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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 21.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Trudchens Heirath.

Von W. Heimburg.


[„]Wahrhaftig, Franz, an Deiner Stelle wüßte ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte! Eine Erbschaft ist mir immer als das Ziel meiner Wünsche erschienen, aber wie mit jedem Dinge im menschlichen Leben – Alles mit Unterschied. Franz, wirklich, Du thust mir leid! Da hast Du nun etwas Ererbtes am Halse, an das Du nie gedacht hast, ein sogenanntes Gut, ein paar hundert Morgen Aeckerchen und Wiesen, etwas Wald, einen verwilderten Garten, ein vernachlässigtes Wohnhaus, als Inventar vier gallige spatlahme Andalusier, sechs spindeldürre Kühe, und eine Tante als Hauptsache, die das Gallige und Spindeldürre in ihrer angenehmen Persönlichkeit zu vereinigen scheint. Menschenkind, so ringe doch wenigstens die Hände oder schimpfe, oder thue irgend etwas dergleichen, aber stehe nicht so einher, wie die stummste Verzweiflung selbst!“

Amtsrichter Weishaupt richtete diese Worte im komischen Zorn an seinen gegenüber sitzenden Freund, den Assessor Linden. Vor ihnen auf dem Tische stand eine Rheinweinflasche nebst Gläsern, und auf dieser bereits geleerten Flasche hafteten die Augen des Angeredeten mit nachdenklichem Ausdruck, als könne er von der Etikette eine Antwort ablesen.

Es war ein großes Zimmer, in dem sich die Beiden befanden, eine Art Gartensaal, unendlich altmodisch und einfach ausgestattet mit zwei birkenen Eckschränken, wie sie zu Großmutterzeiten die jetzigen vornehmen Kredenztische vertraten und anstatt kostbarer Majoliken die vergoldeten buntbemalten Porcellantassen hinter ihren Glasscheiben sehen ließen, mit einem großen Sofa, dessen schwarzer Roßhaarbezug gar keinen Gedanken an ein behaglichmolliges Ruhestündchen aufkommen ließ; mit sechs rührend einfach konstruirten Rohrstühlen, die um den großen Tisch standen, und endlich mit mehr als zweifelhaften Familienportraits, unter denen besonders das Pastellbildniß einer blondgelockten jugendlichen Schönheit auffiel, deren unendlich kleiner Mund wie verlegen lächelte, als wollte sie sagen: „glaubt mir nur, ganz so dumm habe ich in Wirklichkeit nicht ausgesehen!“ Und über all dieses verbreiteten orangegelbe Fenstervorhänge ein eigenthümlich unangenehmes Licht.

Die Thür des Zimmers stand geöffnet und, wie entschädigend für alle Geschmacklosigkeiten, bot sich dem Auge eine wunderliebliche Aussicht. Hohe bewaldete Bergkuppen mit üppigem Laubwald bedeckt, dessen ernstes Grün der Herbst schon in leuchtende Farben verwandelt hatte, bildeten den Hintergrund; in nächster Nähe der Garten, malerisch genug in seiner Verwilderung; und hinter den Bäumen hervorschimmernd die rothen Ziegeldächer des Dorfes. Und das Ganze verschleiert von dem feinen Hauch eines Oktobermorgens, dessen die Sonne noch nicht Herr werden konnte. Mit der herben, reinen Luft aber wehte anmuthend der taktmäßige Schall der Dreschflegel herüber, die auf der Tenne des Gutes geschwungen wurden.

Stelldichein.0 Nach dem Gemälde von H. Lengo.
Photographie im Verlag von B. Schlesinger in Stuttgart.

[338] Von der Weinflasche war das dunkle Auge des jungen Mannes hinausgeschweift; er sprang plötzlich empor und trat in die Thür.

„Und trotz alledem, Richard, es ist ein reizendes Fleckchen Erde,“ sagte er warm, „ich habe für Norddeutschland immer große Sympathien gehabt. Glaube nur, der Faust liest sich hier noch einmal so gut, wo der Brocken dort herüber schaut. Ich bitte Dich, krächze nicht mehr wie ein Unglücksrabe! Ich werde Frankfurt nie vergessen, aber auch nicht allzusehr vermissen – hoffe ich.“

„Na, Gott bewahre!“ scherzte der Kleine, noch immer mit dem leeren Weinglase spielend, „Du willst mir doch nicht weismachen –“

Aber Linden unterbrach ihn: „Ich will Dir gar nichts weismachen, ich will versuchen ein Landwirth zu werden, und ich will dies nicht nur, weil ich muß, Richard, mir ist wirklich in dem alten Neste ganz behaglich; ergo höre auf, mein Alterchen!“

„Na, Glück zu!“ erwiderte der Andere, neben den Freund tretend und fast zärtlich in das hübsche Männergesicht schauend. „Ich habe ja im Allgemeinen nichts einzuwenden gegen dieses Gutsbesitzerspiel, wenn ich nur wüßte wie und wo –. Siehst Du, Franz. wäre ich nicht solch ein armer Schlucker, ich sagte Dir sofort: ‚hier, mein Junge, hast Du ein Kapital von so und so viel; nun fange einmal an, das veraltete lotterige Ding in Zug zu bringen.‘ So, wie es jetzt ist, kann’s nicht bleiben. Aber – na, Du weißt,“ schloß er mit einem Seufzer.

Franz Linden hatte abermals keine Antwort, aber er pfiff leise eine lustige Melodie, wie er immer that, wenn er unangenehme Gedanken verscheuchen wollte.

„Ja, pfeife nur,“ murmelte der Kleine, „es wird die einzige Musik sein, die Du hier zu hören bekommst, oder etwa noch eine knarrende Stubenthür, oder das Koncert einer höchst respektablen Mäusefamilie, die sich in Deinem Zimmer angesiedelt hat. Brr – Franz! Jetzt denke Dir dieses einsame Nest im Winter – auf den Bergen Schnee, auf der Straße Schnee, im Garten Schnee und in der Luft weißes Gewimmel; – Herr Gott, was willst Du die langen Abende hindurch machen, an denen wir sonst im Taunus auf der Bockenheimer Gasse saßen, oder im Theater? Wer soll hier Skat mit Dir spielen? Für wen willst Du Deine vielbewunderten Gedichte machen? In der Dorfschenke werden sie sicher nicht verstanden. Ach, wenn ich Dich so ansehe, Du hier allein, versauernd, und Sorgen dazu!“

Er seufzte.

„Ich will Dir etwas sagen, Franz, Scherz in die Ecke,“ fuhr er fort. „Du wirst heirathen müssen! Und da gebe ich Dir den Rath, thue bei dieser Angelegenheit Deinen Idealen ein wenig Zwang an, sieh einmal ab von elfengleichem Wuchs, sinnigen Augen und holdester Weiblichkeit – zu Gunsten eines anderen Vorzuges, der durch nichts zu ersetzen ist in unserem prosaischen Leben; bringe mir kein armes Mädchen, Franz, und wäre sie die Perle aller Welttheile. In Deiner Lage würde es einfach Thorheit sein, eine Sünde an Dir, ihr und allen Deinen Nachkommen. Es schadet rein gar nichts, wenn Deine hübschen Reime nicht auf sie passen. Du wirst auch die Schönste nicht ewig andichten. Ja, lache nur!“

Er stiebte die Asche seiner Cigarre ab. „In Frankfurt – hättest Du ernstlich gewollt – war was zu machen. Aber Du hast Dich von den koketten Augen der kleinen Thea völlig blenden lassen. Wie oft habe ich mich damals geärgert! Wenn der Mensch über die Fünfundzwanzig hinaus ist, sollte er wahrhaftig vernünftiger werden!“

Franz Linden schwieg beharrlich, und der Kleine wußte sofort, daß er, wie er sich auszudrücken pflegte, in den Fetttopf getreten hatte bei ihm.

„Na, Franz, laß gut sein,“ scherzte er, „hier giebt’s vielleicht auch reiche Mädchen.“

„Ei gewiß, mein Herr, ei gewiß,“ klang es hinter ihnen, „reiche Mädchen und hübsche Mädchen; unsere alte Stadt ist von jeher dafür berühmt gewesen.“

Beide Herren wandten sich nach dem Sprecher um; der Amtsrichter nur um mit einem ärgerlichen Achselzucken sofort wieder in die Gegend hinaus zu schauen, Franz Linden um ihn höflich zu begrüßen.

„Ich bringe die gewünschten Notizen,“ fuhr der Eingetretene fort, ein kleiner Mann in den fünfziger Jahren mit einem unglaublich schmalen spitzen Gesichte, auf dem ein süßliches Lächeln spielte, devot in jeder Miene, jeder Bewegung.

„Ich danke sehr, Herr Wölff,“ sagte Franz Linden und nahm die Papiere.

„Wenn ich sonst noch dienen kann – Fräulein Rosalie wird bezeugen, daß ich dem verstorbenen Herrn Onkel stets ein dienstwilliger Freund gewesen.“

„Ich bin völlig fremd hier,“ erwiderte der junge Hausherr, „es kann wohl sein, daß ich Ihrer Hilfe bedarf.“

„Größte Ehre, Herr Linden! Ja, und wie gesagt, sollten Sie in der Stadt Bekanntschaften suchen – da sind die Tubmanns, die Schenks, die Meiers und Hellborns, und vor allem die Baumhagens; reiche und angenehme Häuser, Herr Linden – werden mit offenen Armen aufgenommen, ist immer Mangel an liebenswürdigen Kavalieren in der kleinen Stadt. Die Herren von der Kavallerie – Sie wissen schon – ein wenig oben hinaus, wollen sich lediglich amüsiren; – bin gern erbötig, falls Sie –“

Der Amtsrichter unterbrach ihn mit einem gewaltigen Räuspern. „Franz,“ sagte er trocken, „was ist das für ein Thurm dort drüben auf dem Berge? Du hast ja gestern die Generalstabskarte studirt.“

„Die Hubertushöhe,“ erwiderte der junge Mann, zu ihm tretend.

„Gehört dem Freiherrn von Lobersberg,“ mischte sich Herr Wolff ein.

„Interessirt mich gar nicht,“ murmelte der Amtsrichter und fixirte, in Ermangelung eines Fernrohres, den Thurm durch die hohle Hand.

„Ich habe die Ehre mich zu empfehlen,“ schnarrte Wolff, „muß noch hinüber nach Lobersberg.“

Der Amtsrichter nickte kurz, Linden begleitete den Agenten bis zur Thür und kam dann langsam zurück.

„Nun erkläre mir, bitte,“ fuhr der Freund auf ihn los, „wie kommst Du zu diesem Menschen – was sage ich – zu dieser Ratte, die sich so unaufgefordert in Deine Angelegenheiten drängt?“

Die dunklen Augen Franz Linden's sahen wie erstaunt in das ärgerliche Antlitz des Amtsrichters.

„Je nun, Richard, er ist des verstorbenen Onkels rechte Hand gewesen, so zu sagen, sein Faktotum, und schließlich – er darf wohl ein Wörtchen mitreden, da er leider Gottes eine große Hypothek auf Niendorf stehen hat.“

„Das berechtigt ihn noch nicht zu dem aufdringlichen Gebahren, welches der Mann Dir gegenüber entfaltet,“ sagte der Kleine.

„I, Kreisrichterchen,“ entschuldigte der junge Mann, „er hält mich für einen Neuling, fur einen Ignoranten in dem heiligen Getriebe einer Landwirthschaft. Du –“

„Und ich halte ihn für einen dunklen Ehrenmann! Und wenn wir uns wieder einmal sprechen, Goldsohn. wirst Du mir sagen: ‚Richard, weiß Gott, Du hattest Recht mit diesem Menschen, der Kerl ist ein Spitzbube!‘“

„Weißt Du,“ erklärte Franz Linden, zwischen Scherz und Ernst schwankend, „ich wollt', ich hätte Dich ruhig in Deiner Wohnung am Goethe-Platz gelassen. Du bist im Stande, mir mit Deinen morösen Ansichten Alles, Alles hier zu verekeln. Komm, wir wollen einen Gang machen durch den Garten, dann wird es leider Zeit sein, daß Du zur Bahn mußt, wenn Du allerwegen noch den Kurierzug erreichen willst.“

Er nahm des brummenden Freundes Arm und zog ihn mit sich, hinunter in die verschlungenen Wege, auf denen schon das welke Laub der Bäume lag.

„Ich bin überzeugt, der Kerl hat ein Heirathsbureau,“ murmelte ingrimmig der Amtsrichter.

Als sie um die Ecke eines verwilderten Bosketts gingen, sahen sie jenseit des kleinen ganz mit Wasserlinsen bedeckten Teiches eine alte Frau langsam dahin schreiten.

[339] „Ich bitte Dich um Gotteswillen,“ begann der Kleine wieder, „sieh Dir diese Gestalt an, diese Haube mit der ungeheuren Trauerschleife, dieses wunderliche Kleid mit einer Taille, die unter den Armen sitzt; und wie malerisch trägt sie den schwarzen Shawl; weiß der Himmel, sie hat einen rothen Parapluie! Goldsohn, den benutzt sie vermuthlich, um am ersten Mai auf Urlaub zu gehen, respektive zu reiten; brr – und das ist Deine einzige Gesellschaft!“

In der That, sie sah wunderlich aus, diese alte Frau, wie sie so voller Grandezza dahinwandelte, als sei eins der verblichenen Pastellbilder aus dem Gartensaal wieder lebendig geworden.

„Soll ich sie rufen?“ fragte lächelnd Franz Linden.

