung wieder aufleben, die Franzosen das linke Rheinufer begehren, so sei unser Feldgeschrei: Deutsch-Lothringen und Elsaß!“

Der eigentliche Vorfechter Deutschlands war für Jahn schon 1809 Preußen und das Geschlecht der Hohenzollern. „Das wohlgerüstete Schiff des geeinten Deutschlands aber,“ meinte Jahn, „muß einen Steurer haben, der, vertraut mit der Fahrt, alle Klippen, Riffe, Bänke und Strudel kennt, jeglicher Gefahr zu begegnen weiß und alle Mittel zur Abwendung nützt.“

Die Hoffnung auf Deutschlands Einigung führte Jahn 1848 in die deutsche National-Versammlung nach Frankfurt. Seine letzte Schrift, die „Schwanenrede“, geschrieben 1848, endet mit den bekannten Worten: „Deutschlands Einheit war der Traum [444] meines erwachenden Lebens, das Morgenroth meiner Jugend, der Sonnenschein der Manneskraft und ist jetzt der Abendstern, der mir zur ewigen Ruhe winkt.“

Diese Liebe zum deutschen Vaterlande, diese Sehnsucht nach seiner Einigung, nach Kaiser und Reich hinterließ Jahn als theures Vermächtniß seinen Turnern. Und zum ersten Mal war es ihnen zu Bonn vergönnt, ein deutsches Turnfest im geeinten Deutschland zu feiern! Als der Vorsitzende des Bonner Festausschusses, Dr. Bleibtreu, seine Begrüßungsrede in der Beethoven-Halle mit den Worten schloß: „Darum, Brüder von nah und fern, vereinigen wir uns in dem Rufe: ‚der deutsche Kaiser, Kaiser Wilhelm, er lebe hoch, hoch, hoch!‘“ da durchbrauste schmetternder Jubel den gewaltigen Raum. Immer wieder aufs Neue erschallte das Hoch. Und alle Anwesenden stimmten in vollster Begeisterung mit ein. Es war eine Huldigung des gesammten deutschen Volkes, aller deutschen Stämme, hier in den blühendsten, kräftigsten Jünglingen vertreten, nicht bloß des engeren deutschen Vaterlandes, sondern des gesammten Deutschthums, der deutschen Oesterreicher, der Schweizer, der im Auslande, in Amerika lebenden Deutschen – eine Huldigung, wie sie sonst in der Ausdehnung nie und nirgends dem deutschen Kaiser dargebracht werden kann. –

Eine nicht geringe Zahl der Festgenossen begab sich von Bonn nach Berlin, um der Enthüllung des Jahn-Denkmals, am 10. und 11. August, beizuwohnen.

Da die großen deutschen Turnfeste alle fünf Jahre gefeiert werden sollten, so hatte man das Jahr 1878 – zugleich das hundertjährige Geburtsjahr Jahn’s – als nächstes Festjahr und für das Fest die Stadt Breslau bestimmt. Es kam wegen der Zeitverhältnisse nicht zu Stande. Um so besuchter war dann aber das fünfte allgemeine deutsche Turnfest zu Frankfurt am Main vom 25. bis 28. Juli 1880. Gegen 10000 Turner waren erschienen und fanden Aufnahme in der gastlichen Stadt, die sich zu Ehren des Festes bis in die kleinsten Straßen hinein in den reichsten Fahnenschmuck gehüllt hatte.

Anfangs, so erschien es mir wenigstens, hielt sich der vornehmere und reichere Theil der Einwohnerschaft etwas zurück. Alle hatten zwar in Ausschmückung der Häuser und der Gewährung der Mittel voll ihre Schuldigkeit gethan, manche aber waren vielleicht der Meinung, es seien die fremden Turner, wenn auch nicht alle, doch zu allermeist den weniger gebildeten Ständen angehörig, und man glaubte, in keine näheren Beziehungen zu denselben gelangen zu können. Der imposante Festzug, die vortreffliche Ordnung in demselben, die vielen Vereinsmitglieder, welche, aus höheren Lebensstellungen, in derselben Tracht, äußerlich durch Nichts unterschieden, in Reih und Glied mit marschirten, belehrten die Frankfurter sehr bald eines Besseren, und man konnte mit Genugthuung beobachten, wie sie wärmer und herzlicher wurden und die anfängliche Neugierde im Verlaufe des Festes der lebendigsten Theilnahme, auch für den turnerischen Theil, wich. Die von dem Turninspektor Danneberg geleiteten Freiübungen, das Turnen der Musterriegen, besonders die volksthümlichen Wettübungen verfolgten sie mit einer fast leidenschaftlichen Theilnahme.

Auch hier galt beim Bankett in der Festhalle der erste Trinkspruch selbstverständlich dem Kaiser. Ein nach Gastein gesandtes Begrüßungstelegramm wurde von Kaiser Wilhelm mit folgenden Worten erwidert:

„Oberbürgermeister Miquel, Frankfurt a. M. 0 Ich beauftrage Sie, den Genossen des allgemeinen deutschen Turnfestes meinen Dank für ihren Gruß und meinen Wunsch für das fröhliche Gedeihen des mit der körperlichen Bildung zugleich den nationalen Sinn belebenden Turnwesens auszudrücken. Wilhelm.“ 

Leider schloß das sonst so schön verlaufene Fest mit einem schweren Unglücksfall, in Folge einer Explosion von Feuerwerkskörpern. –

Abermals sind fünf Jahre vergangen, und es steht das sechste allgemeine deutsche Turnfest zu Dresden bevor.

Die Frage nach der inneren Berechtigung und Bedeutung solcher Feste braucht man kaum mehr zu beantworten. Die kürzeste und schlagendste Anwort enthält die Kaiserliche Depesche.

Jahn äußert in seinem „Deutschen Volksthum“ 1810: „Festlichkeiten, Feierlichkeiten und Gebräuche sind als unzertrennliche Gefährten des gesellschaftlichen Seins auf der Erde verbreitet, so weit Menschen verkehren. Sie schließen sich den wichtigsten Handlungen an, gesellen sich zur Freude und Trauer, ja durchschlingen das ganze Leben. Sie sind ein Bedürfniß des Menschen, der das Geistige an einem vermittelnden Sinnbilde reiner erkennt, das Uebersinnliche in einer sinnlichen Vergegenwärtigung sich tiefer ins Herz prägt. Festlichkeit ist Erheben über das gemeine Leben, Herauskommen aus der Alltäglichkeit, Entfesselung des Geistes von leiblichen Unterdrückungen, Abspannung des Körpers von der Frohnarbeit, Befreiung des Herzens von Daseinssorgen, Versuch, die Daseinsbürden abzulasten: überhaupt ein Erholungsleben, wo der Mensch doch einmal der Gegenwart froh wird, ohne ängstliches Horchen und Zählen der Uhr, die ohne Rast zum Nothwerk abruft. Frei steht der Mensch dann als ein Wesen, das auf Freude ein öffentliches unveräußerliches Recht hat. – Volksfeste müssen das gesellschaftliche Leben veredeln, höhere Genüsse geben, als zu denen der Mensch sonst gewöhnlich seine Zuflucht nimmt, weil er nicht bessere kennt. – Der Gegenstand der Volksfeste muß volksthümlich sein. Nicht jeder Staat kann nach Belieben Volksfeste anordnen, ohne sich lächerlich zu machen. Wo Volksfeste gefeiert werden sollen, muß schon vorher ein Volk sein.“ –

Wie Jahn sich die Gestaltung der Turnfeste denkt, deutet er in seiner „Deutschen Turnkunst“ 1816 an. „Wenn die gesammte (deutsche) Jugend erst eingeturnt ist, so wandern die Turnfertigsten aus dem kleineren Ort in den größeren, von dort am folgenden großen Turntage die Preiserringer zur Gaustadt, und so an jedem kommenden Feste immer weiter zur Mark- und Landesstadt, bis sich endlich die besten Turner des ganzen Volkes am großen Hauptfest in der Hauptstadt treffen.“

So haben sich unsere Turnfeste nun nicht entwickelt, und wir brauchen es wahrlich nicht zu beklagen. Ich bin auch überzeugt, Jahn müßte, wenn es ihm vergönnt wäre, eins unserer jetzigen Turnfeste zu erschauen, seine helle Freude daran haben! Selbst der kampfgewohnte Grieche aus alter Zeit würde es nicht verschmähen, in den Wettspielen unserer Tage um den Siegerpreis zu ringen wie einst zu Olympia um die höchsten Ehren.
Professor Dr. C. Euler. 

Kälte im Sommer.

Acht Monate Kälte und vier Monate Regen, so etwa läßt sich das Jahr im lieben deutschen Vaterlande eintheilen. Es klingt daher im ersten Augenblicke wie ein Hohn, wenn man dem deutschen Reichsbürger mit Betrachtungen über Kälte-Erzeugung vor die Augen tritt. Die gütige Natur besorge das schon, ohne Dazwischentreten des Menschen, möchte besagter Bürger nicht mit Unrecht erwidern, unsere einzige Sorge sollte sein, die Kälte zu bekämpfen; die wenigen Sommertage, wo das Thermometer über zwanzig Grad steigt und von Hitze die Rede sein kann, seien auch schon ohne Eis und sonstige Abkühlungsmittel zu ertragen. Für Erniedrigung der Temperatur können wir daher wohl den glücklichen Südländer sorgen lassen.

Besagter Reichsbürger übersieht aber, daß es viele Gewerbszweige giebt, die unbedingt auf eine kühlere Temperatur, als die des sogenannten Sommers angewiesen sind, und daß manche Speisen und Getränke selbst die wenigen Wärmegrade nicht vertragen, welche uns die Sonne spendet. Wer über einen kühlen Keller nicht verfügt, und derer giebt es, namentlich in Großstädten, viele, muß, wenn das Ende des unfreundlichen und kalten Frühlings herannaht und einige Aussicht auf verhältnißmäßig warme Tage vorhanden ist, für ein kühles Plätzchen sorgen, wo er Milch, Bier, Wein, Fleisch aufbewahrt, und so überflüssig die Ausgabe auf den ersten Blick erscheinen mag, einen Theil des Inhalts seines Geldschranks in einen Eisschrank verwandeln.