„Der Himmel bewahre uns!“ wehrte der Andere, „mir ist die Nähe des Blocksberges wirklich unheimlich, Dein Herr Wolff sieht aus wie Mephisto, und diese – nun, ich habe es eben angedeutet; sie ist eine peinliche Zugabe für Dich, Franz.“

Die wunderliche Frauengestalt war längst hinter den Büschen verschwunden, als der junge Mann endlich wie verloren antwortete: „Du siehst zu schwarz, Richard; in wiefern könnte dieses alte dem Grabe zuwankende Menschenkind lästig sein? Sie lebt förmlich verschollen in ihrem Erkerstübchen.“

„Nun, ich taxire sie darauf, daß sie Dich alle Augenblicke um etwas bitten wird; wenn sie friert, heizt der Ofen nicht gut, wenn sie Reißen hat, wirst Du ihr eine Katze schießen müssen; sie wird sich in Deine Angelegenheiten mengen, Deine Sachen verlegen und Dir zahllose kleine Verdrießlichkeiten bereiten. O, alte Tanten sind eigens dazu erfunden, ihre Mitmenschen zu quälen. Aber es schadet nichts, koche Du Dir nur einen recht großen Topf voll Zuckerguß und glasiere Alles damit. ’S wird nöthig sein. Ich glaube aber, Franz, es ist Zeit, der Kurierzug wartet nicht.“

Der Angeredete sah nach der Uhr, nickte mit dem Kopfe und ging eilig dem Hause zu, um das Anspannen zu bestellen.

Gedankenschwer folgte ihm der Freund; endlich stieß er ein halblautes „Donnerwetter!“ heraus. „So ein Bild von einem Jungen,“ raisonnirte er innerlich weiter, „soll hier Hungerpfoten saugen auf dieser Bauernklitsche? Was wird er überhaupt für eine Rolle spielen unter den reichen Grundbesitzern dieses gesegneten Landstriches? Hätte doch der Selige Gott weiß Wen zum Erben auserkoren, nur den nicht, soll sich’s auch noch zur Ehre schätzen! Was hätte er für Karrière machen können! Versauern und verbauern wird er hier, und diese – hole der Henker das ganze Niendorf! Hätte ich ihn nur wieder daheim im lustigen Frankfurt – O – es ist –“

Ein Viertelstündchen später saßen die Freunde in einem etwas altmodigen Gefährt und rollten der Kreisstadt zu. Hinter ihnen versank das stille Harzdörfchen und eine vielthürmige Stadt zeigte sich am Horizont ihren Blicken.

Allzu weit hatten sie nicht zu fahren, in Zeit einer Stunde war das Ziel erreicht, und der Wagen hielt vor dem stattlichen Bahnhofsgebäude. So schweigend wie sie gekommen, besorgten sie Billet und Gepäck, und erst auf dem Perron begann Linden zu sprechen.

„Grüß mir Frankfurt, Richard, und die Kollegen; schreibe mir auch einmal, wenn Du Zeit hast; sorge, daß ich meine Möbel und Bücher bald bekomme, und nun vielen Dank für Deine Begleitung nach hier!“

Der Amtsrichter machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Wollte Gott, ich könnte Dich mit zurücknehmen, Franz,“ sagte er beinahe weich, „Du glaubst nicht, wie Du mir fehlen wirst. Mit dem Schreiben ist das so so bei mir, Du kennst mich ja, Du bist fixer bei der Hand damit, wirst auch mehr Zeit haben –“

Das Pfeifen, das Rollen und Rasseln des heranbrausenden Kurierzuges schnitt ihm das Wort ab; er befand sich schon im nächsten Moment in einem Koupé.

„Adieu, Franz – komme noch einmal dicht heran, alter Junge – sieh, wenn Du in ernstlicher Verlegenheit bist, schreibe mir zuerst davon. Wenn ich auch selbst nicht in der Lage – Du weißt, meine Schwester ist in guter Assiette –“

Noch ein Händedruck, noch ein Blick in zwei ehrliche Männeraugen, und Franz Linden stand allein auf dem Bahnhofe. Langsam wandte er sich und schritt vom Perron hinunter seinem Wagen zu. Er hatte schon den Fuß auf dem Tritt, als er sich anders besann und dem Kutscher befahl im Hôtel auszuspannen, er habe in der Stadt zu thun.

Er war so völlig im Bann des unbehaglichen Gefühles, welches nach der Trennung von liebgewordenen Menschen das Herz erfüllt, daß er in keinesweges gehobener Stimmung die Straße zur Stadt hinabschritt. Am Eingange derselben bog er zur Seite und verfolgte einen menschenleeren Weg, der an der wohlerhaltenen alten Stadtmauer entlang führte. Wohin er wollte, wußte er selbst nicht; er hatte gar nichts hier zu suchen, er kannte keinen Menschen, aber er mußte sich doch etwas orientiren in seiner Nachbarstadt. Sie schien in der That ihren Ruf als alte deutsche Kaiserstadt zu rechtfertigen; trotzig lag das Schloß mit dem berühmten Dome auf steilem Fels; aus dem Gewirre rother spitzgiebliger Dächer ragte manch schlanker Kirchthurm empor, und wie ein fester Kranz umgaben noch heute Wall und Mauern die Altstadt, regelmäßig unterbrochen durch plumpe viereckige Wartthürme.

Er freute sich über das hübsche Bild; und wie er so dahin schritt, ließ seine Phantasie die prächtige Kaiserstadt aufwachen aus tausendjährigem Schlummer. Nach einem Weilchen blieb er stehen und sah zu einer der grauen Warten empor. „Wirklich, beinah wie das Eschenheimer Thor in Frankfurt,“ sagte er halblaut, „was für wunderliche Sprünge machen die Gedanken!“

Er befand sich plötzlich wieder mitten in der Gegenwart; noch vor kaum vier Wochen war er unter dem schönen Thor dahingegangen, ohne zu ahnen, daß er diesen Kollegen in Norddeutschland sobald schon begrüßen würde. Gleich einem Blitze aus heiterem Himmel war diese Erbschaft gekommen, die ihn zum Besitzer von Niendorf machte. Wie der alte Bruder seines Großvaters darauf verfallen, just ihn aus der ganzen zahlreichen Verwandtschaft zum Erben einzusetzen, es blieb fast ein Räthsel und ließ sich nur auf die besondere Zuneigung zu der Mutter des jungen Mannes zurückführen, die der alte Sonderling immer bevorzugt hatte.

Es war ihm aber beim Empfange der Nachricht gewesen, als falle ein goldener Regen in seinen Schoß; es lebt sich schlecht in einer Millionärstadt mit dem Einkommen eines Assessors. Und dann – er hatte in dem glänzenden verwirrenden Leben dort eine Herzenswunde empfangen, und die Narbe brannte zuweilen noch; das war, wenn an ihm eine elegante Equipage vorüberbrauste – schwarz die Pferde, schwarz mit Silber die Livréen und im mattgrauen Fond eine Frauengestalt, dunkle Straußfedern über dem marmorweißen Gesicht, goldigbraun der üppige Haarknoten im Nacken, und ach! so fremd ihn anblickend aus den großen blauen Augen. Er war dann verstimmt auf Tage nach solchem Begegnen. „Eine Modepuppe, ein herzloses Weib,“ nannte er sie bitter; aber er hatte doch einmal das Gegentheil geglaubt, ein ganzes Jahr lang, bis er eines Morgens ihre Verlobungsanzeigc in der Hand hielt. Sie heirathete einen Banquier, der ihr oft als Zielscheibe des Spottes gedient. Aber, mein Gott – er hatte eine Million!

Ja, wie gern war er gegangen aus ihrer Nähe, wie hatte er sich gefreut, das ganze Getriebe der großen Welt im Rücken zu haben, wie selig hatte er an die Mutter geschrieben, und was hatte er gefunden!

Aber gleichviel! Der Verwalter, den er vorläufig angenommen, schien ein tüchtiger Mensch; er selbst wollte sich in keiner Hinsicht schonen, und dann – Wolff. Er verstand wieder nicht, was Weishaupt an dem Manne auszusetzen fand.

Er wanderte schon längst durch belebte Gassen der Stadt; er hatte nach dem Hôtel gefragt, in dem sein Kutscher ausspannen wollte. Nun betrat er den Markt, in dessen Mitte der Roland steht. Ein stattliches Rathhaus im Renaissancestil erhob sich im Westen des Platzes, und ihm schlossen sich würdig hohe spitzgieblige Patricierhäuser an; einige mit Erkern geschmückt, einige stufenartig nach oben hinausgebaut, daß es aussah, als müßten sie das Uebergewicht bekommen. Nur zwei bis drei Gebäude waren neueren Ursprungs, und auch bei diesen hatte man sich augenscheinlich bemüht den mittelalterlichen Charakter festzuhalten.

Angenehm überrascht blieb Linden stehen, und sein Blick flog musternd über die Front des hohen Gebäudes, vor welchem er [340] zufällig Halt gemacht hatte. Drei mächtige Stockwerke thürmten sich auf einander; über der großen spitzbogigen Hausthür erhob sich ein zierlicher Erkerbau, der sich durch alle Etagen fortsetzte, um als stattlicher Thurm, sein Haupt mit einer Windfahne geschmückt, in den blauen Oktoberhimmel aufzuragen. In der Bel-Etage zeigten die durch Säulen getheilten Erkerfenster alterthümliche Butzenscheiben, jedenfalls war man dort „stilvoll“ eingerichtet. Im zweiten Stock aber schimmerten reiche Spitzengardinen hinter klaren hohen Glasscheiben, und ein Flor von Fuchsien und Nelken grüßte und nickte von den außen angebrachten Blumenbrettern herunter. Nur noch ein holdes Mädchenantlitz darüber, und das lieblichste Bild wäre gegeben.

Aber es zeigte sich nichts dergleichen, und noch einen Blick auf das kunstvolle Eisengeländer der Treppe werfend, wandte sich der aufmerksame Beschauer ab und schritt quer über den Markt dem Hôtel zu, um Mittag zu speisen. Da es schon eine späte Stunde, war er der einzige Gast in dem hübschen großen Speisesaal. So aß er ziemlich rasch und begann von Neuem die Straßen der Stadt zu durchwandern.

Hinter dem Rathhause kam er in ein Gewirr von engen und engsten Gäßchen, trat dann aber unter einem gewölbten Bogen unversehens hervor auf einen Platz, umstanden von hohen, halb entblätterten Lindenbänmen, welche ernst und feierlich eine mächtige Kirche zu bewachen schienen. Es war, als ob hier alles Leben erstorben sei, nur einige Kinder spielten zwischen dem welken Laube und eine alte Frau humpelte nach einem sonnigen Eckchen, sonst tiefste Ruhe rings umher.

Eine Seitenthür der Kirche stand geöffnet; er ging hinüber und trat ein in die schweigende Dämmerung des Gotteshauses; er nahm den Hut ab und betrachtete, überrascht von der edlen Einfachheit dieses Baues, die schlanken, doch kraftvoll aufstrebenden Pfeiler und das reiche Netzgewölbe des Chores. Dann schritt er den Mittelgang empor, zwischen den altersbraunen, kunstvoll geschnitzten Kirchenstühlen. Er freute sich darüber; er besaß lebhaftes Interesse für die schönen Formen der Renaissance, und er freute sich doppelt, weil er Aehnliches hier gar nicht gesucht. Dann hielt er plötzlich seine hallenden Schritte an; – dort am Taufsteine, über welchem mit ausgebreiteten Flügeln die weiße Taube schwebte, erblickte er drei Frauen. Zwei derselben schienen geringen Standes, die Aeltere, vermuthlich die Hebamme, hielt den Täufling in beständig schaukelnder Bewegung, die Andere, im einfachen schwarzen Wollenkleide und Umschlagetuch, ein junges Weib, schaute mit verweinten Augen auf das Kind, eine Dritte hatte sich herniedergebeugt zu demselben; der Kirchendiener, der eben das Wasser in das Taufbecken goß, verdeckte sie augenblicklich völlig, und Linden sah nur die Schleppe eines dunklen seidenen Kleides auf dem Sandsteinboden.

Und jetzt tönte eine weiche biegsame Frauenstimme in sein Ohr: „Weinen Sie nicht soviel, meine gute Johanne, Sie werden noch recht viel Freude haben an dem kleinen Würmchen – weinen Sie doch nicht! – Lieber Engelmann, benachrichtigen Sie den Herrn Oberprediger – meine Schwester scheint nicht zu kommen, sie wird Abhaltung haben; wir wollen nicht länger warten.“

Die Sprecherin wandte sich nach der Mutter, und Franz Linden sah nun voll in ein junges Mädchenantlitz. Ja, es war nicht eigentlich schön, dieses schmale Oval, von goldig braunem üppigen Haare überschattet, zu blaß der Teint, zu traurig der Ausdruck, den die etwas herabgezogenen Mundwinkel noch verschärften, aber unter den fein gezeichneten wenig geschwungenen Brauen sahen ein Paar tiefe blaue Augen ihn an, klar wie die eines Kindes, bittend und fragend, wie Frieden heischend für die heilige Handlung.

Es mochte wohl oft vorkommen, daß Fremde in die schöne Kirche eintraten und dadurch Störung veranlaßten – so glaubte wenigstens Franz Linden den Blick zu verstehen. Athemlos still verharrte er nun an den alten Kirchenstuhl gelehnt, und seine Augen folgten jeder Bewegung der schlanken Mädchengestalt, wie sie jetzt das Kind in die Arme nahm und zu dem Geistlichen trat.

„Herr Oberprediger,“ klang die weiche Stimme, „Sie müssen mit einem Taufzeugen vorlieb nehmen, meine Schwester ist leider ausgeblieben.“

Der Geistliche hob den Kopf. „Dann könnten Sie wohl, liebe Schmidt“ – er winkte der älteren Frau zu.

Franz Linden stand plötzlich vor dem Taufsteine neben dem jungen Mädchen; er wußte selbst nicht, wie er so rasch dahin gekommen.