Wie versorgt man aber dieses nützliche Möbel, welches, wie männiglich bekannt, doppelwandig gebaut, mit Zink ausgeschlagen ist und in seinem Innern einen Behälter für das Eis und einen für die Speisen enthält, während der Raum zwischen den Wänden [445] mit allerlei schlechten Wärmeleitern ausgefüllt wird? Die Sache ist nicht so einfach, wie man sie sich vorzustellen pflegt. Wir befinden uns zwar im unbestreitbaren Besitze von acht Monaten Kälte, und man sollte meinen, es möchte nicht so schwer sein, es den Ameisen, nur umgekehrt, gleich zu thun und von der so freigebig gespendeten Kälte so viel aufzustapeln, daß der Vorrath für die wenigen warmen Tage ausreicht. Hier zeigt aber unser Klima seine ganze Tücke. Heizen müssen wir zwar vom September bis in den Mai hinein; es kommt aber sehr häufig vor, daß die Quecksilbersäule in dem langen Zeitraume nur selten und auf kurze Zeit unter den Nullpunkt sinkt, daß von einer Eisernte somit nicht die Rede sein kann und daß nicht blos die Hausfrauen, sondern auch, und zwar in einem viel höheren Grade, die auf künstliche Abkühlung angewiesenen Gewerbszweige in eine arge Verlegenheit gerathen. Bierbrauer, Senner, Spiritusfabrikanten, Konditoren, Schlächter, Gastwirthe und wie sie alle heißen mögen, können ohne Eis ebenso wenig leben, wie Aerzte, und es gilt daher, um jeden Preis das Verschulden des Thermometers wieder gut zu machen.

Hierzu bieten sich zwei Wege: entweder man beschafft Eis aus den Gegenden. wo der Winter nicht blos Kälte, sondern Frost bringt, oder man stellt Eis, beziehungsweise eine niedrige Temperatur künstlich her.

Wir wollen zunächst auf das erste Mittel der Eisbeschaffung einen Blick werfen.

Daß der Mensch überhaupt noch zu diesem Mittel seine Zuflucht nimmt, liegt in der Macht der Gewohnheit. Es giebt viele sonst kluge Leute, welche sich immer noch einbilden, es verhalte sich mit dem Eise wie mit dem Weine, nur Natureis besitze die erforderlichen Eigenschaften, und künstliches Eis gehöre zu den vielen Erfindungen der neuesten Chemie, vor denen man sich zu hüten habe. Diesen Fortschrittsfeinden zu Liebe wird daher noch immer, wenn die einheimische Eisernte fehlschlägt, gefrorenes Wasser in gewaltigen Mengen über unsere Grenzen eingeführt. Wo liegen nun die Stapelplätze dieses Natureises? Eine Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Polareisfelder wurde unseres Wissens bisher nicht „gegründet“; dafür arbeiten aber in den Hochalpen und in Norwegen zahlreiche Unternehmer an der Eisgewinnung, und ginge es nach deren Wünschen, so wären die Alpen bald ihres Hauptschmuckes beraubt. Glücklicher Weise ist das Zersägen und Fortschaffen solcher gefrorenen Flächen eine harte Nuß, und es haben bisher die Eisfuhrunternehmer in den Eispanzer des Hochgebirges nur unbedeutende Breschen gelegt.

Siesta.
Nach dem Oelgemälde von Prof. Otto Heyden.

Was die Gletscher hauptsächlich vor der zerstörenden Hand des Menschen rettet, das ist die Schwierigkeit der Fortschaffung der gewonnenen Waare. Gletscher pflegen in ziemlich unzugänglichen Gebirgswinkeln aufzutreten, und zu ihnen führen in der Regel nur für Fußgänger oder Pferde – der Gemsen zu geschweigen – gangbare Pfade. Auch der kräftigste Bergbewohner und das tüchtigste Thier würden aber nur eine winzige Menge Eis auf dem Rücken fortschaffen und überdies wegen des Schmelzens bedeutend erleichtert unten ankommen. Die Gletschereisgewinnung bedingt daher, wenigstens in den Alpen, zunächst den Bau von fahrbaren Straßen nach dem unteren Ende des Gletschers, und Straßen kosten viel Geld, ebenso die benöthigten Gespanne und Fuhrwerke. In Norwegen. wo die Gletscher vielfach bis an den Meeresstrand reichen, hat man es freilich leichter. Die Eisblöcke werden unmittelbar auf Schiffe verladen und also lediglich zu Wasser transportirt.

Mit dem Ablösen der Eisblöcke von der Gletschermasse ist es aber noch nicht gethan. Eis ist eine dem Schwinden sehr ausgesetzte Waare, und träfe man nicht besondere Vorsichtsmaßregeln zur Abhaltung der Sonnenstrahlen, so würde von dem mühsam erbeuteten Gut nicht viel den Bestimmungsort erreichen. Die Fuhrwerke sowohl, welche die Eisblöcke von der Bergeshöhe nach der nächsten Bahnstation befördern, wie auch die demselben Zwecke gewidmeten Eisenbahnwagen und Schiffe müssen daher, wie die Eiskeller und Eishäuser, in welchen man die Eisvorräthe aufstapelt, mit besonderen Vorrichtungen zur Erhaltung einer niedrigen Temperatur ausgestattet sein. Sie sind in der Regel weiß angestrichen, weil die Sonnenstrahlen an der weißen Farbe gewissermaßen abprallen; ferner ist der Raum zwischen ihren Doppelwänden mit Häcksel, Torf, Schlackenwolle und dergleichen schlechten Wärmeleitern angefüllt; hierzu kommen Vorrichtungen zur Ableitung des Schmelzwassers, welches das Schmelzen des Eises sehr befördert, wenn es mit diesem in Berührung bleibt; endlich vielfach Lüftungsvorrichtungen, welche bisweilen durch die Bewegung des Wagens oder Schiffs selbst in Betrieb gesetzt werden. Trotzdem ist das Schwinden ein beträchtliches, und der Preis des Gletschereises wäre ein sehr hoher, käme es nicht den Händlern zu Gute, daß die Rohwaare nichts kostet.

Zu diesen Nachtheilen des Gletschereises gesellt sich noch der Umstand, daß es sich kaum, wie das ebene, gleichmäßig dicke Flußeis, auf mechanischem Wege ablösen läßt. In Nordamerika, wo der Winter sehr streng und der Sommer sehr heiß ist, und neuerdings auch bei uns, verwendet man zur Bearbeitung der Flußeisflächen Eishobel, welche die Unebenheiten beseitigen, und Eispflüge, welche das Eis zu viereckigen Platten verarbeiten. Diese Eispflüge und Eishobel werden häufig mit Dampf betrieben, und es gelingt, Dank ihrer kräftigen Hilfen bedeutende Wasserflächen in kurzer Zeit ihres Eispanzers zu entkleiden. Beide sind aber bei Gletschereis ausgeschlossen.

In Folge dieser Schwierigkeit und Unsicherheit der Beschaffung der doch nicht zu entbehrenden Eisvorräthe ist die Aufmerksamkeit der Techniker seit Jahren darauf gerichtet gewesen, Apparate zu ersinnen, die in kurzer Zeit mit geringen Kosten entweder Wasser zum Gerinnen bringen, oder, was auf ein Gleiches hinausläuft, die Luft in bestimmten Räumen bis unter den Gefrierpunkt abkühlen. Letztere Apparate sind natürlich an einen Ort gebunden und wirken nur in unmittelbarer Nähe, während die Eismaschinen Eis als Verkaufsartikel erzeugen und mit den Natureishändlern in Konkurrenz treten.

Die Erfinder von Eismaschinen hatten, wie alle Neuerer, anfangs mit vielen Vorurtheilen zu kämpfen. Es hieß namentlich, das Kunsteis sei nicht so dicht, wie das Natureis, und schmelze rascher zusammen, während das umgekehrte der Fall ist. Auch wirkte die Kostspieligkeit einer Eismaschinen-Anlage abschreckend. [446] Wir werden aber weiter unten sehen, daß letzteres Bedenken hinfällig geworden ist.

Wir wollen die Leser mit den vielen Namen von Eismaschinen-Erfindern und mit der Beschreibung ihrer Apparate nicht plagen. Für unsere Zwecke genügt ein kurzer Hinweis auf die Principien, welche den Eisapparaten beziehungsweise Kühlvorrichtungen zu Grunde liegen.

Man pflegt diese Apparate in drei Gruppen zusammenzufassen. Entweder wird die Kälte durch das Schmelzen eines festen Körpers, z. B. Salz, oder durch die Ueberführung eines flüssigen Körpers in Gasform, oder durch die Ausdehnung von Gasen erzeugt.

Zu der ersteren Gruppe, deren Vertreter sich nur für den Hausbedarf eignen, weil ihr Betrieb zu kostspielig und umständlich ist, gehören die allbekannten Apparate zur Herstellung von „Gefrorenem“. Der verbreitetste, von Meidinger angegebene, besteht aus einem doppelwandigen, eimerartigen Behälter, aus einem konischen Einsatz, in welchen die abzukühlenden Fruchtsäfte oder Sahne gethan wird, endlich aus einem ringförmigen, siebartigen Gefäß, welches zur Aufnahme des Salzes dient. Der Eimer wird bis zur Hälfte mit zerstoßenem Eis gefüllt, was zugleich besagt, daß zum Betriebe der Apparate gerade das gehört, was man durch Eismaschinen herzustellen wünscht und daß daher Meidinger’s Erfindung höchstens auf den Namen eines Kühlers Anspruch machen darf. Nachdem man nun eine Salzlösung in das siebartige Gefäß gethan, beginnt das Eis zu schmelzen, verdünnt die Salzlösung und erzeugt eine bedeutende Kälte. Den Fruchtsaft braucht man nur von Zeit zu Zeit umzurühren.