„Gestatten Sie mir diese zweite Pathenstelle,“ sprach er. „Ich kam zufällig in die Kirche, ein landfremder Mensch; ich möchte die erste Gelegenheit, in meiner neuen Heimath Christenpflicht zu üben, nicht versäumen.“

Er war einem momentanen Impuls gefolgt, und er wurde verstanden. Der greise Prediger nickte lächelnd. „Es ist ein armes, früh vaterlos gewordenes Kind, mein Herr,“ erwiderte er, „vier Wochen vor seiner Geburt verunglückte der Vater – Sie thun ein gutes Werk. – Ist es Ihnen, liebe Frau, recht?“ wandte er sich zu der Mutter. „Nun schön – Engelmann, so tragen Sie den Namen des Herrn Pathen in das Kirchenbuch ein.“

„Karl Max Franz Linden,“ sagte der junge Mann.

Und nun standen sie zusammen vor dem Prediger, die Beiden, die vor einer Viertelstunde noch keine Ahnung von einander gehabt; sie hielt das schlummernde Kind in den Armen, sie hatte nicht empor gesehen, das lebhafte Roth der Ueberraschung brannte noch auf dem zarten Gesichte und das einfache Spitzchen an dem Kissen des Täuflings zitterte leise.

Es waren nur wenig Worte, die der Geistliche sprach; wunderbar klangen sie nach in Beider Herzen. Linden sah herab auf das brauue, tief gesenkte Haupt neben sich, dann lagen zwei Hände auf dem ärmlichen Bettchen des Täuflings, zwei warme junge Menschenhände dicht neben einander, und von Beider Lippen kam ein helles klares „Ja“, die Frage des Geistlichen beantwortend. Als die Ceremonie vorüber, trug das Mädchen der weinenden Mutter das Kind zu und drückte einen Kuß auf das kleine rothe Gesichtchen, dann kam sie hinüber zu Linden, und ihre Augen blickten ihn an mit einem Gemisch von Verwunderung und Dankbarkeit.

„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sprach sie und legte einen Moment die schmale Hand in seine Rechte, „ich danke Ihnen im Namen der armen Frau – es war so gut von Ihnen!“

Dann ein unnachahmlich stolzes Neigen des kleinen Kopfes, und sie ging, leise umrauscht von der schweren Seide ihres Kleides. Dort unten an der Pforte im hellen Scheine des hereinbrechenden Tageslichtes sah sie noch einmal zu ihm hinüber, der regungslos am Taufsteine geblieben, um ihr nachzuschauen, es war, als senke sie nochmals grüßend das blasse Antlitz, dann war sie verschwunden.

Franz Linden war allein in der stillen Kirche zurückgeblieben. Wer mochte sie sein, die da eben neben ihm gestanden? Ein leises Klingeln ließ ihn sich umsehen; der Küster mit dem Schlüsselbunde trat aus der Sakristei.

„Sie wollen zuschließen, alter Freund?“ sagte er, „ich gehe schon.“ Dann, wie sich besinnend, kam er ein paar Schritte zurück. „Wer war die junge Dame?“ wollte er fragen, aber er brachte es nicht über die Lippen, er betrachtete nur angelegentlich die in glühenden Farben schimmernden Glasmalereien der hohen Fenster.

„Die sind einzig schön,“ lobte der Küster, „und werden immer sehr bewundert; das dort ist von 1511, der Auszug der Kinder Israels, ein Geschenk der Aebtissin Anna vom Schlosse droben. Sie soll, wie man sagt, eine Vorliebe für diese Kirche gehabt haben, ist auch die schönste weit und breit herum, unsere Benedikti-Kirche.“

Franz Linden nickte. „Da mögen Sie Recht haben,“ sagte er zerstreut. Dann händigte er dem Manne eine kleine Summe ein für den Täufling und schritt hinaus.

Bald darauf rollte sein Wagen der Heimath zu. Dunkel hoben sich die Umrisse des Gebirges vom leuchtend rothen Abendhimmel, und immer näher rückte der Kirchthurm von Niendorf. Es war nichts Fremdes mehr um ihn wie heute früh noch, das erste leise wonnige Bewußtsein des Heimathgefühles zog in sein Herz. Auf der Höhe wandte er sich noch einmal und sah nach der Stadt zurück, wie läugst bekannt grüßte ihn das alte Schloß – und horch! Da kam im Abendwinde ein verlorner Glockenklang herübergeweht; vielleicht vom Sankt Benedikti-Thurm?

(Fortsetzung folgt.)




[341]

Traumverloren.
Nach dem Oelgemälde von N. Sichel.

[342]

Eine Verschwörung.

Von 0Johannes Scherr.
(Fortsetzung.)


3.0 Wer sich verschwor und wasmaßen.

Auf der Schwelle zum Jahre 1804 standen der Bewohnerschaft von Seine-Babel gewaltige Sensationen und Emotionen bevor. Zwei große Spektakel schickten sich an, in Scene zu gehen: eine Tragödie, die Cadoudal-Pichegru’sche Verschwörung, und eine Komödie, die Verkaiserung Bonaparte’s. Gleichzeitig sollte in den Tuilerien ein Thron und auf dem Grève-Platz ein Schaffot aufgebaut, auch im Schloßgraben von Vincennes ein Grab gegraben werden. „Blut ist ein ganz besondrer Saft.“ Das Blut eines Bourbon, meinte der Erste Konsul, würde den Purpur seines Kaisermantels nur leuchtender machen.

Der Gegensatz von Bourbonismus und Bonapartismus war schon von Haus aus ein unversöhnlicher. Zwei Zwischenfälle hatten aber denselben noch grimmiger gemacht. Der Graf von Provence, welchen die französischen Royalisten als ihren König Ludwig den Achtzehnten anerkannten und welcher dazumal mit seinem älteren Neffen, dem Duc d’Angoulème, in Warschau „residirte“, hatte an den Ersten Konsul einen Schreibebrief gerichtet, worin er denselben aufforderte, das Werk der Wiederaufrichtung Frankreichs mit der Zurückführung der legitimen Herrscherfamilie der Bourbons zu krönen, war aber mit dieser naiven Zumuthung vonseiten Bonaparte’s barsch und harsch abgewiesen worden. Später sodann hatte der Erste Konsul seinerseits die Naivität begangen, dem Könige in partibus, Ludwig dem Achtzehnten, zuzumuthen, selbiger möchte für sich und seine Familie allen Ansprüchen auf den französischen Thron förmlich und feierlich entsagen um den Preis einer jährlichen Rente von 2 Millionen, war aber von dem Exulanten in Warschau mit diesem Antrag heimgeschickt worden in einer Tonart, welche ihm den Standpunkt klarmachen sollte. Nämlich den Standpunkt, allwovon eine „allerchristlichste Majestät“ auf einen „Parvenu“ von Usurpator herabzusehen geruhte.

Der Bonapartismus und der Bourbonismus waren also quitt. Aber mit einander fertig waren sie darum noch lange nicht.

Der Wiederausbruch des Krieges zwischen England und Frankreich gab das Signal zu einer großen Rührigkeit im Lager der Emigranten, welche auf britischem Boden ein Asyl gefunden hatten und, wie schon erwähnt, auf Kosten der englischen Staatskasse lebten. An ihrer Spitze stand thatsächlich Georges Cadoudal, welcher nach der endgiltigen Beruhigung der Vendée das Anerbieten des Ersten Konsuls, ihm in der Armee eine lohnende Laufbahn zu eröffnen, charakterfest, als ein in der Wolle gefärbter Royalist und Katholik, ausgeschlagen und sich in die Bretagne zurückgezogen hatte, von wo er dann nach England gegangen. Dem Namen nach waren die Führer der emigrirten Franzosen, so viele deren noch in England sich befanden, der Graf von Artois und sein jüngerer Sohn, der Herzog von Berry. Der alte Prinz von Condé und sein Sohn, der Herzog von Bourbon, hielten sich von dem Treiben der Flüchtlinge abseits in der Erwartung, etwa wieder gegen die französische Republik zu Felde ziehen zu können, wie sie sammt ihrem Enkel und Sohne, dem Duc d’Enghien, der aber nicht bei ihnen auf britischem, sondern auf deutschem Boden lebte, vordem schon gethan. In der Umgebung von Artois und Berry hatten den größten Stand der Marquis de Rivière-Riffardeau und die Brüder Armand und Jules de Polignac aus jener für Frankreich und die Bourbons so fatalen Familie.

Innerhalb dieses Kreises trieben ihr lärmendes Spiel alle die Illusionen, von welchen bekanntlich Verbannte allzeit und überall sich umgaukeln zu lassen pflegen. Demnach sahen die Prinzen und ihr Anhang Menschen und Dinge drüben in Frankreich so, wie sie dieselben zu sehen wünschten. Sie wähnten, die Popularität Bonaparte’s sei schon verschwunden oder doch wenigstens stark im Verschwinden begriffen. Insbesondere darum, weil Frankreich die Kriegslust des Ersten Konsuls fürchtete. Item, er hätte nicht nur den Rest der Republikaner gegen sich, sondern auch eine starke Partei im Heere, welche um seinen Nebenbuhler in militärischer Autorität und im Feldherrnruhm, um den Sieger von Hohenlinden, um den notorisch unzufriedenen General Moreau sich sammelte. Item, die Royalisten, durch die ihnen vom Ersten Konsul gewährte Heimkehr aus der Verbannung und durch die theilweise Wiedererlangung ihrer Güter neu gekräftigt, würden natürlich bereit sein, eine Erhebung zu Gunsten der königlichen Sache – zu welcher Erhebung der Hebel am erfolgreichsten abermals in der Vendée anzusetzen wäre – mit Gut und Blut zu unterstützen. Endlich, die französische Klerisei würde selbstverständlich für das legitime Königthum Himmel und Hölle in Bewegung setzen, sowie das Lilienbanner in Frankreich entfaltet wäre.

Das alles war nur ein willkürlicher Mischmasch von halb wahren Vorstellungen und ganz falschen Einbildungen.

Die sehr wenig zahlreichen Republikaner, welche es dazumal noch in Frankreich gab, haßten allerdings in Bonaparte den Despoten, aber auch das kaum Denkbare angenommen, sie hätten dem Bourbonismus Beistand leisten wollen, so würden sie es in ihrer Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit gar nicht vermocht haben. Item, die Unzufriedenheit im Heere beschränkte sich auf eine kleine Anzahl von Officieren, welche sich vom Ersten Konsul nicht genug befördert glaubten und auf den General Moreau blickten als auf einen Gönner, von dem sie unter Umständen mehr erwarten dürften. Moreau selbst war sicherlich sehr verstimmt darüber, daß sich sein Kollege Bonaparte so hoch über ihn erhoben hatte, und diese Verstimmung war durch die geschäftige Zunge seiner Frau und die noch geschäftigere seiner Schwiegermutter, welche Damen der Madame Bonaparte die Residenz in den Tuilerien nicht zu verzeihen vermochten, zur leidenschaftlichen Verbitterung gesteigert worden. Der General, von seiner militärischen Befähigung abgesehen, ein recht mittelmäßiger Kopf und schwacher Charakter, war nach Art von Mittelmäßigkeiten dem Gefühle des Neides sehr zugänglich und hatte sich durch dieses Gefühl, sowie durch die besagten geschäftigen Zungen in die Vorstellung hineinschmeicheln lassen, der erste Platz in Frankreich gebührte ihm so gut wie dem „Usurpator von Korsen“, mindestens so gut oder eigentlich viel mehr. Aber deßhalb wähnen, er würde sich zu einem Werkzeug bourbonischer Restauration hergeben, das konnten nur Illusionäre von Emigranten. Item, die neuerlich nach Frankreich heimgekehrten Royalisten waren nichts weniger als bereit, ihre neugewonnene Stellung um der Bourbons willen schon wieder auf’s Spiel zu setzen. Im Gegentheil, sie waren es gar wohl zufrieden, vom Bonaparte gnädig angesehen zu werden, und drängten sich an den Hof des Ersten Konsuls, um diesen militärischen Hof monarchische Formen zu lehren und dem „Usurpator“ eine überreiche Anzahl von beflissenen und in der Etikette bewanderten Hofschranzen zu liefern. Die Bauern der Vendée ihrerseits hatten die Schwerenoth, welche ihre jahrelangen Kämpfe gegen die „Blauen“ über ihr Heimatland gebracht, noch in zu schmerzlich-frischer Erinnerung, als daß sie Neigung verspüren konnten, diese Kämpfe wieder anzuheben. Endlich, die französische Geistlichkeit erinnerte sich allzu lebhaft, wie ihr mitgespielt worden, wann zur jakobinischen Zeit die „Göttin der Vernunft“ in Notre-Dame gethront hatte, als daß sie jetzt schon hätte vergessen mögen, welche Summe von Dank sie dem Ersten Konsul schuldete als dem Wiedereröffner der Kirchen, dem Wiederaufrichter der Altäre, dem Urheber des Konkordats, welches der Klerisei neben dem himmlischen Manna auch das irdische Brot zurückgab.

Weit besser begründet als die so eben in ihrer Nichtigkeit aufgezeigten Voraussetzungen der Emigranten wär die, daß die englische Regierung jedes Vorgehen gegen Bonaparte bereitwilligst unterstützen würde. Das ist denn auch wirklich geschehen, obzwar, aus den früherhin betonten Ursachen, ein urkundlicher Beweis für die Betheiligung des englischen Ministeriums an der gegen den Ersten Konsul gesponnenen Verschwörung nicht beigebracht worden und wohl niemals beigebracht werden kann. Selbst im geheimsten Schranke des britischen Geheimarchivs wird sich schwerlich jemals ein bezügliches Dokument finden lassen. Dagegen ist der Indicienbeweis für die Mitschuld der englischen Machthaber vollständig erbracht. Wer bezahlte die Kosten des Komplotts? England. Wer schaffte mittels eines Fahrzeugs seiner Kriegsmarine die verschiedenen Schübe der Verschwörer [343] verstohlen an die Küste von Frankreich? England. Wem mußte der Zweck des Komplotts, die „Beseitigung“ Bonaparte’s zunächst und zumeist zu gute kommen? England. Für jede nicht mit Leuten, welche absichtlich nicht sehen und nicht hören wollen, besetzte Geschworenenbank müßte das ausreichen, einen auf Mitschuldig lautenden Wahrspruch zu fällen. Die englische Regierung fand es ja außerdem auch in ihrem Interesse, Verbindungen mit auf dem Festland zerstreuten französischen Emigranten zu unterhalten, und zwar namentlich durch Vermittlung von drei ihrer diplomatischen Agenten, nämlich ihrer Gesandten Drake in München, Spencer-Smith in Stuttgart und Taylor in Darmstadt. Irgendwelche Beziehung dieser Diplomaten zur Cadoudal'schen Verschwörung ist jedoch nicht nachweisbar.