Der Wirkung der Maschinen der zweiten Gruppe, deren bekannteste Carré, Kropf und Pictet zu Urhebern haben, liegt eine sehr bekannte Erscheinung zu Grunde. Befeuchtet man die Hand mit Aether, so verdampft dieser sehr rasch, und die Wärme, welche er hierzu benöthigt, entnimmt er nothgedrungen der nächsten Umgebung. So erklärt sich das sehr unangenehme Kältegefühl an der ätherbefeuchteten Hand. Bei der Eisfabrikation im Großen wird nun in der Weise verfahren, daß ein mit Wasser gefülltes Gefäß in den verdunstenden Aether getaucht wird, wobei das Wasser sofort zu einem Block gefriert und dann in dieser Gestalt sich leicht aus dem Gefäß herausnehmen läßt. Man braucht dasselbe nur einen Augenblick in warmes Wasser zu stecken. Den zweiten Theil der Operation bildet die Wiederverdichtung der Aetherdämpfe, die nicht verloren gehen dürfen, weil sonst der Betrieb ein zu kostspieliger würde. Die Stelle des Aethers vertritt auch vielfach Methyläther, eine Mischung aus Holzalkohol und Schwefelsäure, sowie namentlich Ammoniak.

Zur dritten Gruppe gehören die Maschinen, welche lediglich Luft abkühlen, ohne daß es auf die Erzeugung von Eis abgesehen wird. Bei diesen Maschinen, deren bekannteste die Windhausen’sche sein dürfte, wird Luft in einem Cylinder durch irgend eine Kraftmaschine verdichtet und dadurch zunächst das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung erzielt, indem diese Luft sich durch den Druck erwärmt, weßhalb sie erst durch Wasser abgekühlt werden muß. Man erhält durch diese Abkühlung verdichtete Luft von gewöhnlicher Temperatur, deren Wärmegrad aber sofort beträchtlich sinkt, sobald man sie sich wieder ausdehnen läßt. So kühlt sich Luft von zwei Atmosphären Spannung hierbei um 60 Grad ab.

Die Maschinen dieser Gruppe besitzen vor denjenigen der zweiten den bedeutenden Vorzug, daß hierbei übelriechende Chemikalien nicht zur Verwendung gelangen, und daß sie zugleich eine kräftige Ventilation der Räume herbeiführen, in denen sie aufgestellt sind. Dafür können sie aber, wie gesagt, nur in der Nähe wirken, während die eigentlichen Eismaschinen Kälte in Eisform etwa in derselben Weise aufstapeln, wie es bei den Akkumulatoren mit der Elektricität geschieht. Sie eignen sich daher mehr für Brauereien und bei sonstigen gewerblichen Anlagen, welche Kälte überhaupt gebrauchen, während die Eismaschinen eher für den Einzelverkauf arbeiten und die Eishäuser ersetzen. Sie liefern entweder schneeweißes Eis, oder dadurch, daß man während des Gefrierens das Wasser umrührt und die Luft heraustreibt, krystallklares Eis.

Ueber die Leistungsfähigkeit und die Kosten der Herstellung des künstlichen Eises schwanken die Angaben um so mehr, als sich diese Kosten mit der Größe des Betriebes verringern. Der obenerwähnte R. Pictet liefert, um ein Beispiel anzuführen, größere Eismaschinen, bei denen sich die Erzeugung eines Kilogrammes Eis auf acht Zehntel Pfennig stellen soll. Eins steht aber wohl fest: das Kunsteis ist in den Jahren, wo die Eisernte ganz oder zum Theil verunglückte, jedenfalls wohlfeiler als das Natureis und dürfte bei der fortwährenden Vervollkommnung der Kälteerzeugungs-Apparate dieses schließlich ganz verdrängen.

Wir wiesen oben darauf hin, wie die Kostspieligkeit der Eismaschinen Viele von der Anschaffung abschrecke, oder vielmehr bisher abgeschreckt habe. Der obenerwähnte R. Pictet in Genf, der zu den genialsten Forschern unserer Zeit gehört, hat nämlich auch eine kleine, tragbare Eismaschine gebaut, die sich für den Haushalt eignet und namentlich auf Gütern, wo die Eisbeschaffung bisweilen große Schwierigkeiten verursacht, gute Dienste leisten möchte. Auch eignet sie sich für Schiffe und Krankenhäuser vorzüglich. Sie gehört zur zweiten Gruppe, bedarf zum Betriebe höchstens der Kraft eines Pferdes und nimmt nur ein halbes Quadratmeter Fläche in Anspruch. Sie liefert etwa vier Kilogramm Eis in der Stunde, also eine für den gewöhnlichen Hausbedarf völlig ausreichende Menge. Die hierzu gehörigen Chemikalien werden wieder verdichtet und bedürfen nur selten einer Ergänzung.

Zum Schluß einige Worte über die Aussichten für die leichtere Erzeugung höherer Kältegrade und deren gewerbliche Verwerthung. Wie unseren Lesern erinnerlich sein wird, gelang es dem obengenannten R. Pictet und dem Pariser Gelehrten Cailletet gleichzeitig, Sauerstoff bei der „angenehmen Temperatur“ von –181 Grad zu verflüssigen, während zwei polnische Forscher, Wroblewski und Olszewski das Kunststück fertig brachten, auch den Stickstoff bei 214 Grad Kälte flüssig zu machen und bei 225 gar in Eis zu verwandeln. Verwendung fanden diese unfaßbar niedrigen Temperaturen bei der Industrie freilich bisher nirgends, weil deren Erzielung eine zu schwierige ist. Im Verlaufe seiner Studien entdeckte indessen Cailletet neuerdings ein Verfahren, um mittelst Aethylens, eines mit dem Aether verwandten Stoffes, ohne Mühe und erhebliche Kosten die sehr hohe Kälte von 123 Grad zu erzielen. Die Verdunstung des Aethylens wird nämlich dadurch sehr beschleunigt, daß man in die Masse einen Strom kalter Luft oder kalten Wasserstoffes hineinleitet.

Ausgeschlossen erscheint es daher nicht, daß wir dereinst, Dank diesem Verfahren, Temperaturen auf leichte Weise erzielen, denen gegenüber die des Polarwinters als gelinde Maienluft erscheint und welche sonst nur im Weltraum anzutreffen sein möchten. Eis wird alsdann so wohlfeil wie Brombeeren. G. van Muyden.     


Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
1.

Es war eigentlich ein wenig abseits der gewöhnlichen, ausgetretenen Touristenstraße durch das Gebirge, wo das Dorf lag, das auf seine Kosten aus Stangen, Rasen und Tannenrinde die Hütte oder Köthe gebaut hatte, die einen und einen halben Büchsenschuß (alte Tragweite) von den letzten Häusern des Ortes am Waldrande stand. Aber ein Fuß- und Reitweg schlängelte sich doch einige fünfzig Schritte von dem kuriosen, indianerhaften Gebäude aus dem Hochforste hervor, und eine bunte Schar von Sommerreisenden – Weiblein und Männlein zu Fuß, zu Pferd und zu Esel, zog eben lustig und laut aus dem Dunkel des Waldes in die Sonne und quer über die Vierlingswiese vorbei an der Rasenhütte.

„O wie hübsch!“ rief eine der jungen Damen, ihr Thier anhaltend. „Das möchte ich wirklich noch in meinem Skizzenbuche mitnehmen. Haben wir nicht so lange Zeit, Papa und Ihr Anderen?“

[447] Der Papa sah bedenklich auf die Uhr und dann auf den Führer. Verschiedene der jüngeren Herren riefen: „Selbstverständlich, Fräulein Lili! Natürlich haben wir Zeit! Eine Ewigkeit noch bis Sonnenuntergang!“

Schon hielt der eine der jungen Ritter des hübschen Mädchens ihr den Steigbügel, und der zweite präsentirte das „Skizzenbuch“, und Der, welcher die Bleistifte zu tragen und zu spitzen hatte, war auch mit denselben zur Hand, als der Führer jeglichem künstlerischen Wunsche und Enthusiasmus und aller höflichen Dienstbereitwilligkeit in der Gesellschaft ein kurzes und etwas schreckhaftes Ende machte.

„Rathe nicht dazu, mit Erlaubniß, liebe Herrschaften,“ sagte er. „Nervenfieber, Fleckentyphus, wie man das jetzt so heißt. … Armes Volk, die Familie Fuchs, und vielleicht auch mit Ungeziefer, seit die Fee liegt. Aber der Doktor sagt, Niemand kann bei der bösen Krankheit gesunder gebettet werden; nur ist’s wohl dann und wann ein bischen schlimm mit dem Räkel und seiner jungen Brut, die sonst schon Niemand gern an sich kommen ließ. Da sind sie natürlich schon – wollt Ihr zurück, Ihr Kröten!“

Das letztere war eben an die „junge Brut“ gerichtet. Ein verwildertes, zerlumptes, höchst malerisches Kinderstaffagepaar, ein Junge und ein Mädchen, zog es sich an den Weg und machte Miene, so nahe als möglich sich mit ausgestreckten schwarzbraunen Pfoten an die Gesellschaft zu drängen. Doch das Fräulein verspürte nicht die mindeste Neigung, jetzt noch Gebrauch von ihrem Talente und diesen wirklich ausgezeichneten Modellen zu machen. Schon hatte es einen kleinen hübschen Schrei ausgestoßen und, statt nach dem Skizzenbuche zu greifen, den Esel mit der Gerte über die Ohren geschlagen. Der alte Herr war eiligst Allen voran geritten, ohne sich nach den nächsten und liebsten Familienangehörigen nur umzusehen. Daß die jungen Ritter nicht sämmtlich nach dem Schwanze seines Gaules griffen, um rascher daran vorwärts zu gelangen, zeugte sogar nur von – Pietät. Rasch genug waren sie von den Felsblöcken, auf denen sie sich zum Theil bereits gelagert hatten, in die Höhe gekommen.

Weiter trabte Alles – Herren und Damen, Jung und Alt; und eine wohlbeleibte ältere Dame, die, trotzdem daß sie zu Maulthier war, ihres Gewichtes wegen die Letzte blieb, fand gerade deßwegen am innigsten und richtigsten das Wort für die Gefühle der Gesammtheit und gab es ächzend von sich:

„Das ist ja aber schrecklich, so nahe am Wege! Das sollte doch nicht sein; und wenn die Polizei es duldet, so müßten die Zeitungen von so was sprechen!“

Wer jetzt ein Jubelgeschrei ausstieß, das war das Kinderpaar aus der Indianerhütte. Es war den Beiden doch aus der erschreckten Schar der Fremden ein Geldstück in weitem Bogen zugeflogen, und sie hatten es eben unter den Fingerhutbüschen und im übrigen Waldwiesengraswuchs mit ihren scharfen Wildenaugen gefunden und quittirten mit kreischendem Jauchzen darüber.

Einige Augenblicke später war der letzte Schwanz des bunten Zuges von der Vierlingswiese im gegenüberliegenden Tannenwalde, wo sich der Reitpfad plötzlich ziemlich steil bergwärts zog, verschwunden. Der romantische Fleck versank wieder in die alte Stille; und die Sonne, im Niedersteigen, lächelte weiter auf Elend und Wohlbehagen, Gesunde und Kranke, reiche und arme Leute, wo der Erdenschatten es zuließ.

Es war ungefähr fünf Uhr Nachmittags. Man hörte die Dorfglocke diese Zeit auch bald angeben hinter dem lichtdurchglänzten Gehölz zwischen der Wiese und dem Dorfe, und aus derselben Richtung kam nun eine junge Frau oder was es war, in bescheidenen dunklen Kleidern, mit einem Körbchen am Arme und betrat die Wiese, wie um dem improvisirten Dorfhospital zuzuschreiten. Ihr Schatten fiel ihr vorauf und streifte einen Mann, der auch noch dagesessen hatte auf einem Stück versunkenen Zaunwerks an dem leise durch das Gras sickernden Wasserlauf, sich um die Gesellschaft und die Scene von vorhin nur mit einem unmerklichen Lächeln und Achselzucken gekümmert hatte, jetzt aber schärfer hersah und sich auch von seinem Sitz erhob.

Es war kein alter Mann, sondern so um die Dreißig herum; kein häßlicher Mann, sondern von gutem Wuchs, wohlgepflegtem Bart und mit hellen, intelligenten Augen und einem ganz freundlichen und wohlwollenden Zug um den Mund. Ein Mann auch im Touristenanzuge, doch unbedingt aus einer andern Gesellschaftssphäre als die Herrschaften von vorhin.

„Hm, Veit,“ murmelte er zu sich, „die könnte wohl schon zu ihm gehören! … Nun, wissen wird sie sicherlich etwas von ihm. Versuchen wir’s also!“

Mit abgezogenem Hut trat er der Kommenden entgegen.

„Nervenfieber, liebe Dame!“ sagte er, auf die Hütte deutend.

„Ich weiß es – leider, lieber Herr,“ antwortete die junge Frau, zum Wiedergrüßen nur den Kopf neigend.

„Auch Ungeziefer – wie man sagt – gnädige Frau oder – Fräulein.“

Die Frau oder das Fräulein mit dem Korbe lächelte weder verlegen, noch warf sie einen verwunderten Blick auf den Fremden.

„Wir sind gute Bekannte dort,“ sagte sie ruhig, mit einem nochmaligen Neigen des Kopfes vorbei gehend durch schönes Licht und den Wohlduft von Tannenharz, Wiesenkräutern und Blumen; und so sah sie der Mann mit der Wandertasche eintreten in den schlimmsten Schatten und den bösesten Erdengeruch – sicher und gelassen.

„Hm,“ sagte der Fremde, seinen Sitz am Bach wieder einnehmend, „Kaiserswerth – Riefen bei Basel – Bethanien; – es ist unbedingt seine Frau. Zusammengegeben im Namen des Herrn! Schlechteste Pfarre im Lande, bösartigste Gemeinde dieses ganzen angenehmen Mittelgebirges. Was thun wir nun, Veit? gehen wir weiter, oder warten wir, bis die gute Seele wieder zum Vorschein kommt, um uns ihr auf dem Heimwege von diesem pflichtgemäßen Samaritergange noch auf einige Momente anzuschließen? Zeit für Alles bis zur nächsten Gastwirthstafel, wie die jungen Herren vorhin meinten. Nun, wir warten! Möchte dem alten Kerl, diesem Prudens, doch nicht so nahe vorüber streifen, ohne ihm noch einmal im Leben die Tageszeit zu bieten. Was wird’s freilich mehr werden, als das was Fräulein Lili eben nicht bekommen hat, – im Vorbeifahren eine Skizze im Taschenbuch.“

So saß er denn und behielt die Krankenhütte im Auge, jedenfalls als ein wirklicher Beobachter, wenn auch nicht als ein wirklich an ihrem Wohl und Wehe Betheiligter. Die Kinder, die von ihm bereits ihren Wegelagerer- und Bettlertribut erhoben hatten, waren, gelockt von der Erscheinung des jungen Weibes mit dem Korbe, auch wieder in der Köthe verschwunden. Nun trat ein großer wüster Gesell heraus, seine Pfeife ausklopfend. Das kleine Mädchen lief mit einem henkellosen irdenen Kruge nach dem zwischen bemoosten Steinblöcken vortröpfelnden Wiesenborn. Es wurde innerhalb der spitzzulaufenden Rasen- und Schindelwände im Dialekt der Gegend gesprochen, und dann wurde es eine Zeitlang ganz still; man hörte nur noch den Specht von ferne.

Die Dorfuhr hinter den Bäumen schlug nur die vollen Stunden – die Zeit lief hier meistens ja doch ungezählt hin – aber es mußte so ungefähr gegen sechs Uhr sein, als das junge Weib, das sich nicht vor dem Fieber und den Läusen fürchtete, wieder aus der Pforte der Elendshütte und in die Sonne trat und der Fremde von dem Zaun am Wege ihr abermals entgegen.

Nun war es merkwürdig, daß sie wie zu einem alten längst Bekannten zu ihm redete; wenn auch ihre Augen dabei nicht auf ihm hafteten, sondern ruhig nach dem wolkenlosen Abendhimmel gerichtet blieben, als sie ohne die mindeste Aufgeregtheit sagte:

„Sie ist eben gestorben. Mein Bruder vermuthete es schon heute Morgen, daß der Herr sie bald auflösen werde; aber er mußte leider nach seinem Filial und kann erst am Abend nach Hause kommen. Doch sie hat auch mich nicht mehr gekannt, sie hatte ihr Bewußtsein schon lange nicht mehr, und es war wohl eine Gnade des Herrn. Gottes Wille geschehe allezeit!“

Sie ging nun mit demselben gelassenen Schritt, mit dem sie gekommen war, und ließ den Fremden in vollem Zweifel, ob Das da eben zu ihm oder zu dem Blau über den Wipfeln der Waldbäume gesprochen worden sei. Ihr Schatten fiel jetzt hinter sie auf ihrem Heimwege, und daß der Fremde ihr folgte, schien sie nicht mehr zu beachten als das Nachgleiten ihres Schattens über die Vierlingswiese.


2.

Der Wald nach dem Dorfe, nach der untergehenden Sonne zu, bildete nur einen lückenhaften, lichtdurchschimmerten Vorhang zwischen der Wiese und einigen Gärten, geringeren Bauerngehöften und der Kirche. Letztere leuchtete in ihrer weißen Tünche [448] auch bald zwischen den glatten geraden Stämmen der Hochtannen durch. Der Pfad wand sich über den „alten“ Gottesacker, dessen letzte versinkende Ackerbauer- und Bergmannsgräber aus dem Anfange dieses Jahrhunderts stammten, und – da war die Hecke des Pfarrgartens und die Laube mit dem Tische und den zwei Bänken auf Pfählen und der Weg durch den Garten zu der Hinterthür des geistlichen Hauses – Alles im Schatten der Dorfkirche.

Eine niedere Holzgitterthür, schlecht in den Angeln hängend und ohne Schloß und Riegel, sperrte den Pfarrgarten nur der Form wegen, wie es schien, von den Gräbern, den Dorfgärten und dem an der Hecke weiterlaufenden Fußsteige ab; und, die Hand auf diese Pforte legend, stand jetzt die junge Schwester – nicht Frau des Pfarrherrn und hatte nun, ganz zuletzt, gezwungen durch die Beharrlichkeit ihres Begleiters, doch noch ein Wort und dazu einen Blick, einen trotz aller kühlen, klaren Ruhe ein wenig fragenden Blick, an den hartnäckigen Menschen zu wenden.

„Wenn Sie die Landstraße wieder zu erreichen wünschen, müssen Sie sich an der Kirchenecke dort rechts halten; Der Weg weiter ins Dorf und zum Gasthause wendet sich links. Ich wünsche einen glücklichen Abend, mein Herr.“

„Ich auch, Fräulein,“ murmelte der Tourist leise. Laut meinte er lächelnd: „Ich hätte wohl auch aus dem Quell auf jener Wiese mit der Hand schöpfen können; aber ein Glas Brunnenwasser hier aus mildthätiger Hand wäre mir doch lieber als ein Trunk dort, in Anbetracht der Hände und Füße, die dort gewaschen wurden, ganz abgesehen von der Wäsche, die neben dem Borne zum Trocknen auf der Leine hing.“

Die junge Dame sah einen Augenblick wie erschrocken auf ihre Hände und dann zögernd auf den Fremden. Dann aber sagte sie:

„Ich verkehrte bei den armen Leuten dort. Sie kennen die Gefahr – wollen Sie eintreten bei uns, so bitte ich, sich zu setzen und wenige Augenblicke Geduld zu haben, mein Herr.“

Sie hatte die Gitterthür geöffnet und deutete auf eine der Bänke in der Laube; der hartnäckige Fremde sagte:

„Ich weiß, liebes Fräulein. Wer um derartige Schatten auf seinen Wegen zu scheu herumgeht, geht nicht weit; und ich bin in allerlei Ländern der Erde gewesen und habe mir manche gute Erfahrung in Leben, Wissenschaft und Kunst mitgebracht, nur weil ich mir nach Möglichkeit eines muthigen Herzens bewußt blieb.“

Sie sah ihn jetzt zum ersten Mal mit wirklichem Interesse und einiger Verwunderung an. Ein Lächeln, das seinen Quell auch nur in einem im tiefsten Grunde heitern muthigen Herzen haben konnte, überflog ihr ernsthaftes Gesicht; doch ohne weitere Bemerkung schlüpfte sie ins Haus, nachdem sie nur durch eine Handbewegung von Neuem zum Niedersitzen eingeladen hatte. Und der Gast legte Hut, Stock und Tasche ab und nahm Platz auf einer der Bänke an dem abgenutzten Tische, der schon mehr als einem der Vorgänger des jetzigen geistlichen Herrn und seiner Familie treu bei Lust und Leid, Behagen und Unbehagen gedient haben mochte.