Mit Bonaparte, so phantasirten die Emigranten in London, fiele die einzige Möglichkeit des Bestehens der Republik in Frankreich. Nach der Republik aber könnten nur die Bourbons kommen. Folglich mußte der Erste Konsul „beseitigt“ oder „expedirt“ werden. Und wer sollte das besorgen? Natürlich Georges Cadoudal.

Es ist wahrscheinlich, daß der erste Gedanke des Mordkomplotts in dem ränkevollen Kopfe des skrupelfreien Marquis de Rivière entsprang. Die Polignacs gingen darauf ein, auch der Herzog von Berry und mit Feuereifer dessen Vater, der Graf von Artois. Der König in partibus, der Graf von Provence, wurde von dem Anschlag verständigt, mißbilligte aber denselben und wollte nicht weiter davon hören. Vielleicht schon deßhalb nicht, weil sein Bruder Artois, den er nicht leideu konnte, dafür eingenommen war. Die Verschwörungslustigen kümmerten sich nicht um den Widerspruch ihres achtzehnten Ludwigs. Diese Herren Absolutisten dachten, was ein erst später erfundenes Wort sagte: – „Und der König absolut, wenn er unsern Willen thut.“ Die Prinzen Condé blieben ganz außerhalb des Spiels. Man hielt es für überflüssig oder gar für unrathsam, sie einzuweihen.

Der Müllerssohn aus dem Morbihan, welcher sich vordem in den Wäldern, Haiden und Mooren der Bretagne als ein sehr tüchtiger Führer im kleinen Krieg, im Kriege der Hinterhalte und Ueberfälle, ausgewiesen hatte, war willig und bereit, den Streich gegen Bonaparte zu führen. Nur hegte er in seiner bäuerischen Seele ein Bedenken, welches in die adeligen Seelen der mit ihm verschworenen Prinzen und Junker keinen Zutritt fand. Er wollte dem „korsischen Usurpator“ den Krieg machen, den Krieg bis auf’s Messer, ja wohl; aber er wollte nicht für einen Meuchelmörder angesehen sein. Vielleicht auch machte ihn die Erinnerung an seine beim Höllenmaschinekomplott umsonst geopferten Gefährten diesmal heikler in der Wahl seiner Mittel. Er legte also einen Plan vor, dessen Ansführung dem beabsichtigten Anfall auf den Ersten Konsul das Aussehen nicht einer meuchlerischen, sondern einer kriegerischen That geben sollte. Man wußte, daß Bonaparte bei seinen Fahrten von den Tuilerien nach St. Cloud oder Malmaison im Hin und Her nur von einem Dutzend reitender Grenadiere der Konsulargarde begleitet zu werden pflegte. Auf diese Bedeckung wollte Cadoudal an der Spitze von einem Hundert wohlbewaffneter und entschlossener Royalisten fallen und also in offenem Kampfe im offenen Felde den Usurpator erschlagen. Damit aber das Abenteuer so recht Form und Farbe einer royalistisch-kriegerischen Unternehmung erhielte, müßten zwei Prinzen vom Stamme Bonrbon oder wenigstens einer mit dem Degen in der Hand dabei mitthun, Artois und Berry oder wenigstens einer von beiden.

So inscenirt, würde, wie der Chouanshäuptling wähnte, das geplante Attentat aus der gemeinen Sphäre des Meuchelmordes in die erhabene eines wohlberechtigten kriegerischen Wagnisses sich erheben. Man erkennt hier wiederum, wie so häufig im Leben und in der Geschichte, daß in der Kunst der Selbstbelügung die menschliche Erfindungsgabe alle Wahrscheinlichkeitsberechnungen weit hinter sich zurücklaßt.

Das Beseitigt- oder Expedirtsein Bonaparte’s vorausgesetzt, trat im Rechenexempel der Verschworenen die Ziffer Moreau in den Vordergrund. Die Prinzen und Junker bildeten sich ein, der frondirende General wäre unschwer zur Uebernahme der Monk-Rolle zu bestimmen. Seine Pantoffelheldenschaft war bekannt. Wie, wenn man seiner Frau und – nicht zu vergessen! – seiner Schwiegermutter verspräche, daß Moreau, mit der Würde eines Connétable bekleidet, dem wiederaufgerichteten bourbonischen Königsthron zunächst stehen sollte? Das müßte ziehen, dem wäre nicht zu widerstehen. Die beiden frauenzimmerlichen Zangen würden viribus unitis schon dafür sorgen.

Aber wie an Moreau gelangen? Durch Vermittelung seines alten Waffengefährten und Freundes Pichegru, den man in London zur Hand hatte. Der General, welcher als Eroberer von Holland unter den Kriegsleuten der Republik einen berühmten Namen gewonnen, hatte ja schon unter dem Direktorium die königliche Fahne zu erheben versucht, aber diesen verfrühten Versuch mit der Verbannung nach Guyana zu büßen gehabt. Von dort entflohen und nach England gelangt, war er in das Treiben der Emigranten hineingeraten, obzwar der ernste und scharfsichtige Mann davon sehr wenig erbaut sein mochte. Er konnte sich in der Werthung von Leuten wie Artois und Berry, Rivière und Polignac unmöglich täuschen und von den Verschworenen allen flößte ihm nur Georges Cadoudal Vertrauen ein, obzwar er den von seiner republikanischen Generalschaft herstammenden Widerwillen gegen die Chouanerie nie ganz verwinden konnte. Die Lage war jedoch so, daß es begreiflich, wenn Pichegru sich in die Verschwörung hineinziehen ließ, immerhin widerwillig genug. Es darf auch wohl angenommen werden, daß er es nur gethan in der geheimen Hoffnung, er würde in Verbindung mit Moreau imstande sein, den Geschicken Frankreichs eine andere Wendung zu geben als die von den Chouans gewollte. Iu der Flüchtlingstäuschung über die Zustände und Stimmungen in Frankreich war übrigens auch Pichegru befangen.




4.0 Von geheimen Buchten, Schleichwegen und Verstecken;
fernerweit von allerhand Ränken und Zettelungen.

Nach gehaltenen Rathschlägen beschlossen die Verschwörer, zum Handeln zu schreiten.

Zuvörderst war es angezeigt, drüben in Frankreich das Terrain aufzuklären und die nöthigen Anschickungen einzuleiten. Man fand auch, daß es unräthlich, wenn das ganze Personal des Komplotts, soweit es sich in London vorfand, mitsammen über den Kanal ginge. Die Ueberfahrt sollte truppweise und allmälig geschehen. Zuerst sollte Cadoudal mit einer kleinen Bande auserlesener Chouans die heimliche Reise nach Paris antreten. Nach einer Weile würde Pichegru, nachdem er schon von England aus durch diese oder jene Mittelsperson mit Moreau angebändelt hätte, nachfolgen, begleitet von de Rivière und den Polignacs. Die Prinzen selbst müßten erst dann nach Frankreich kommen, wann das Hauptstück des ganzen Unternehmens, d. h. der Anfall auf Bonaparte, völlig zur Ausführung gereift wäre.

An Reisegeld konnte es natürlich das englische Ministerium den lieben Leuten, welche auszogen im ruchlosen Frankreich den bekanntlich niemals bemakelten Lilienthron wieder aufzurichten, nicht fehlen lassen. Georges Cadoudal allein nahm in Banknoten und Wechseln 40,000 Pfuud St. in englischem und also 1 Million Francs in französischem Gelde mit, eine für dazumal, wo die Millionen noch nicht so wie heutzutage aus den Aermeln der Börsenbaronem geschwindelt wurden, ganz respektable Summe. Denn daß zum Kriege vor allem Geld, wieder Geld und abermals Geld gehöre, hat nicht nur der alte Montecuculi gewußt. Sehr liebenswürdig vonseiten der britischen Regierung war es auch, daß sie ein schnellsegelndes Fahrzeug ihrer Marine, befehligt von dem kühnen Captain Wright, zur Verfügung der Verschworenen stellte, um dieselben sicher nach Frankreich hinüberzubringen.

Auf dieser Brigg ging Cadoudal mit seiner Million im Gurt und begleitet von seinen Getreuen im August 1803 zu Hastings unter Segel. Das Schiff steuerte der Küste der Normandie zu, wo man einverstandene Leute, einen geheimen Landungsplatz und einen Schmugglerpfad zu finden sicher war. Dort, zwischen Dieppe und Tréport, steigt das Ufer in jäher Felsengestalt aus dem Meere, scheinbar ganz unzugänglich. Aber es gab da in einer kleinen Bucht eine Stelle, Biville geheißen, wo sich ein leiterartiger Pfad in einer schmalen Klamm durch die Felswand emporwand, freilich nur mit Beihilfe eines Seils zu ersteigen, welches die Helfershelfer der hier landenden Schmuggler auf ein verabredetes Signal hinabließen. Die Kenntniß dieses Pfades hatten in Eu ansässige „Wissende“ den Verschwörern für gutes Geld verkauft. Da legte der Captain Wright nach Einbruch [344] der Nacht an, landete seine Passagiere und suchte dann wieder die hohe See. Cadoudal und seine Gefährten klommen den Felsspalt hinauf und wurden droben von einem „Vertrauten“, welcher das Seil in die Kluft hinabgelassen, empfangen und weitergeleitet. Auf Schleichwegen wanderten sie, mit Vermeidung von Straßen, Dörfern und Städten, durch Wälder und über Haiden, von Versteck zu Versteck, von einem sichern Nachtquartier zum andern. Solche Verstecke und Rastorte boten einsame Meierhöfe verschwiegener Pächter und die Schlösser verlässlicher Royalisten. Also gelangte Cadoudal, bevor der Monat August zu Ende, nach Paris, wo in der Vorstadt Chaillot seiner ein Unterkommen harrte, welches vor dem Späherblick der Polizei geschützt war. Von dort aus pflegte er dann nachtschlafender Weile mit seinen Chouans zu verkehren, welche in der Stadt selbst Unterschlupfe gefunden hatten.

Sobald er nun über die Sachlage in Paris sich gehörig unterrichtet hatte, mußte er sich gestehen – und er war der Mann, die Wahrheit zu sehen und sich dieselbe zu sagen – daß die Dinge hüben in Frankreich anders aussähen, als sie, wenigstens in Emigrantenaugen, drüben in England ausgesehen hatten. Bonaparte und die Konsularregierung waren nicht unpopulär. Die schwachen Reste der republikanischen Partei erwiesen sich als bis zur vollständigen Kraftlosigkeit und Resignation herabgebracht. Die Royalisten erschienen zurückhaltend, mit dem bestehenden Regiment so ziemlich versöhnt und jedenfalls nicht im mindesten zu abenteuerlichen Wagnissen geneigt und bereit. Die Priester sangen eifrig: „Domine, salvum fac consulem!“ und stimmten schon ihre Kehlen für das „Domine, salvum fac imperatorem!“ Cadoudal mußte auch erfahren, daß sein Name zwar in der Vendée noch immer einen guten Klang hätte; aber nicht minder, daß es unmöglich, den Vendéergeist von weiland wieder zu erwecken und eine irgendwie belangreiche Bewegung zu Gunsten der weißen Fahne zuwegezubringen. Sogar die Förderung der ihm zunächst liegenden Aufgabe stieß auf ungeahnte Schwierigkeiten. Um den beabsichtigten Anfall auf den Ersten Konsul mit Hoffnung auf Gelingen thun zu können, schien ihm ein Hundert wohlbewaffneter und zuverlässiger Männer vonnöthen. Er hatte aber große Mühe, die kleine Bande seiner mitgebrachten Chouans auf den Bestand von 30 Mann zu bringen, und er mußte die äußerste Vorsicht aufwenden, diese von ihm besoldete Schar mit Waffen und einer Art von Uniform zu versehen.

Trotz alledem beharrte der muthige Mann bei seinem Vorhaben. Er rechnete so: – Den Bonaparte zu beseitigen, dazu reicht, wenn alle Stränge reißen, eine Handvoll entschlossener Leute aus. Ist er todt, so findet sich das Weitere von selbst, d. h. Frankreich kommt dann in eine Lage, daß ihm nichts übrigbleibt, als die Bourbons wieder einzusetzen.

Derweil war von London aus ein anderer nach Paris herüberreichender Faden der Verschwörung weitergesponnen worden, Pichegru nämlich hatte durch einen ihm von altersher befreundeten ehemaligen Armeelieferanten Namens Rolland bei Moreau anklopfen lassen. Zunächst nur mit der harmlosen Frage, ob der General noch seines alten Waffenkameraden Pichegru sich erinnerte. „Ja wohl, gern und mit Theilnahme.“ Dann, ob er sich wohl für die von Pichegru gewünschte Erlaubniß zur Rückkehr desselben nach Frankreich bei dem Ersten Konsul verwenden wollte. „Nein, das kann ich nicht thun. Ich bin mit Bonaparte zerworfen, und setze keinen Fuß mehr in die Tuilerien.“

Auf der Basis dieser willkommenen Kunde wurde weitergebaut. Pichegru erinnerte sich eines Officiers, welcher bei Moreau ehemals viel gegolten hatte. Er wußte, daß dieser General Lajolais unzufrieden, ränkesüchtig und geldbedürftig wäre, und entsandte demzufolge an denselben einen gewandten Agenten mit Briefen und Geld, um ihn für die Verschwörung anzuwerben und durch ihn auf Moreau zu wirken. Lajolais ließ sich unschwer gewinnen, machte sich an den General und horchte ihn aus. Sei es nun, daß Moreau in seiner Verbitterung und Unbesonnenheit gegen den Versucher sich zu weit herausließ, sei es – was wahrscheinlicher – daß Lajolais zu hören glaubte, was er zu hören wünschte, genug, der Anschicksmann wähnte, der Zustimmung und Mitwirkung des Generals sicher zu sein, oder that wenigstens so. Er witterte die Herkunft des ihm zugeflossenen Geldes und kalkulirte, daß dessen noch mehr aus der britischen Staatskassequelle zu schöpfen sein würde. Daher voll Eifer für „die gute Sache“, machte er sich, obzwar halb lahm, mit dem Sendling Pichegru’s eilends über Hamburg nach England auf, um die gute Botschaft persönlich dorthin zu tragen. In den Kreis der verschworenen Emigranten eingeführt, berichtete er, was er wußte, und höchst wahrscheinlich noch mehr. Denn sein Bericht erregte große Freude, so große, daß ein Theilhaber der Verhandlung ausrief: „Wenn unsere Generale einig sind, werde ich bald wieder in Frankreich sein.“ Dieser Ausruf kennzeichnete den, der ihn that, den Grafen von Artois, welcher eben sein Lebtag ein leichtfertiger Schwachkopf gewesen ist. „Unsere Generale!“ Es sollte sich bald zeigen, daß Moreau keineswegs gewillt war, den bourbonischen General zu spielen.

Der Bericht von Lajolais hatte in Verbindung mit den dringenden Mahnungen Cadoudals, endlich zu handeln, die Wirkung, daß in London beschlossen wurde, einen zweiten Schub von Verschwörern, Pichegru, Rivière, die Polignacs und andere, nach Frankreich abgehen zu lassen, wobei verabredet wurde, daß Artois oder Berry oder beide nachfolgen sollten, sobald sie vonseiten des Marquis, dem man, wie es scheint, ein maßgebendes Urtheil zutraute, dazu aufgefordert würden. Captain Wright trat demzufolge wieder in Thätigkeit und am 16. Januar landeten die Genannten und ihre Begleiter am Felshang von Biville, kletterten die Klamm hinauf und wurden unfern von der Landungsstclle von Georges Cadoudal empfangen, welcher den Komplottbrüdern entgegengereist war, um sie auf den ihm schon vertrauten und jetzt zur Winterszeit noch einsameren Schleich- und Schlupfwegen nach Paris zu geleiten. In aller Heimlichkeit langte die ganze Gesellschaft am 20. Januar in der Vorstadt Chaillot an.

Cadoudal, der ihn umringenden Gefahren wohlbewußt und des langen Stillsitzens überdrüssig, erbot sich, jetzt sofort mit seinen dreißig Schwartenhälsen den Handstreich gegen Bonaparte bei einer von dessen Fahrten nach St. Cloud oder Malmaison zu führen, und nur ungern ließ er sich beschwichtigen, noch zu warten, bis man mit Moreau ins Reine und zu bestimmten Abmachungen gekommen wäre. Man müßte ja jedenfalls zum voraus wissen, was nach der „Beseitigung“ Bonaparte’s geschehen sollte und was man von dem General, dessen Befähigung und Einfluß die Verschworenen offenbar viel zu hoch anschlugen, zu erwarten hätte. Verschwörungen ist es überhaupt eigen, aus willkürlichen Voraussetzungen phantastische Schlußfolgerungen zu ziehen. Verschwörer gleichen mit Scheuledern versehenen Pferden, welche nur geradaus, nicht aber rechts und links zu sehen vermögen.

Pichegru ließ Moreau durch Lajolais und Rolland von seiner Ankunft in Paris verständigen und den General um eine Zusammenkunft bitten. Moreau ging darauf ein, bestimmte aber, daß das Stelldichein weder in seiner Stadtwohnung noch auf seinem Landsitze Grosbois stattfinden sollte, sondern am späten Abend auf dem Boulevard der Madeleine. Er wollte wohl der Zusammenkunft den Anschein eines nur zufälligen Begegnens geben. Pichegru, welcher sich in der Gesellschaft von Chouans ohnehin unbehaglich fühlte, wäre zu dieser Zusammenkunft gern allein gegangen; allein Cadoudal, der dem weiland republikanischen General nicht ganz traute und mit eignen Augen und Ohren sehen und hören wollte, was von dem Republikaner Moreau zu erwarten wäre, bestand darauf, mit dabei zu sein.

An dem verabredeten Abend und zur ausgemachten Stunde begegneten sich Pichegru und Moreau an der bezeichneten Stelle des Boulevard. Der General zeigte Bewegtheit beim Wiedersehen seines alten Waffengefährten, fiel aber sofort in kühle Zurückhaltung, als Cadoudal hinzutrat und sich zu erkennen gab. Er verhehlte nicht das Unbehagen, welches ihm die Gegenwart des bekannten Chouanshäuptlings verursachte, und er ließ sich nur mit Noth durch Pichegru zu einer zweiten Begegnung bestimmen. Als er dann sich entfernt hatte, faßte Georges die empfangenen Eindrücke in die Worte zusammen: „Das geht schief!“

Die zwischen den beiden Generalen hin- und hergehenden Ränkler ruhten jedoch nicht und brachten die zweite Zusammenkunft zuwege, in Moreau’s Stadtwohnung. Was hier unter vier Augen zwischen ihm und Pichegru verhandelt worden, wissen wir mit ziemlicher Bestimmtheit aus den nachmaligen Proceßverhandlungen. Es mußte mit der Sprache herausgegangen werden, und Pichegru ging damit heraus, ohne freilich geradweg zu sagen, daß mit der geplanten Beseitigung der Konsularregierung vorweg die Tödtung des Ersten Konsuls gemeint wäre. Moreau erwies sich als der [345] beschränkte Kopf, der er war, und dabei als von einem Ehrgeiz besessen, welcher zu seinen Fähigkeiten in einem geradezu komischen Gegensatze stand. Er steifte sich auf die große Partei, welche er, wie er wähnte und behauptete, im Senat und in der Armee hätte. Wäre das konsularische Regiment beseitigt, so würde die oberste Staatsgewalt unzweifelhaft in seine Hände gelegt werden. Pichegru bemühte sich umsonst, dem General diese thörichte Illusion auszureden und ihn zu überzeugen, daß nach Bonaparte nur die Bourbons übrigblieben. Davon wollte Moreau nichts wissen und blieb dabei, nach Bonaparte käme er, könnte niemand kommen als er. Von einem spontanen Handeln, von irgendeiner Initiative seinerseits war aber keine Rede. Er schien völlig überzeugt zu sein und zu erwarten, daß man ihm die Herrschaft über Frankreich so zu sagen auf einem Teller darbieten würde.

Pichegru ging von diesem Stelldichein sehr niedergeschlagen in sein Versteck zurück. Der Mittheilung, welche er Cadoudal machte, fügte er bei: „Auch Moreau ist ehrgeizig und herrschsüchtig. Auch er möchte Frankreich regieren. Der arme Mann! Nicht vierundzwanzig Stunden würde er die Herrschaft zu behaupten vermögen.“ Worauf der Chouanshäuptling herausfuhr: „Was, der? Wenn es doch einmal ein Usurpator sein soll, so ist mir der Bonaparte immer noch lieber als dieser Moreau, der weder Kopf noch Herz hat.“

Unter solchen Umständen mußte auch eine dritte Zusammenkunft Pichegru’s mit Moreau – sie fand in der Wohnung Cadoudals statt – ergebnißlos bleiben und demzufolge war die Enttäuschung und Entmuthigung der Gescheidesten unter den Verschworenen, also Pichegru’s und De Rivière’s, vollständig. Georges seinerseits war noch immer bereit, auch mit unzureichenden Mitteln das Attentat auf Bonaparte zu unternehmen, konnte aber auf die Frage seiner Mitverschworenen: Wozu dasselbe unter den obwaltenden Umständen dienen sollte? keine befriedigende Antwort finden. Hoffnungslos mußte übrigens auch er sein. Lag es doch jetzt am Tage, daß die ganze Verschwörung nur ein Schwindel, weil auf eitel Illusionen gebaut. Der Marquis und der General sannen ernstlich auf Flucht, auf die Rückkehr nach England. Sie, wie die Polignacs, hatten das Zusammensein mit den nichts weniger als feinen Chouans satt, übersatt. Allein zum Fliehen war es zu spät. Späher und Sbirren waren ihnen schon an den Fersen.

(Fortsetzung folgt.)

Das Paznaunerthal.

Mit Illustrationen aus dem Skizzenbuche von Mathias Schmid.


I.

Das Blankahorn.

Paznaunerthal? – Wo liegt das? – Die Frage wiederholt sich fast jedesmal, so oft von diesem reizenden Thale die Rede ist. Doch nicht lange mehr wird es in stiller Verborgenheit das Eldorado vereinzelter Naturschwärmer bleiben – durch die Arlbergbahn dem Verkehre näher gerückt, wird der bis jetzt fast unbekannte Erdenwinkel binnen Kurzem dem Fremdenzuge erschlossen und das Lob seiner eigenartigen Naturschönheiten aller Welt bekannt sein. Vorläufig bildet allerdings der theilweise schlechte und selbst gefährliche Weg noch ein Hinderniß für den häufigeren Besuch des Thales, und nur rüstige Fußgänger mit leichtem Ränzel können in dasselbe vordringen. Doch ist eine neue Fahrstraße im Werden, und da der Staat den schwierigsten und kostspieligsten Theil derselben übernommen hat, so wird das Thal nicht lange mehr der Zufahrtsstraße entbehren, die für dasselbe eine Lebensfrage geworden ist. –

Bei Tirols schöner Hauptstadt Innsbruck zweigt die neue Arlbergbahn ab und führt innaufwärts durch das an landschaftlichen Schönheiten reiche Oberinnthal. Schnell eilt das Dampfroß an den altbekannten Städten vorbei! Schon liegt Zirl, am Fuße der vielberühmten Martinswand, weit hinter uns, da ertönt der Ruf „Telfs, eine Minute Aufenthalt!“ In Telfs „eine“ Minute Aufenthalt! In der „guten, alten Zeit“, das heißt in diesem Falle noch vor Eröffnung der Oberinnthalerbahn, als noch der Stellwagen mit einschläfernder Langsamkeit die Landstraße dahinwankte, hätte wohl jeder Kutscher mit Entrüstung die Zumuthung zurückgewiesen, hier nur „eine Minute“ Rast zu halten. Und auch die Passagiere waren mit längerem Verweilen wohl zufrieden. Lag doch von je im Keller des „Löwen“ so manches Fäßchen edlen Tirolerweines, wie er in solcher Vortrefflichkeit nicht überall zu finden ist. Das wissen denn auch die fröhlichen Innsbrucker schon längst und wählen deßhalb für ihre Sängerausflüge, die immer so schöne Gelegenheit zum Trinken geben (bei dem sie trotz politischer Grenzen standhaft ihre Zugehörigkeit zum deutschen Stamme bekunden), meist den „Löwen“ in Telfs als Festort.

Rastlos eilt die Lokomotive weiter; die bequemen, elegant gebauten Aussichtswagen der Bahn gewähren einen herrlichen Ausblick nach allen Seiten. Die Hohe Mundi und die Mianinger Berge treten zurück, schon haben wir die Ausläufer des das ganze [346] Oberinnthal beherrschenden Tschürgant erreicht und sehen gegenüber das freundliche Silz liegen. Hätten wir uns nicht ein weiteres Ziel gesteckt, so möchten wir hier rasten und für einige Zeit Aufenthalt nehmen. Mit seinen nahen Wäldern und der bequemen Gelegenheit zu hübschen Ausflügen mit der Bahn und zu Fuß ist Silz in der That ein empfehlenswerther Standort für Besucher des Oberinnthals und was Unterkunft und Atzung betrifft, so ist überdies in dem hübschen, neueingerichteten Gasthaus „Zum Löwen“ bestens hierfür gesorgt. Dasselbe gilt von der „Post“ in Imst, einem der besten und besuchtesten Gasthäuser Tirols, dessen Besitzer, der wackere Postmeister Stubmair, ob seines Liberalismus von den Ultramontanen vielfach angefeindet, trotzdem sein schönes Anwesen durch Fleiß und Umsicht in seinen jetzigen blühenden Stand gebracht hat. Wünschen wir dem tapferen Kämpfer ferneres Gedeihen und eilen wir weiter, unserem Ziele entgegen! – Von schroffen, unzugänglich scheinenden Höhen schauen die geborstenen, verwitterten Mauern der von Friedrich mit der leeren Tasche zerstörten Burgen[1] auf das hastige Treiben der Neuzeit. Am Fuße des Felsens, auf dem sich einst des mächtigen und gefürchteten Starkenbergers trotzige Burg erhob, hat sich die Lokomotive ihren Weg gebahnt – nimmer überfallen des beutegierigen Zwingherrn Reisige den friedlichen Wanderer. Menschenwerk und Menschensatzungen sind hinweggespült vom Strome der Zeit, aber in ewiger, unvergänglicher Schönheit ragen die Berge empor, aus deren Mitte der silberweiße Scheitel des „Blankahorn“ hervorleuchtet.