„Ich wünsche einen glücklichen Abend!“ wiederholte er. „Hm, drunten im Bad, im Saisonkoncert? Halten wir diesen ruhigen Platz jedenfalls für einige Augenblicke fest, Veit. Hm, wie deutlich Einem die Uhr dort im Thurm die Zeit zuzählt.“

Man vernahm wirklich von der Laube aus in der tiefen Spätnachmittagsstille deutlich das Geräusch der Unruhe im Kirchthurm jenseit der alten Gräber. Die einzige sichtbare Lebendigkeit brachten nur die Schwalben, die in leisem Fluge das spitze Schieferdach und den Wetterhahn umfittichten, in das friedliche Bild der Stunde.

Der Fremde hatte aber in der That eine geraume Zeit auf seinen Trunk zu warten; denn völlig umgekleidet trat das Pfarrfräulein wieder aus dem Hause, auf einem Teller das gewünschte Glas klaren Wassers tragend. Sie ging so leicht und leise, daß der flüchtige Gast diesmal ihr Herankommen durchaus nicht merkte, sondern aus seinem Sinnen fast erschrocken auffuhr, als sie mit freundlicher Stimme ihn anredete: „Mein Herr – ich bitte.“

„Den schönsten Dank! Darf ich im Sitzen trinken?“

Statt einer Antwört nahm sie, nach ihrer Art das Haupt neigend, selber ihm gegenüber Platz.

„Es geschieht wohl selten, daß sich Ihnen die Welt so aufdrängt, mein Fräulein?“ fragte er.

Sie schien Alles, was sie sagte, erst genau zu überlegen. Er mochte erwarten, daß sie erwidere: die Welt, aus der Sie kommen, wohl selten. Sie aber sagte:

„Wir verschließen unsere Thür nicht. Kommt die Welt nicht zu uns, gehen wir zu ihr.“

„Wie zu der Hütte jenseit der Tannen auf der Vierlingswiese? Wir fürchten uns nicht vor bösen Geberden, schlechten Gedanken und schlimmen Worten, wie wir keine Furcht haben vor der Ansteckung durch den Flecktyphus!?“

„Wir suchen unsere Furcht zu unterdrücken. Der Herr ist immer über uns und hat Geduld mit uns und schenkt uns ein heiteres Herz, wenn wir an einer Schwelle zögern, den Fuß über sie zu setzen.“

Der Gast beugte sich unwillkürlich vor über den Tisch, um besser in die gelassenen klugen Augen sehen zu können.

„Wissen Sie, Fräulein, daß ich doch vorhin wahrhaftige Furcht hatte, den Fuß von der Landstraße – aus meiner Welt in den Frieden dieses Kirchen- und Fliederschattens zu setzen?“

„Warum?“

„Weil Sie immer wissen, was Sie zu den Leuten bringen, in deren Thüre Sie treten. Ich aber weiß nicht, was ich zu Ihnen getragen, bei Ihnen zurückgelassen haben werde, wenn ich den Fuß von Neuem auf die Chaussee setze, auf die Sie mich vorhin hinwiesen.“

Sie schüttelte nur den Kopf.

„Wir gehen Alle nur, wie Gott uns schickt; und wir tragen nur als seine niedrigen Boten.“

Ganz überraschend fragte der Fremde hierauf:

„Wann könnte Prudens wohl zu Hause sein?“

Und trotz aller Selbstbeherrschung wirklich überrascht erhob sich das junge Mädchen und rief:

„Sie kennen uns, – den Namen meines Bruders?“

„Es würde sich nun wohl nicht schicken, Ihnen gegenüber mein Wald-, Wiesen- und Landstraßeninkognito länger festzuhalten. Mein Name da draußen in der Weltlichkeit ist Bielow, und zur Unterscheidung von einer unendlichen Namens-Verwandtschaft, weit zerstreut durch das Deutsche Reich, das Land Oesterreich und mit mehr als einem Ausläufer nach Rußland, Holland und dem Königreich der Belgier – Bielow-Altrippen. Sollte sich aber hier am Ort ein gewisser vormaliger Studiosus Theologiae Prudens Hahnemeyer eines gewissen Veit Bielow noch ein wenig entsinnen und seiner dann und wann im Gespräch gedacht haben, so würde mir das vielleicht auch bei Ihnen, liebes Fräulein, zur Entschuldigung in Betreff meines kuriosen Eindringens in Ihren Hausfrieden und des hartnäckigen Festhaltens des Platzes an diesem Tische behilflich sein.“

„Freiherr Bielow-Altrippen?“

„Veit Bielow, vor dem Studiosus beider Rechte auf mancher Universität und auch der zu Halle; jetzt Professor der Staatswissenschaften, Doktor Bielow an der Hochschule der Landeshauptstadt; – durchaus nichts Außerordentliches, sondern nur bescheidener außerordentlicher Professor bis auf Weiteres. Das Nächstliegende würde sein – darf der Mann jetzt im vollen Sinne des Wortes um Entschuldigung wegen seiner Aufdringlichkeit bitten? darf Veit Bielow bleiben, bis der alte Kommilitone vom Filial nach Hause kommt und den Hausgenossen aus – aus der Welt da draußen unter seinem Dache und an seinem Tische findet?“

„O wie wird sich mein Bruder freuen!“ rief die Schwester des Pfarrers.

„Und Sie sind also Phöbe?“

„Ja, Phöbe Hahnemeyer.“

„Ja, und so sind auch wir Beide im Grunde schon recht alte gute Bekannte. Es ist eine ziemliche Reihe von Jahren her, seit ich in Ihres Bruders Dachstube hinaufstieg und den lieben Namen in einem Briefe von Ihnen oder an Sie fand. Mir klang er damals nur hold hellenisch, und so rief ich ihn fröhlich der Mondsichel über den Dächern in der deutschen Frühlingsnacht zu. Doch Ihr Bruder schlug mir sein neues Testament auf und zeigte mir, daß auch Jene, die den Brief des Apostels Paulus von Korinth nach Rom trug, Phöbe hieß. Da nahm ich denn die hübsche Gelegenheit wahr, mir eine historische Thatsache möglichst fest einzuprägen. O, ich habe die Stelle noch ziemlich genau im Gedächtniß: ‚Ich befehle euch aber unsere Schwester

[449]

Symposion bei Tizian.0 Nach dem Oelgemälde von Josef Kis.
Photographie im Verlage von V. Angerer in Wien.

[450] Phöbe, welche ist im Dienste der Gemeinde zu Kenchrea, daß ihr sie aufnehmet und thut ihr Beistand in allem Geschäft, darinnen sie euer bedarf!‘ Sie dürfen mir also die Art und Weise, in der ich mich eben zur genaueren persönlichen Bekanntschaft und zu jeder, mir irgend möglichen, Dienstleistung in allem Geschäft eingeführt habe, um so weniger übelnehmen.“

„O, es ist ein lieber Besuch!“ rief das Fräulein. „Und da kommt mein Bruder – o das ist gut! Das ist sein Wagen vor dem Hause. O, wie wird er Augen machen und sich freuen, mein Bruder Prudens!“

„Und, bitte, nun laufen Sie ihm diesmal nicht entgegen, Fräulein Phöbe. Lassen Sie ihn uns hier am Tische finden wie zwei längst vertraute gute Freunde. Und machen Sie sich nachher in der Küche mehr mit mir zu schaffen als bis jetzt hier am Tische – ich habe nämlich nunmehr die bitterste Absicht auch die Nacht über zu bleiben – so darf mich das Haus Hahnemeyer noch so fest einriegeln in meinem Kämmerlein, ich gehe doch durch, sowie der letzte Teller gewaschen ist, und sollte ich mich an zerschnittenen Betttüchern vom Dachrande herablassen müssen.“

„Unnöthige Sorgen, Herr Professor!“ rief Fräulein Phöbe, und sie lachte dabei vollkommen kindlich aufrichtig.


3.

Es war keine besonders lebensfreudige Stimme, die jetzt vom Hausflur her den süßen, an diesem Ort so wunderlich tönenden Namen Phöbe rief.

Der Gastfreund legte seine Hand auf die Hand des nun doch hastig von seinem Sitze sich erhebenden jungen Mädchens, und vom Hause her durch den Gartengang kam langsam der Pastor Prudens Hahnemeyer heran.

Veit Vielow blickte dem Jugendfreunde mit Spannung entgegen. Wenn ihm die Erscheinung desselben irgend welche Enttäuschung bereitete, so ließ er jedenfalls nichts davon merken. Dieses Haus, diese Menschen hatten an seinem Wege gelegen, und er hatte sie aufgesucht. Er hätte an ihnen vorbeigehen können; aber er hatte es zufällig nicht gethan sondern war zu ihnen eingetreten. Wie hätte er sich ein Recht anmaßen können, das, was er fand, anders zu wollen. als es war? Ein größerer Gegensatz in Körpergestalt und Haltung und geistigem Ausdruck als zwischen diesen beiden Männern ließ sich freilich auch nicht leicht vorstellen.

Hager, aber breitschulterig und über die Mittelgröße des Menschen hinaus, doch den Kopf und Oberkörper etwas vorgeneigt tragend, kränklich bleich und mit bald erloschenen, bald seltsam leuchtenden, aber immer halb durch die Lider verdeckten Augen trat der junge Dorfpfarrer in seine Gartenlaube.

Nur einen kürzesten Moment zauderte er am Eingang unter dem Fliederbogen, dann aber trat er mit weitem Schritt heran und sagte fragend:

„Ein Gast, Schwester?“

„Ein Freund, Bruder! Ein alter lieber Freund von Dir. Ich weiß nicht, ob er Dich rathen lassen will, oder ob er – ob Du –“

„Baron Bielow?“ sagte Prudens Hahnemeyer.