Wir lassen Landeck, das von Geschichte und Sage mit reichem Kranze umwundene, links liegen und fahren bis zur nächsten Station, Pians, der letzten vor dem Eintritt ins Paznaun. Wer hier den hochgelegenen Bahnhof verläßt, zur Thalsohle hinabsteigt und die Sannabrücke überschreitet, erreicht nach halbstündiger Wanderung die Poststraße aufwärts den sogenannten „Steg“, von welchem links der Weg ins Paznaun abzweigt. Gegenüber, auf hohem, steilem Felsen, erhebt sich die malerische Ruine des Schlosses Wiesberg, zu deren Füßen sich das kühnste Bauwerk der Arlbergbahn, der 86 Meter hohe Trisannaviadukt[2] mit der eisernen Brücke über die ganze Breite des Paznaunerthales erstreckt. Mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachten wir dieses Riesenwerk menschlichen Geistes, welcher die rohen Naturkräfte in Fesseln schlägt und sie zwingt, ihm dienstbar zu sein.

Giggl.

Wer die kleine Mühe nicht scheut und nach Wiesberg hinansteigt, dem bietet sich ein Bild von überraschender Schönheit und Großartigkeit. In grauenerregender Tiefe braust die Trisanna und vereinigt ihre Wellen mit der aus dem Stanzerthale kommenden Rosanna, um friedlich mit derselben als Sanna ihre Wasser dem Inn zuzutragen. Vor uns schweift der Blick über ein weites Thal, dessen liebliche Dörfer zerstreut auf den grünen, sonnigen Matten liegen, unterbrochen von dunklen Tannenwäldern, die sich hoch bis zum Gipfel der Berge erstrecken, hier und da überragt von einem schneebedeckten Scheitel: am linken Ufer der Trisanna die mächtige Pezinaspitze, an deren Ausläufer die altersbraunen Hütten des Weilers Falkeneyr gleich Schwalbennestern kleben, die Scheidewand zwischen dem Paznauner- und Stanzerthale bildend; ihr gegenüber auf schwindelnder Höhe mitten im Grün gebettet das anmuthige Dörfchen Giggl, und, den Fluß aufwärts verfolgend, der düstere, schluchtartige Eingang ins Paznaun. Wahrlich ein Bild, geschaffen, die Seele rein zu baden von dem Staube des Alltagslebens!

Weiter trägt uns der Fuß. Tosend, schäumend, der Rede Laut mächtig übertönend, braust die Trisanna uns entgegen. Eingeengt von hohen Felsenwänden kämpft sie sich, weißen Gischt hoch aufspritzend, zwischen gewaltigen Felsblöcken hindurch, kühn alle Hindernisse bezwingend, die ihr den Weg verlegen wollen. Mögen auch ihre Wogen zerschellen am harten Gestein, sie bahnt sich kraftvoll ihren Weg, nichts kann sie zurückhalten, ihre Wasser dem Meere zuzutragen, nach dem sie strebt – so recht das Bild eines kühnen Mannes, dessen Kraft im Kampfe mit Widerwärtigkeiten nur gestählt, nicht gebrochen wird, und der ungebeugten Muthes das hohe Ziel, das seinem Geiste vorschwebt, zu erreichen trachtet

Immer mehr verengt sich das Thal. Zaghaft windet sich das schmale Sträßchen über steilabfallendem Ufer neben senkrechten, oft überhängenden Felswänden vorbei, deren zerbröckelndes Schiefergestein den Weg besonders im Frühling durch das Schmelzen des Schnees, oder bei starken Hochgewittern gefährlich macht, was auch die hier aufgestellten „Marterln“ bezeugen.

Endlich haben wir das gefürchtete „G’fäll“ hinter uns, das Thal wird allmählich breiter, und aus dem Schatten des Waldes tretend, erblicken wir vor uns am rechten Ufer der Trisanna das erste Dorf des Thales „See“. Sei gegrüßt du trauter Erdenwinkel, der mir so freundlich lacht! Wie wohl ist mir stets unter den gastlichen Dächern deiner schmucken Holzhäuschen geworden, wenn ich in den getäfelten, traulichen Stuben den ernsten oder heiteren Gesprächen deiner biederen Bewohner lauschte! Wie angenehm berührt die freundliche Gefälligkeit, mit der das schlichte Völkchen dem Fremden entgegenkommt, der ihm nicht, wie so oft anderwärts, als Ausbeutungsobjekt dient! Gerne gesellt sich ein altes Bäuerlein oder ein Weiblein mit schwerem Rückkorb, während des Gehens noch an einem dicken Wollstrumpf strickend, zu uns, auf Fragen freundlich Auskunft gebend. Unaufgefordert zeigen sie das Geburtshaus ihres Landsmannes Mathias Schmidt,[3] des „Chrischtes-Maler“, wie er im Volksmunde heißt, auf den nun auch die Paznauner anfangen stolz zu werden, obgleich er, wie ein biederer Alter meinte, „in der Religion der mindeste sei von seinen Brüdern.“ Zum besseren Verständnisse des Ausdrucks „Chrischtes-Maler“ sei hier bemerkt, daß dieser nicht Bezug hat auf „Christus-Maler“, worauf man vielleicht durch die frühere Kunstrichtung des Meisters als Heiligenmaler geführt werden könnte; sondern sein Großvater hieß „Christian“, und dessen Kinder und Enkel werden nach ihm die „Chrischtes-Buben“ benannt. Auf Seite 348 führt uns der Künstler das bescheidene Häuschen, welches früher seinem Vater gehörte, im Bilde vor.

Was im Paznaun so angenehm berührt, das ist der Sinn für Ordnung und Reinlichkeit, der sich überall bemerkbar macht. Ist das Thal auch nicht wohlhabend, so sieht man doch nirgends den Schmutz und die ruinengleichen Wohnungen, die besonders im Vinggau den traurigen Eindruck des Verfalles und des Elendes machen; ebenso wenig trifft man Bettler oder bettelnde Kinder.

Reizend nehmen sich in dem üppigen Grün von Wiese und Wald die von den Einflüssen der Witterung gebräunten Häuser, die oft noch zierlich angeschindelt und bemalt sind, mit ihrem reichen Blumenschmuck vor den Fenstern aus. Und wenn hinter denselben das jugendfrische Gesicht einer hübschen Paznaunerin erscheint, so ist das gewiß kein Grund, den Blick schneller abzuwenden.

Ueberall macht sich das Bestreben geltend, den heimathlichen Herd in gutem Zustande zu erhalten und nach Kräften zu verschönern. Aber auch ihrer Todten vergessen die Paznauner nicht und schmücken die Gräber mit Blumen, so dem Kirchhofe mit seinen einfachen Kreuzen ein freundliches Gepräge verleihend. Wie poesievoll muthet uns der schöne Brauch an, daß nicht bezahlte, in ihrem traurigen Dienste stumpf gewordene Todtengräber, sondern Freundeshände [347] dem Dahingeschiedenen die letzte Ruhestätte bereiten! Freunde und Nachbarn beten an seinem Sterbelager, auf ihren Schultern tragen sie ihn hinaus und übergeben ihn dem Schoße der Muttererde. –

Doch lassen wir die Todten ruhen, und wenden wir uns wieder der schönen Gotteswelt zu, die uns mit so eigenem Zauber umfängt. Verlockend zieht die Pezinaspitze immer wieder den Blick auf sich, und wohl dem, der sich die geringe Mühe, die ihre Besteigung erfordert, nicht verdrießen läßt: eine herrliche Aussicht ist der Lohn für verhältnißmäßig wenig Anstrengung. Zwar beschränkt das unmittelbar vor uns liegende Blankahorn die Aussicht nach Westen, doch links davon erblickt man die großartigen Formen der Kuchenspitze, der sich die Silvrettagruppe anschließt, daneben den eisbedeckten Piz Buin, die Jamthalergletscher und das zerklüftete Fluchthorn. Im Süden ragen die gewaltigen Riesen des Engadin hervor, neben ihnen die Kaunser- und Oetzthalerferner. Daran reiht sich das Wilde Kaisergebirge, der Solstein bei Innsbruck und das Wettersteingebirge mit der Zugspitze. Nach Norden zieht sich das Kalkgebirge hin, welches mit der Passeierspitze das Panorama abschließt. Hat das Auge lange genug geschwelgt in dem Anblicke der herrlichen Rundsicht, so mag der Abstieg nach Langestheye beginnen, der über den unvergleichlich schönen Kapplerberg nach dem lieblichen Kappl führt, wo uns in dem saubern, freundlichen Gasthaus „Zum Löwen“ bei herrlichem Weine und guten Forellen Erquickung winkt.

Ullmich.

Abend ist es geworden. Leise verklingen die Glocken, die den kommenden Feiertag einläuten. Vor den Häusern sitzen die Männer, in stiller Beschaulichkeit ihre nimmer erkaltende Pfeife rauchend; Weiber und Mädchen stehen plaudernd, an den unvermeidlichen Wollstrümpfen emsig nadelnd, zusammen.

Allmählich bricht dann die Nacht herein, eine klare, wunderbare Mondnacht voll zauberischen Reizes. Lautlose Stille liegt über Berg und Thal, nur von ferne dringt das Rauschen der Trisanna oder der Schrei eines Nachtvogels an das Ohr. Kein Mißton unterbricht die hehre Einsamkeit, die ganze Natur athmet Ruhe, Frieden. Im klaren Mondlicht heben sich die schneebedeckten Zacken der mächtigen Fastnichtsspitze in scharfen Umrissen vom nächtlichen Himmel ab. Doch was bewegt sich dort oben? Sind das nicht menschliche Gestalten, die aus dem Schatten des Felsens treten? Schwer bepackt, hart an die Felswand gedrückt – kaum scheint es möglich, daß dort ein Pfad führt – schreiten sie vorwärts. Sie machen Halt; nur einer der Männer wagt sich weiter vor. Plötzlich blitzt es auf; in weiten Sätzen, einen Schrei ausstoßend und den Pack wegwerfend, flieht der Voranschreitende, verfolgt von Zweien, deren Waffen im hellen Mondschein glitzern. Des Ersteren Gefährten sind verschwunden, als hätte sie der Boden verschlungen. Grenzwächter und Schwärzer sind an einander gerathen – selbst noch auf diesen unwirthlichen Höhen wogt der Kampf ums Dasein! Und welches sind wohl die Kostbarkeiten, um deren Erlangung diese Menschen ihr Leben wagen? Die benachbarte Schweiz liefert billigen Tabak und Kaffee, und erst seitdem im eigenen Lande der Zoll auf letzteren bedeutend erhöht wurde und dadurch der Preis stieg, nahm der Schmuggel wieder neuen Aufschwung.

Selten kommt es indessen zu scharfen Reibungen zwischen Grenzwächtern und Schwärzern, da diese, die sich vor allem die Befolgung des „elften“ Gebotes angelegen sein lassen, in ihrer angeborenen Gutmüthigkeit den ihnen nachspürenden Finanzern in richtiger Würdigung ihres mühevollen Berufes keinen Groll nachtragen, um so weniger, als letztere bei der Ueberzahl der Schwärzer fast immer den kürzeren ziehen, oder die „Gefoppten“ sind. So wurde einmal ein größerer Zug verabredet, an dem sich auch ein junger Bursche betheiligen sollte, dessen Schuhwerk jedoch erst einer gründlichen Reparatur bedurfte, die in der gegebenen, kurzen Frist nicht mehr ausgeführt werden konnte. Doch unser Bursche weiß sich zu helfen. Der Schuster hat soeben für einen Finanzer ein Paar neue Stiefel fertig gemacht, die leiht sich unser Bursche und geht nun wohlgemuth mit den Schwärzern, während der berufseifrige Grenzwächter daheim über den langsamen Schuster flucht. – Die Erzählung derartiger Erlebnisse aus dem Schmugglerleben, heiterer und grausiger, bildet ein Hauptvergnügen der Paznauner für die langen Winterabende, und es ist ergötzlich zu sehen, wie bei spaßhaften Geschichten den sonst so ernsten Paznaunern der Schalk um Mund- und Augenwinkel zuckt.

So schön auch Kappl ist, müssen wir doch weiter ziehen. Hier und da treffen wir eine Kapelle oder ein Feldkreuz, das frommer Glaube am Wege aufgestellt hat; dann gemahnen uns die sich wieder häufiger findenden „Marterln“, daß wir ein gefährliches Stück Thal durchwandeln. Jetzt im fröhlichen Sonnenscheine, den lachenden, blauen Himmel über sich, kann man es nur schwer begreifen, mit welcher Zerstörungswuth hier oft die entfesselten Naturkräfte hausen. Wenn aber die zahlreichen Quellen und Bächlein, die mit ihren zierlichen,

[348]

Mathias Schmid’s Geburtshaus im Dorfe See.

milchweißen Wasserfällen so viel zur Verschönerung des Thales beitragen, zu verheerenden Wildbächen anschwellen, Häuser wegreißend und üppige Wiesen und fruchtbare Felder mit Schlamm und Steinen bedeckend, sodaß die Thalbewohner im spät eintretenden Frühling mühsam ihre Aecker säubern und das zu Thal geschwemmte Erdreich im Rückkorbe wieder bergan tragen müssen; oder wenn im endlos langen Winter Alles unter metertiefem Schnee begraben liegt, jeder Verkehr gehemmt ist und der Donner der Lawinen die Menschen aus dem Schlafe schreckt – dann begreift man wohl, warum die Paznauner so kühl bleiben beim Lobe ihres Heimaththales und fragen, was denn hier Schönes zu finden sei, es sei doch ein so „laads“ (unschönes) Thal. Der Landmann beurtheilt eben die Schönheit einer Gegend nicht nach ihren landschaftlichen Reizen, sondern nach dem Erträgniß, das ihm Grund und Boden gewähren, und damit ist es im Paznaun nicht am besten bestellt; müssen doch fast alle Lebensmittel, selbst Getreide und Mehl, hineingetragen werden. Ueberdies sind vielleicht im ganzen Thale nicht hundert Häuser zu finden, die auf vollständig lawinensicheren Plätzen stehen. Besonders gefürchtet ist der über einen Kilometer breite Lawinenzug hinter Ullmich mit dem ominösen Namen „Zum todten Mann“. Ein Luftzug, der Ruf eines Menschen, der Pfiff einer Gemse kann die Ursache sein, daß die Lawine plötzlich mit Donnergetöse auf der Jochhöhe losbricht. Der ungeheuere Luftdruck wirft mit unwiderstehlicher Gewalt ganze Strecken des schönsten Waldes nieder, knickt die stärksten Bäume wie schwaches Rohr – selbst auf weite Entfernungen erzittern die Häuser und dringt der feine Schneestaub durch die kleinste Ritze. Wehe Dem, den die Lawine plötzlich überrascht, er ist rettungslos verloren! Wenn sie, wie das in langen, strengen Wintern sich ereignet, mit ihrem Schnee die ganze Breite des Thales ausfüllt, sodaß selbst die Trisanna in ihrem Laufe gehemmt ist, bis sie sich gewaltsam wieder Bahn bricht, so ist oft wochen-, ja monatelang für das einzige Fuhrwerk des Thales, den kleinen, nur von einem Pferde gezogenen Postkarren von Ischgl, die Straße versperrt und die Post muß zu Fuß mittelst Rückkorb befördert werden.

(Schluß folgt.) 

Unter der Ehrenpforte.

Von Sophie Junghans.
(Schluß.)


Wenige Worte des fürstlichen Herrn hatten genügt, um die Dame an seiner Seite von der Idee, die ihm so plötzlich gekommen war, hinreichend zu verständigen, denn die Gräfin Sabine faßte rasch und wußte sich besonders ganz wunderbar dem Manne anzubequemen, dem sie gefallen wollte. Sie trat lächelnd vor; dabei aber hatte sie die Rechte um die Schultern ihres Stiefsohnes gelegt, den sie die ganze Zeit über so recht mütterlich dicht neben sich gehalten hatte. Die kluge Frau wußte sehr wohl, daß sie damit den Leuten ein Vergnügen bereite, doch war es wohl das nicht allein: die Kinderlose hatte von Anfang an ihre Herzensfreude an dem schönen Jungen gehabt, und dieser vergalt ihr das durch zutrauliche Anhänglichkeit.

Jetzt trat er, an sie geschmiegt, mit vor, und dadurch kam es der Fürstin, welche gerade die festliche Oeffentlichkeit solcher Scenen als ein ihr zusagendes und vertrautes Element vollkommen beherrschte, in den Sinn, der Sache noch eine besondere anmuthige Wendung zu geben. Sie löste sanft den Arm, welchen der Knabe ihr um den Leib gelegt hatte, und indem sie ihn, die Hand noch immer auf seiner Schulter, ein wenig vorschob, sagte sie vernehmlich mit ihrer klaren wohltönenden Stimme:

„Wie wär’s, kleiner Heinz, wenn Du heute einmal für uns den Freiwerber machtest? Laß sehen, ob Du klug genug bist, ein gar lustiges Räthsel zu errathen! Hier ganz in unserer Nähe stehen zwei, die sich längst lieb haben, doch fanden sie sich bisher nicht zusammen. Die suche Du mir heraus – ein kleiner Landgraf muß das können – und laß sie sich fest bei den Händen halten. Dann wollen Dein Herr Vater und ich ihnen gleich morgen den Weg zum Altare zeigen!“

Alles horchte auf: ein lächelndes Staunen trat auf den meisten Gesichtern hervor. Der Landgraf stand und strich sich behaglich das Kinn; etwas bedenklicher, aber gefaßt, als ein kluger Mann, auf Alles, was der wunderliche Tag bringen mochte, hielt sich der Doktor Tiedemars ein wenig hinter ihm. Die schöne Frau hatte sich indessen lächelnd zu dem Ohr des Knaben niedergebeugt und ihm etwas zugeflüstert, und es muß gesagt sein, daß dies Souffliren mehrere allzu gespannte Gemüther merklich beruhigte. Da war der kleine Fürst vorgetreten, über und über roth, aber mit einer sichern Art, die männiglich merken ließ, daß er einer solchen Rolle in einem öffentlichen Schauspiel wohl gewachsen sei, und hatte den seitwärts ganz in der Nähe stehenden Georg Tiedemars freundlich bei der Hand ergriffen. Ein rascher Blick auf die Eltern zeigte ihm, daß er den richtigen Mann habe; zugleich ging es wie ein frohes beifälliges Gemurmel unten durch die Menge.

Mit Georg, der kaum wußte, wie ihm geschah, und, wie manche bemerken wollten, ein gespanntes, aber durchaus kein freudiges Antlitz zeigte, trat der Knabe nun vor den bunten Kranz der Jungfrauen hin. Auch hier mußte er seiner Sache gewiß sein; hatte es doch die fürstliche Mutter an einem verständlichen Wink nicht fehlen lassen. Warum aber stockte er plötzlich – warum verflossen zwei, drei Sekunden, und wieder und wieder eine – so viele, daß die wunderlichsten Vermuthungen Zeit fanden, sich in den Köpfen der Zuschauer zu kreuzen – während Rosinens Herz, die ja ihr Glück näher und näher kommend wußte, indessen zum Zerspringen schlug!

Wie es in Augenblicken der Erregung ihre Gewohnheit war, hatte Rosine, da der kleine Fürst mit Georg herantrat, in einer Art von verstellter Gleichgültigkeit den Kopf gehängt und das Kinn auf den Busen sinken lassen. Schon eine Weile war es her, daß sie noch rasch den letzten Blick unter gesenkten Lidern hervorgeschossen hatte. Der Knabe hatte wohl zu wissen geglaubt, wer gemeint sei; als er aber jetzt von der hübschen Dirne nichts als eine vorgeneigte Stirn sah, als kein Blick von ihr ihm und dem, den er brachte, entgegen kam, da wurde er wieder unsicher.

[349]

Schwimmende Eisberge auf dem Atlantischen Ocean.

[350] Da fiel sein Auge auf Hilden, die er sofort erkannte. Fröhlich lachte das seine auf. Gewiß, das mußte die Braut sein! Wie sollte er ihr Beben, ihr Erglühen und Erblassen, wie die Bewegung, mit der sie ihm, dem Boten ihres Glückes, fast zu Füßen sinken zu wollen schien, anders deuten? Daß sie ihm schon einmal, und zwar in so freundlicher Weise, erschienen war, machte die Sache in dem Knabenkopfe nur wahrscheinlicher, wie vielleicht auch ihr eigenthümlicher Kopfschmuck ihm die Idee eines bräutlichen Putzes geben mochte. Und um den letzten Zweifel zu heben brauchte man nur einen Blick auf den Bräutigam zu werfen, der nicht anders aussah, als trete in ihr überwältigend eine himmlische Erscheinung vor seine Augen.

Und in der nächsten Sekunde war es geschehen! Der Fürstensohn hatte die Rechte Hildens in die Georg’s gefügt und beide mit seiner warmen Kinderhand fest zusammen gedrückt. Aber nur auf einen Augenblick, dann tönte ein erschütternder Jubelruf des Mannes, ein Name, durch die Luft; er öffnete die Arme weit und schloß sie fest, fest um die echte, die einzige Geliebte, die mit schluchzendem Aufjauchzen ihr Antlitz an seiner Schulter barg.

Natürlich war dies Alles viel zu schnell vor sich gegangen, als daß es irgend Jemand hätte verhindern können. Wohl hatte der Landgraf eine haftige Bewegung gemacht, als ob er dazwischen treten wollte, da fühlte er die Hand der Gemahlin auf seinem Arm und las in ihren sprechenden Zügen etwas, was ihn zurück hielt. Sie war mit gespanntem Blick der Scene gefolgt.

„Was sagt Ihr dazu, Herr?“ flüsterte sie jetzt. „Mich dünkt, unser Sohn hat, wie der kleine blinde Liebesgott selber, gleichsam mit verbundenen Augen doch die richtigen Leute zusammengebracht.“

Und unter den Zuschauern mochten nicht wenige ihrer Meinung sein, wenn sie die beiden schönen Menschen ansahen, ein Paar, welches die Mutter Natur selber in seltner königlicher Laune eigens für einander ausgestattet zu haben schien! Wie sie dastanden, schamhaft, daß ihr Glück so viele Zeugen hatte, und doch – wenigstens konnte man dies dem jungen Manne in jedem Zuge ansehen – gewillt, dies Glück, sei es ihnen nun gegönnt oder ungegönnt, zu ergreifen und festzuhalten auf Lebenszeit!

Es waren nicht viele Worte, die sie hastig einander zuflüstern konnten im Wirbel dieser wunderbaren Vorgänge.

„Was war das? hast Du es gewußt, Georg?“ flüsterte Hilde dicht am Halse Georg’s. „Nein!“ Er lachte leise auf und sie fühlte jeden Schlag seines Herzens, so fest hielt er sie. „Und ich glaube, es war ganz anders gemeint. Nun aber habe ich Dich und halte Dich, vor aller Welt. Die Hand des Knaben hat das Schicksal selber geführt ... ihm soll, wird er einst mein Herr, dafür mein letzter Blutstropfen gehören ...“

Der landgräfliche Herr indessen, der sich mehr durch die harte Wirklichkeit längst bekannter Thatsachen bestimmen zu lassen gewohnt war, als durch die Offenbarungen liebender Blicke und Mienen, sah noch keineswegs zufriedengestellt, vielmehr betroffen und verdrießlich aus. So wendete er sich auch zu dem Bürgermeister, und wenn es geschehen kann, daß der Fürst sich bei dem Unterthanen entschuldigt, so hätte man glauben können, etwas dergleichen gehe zwischen den Beiden jetzt vor.

Die Antwort aber, welche Herr Jakob Tiedemars darauf gab, mußte darnach angethan gewesen sein, den Mißmuth seines wohlgesinnten Herrn zu dämpfen. Der Landgraf richtete den Blick, der bei allem anscheinenden Phlegma des Herrn zuweilen eine durchdringende Schärfe annehmen konnte, lange aufmerksam auf die Jungfer Hilde, und diejenigen, welche sich auf den Ausdruck seiner Mienen verstanden, konnten merken, daß ihm der Gegenstand dieser Betrachtung keineswegs mißbehagte. Es fielen noch einige kurze Reden zwischen ihm und dem Bürgermeister ... die Zunächststehenden glaubten von den landgräflichen Lippen etwas wie die Worte fallen zu hören. „Der Junge hat Augen im Kopf, das muß man ihm lassen ...“ und ferner: „Der Meister Lukas ist ein braver, frommer Mann“ – worauf der Herr Doktor Tiedemars sich zustimmend verneigte. Und darauf betrachtete der Landgraf von neuem unverwandt das junge Paar, welches indessen vorgetreten war und nun vor der Fürstin kniete.

Diese hob sie nicht sofort auf, vielmehr schien ein gewisser gutmüthig spöttischer Zug um ihren Mund deutlich zu sagen: Kniet Ihr nur immer eine Weile – so viel wenigstens habt Ihr verdient. Uebrigeus war sie, mit einem echt fürstlichen Gedächtniß für Verhältnisse und Personen begabt, über das vermuthliche Vorspiel des wunderlichen Vorgangs sowie über die Folgen, welche man demselbeu am besten geben würde, bereits mit sich im Reinen. Sie wendete sich zurück zu den beiden Männern und zwar zunächst zu dem Bürgermeister.

„Wie Ihr seht, Herr,“ sagte sie heiter, „verlangen für ein Unheil, welches der lose Gott Cupido angerichtet hat, diese Zwei hier unsere Verzeihung, zugleich aber auch, so dünkt mich, unsern heilenden Segen. Uns aber steht es nicht zu, das Eine oder das Andere zu gewähren ohne Euern und des Meister Lukas Vanderport guten Willen. Euch frage ich zuerst: was sagt Ihr?“

Es war so still unter der dichtgedrängten Menge um die Bühne herum, als ob jeder Einzelne den Athem zurückhielte, als der Bürgermeister jetzt sprach. Wie der Mann, der er war, hatte sich Doktor Tiedemars in der letzten Viertelstunde mit den Umständen abgefunden, denen er es hingehen lassen mußte, daß sie dieses eine Mal mächtiger waren als er. Und nun sagte er, mit schuldiger Ehrfurcht gegen die hohe Frau in Ton und Haltung, aber mit fester, ringsum vernehmlicher Stimme:

„Ermuthigt durch so viel heute erfahrene fürstliche Huld wage ich nichts Geringeres zu bitten, als daß Eure hochgräfliche Gnaden geruhen möge, beim Meister Lukas Vanderport für meinen Sohn um seine Tochter zu werben. Meinem Hause wird es eine Ehre sein, die Jungfrau als Tochter zu empfangen, und – verzeiht mir – nicht nur um Eurer, sondern auch um ihrer selbst willen. Denn ich habe es aus guter Hand, daß sie in Sitte und Wandel ebenso untadelig ist, wie unser aller Augen heute in ihr eine Zier ihres Geschlechts erblicken.“

„Bei Gott, die haben Recht, die Euch einen klugen Mann nennen,“ sagte hierauf die Gräfin Sabine leise, nur dem Bürgermeister zum Gehör. Etwas wie Muthwillen blitzte in ihren Augen auf, als sie den Kopf wieder hob. Durch die Menge aber ging es wie ein verhaltenes dumpfes Brausen der Erregung. Als der Laudgraf jetzt, rasch vortretend, sagte: „Nun gut, mein Getreuer, so werben wir Deinem Sohne noch heute die Braut, und morgen richten wir, wenn Meister Vanderport sie nicht versagt, den Beiden mit der unsern die Hochzeit an –“ da brachen schon einzelne Jubelrufe des Volkes aus; doch wurden sie wieder gedämpft; noch einmal wollte Alles hören, denn die Gräfin Sabine sprach:

„Wenn mein fürstlicher Herr den Braut- und Hochzeitsvater macht, so wird man mir nicht verwehren, Brautmutter zu sein und die Braut auszustatten nach ihrem und meinem Landesbrauch,“ sagte sie. Da aber brach das Beifallsgeschrei der Menge herein, donnernd und unaufhörlich, wie eine losgedämmte Fluth, und übertönte den Rest ihrer Rede, den heitern Scherz, mit dem sie Hilden, welche sie indessen gütig aufgehoben hatte, darüber tröstete, daß man ihr den Mahlschatz nach der Hochzeit bereiten müsse. Verschlungen war in der allgemeinen Lust, in dem begeisterten Wohlgefallen am Thun und Behaben der Fürstin der Gedanke, daß diese hohe Gunst einer Fremden, keinem Stadtkinde, zu theil werde. Ein Anderes hatte sich Bahn gebrochen und schwellte den Jubelruf aus manch einer derben Kehle, daß er noch lufterschütternder hervorbrach – die Empfindung, wie in der Person des braven Vaters einer solchen Tochter zugleich der arbeitsame Stand, dem er angehörte, ja der ganze Handwerkerstand geehrt werde.