„Veit Bielow, alter Mensch!“ rief der Gast lachend und griff fest und warm nach der zögernden, magern kühlen Hand des Andern, die sich auf den Tischrand gelegt hatte. „Verbitte mir dringend alles fernere Baronisiren, mein braver, alter Studentenbudenmitkauz. Die Familie des Freiherrn von Bielow-Altrippen blieb seinem Veit immer gründlich unten, Fräulein Phöbe, wenn ich zu seiner Höhe emporstieg, um Weltliches und Ueberweltliches bei seinem schlimmen Thee, schlimmen Kaffee und über allen Ausdruck entsetzlichen Knaster mit ihm zu bereden. Weiland Doktor Samuel Johnson konnte auf der Universität Oxford die neuen Schuhe, die man ihm vor die Thür setzte, gewiß nicht grimmiger aus dem Fenster werfen, als wie dieser philosophisch-theologische Cyniker mich in Halle aus der Thür beförderte, als ich zum ersten und zum letzten Male den Versuch machte, ihm mit einer Kiste erträglicher Cigarren, einer Flasche Bordeaux in jeder Rocktasche und einem im nächsten Delikatessenladen gefüllten Handkorb fernere Duldung meiner windigen Persönlichkeit hinter der sturmsichern Mauer seiner Weltanschauung abzuschmeicheln. Ich verbitte mir also jetzt Deinen Baron ebenso bestimmt, wie Du Dir damals meinen gekochten Schinken und Schweizerkäse, Hahnemeyer. Uebrigens, im Ernst, lieber Freund, nimmst Du hoffentlich diesen meinen Ueberfall aus blauer Luft und goldenem Abendhimmel nicht verquerer als wie damals meine leichtfertigsten Einbrüche und Einwürfe in Deine ernsthaftesten logischen Beweisführungen, Darlegungen und Erörterungen?!“

„Ich freue mich herzlich; Sie – Du bist willkommen, auch unter diesem Dache.“

„Für eine Nacht –“

„Für Tage, Wochen und Jahre, so lange Du wie damals zufrieden bist mit dem, was ich Dir zu bieten habe.“

„Nur für diese Nacht, und auch für die nur, wenn Deine Schwester einverstanden ist. Sie sehen übrigens, Fräulein, ich bin jedenfalls da wie der richtige Wandsbecker Bote. Alles was ich habe, trage ich bei mir. Das heißt die Tasche hier enthält meine ganze fahrende Habe für diesmal. Schon aus Gepäckmangel würde ich also das alte Sprichwort von frischen Fischen und guten Freunden, die sich nur drei Tage im Hause angenehm halten sollen, von Neuem wahr zu machen haben.“

Er hob die leichte, elegante Tasche lachend auf, wies zugleich auf Hut und Wanderstab und fuhr fort:

„Ich konnte aber unmöglich durch Dein Dorf gehen, Hahnemeyer, ohne genauer zu erkunden, wo und wie eigentlich das Schicksal Dich in der Welt argem Wirrsal in Sicherheit gebracht habe, und ohne den Versuch zu machen, noch einmal einen Abend mit Dir zu verplaudern. Wer kann sagen, wann und ob uns noch einmal die Gelegenheit dazu gegeben wird? Gestern, etwas tiefer in Euern Bergen, gerieth mir eines Eurer Kreisblätter mit Deinem Namen und dem Deiner Pfarrstelle in die Hände; Deine Schwester mag Dir erzählen, wie sich heute Abend vor zwei Stunden unsere Bekanntschaft auf der Vierlingswiese angeknüpft hat.“

„Wir haben, wie es vorauszusehen war, dort eine Leiche, Prudens,“ sagte Phöbe ruhig. „Anna ist todt. Es ist so geschehen, wie Du heute Morgen meintest; der Herr hat sie aus ihrem Elend vor sich gerufen, ohne daß sie es bemerkte. Sie ist vor seinen Stuhl gegangen, ohne bei uns ihre Besinnung wieder bekommen zu haben.“

Nach einer Weile fragte der Pastor:

„Und der Mann?“

„Wild und zornig gegen die ganze Welt. Wilder und zorniger jetzt, als sonst! Und voll bösen Vorhabens zu seinen bösen Worten. Er lacht und meint, auf dieses habe er nur gewartet, so sei es jetzt gut, und das Dorf und Alle, die mit der Familie Fuchs im Sterben nichts zu schaffen haben wollten, sollten sich nur ja nicht einbilden, daß sie ihnen im Tode Molesten machen werde. Ich weiß nicht, was er damit sagen konnte; aber er hat gelacht und die Hand, die er nicht gegen mich ballte, seiner Frau Leichnam als Faust auf die Stirn gelegt. Es war kein guter Anblick. Wann willst Du zu ihm gehen?“

„Im Laufe des Abends natürlich,“ sagte der Pfarrer und riß den Freund und Gastfreund in der That aus einem verworrenen Versunkensein in die Situationen, von denen eben dieses junge Mädchen so gelassen redete, als er hinzufügte:

„Du wirst nun wohl ein wenig im Hause zu sorgen haben für unsern Besuch, Phöbe. Du wirst Dein Bestes thun, Kind; es ist wahrlich ein alter, guter Bekannter, der uns hier aufgesucht hat!“

Phöbe erhob sich rasch, grüßte noch einmal diesen Jugendfreund ihres Bruders, den dieser Bruder eben einen guten Bekannten genannt hatte, und eilte dem Hause zu; sie hatte einen zierlichen Schritt, auch wenn sie nicht langsam ging.

Die beiden Männer waren nun allein mit einander an dem Tisch in der Laube, und man hörte, während sie sich jetzt von Neuem prüfend, ohne es zu verbergen, betrachteten, wieder nichts weiter als die Unruhe im Thurm und dann und wann ein leises Schwalbenzwitschern um den Thurm und das Kirchendach. Zuerst nahm dann Veit Bielow das Wort und sagte:

„So lebst Du also nun, Prudens.“

„So lebe ich, und hier. Es läßt sich für Dich wohl nicht in kürzere Worte fassen.“

„Und hieraus, aus diesem Deinem kurzschroffen Gegenwort nämlich, sehe ich, daß Du noch ganz der Alte bist, alter, harter Freund.“

[451] „Du solltest länger als eine Nacht in diesem Hause bleiben.“

„Hm,“ murmelte der Mann aus der Gesellschaft.

„Siehst Du, Du scheinst heute doch einiges Bedenken darüber zu fühlen,“ meinte Prudens mit leiser, grimmiger Ironie; doch der Jugendfreund rief – und zwar auch nicht ohne eine gewisse selbstsichere Ueberhebung:

„Ganz im Gegentheil, mein Theurer. Ich fühle wirklich die ausbündigste Lust, einen Lastesel vom Zeltpflock meines gegenwärtigen Aufenthaltsortes dort unten unter den Leuten im Alltagsdasein loszulösen, ihn mit meiner dorthin voraufgeschickten Bagage von Neuem zu belasten und ihn vermittelst eines Wälderknaben oder Gebirgsjünglings hier hinauf zu dirigiren, um, wenn nicht für Monden und Jahre, so doch für Tage und Wochen von Deiner Gastfreundschaft Gebrauch zu machen.“

„Da müßtest Du Dir freilich doch wohl etwas genauer von meiner Schwester und mir zeigen lassen, wie wir leben.“

„Da kommt Fräulein Phöbe und Deine Magd mit Tellerkorb und Serviettenbündel. Augenblicklich werden wir ihnen unter dem Fliedergezweig wohl ein wenig im Wege sein. Beginne Du. Zeige mir, wenn nicht Dein ganzes Haus, so doch Dein Privatreich darin, Deine Stube und Deinen Arbeitstisch, während wir den Beiden hier das Feld frei lassen. Vielleicht dämmert es Dir in der Erinnerung mehr und mehr auf aus der Zeit, da wir, wenn nicht Andere, so doch Jüngere waren, wie hartnäckig ein gewisser Veit Bielow in seiner liebenswürdigen Aufdringlichkeit zu sein vermochte.“

Lachend nahm er den Pfarrer unterm Arm und zog ihn gegen das Haus. Es war ihm in der That schwer zu widerstehen, und Prudens widerstand auch nicht. Er ließ sich führen und führte. Mit fröhlicher Behaglichkeit sagte der Gast zu dem jungen Mädchen:

„Ich wünsche vor allen Dingen ganz genau Hausgelegenheit kennen zu lernen, liebes Fräulein.“

„Deines Freundes Schlafgemach ist bereit, Prudens,“ flüsterte Phöbe ihrem Bruder zu.

(Fortsetzung folgt.)

Symposion bei Tizian.

(Mit Illustation S. 449.)


Der Tag neigt seinem Ende zu. Langsamen Schrittes kommt der Abend gezogen. Still ist es weithin, schweigsam gleiten die Gondeln über die Lagunen wie Geisterschiffe geheimnißvollen Inhalts. Natur und Menschen scheinen auszuruhen von der Schwüle der eben verflossenen Stunden. Noch umspielt die Sonne die fünf Kuppeln von San Marco, aber bald wird sie zur Rüste gehen, der Abend wird seine Schleier weben um Venezia la Bella und die Gondolieri werden einander mit ihren Liedern begrüßen – noch nicht mit den Strophen des Tasso, denn zur Stunde ist der Herrliche noch ungeboren. Wir schreiben das Jahr 1532, für Venedig ein Jahr heiteren Lebensgenusses wie ein anderes, aber der Tag ist ein besonderer: der 1. August. Da feiern die Italiener das Ferrare Agosto, und das Volk benutzt den Anlaß, um zu bechern, zu schmausen und lärmender Geselligkeit zu huldigen, vielleicht ohne zu wissen, was das Datum bedeutet. In Rom sind Ferrare Agosto und Petri Kettenfeier gleichbedeutend mit einander, aber hinter dem laufenden Jahrhunderte schiebt sich die Antike vor, und wir erinnern uns, daß „Ferrare Agosto“ nichts Anderes heißt, als Feriae Augustae. Und vom Augustus und vom alten Rom spricht der Künstler, welcher da vor uns sitzt. Das Gespräch gleitet hinüber auf einen anderen Imperator. Tiziano da Vecello heißt der Künstler, Karl V. nennt sich der Imperator.

Ein reizvolles Stückchen venetianischer Erde ist es, wo Tizian einen Kreis um sich versammelt hat. Er freut sich dessen, zumal er noch nicht lange daselbst haust. Bis zum Jahre 1530 bewohnte er die Casa San Samuele dicht am großen Kanale. Dann übersiedelte er in den nordöstlichen Stadttheil, in die „Contrada San Canziano in Biri“. Hier kann der Blick noch frei über die Wasserfläche schweifen bis hinüber nach Murano, ja weit, weit hinweg über das Flachland bei Mestre bis zu den im Aether verschwimmenden Alpen von Cadore, in deren Herzen Tizian geboren worden. Hier giebt es noch Bäume, noch helles Licht, noch freie, nicht von hohen Wänden eingeengte Luft. Hier fühlt der gewaltige Maler sich wohl, und er ist unablässig bemüht, das neue Heim auszuschmücken. Den von den Fluthen bespülten Garten hat er besonders ins Herz geschlossen, hier pflegt er seine Getreuen um sich zu vereinigen, in ernster und scherzhafter Rede sich mit ihnen ergötzend, doppelt froh, wenn nicht nur weise Männer, sondern auch liebliche Frauen seinen Worten lauschen. Zu erzählen weiß er immer viel von Kunst und Leben, von seinem Verkehre mit merkwürdigen Menschen, es ist ein Genuß, ihn zu hören. Und so ist es auch kein gewöhnliches Gastmahl, zu dem er heute seine Freunde geladen; es ist ein echtes Symposion, wie es die Weisen und Künstler des alten Hellas abzuhalten pflegten, indem sie die Freuden der Tafel durch geistige Genüsse zu veredeln wußten.

Heute spricht Tizian immer wieder von seinem hohen Gönner, Kaiser Karl V., der ihm eben Beweise einer schier erdrückenden Gunst gegeben. Zum Pfalzgrafen hat der Monarch ihn ernannt, zum Grafen des Lateranischen Palastes, zum Mitqliede des Staatsrathes. Seine Kinder sollen den Rang von Edelleuten mit vier Ahnen einnehmen. Der Künstler ist außerdem zum Ritter vom goldenen Sporn befördert, und die Kette, die er jetzt trägt, er hat ausdrückliche Erlaubniß, sie anzulegen, ebenso das Schwert, wenn er bei Hofe erscheint. Außerdem geht noch ein ganzer Regen von Privilegien und Beneficien anf ihn nieder, und für die zwei Male, da er den Kaiser gemalt hat (1530 in Bologna, und vor Kurzem in Venedig), erhielt er je tausend Scudi. Ist’s ein Wunder, daß er mit tiefer Dankbarkeit von dem kaiserlichen Herrn spricht? Gar aufmerksame Zuhörerinnen hat er an den Töchtern des Palma Vecchio. Alle drei wenden kein Auge von ihm: eine läßt die Laute sinken, auf der sie gespielt, eine zweite hat ihr Instrument auf den Stuhl gelegt, denn jetzt ertönt ihnen süßere Musik: das Wort des Meisters, der so beredsam sein kann mit dem Pinsel und so malerisch mit der Rede. Reizvolle drei Mädchenköpfe! Selbst der Neger, der eben einige edel geformte Gefäße von der Tafel abräumt, kann sich nicht enthalten, wohlgefällig grinsend auf Palma’s Töchter zu blicken. Zwischen diesen und dem Maler steht Pietro Aretino, die litterarische „Geißel der Fürsten“, der geniale, aber sittlich verderbte Pamphletist. Kaiser und Könige fürchten ihn, er findet die Thüren der Größten und Vornehmsten immer offen, wie sollte er bei Tizian nicht Eintritt erhalten! Er flüstert einer Dame etwas zu: es mag just nichts Bescheidenes und nichts Erbauliches sein, denn Solcherlei ist Pietro’s Art wahrlich nicht. Die Dame aber nimmt ihm nicht übel, was er gesprochen, ja sie reicht ihm eine Blume – vielleicht als Preis dafür, daß er seiner losen Zunge Halt gebiete. Dabei geberden Beide sich ruhig und sehen einander nicht an, denn Tizian spricht, und sie möchten nicht als Störer vor ihm gelten. Wer die Dame ist? Ihren Namen weiß Niemand. Aber zwei große Künstler haben sie gemalt: Palma Vecchio und Tizian, und man nennt sie bei dem Einen wie bei dem Andern „la Bella di Tiziano“, was aber nicht mehr bedeutet, als daß der Meister aus Pieve di Cadore sie für die verkörperte Anmuth erklärt hat. So wie sie hier neben Aretino steht, so hat Tizian sie auf die Leinwand gebannt.

Und nun blicken wir nach links. Gute Gesellschaft: Pietro Bembo, der Dichter und Gelehrte, Jacovo Tatti, genannt Sansovino, der Architekt und Bildhauer, Ludovico Ariosto, der Säuger des „Orlando furioso“. Diese Drei bilden im Augenblicke eine kleine Welt für sich. Sie reden halblaut mit einander, ihr Gespräch dreht sich um ein Sonett Bembo’s, das Dieser ihnen vorgelesen hat. Ein düsterer Schatten liegt anf dem Antlitze des Dichters, der das geistliche Kleid trägt. Entsagung spricht aus seinem Sonett. Er ist müde der Enttäuschungen, die ihm beschieden worden, und ruft nun der eitlen und trügerischen Welt zu:

„Was du versprichst, es trügt und täuscht mich nimmer,
Ich meide dich, du eitle Welt voll Lug!
Daß ich dir je geglaubt, betrübt mich immer –
Ob Leid, ob Lust du giebst, ich hab’s genug.“

Sansovino und Ariosto entzücken sich an seinen Versen. Messer Ludovico meint es gewiß ehrlich mit seiner Freude an dem Rivalen, denn er hat Bembo verewigt als Denjenigen, der durch sein Beispiel gezeigt hat, wie man die „reine und süße“ italienische Sprache emporheben könne über den landläufigen Gebrauch, der sie verunstalte.

Tizian aber läßt sich nicht irre machen. Er berichtet den drei Mädchen von seinen Begegnungen mit Karl V., auch von der ersten in Bologna.

„Dort waren,“ so erzählt Tizian, „der Kaiser und Papst Paul III. zusammengetroffen. Große Dinge wurden berathen, die Stadt befand sich in fieberhafter Aufregung. Ich arbeitete ruhig an einem Gemälde: hoch oben stand ich auf einer Leiter, als Hellebardiere, die Pike in der Hand, eintraten, an den Wänden Spalier bildeten, und ein Page ihnen folgte, mit dem Rufe: ‚Der Kaiser!‘ Schon war der Kaiser da. Ich schickte mich an, herabzusteigen, ließ aber einen Pinsel fallen. Da trat Karl vor, bückte sich, hob diesen auf und sagte: ‚Tizian ist es werth, von einem Kaiser bedient zu werden.‘ Dabei bewahrte er seine fürstlich vornehme Haltung, man sah, daß der Herr der Welt so gehandelt, und ich ließ mich dankbar auf ein Knie vor ihm nieder.“

Noch mehr muß Tizian erzählen: wie der Kaiser sich geberdet und wie er sich bewegt – die Mädchen werden nicht müde, zuzuhören. Aber dann verlangt Tizian von ihnen zum Abschluß des Symposions noch ein süßes Lied. Sie singen es, und die lieblichen Töne zittern hinaus in den märchendurchwobenen Abend. Tizian schlürft die frischen, jungen Stimmen, und nachdem sie geendet, sagt er: „Es giebt doch nichts Besseres, als wenn der Mensch den Menschen erfreut, wenn Jeder das, was er kann, willig darbietet, um dem Anderen eine Stunde zu verschönen. Nicht ohne Wehmuth kann ich daran denken, wie der erhabene Michel Angelo einsam dahinlebt, ohne die Reize einer verfeinerten Geselligkeit zu ahnen.“

Und nun plaudert er auch mit den Uebrigen, und endlich wird eine Gondel herbeigeholt und das Symposion, das auf dem festen Lande begonnen, wird zu Wasser fortgesetzt. Während die Gondel sanft sich schaukelt, wie ein Kind im Mutterarme, ertönt ein vierstimmiger Gesang von Lust und Frohsinn, von Blüthe und Genuß: den Töchtern Palma’s hat „la Bella di Tiziano“ sich singend beigesellt. Ferdinand Groß.     


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Blätter und Blüthen.

Der Rhein in Graubünden. (Mit Illustration S. 441.) Er ist kaum sechs Stunden alt und macht schon solche Sprünge, der junge Rhein. Als ich vor Jahren vom Berg zum Dorf Splügen herabstieg, begrüßte ich ihn zum ersten Male, den grünen Burschen, der, gesäugt mit Gletschermilch aus Felsenbrüsten, es leicht hatte, zusehens groß und stark zu werden. Nöthig hat er aber seine ganz besondere Kraft, denn es wird ihm nichts Geringes zugemuthet, ehe er zu einem soliden Lebenswandel gelangen kann. Die Strecke vom blauschimmernden Eisgewölbe des Zapportgletschers am Fuße des Rheinwaldhorns, aus welchem der Hinterrhein lustrauschend hervorbricht, bis nach Reichenau, wo er mit dem Vorderrhein verbunden als ganzer Rhein weiterzieht, beträgt nur fünfzehn Wegstunden, aber die Höhe, die er dabei zu überwinden hat, nahezu 4000 Fuß. Diese Zahlen erleichtern die Vorstellung von dem Sturmlauf, zu welchem der junge Bergstrom gezwungen ist.

Auf drei Riesenstufen gelangt der Hinterrhein von Berg zu Thal. Die erste Stufe ist das Rheinwaldthal, die zweite das Schamser- und die dritte das Domleschgerthal. –

Kaum hat der Ewigneugeborene sich zum Bach gesammelt, so beginnt die Ungewöhnlichkeit seines Erdenlaufs, denn während er links einen Theil seiner Wasser in einen Abgrund (die „Hölle“) schleudert, bespült er zur Rechten eine Wiese, die wie eine Insel im Gletscher grünt, und weil im Hochsommer italienische Heerden hier weiden, deren Hirten in Luxuseinfalt sehr an das erste Menschenpaar erinnern, so hat man diese Stätte das „Paradies“ genannt. Nun geht es rasch thalabwärts. Da, wo die Bernhardinstraße das Thal verläßt, um südlich bergauf zu steigen, erfreut uns die erste steinerne Rheinbrücke, und haben wir die drei Rheinwalddörfer Hinterrhein, Nufenen und Splügen hinter uns, so können wir links die Ruine der ersten Rheinburg begrüßen und gehen schnurstracks auf den ersten Rheinfall los. Es ist ein reizender Gang von Splügen auf der prächtigen Kunststraße neben dem fröhlichen Rhein her. Ringsum die majestätischen Bilder des Hochgebirgs und in nächster Nähe liebliche Lärchen- und Tannenwäldchen und lachende Wiesenflächen, bis die Felsen immer näher heranrücken und endlich ein mächtiges Felsenthor uns das Ende der ersten Stufe ankündigt. Um zur zweiten, zum Schamserthal, hinab zu gelangen, dafür haben Natur und Kunst für den Strom und für den Verkehr verschiedene Bahnen geschaffen. Ich schildere sie mit Freuden heute wieder, wie ich sie fast vor einem Menschenalter gesehen und geschildert und wie beide noch unverändert sind.

Jene Felsenpforte steht dort, um uns auf die Schauer vorzubereiten, welche hier zu erleben sind. Denn gleich unter derselben öffnet sich die Schlucht der Rofflen. Im Zickzack abwärts windet das graue Gestein mit immer tiefer und schroffer abstürzenden Wänden und immer trotziger aufgestemmten Zacken und Brocken den Weg für den jungen Riesen. Es wird ihm zu enge, er brüllt vor Wuth und schlägt um sich, daß der Schaum aufspritzt an seine Kerkermauern. Aber vergeblich. Er muß sich fügen. Wo er am schlimmsten zu toben beginnt, führt uns die Straße ab von ihm. Man hört nur noch sein Grollen, immer tiefer herauf, während wir selbst nur wenig abwärts steigen. Plötzlich donnert er wieder vor uns. Eine Brücke überspannt ihn in einem Bogen, und hier endlich genießen wir vom ersten großen Rheinfall einen vollen Anblick. Jetzt senkt sich auch die Straße oft steil in die Tiefe und links verläßt uns das Donnern des Rheins nie. Ueber hundert furchtbare Stufen führt sein Weg hinab, immer mächtiger stürmt er einher, verstärkt durch frische Genossen, und immer herrlicher glänzen ihm Auge und Kleid. Bald sehen wir ihn dahinjagen auf glattem Gestein, im smaragdenen Gewande, verziert mit blüthenweißen Spitzen, bald rafft er sich zum Sprunge auf und stürzt, blinkend im stählernen Panzer und schaumbedeckt, von Fels zu Fels, bald ruht er aus im tiefen stillen Grunde und in seinen blauen Augen spiegeln sich die freudig nickenden Tannen, die grünen Hügel, schwarze Felsen und sonnige Häupter der Berge.

An einem der schönsten Punkte verlassen wir die Rofflenschlucht. Die Straße führt in vielen Windungen abwärts durch einen lustigen Wald, dann auf hoher Brücke über den Averser-Rhein, der mit einer Wassermasse, die der des Hinterrheins fast gleichkommt, rechts vom Gebirg herabstürmend, sich mit in die Rofflen stürzt. Die Schlucht, aus welcher dieser Zustrom herauskommt, heißt wegen des Erzreichthums, der ehedem ausgebeutet wurde, auch Ferrerathal, und hier finden wir auch den Wasserfall unseres Bildes, der uns nicht weit vom Eintritt in die Schlucht Halt gebietet. Kehren wir zur Straße zurück, so führt diese uns endlich rechts in weitem Bogen an dem lieblichen Alpendorf und der Ruine Bärenburg vorüber hinab in das heitere, vom nun doppelt starken Rhein in breitem Bette durchströmte Schamserthal mit den freundlichen Orten Andeer und Zillis. Und hier haben auch wir zu halten, nachdem wir die Leser bis zur Stätte unserer Illustration geleitet haben.

Unserem jungen Rhein steht aber noch „ein böser Weg“ bevor, dem schon die Römer seinen Namen gegeben: Via mala. Durch einen Hunderte von Klaftern tiefen und oft nur wenige Klaftern breiten, stundenlangen Abgrund muß er seine Wassermenge pressen, oft dem Menschenauge ganz verschwindend, bis er endlich seine dritte Stufe erreicht hat, das Domleschgerthal mit dem Hauptorte Thusis. Der Wanderer aber, der die Schauer dieses Weges überwunden hat und in Thusis seinen Stab ans Wirthshaus lehnt, kann sich die Ehre erzeigen, irgend ein recht liebes Wohl in dem ersten Rheinwein zu trinken. Fr. Hfm.     


Keilschrift-Räthsel.

Rettet zwei deutsche Forscher in Afrika! Von Prof. Dr. A. Supan, dem Herausgeber von „Petermann’s Geographischen Mittheilungen“, geht uns folgender Aufruf zu, den wir der Beachtung unserer Leser auf das Wärmste empfehlen:

„Durch die kriegerischen Ereignisse im Sudan sind zwei hochverdiente deutsche Forscher, Dr. Wilh. Junker und Dr. Schnitzler (Emin-Bey) von der Verbindung mit der Heimath abgeschnitten worden. Seit zwei Jahren haben wir keine Nachrichten mehr von ihnen erhalten, und unsere Besorgnisse sind natürlich erheblich gesteigert worden, seit Khartum in die Hände des Machdi gefallen und damit jede Hoffnung auf eine baldige Wiedereröffnung der Nilstraße verschwunden ist. In einer besonders gefahrvollen Lage befindet sich Emin-Bey als Gouverneur der ägyptischen Aequatorialprovinz, aber nicht minder auch Dr. Junker, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach bei Emin-Bey in Lado aufhält. Zum Zwecke ihrer Rettung hat Dr. Junker’s Bruder in St. Petersburg den durch seine Reise im Massailande rühmlichst bekannten deutschen Arzt in Sansibar Dr. G. A. Fischer beauftragt, von Sansibar aus eine Expedition nach Lado zu unternehmen. Am 21. April dieses Jahres hat sich Dr. Fischer in Triest eingeschifft, und er wird hoffentlich nicht allzu viel Zeit mit Vorbereitungen zur Expedition in Sansibar verlieren müssen.

In der Erwägung, daß es nicht blos Sache des Bruders ist, den Bruder zu retten, sondern daß es auch die Ehrenpflicht eines großen und mächtigen Kulturvolkes ist, seiner im Dienste der Wissenschaft in fernen Erdtheilen weilenden Söhne nicht zu vergessen, hatte ich im Verein mit der Geographischen Anstalt Justus Perthes schon vor längerer Zeit an die geographischen Vereine Deutschlands die Bitte gerichtet, durch Beiträge das Unternehmen Dr. Fischer’s zu unterstützen. Bisher sind aber erst 3000 Mark zu diesem Zwecke eingelaufen. Nur durch Sammlungen in weitesten Kreisen kann ein günstiges Resultat erzielt werden, und wir sind überzeugt, daß das deutsche Volk sich niemals vergebens an eine nationale Ehrenpflicht gemahnen läßt.“

Dr. G. A. Fischer ist als Mitarbeiter der „Gartenlaube“ auch unsern Lesern bekannt und bietet in seiner Person die beste Garantie für eine erfolgreiche Leitung der geplanten Expedition. Darum möchten wir den beredten Worten des Aufrufs nur noch die dringende Bitte hinzufügen, die Beiträge möglichst bald und zwar, damit sie sofort verwendet werden können, an die Hauptsammelstelle „Das Geographische Institut Justus Perthes in Gotha“ zu senden. Auch die kleinste Gabe ist willkommen, denn „Viele Wenig machen ein Viel“. D. Red.     


Wann ist der Mensch am kräftigsten? Eine sonderbare Frage! Doch früh Morgens, wenn er ausgeschlafen und ausgeruht, werden die Meisten erwidern. Denn so glaubt man es im Volke. Die Sache verhält sich jedoch in Wirklichkeit ganz anders.

Die Gelehrten haben besondere Apparate, sogenannte Dynamometer, oder, deutsch gesagt, Kraftmesser, mit welchen Dr. M. Buch vor Kurzem die menschliche Muskelkraft geprüft hat. Da ergab sich, daß der Mensch, wenn er sich aus dem Bette erhebt, gerade am schwächsten ist. Nach dem Frühstück steigt unsere Muskelkraft und erreicht nach dem Mittagsessen ihre Höhe. Kurz darauf sinkt sie für einige Stunden, steigt dann wieder gegen Abend und nimmt während der Nacht bis zum Morgen ab. Interessant sind auch die ferner angestellten Beobachtungen, daß Schwitzen die Muskelkraft verringert, und daß nicht zu übermäßig anstrengende Arbeit bei guter Kost die Kraft mehr erhöht, als geringes Arbeiten, das heißt faules Leben. Darum arbeite fleißig, wer stark bleiben will! — i.     


Auflösung des Buchstaben-Räthsels in Nr. 26: Lessing.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

B. G. in Köln. Die schnellsten Züge der Erde kursiren nicht auf amerikanischen, sondern auf deutschen und englischen Eisenbahnen. Auf kleineren Strecken ist die Geschwindigkeit der Eilzüge selbstverständlich größer als auf längeren, wo durch das Anhalten auf verschiedenen Stationen ein nicht unbeträchtlicher Zeitverlust entsteht. So z. B. legt der Eilzug Stendal-Lehrte je 1 Kilometer in 0,838 Minuten, der Eilzug Spandau-Köln dagegen je 1 Kilometer in 1,01 Minuten zurück.

Y. Z. in B., C. S. G…S in Erfurt. Ungeeignet.


Inhalt: Sommerblumenzeit. Gedicht von Carl Weitbrecht. Mit Illustration S. 437. – Trudchens Heirath. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 438. – Deutsche Turnfeste. Von Professor Dr. C. Euler. S. 442. – Kälte im Sommer. Von G. van Muyden. S. 444. – Siesta. Illustration. S. 445. – Unruhige Gäste. Ein Riman aus der Gesellschaft. Von Wilhelm Raabe. S. 446. – Symposion bei Tizian. Von Ferdinand Groß. S. 451. Mit Illustration S. 449. – Blätter und Blüthen: Der Rhein in Graubünden. S. 452. Mit Illustration S. 441. – Rettet zwei deutsche Forscher in Afrika! – Wann ist der Mensch am kräftigsten? – Keilschrift-Räthsel. – Auflösung des Buchstaben-Räthsels in Nr. 26. – Kleiner Briefkasten. S. 452.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.