Wieder und wieder trug das brausende Jubelgeschrei die Namen des Landgrafen, der Gräfin Sabine und des jungen Fürstensohnes empor, dem übrigens nachträglich ein kleiner Schrecken nicht erspart blieb, als er zu begreifen begann, was er eigentlich angestiftet hatte. Doch wußte ihn darüber die Gräfin Sabine aufs Beste zu trösten, indem sie ihm vor aller Augen einen herzlichen Kuß gab. Dabei aber flüsterte sie lustig: „Das ist noch gut abgelaufen, Heinz, besser als Du und ich und Dein Herr Vater verdienten.“

Aber auch der Bürgermeister und endlich selbst Meister Lukas, der Weber, wurden durch jubelnde Rufe der erregten Menge geehrt. Die Külwetters waren vergessen oder man dachte ihrer wohl gar mit geheimer Schadenfreude, denn der Geiz des Alten war nicht geeignet, ihm viele Freunde zu machen. Uebrigens konnte, wie Rosine sich selber zum Troste sagte, von dem vollen Umfang der furchtbaren Enttäuschung, die sie heute erfahren hatte, Niemand etwas wissen. Dennoch suchte sie später manch ein theilnehmender [351] oder neugieriger Blick, und man sah sie auch noch, etwas erblaßt, aber doch mit leidlicher Fassung, unter den Gefährtinnen sich bewegen. Niemand ahnte, auf welche Weise Rosine verhindert hatte, in jenem schrecklichen Augenblicke ohnmächtig zu werden, indem sie nämlich eine Nadel aus ihrem Putz gezogen und sich die Spitze tief in den vollen Arm gebohrt hatte.

Am folgenden Tage wurden Georg und Hilde, nachdem die fürstliche Trauung glänzend vollzogen worden war, vor dem Altare der Schloßkirche zusammen gegeben. Der Landgraf selber führte dem Sohne seines Getreuen die Braut zu. Und die Frau Bürgermeisterin, obwohl sie vor Schrecken schier erkrankt wäre ob dieser so plötzlich über sie hereinbrechenden Hochzeit, soll sich unter diesen Umständen zufrieden gegeben und sich mit dieser sowie mit der neuen Tochter ausgesöhnt haben.

Doch das ließ sich am Ende erwarten, dagegen wunderten sich manche darüber, wie ruhig Meister Lukas Vanderport sich in all dies unerhörte Glück finde. Man nahm es ihm sogar übel, wenn er mit den so ruhig aus dem alten Gesicht hervorleuchtenden Augen sagte, seines Gleichen habe in diesem Pilgerstande auf Ehre wie auf Schande gefaßt zu sein und dürfe sich weder durch die eine noch auch durch die andere auf seinem Wege groß aufhalten lassen.

Von den beiden damals an ein und demselben Tage in der Schloßkirche geschlossenen Ehen aber hieß es noch lange nachher im Lande, es müsse wohl die eine der andern Glück gebracht haben.


Blätter und Blüthen.

Zur Dynastie Naundorff. Unser Aufsatz (in Nr. 15 der „Gartenlaube“) hat allgemeines Interesse erregt und verschiedene interessante Zuschriften zur Folge gehabt: als die wichtigste erscheint uns die von Otto Friedrichs in Brüssel, welcher uns gleichzeitig sein umfangreiches Werk: „Un Crime politique, étude historique sur Louis XVII.“ (Ein politisches Verbrechen, historische Studie über Ludwig XVII.) [Bruxelles, 1884] zuschickte. Otto Friedrichs ist der begeistertste Anwalt, welchen Naundorff bisher gefunden hat; er ist durchdrungen von der Ueberzeugung, daß Naundorff in der That Ludwig XVII., der legitime König von Frankreich war. Sein Werk enthält eine große Menge von Aktenstücken, die bisher in solcher Vollständigkeit noch nicht gesammelt, ja theilweise ganz unbekannt waren: die Briefe Naundorff’s an seine Schwester, die Herzogin von Angoulème, die Briefe der Madame de Rambaut, der früheren Kammerfrau des Dauphin, der Frau Marco de Saint-Hilaire, die aus gerichtlichen Akten entnommenen Zeugnisse von Bremond, dem früheren Geheimsekretär Ludwig’s XVI. und andere. Sehr interessant ist die Mittheilung der Proklamation Charette’s, der die Vendéer befehligte und zu dem der junge Prinz nach seiner Flucht aus dem Temple gebracht worden sein soll. Es war zur Zeit, als die Armee der Vendéer die Waffen niederlegte, gegen Ende 1795, und Charette spricht in diesem Armeebefehl vor allem sein Bedauern darüber aus, daß der unglückliche Sohn des unglücklichen Ludwig XVI., kaum der Wildheit seiner Henker entrissen, jetzt wieder sein Asyl verlieren und seinen Verfolgern ausgeliefert werden würde. Aus den Memoiren Napoleon’s I. theilt Friedrichs die Stelle mit, in welcher der Kaiser erklärt, er habe die Erzählung Josephinens, daß der Dauphin am Leben sei, für Weibergeschwätz gehalten, dann aber Untersuchungen anstellen lassen, wobei er seine Verwunderung darüber ausspricht, daß ein Todtenschein nicht aufzufinden und der Sarg Ludwig’s XVII. wohl vorhanden, aber vollständig leer sei. Friedrichs theilt dann eine große Menge von Stellen aus den Memoiren des Vicomte von Larochefoucauld mit, der als Agent der Herzogin von Angoulème mit Naundorff in Verkehr getreten war, um die Wahrheit zu ergründen, und der fortwährend hin und herschwankte zwischen der sich bisweilen ihm aufdrängenden Ueberzeugung, Naundorff könne der echte Dauphin sein, und dem Eifer, den regierenden Bourbons dienstbar zu sein, indem er ihn verleugnet. Einer vernichtenden Kritik unterwirft Friedrichs die Aussagen der sogenannten Zeugen des Temple, Lasne und Gomin, auf welche auch neuerdings Chantelauze in seinem „Louis XVII.“ den Beweis begründet, daß der Dauphin in der That im Temple gestorben sei: Friedrichs weist die innern Widersprüche dieser Zeugenaussagen nach.

Jedenfalls muß man sich fragen, wie es möglich war, daß ein preußischer Uhrmacher auf den kuriosen Gedanken kam, sich für den Sohn Ludwig’s XVI. zu halten? Die preußische Regierung hat ihn, als er sich das Bürgerrecht erwerben wollte und als er sich verheirathete, von der Verpflichtung, seinen Taufschein vorzuzeigen, der mit seinen andern Papieren in ihren Händen war, dispensirt: niemals ist ihm eine andere Herkunft nachgewiesen worden. Alte Diener der königlichen Familie haben ihn in Paris mit voller Ueberzeugung als den legitimen Thronerben anerkannt; während man andere Pseudo-Dauphins vor die Gerichte schleppte und verurtheilte, weigerte man Naundorff die gerichtliche Verhandlung; er wurde verhaftet, des Landes verwiesen, nachdem ein Attentat gegen ihn mißglückt war; neue Attentate folgten dem ersten: gewiß, das Alles spricht sehr zu Gunsten seiner Ansprüche. Nicht ohne Beweiskraft ist auch das Titelbild des Friedrichs’schen Werkes, welches das Portrait des jungen Dauphins und dasjenige des 50jährigen Naundorff zugleich vorführt: Zug für Zug eine unverkennbare Ähnlichkeit.

Eine andere interessante Zuschrift in dieser Sache war uns der Brief des Oberappellationsgerichts-Präsidenten a. D. von Rönne. Der berühmte Verfasser des „Preußischen Staatsrechtes“ schreibt uns: „Die Angaben des Herrn Naundorff über seine Abenteuer rühren nicht erst aus einem Memoire des Jahres 1836 her, sondern sind mir, in fast gleicher Art und Weise, schon 1825 in meiner damaligen amtlichen Stellung zu Protokoll mitgetheilt worden. Als in Paris eine Untersuchung wider den Prätendenten schwebte, sind die Untersuchungsakten von 1825 auf Requisition der französischen Regierung nach Paris eingesendet worden und sollen auch hierher remittirt worden sein, jedoch ohne die von mir aufgenommenen Protokolle, welche ein Adhibendum jener Untersuchungsakten bildeten. Mich, der ich im Jahre 1825 als Auskultator bei dem damaligen Land- und Stadtgerichte zu Brandenburg vereidet worden bin, interessirte damals der Naundorff’sche Fall sehr lebhaft und das veranlaßte mich, mir von dem Kollegium des Land- und Stadtgerichts die Ermächtigung zu erbitten, die Erzählungen Naundorff’s amtlich protokolliren zu dürfen, was der die Untersuchung führende Richter weder selbst wollte noch mir gestatten wollte. Ich war ihm nämlich als Kriminalprotokollführer in der Untersuchung gegen Naundorff beigeordnet. Uebrigens kann ich bestätigen, daß der etc. Naundorff ein stattlicher Mann war, welcher ganz den Typus der Bourbonen trug. Er machte einen angenehmen Eindruck, und man konnte in keiner Weise sagen, daß er mit der Frechheit gewöhnlicher Abenteurer auftrat.“
Rudolf von Gottschall.     

Eisberge. (Mit Illustration S. 349.) Seitdem durch die Touristerei unseres Jahrhunderts das Hochgebirge für die große Masse der Reiselustigen so zu sagen erschlossen wurde, sind Firnfelder und Gletscher auch dem Bewohner des Tieflandes geläufige Begriffe geworden. Jedermann hat von ihnen etwas gehört und gelesen, hat auch Abbildungen derselben gesehen und zollt diesen großartigen Bildern der Natur die konventionelle Bewunderung. Wenige jedoch sind dem Forscher in jene hohen Regionen gefolgt und haben eine Ahnung von der großen Wirkung der Gletscher, welche unaufhörlich das Antlitz der Erde verändern; Wenige wissen es, daß auf den stummen Höhen der Alpen noch heute der Kampf fortdauert, der vor Jahrtausenden begonnen hat und kaum nach Jahrtausenden enden wird.

Der ewige Schnee und die Eisflächen, welche die Spitzen der Berge bedecken, bilden keineswegs eine schützende Hülle der kahlen Bergriesen; im langsamen, aber stetigen Strome fließt das Gletschereis zu Thal, zerbröckelt die Felsen und ebnet die Höhenzüge. Die norddeutsche Tiefebene ist reich mit Spuren dieses Kampfes besäet, die erratischen Blöcke und die an tiefen Seen aufgehäuften Steinhügel bezeichnen noch heute die Grenzen längst verschwundener Gletscher.

Nirgends tritt jedoch dieses Phänomen so großartig zu Tage, wie in den polaren Gegenden, wo der Winterkönig mit der eiszackigen Krone seinen Thron aufgeschlagen. Während der Eisstrom der berühmten Mer de Glace oberhalb von Chamounix in den Alpen höchstens 2000 Meter breit und 9800 Meter lang ist, erstreckt sich der Humboldt-Gletscher im westlichen Grönland über ein Gebiet von 110 Kilometer Länge und endet am Meeresufer mit einer steilen 100 Meter hohen Eiswand. Aber selbst auf diesen todten Eisflächen, aus denen nur hier und dort einzelne nackte Felsenspitzen hervorragen, herrscht keine Ruhe, auch hier sucht der Eisstrom das Thal oder die See zu erreichen und gelangt oft an sein Ziel unter stürmischen Katastrophen, die man die Lawinen der Polargegenden nennen könnte. Beim Eintritt der wärmeren Jahreszeit brechen die gewaltigen Eiszungen, welche die Gletscher in das Meer entsenden, mit gewaltigem Krachen ab, die Gletscher „kalben“, wie man zu sagen pflegt, und die losgelösten Eisstücke werden zu schwimmenden Inseln, die von der kalten Strömung nach südlicheren Strichen getragen werden.

Hier schmilzt das Eis unter dem Einfluß der Sonne und nimmt jene phantastischen Formen an, die wildzerklüfteten Felsen ähnlich sehen und nach denen die schwimmenden Blöcke „Eisberge“ genannt wurden. Grönland ist die vornehmste Geburtsstätte derselben, und von seinen Küsten ziehen von Ende März bis Anfang Juli die Eisberge in großen Scharen gegen den Süden, längs der nordamerikanischen Küste bis zum 40. Grad nördlicher Breite.

Dem Schiffer, der ihnen auf dem Ocean begegnet, bieten sie keinen willkommenen Anblick, mögen sie noch so märchenhaft dahingleiten auf den Fluthen des Meeres und noch so feenhaft glitzern in den Strahlen der untergehenden Sonne, denn wie die symplegadischen Felsen der Alten, welche die Einfahrt zum Schwarzen Meere bewachten, drohen sie den Menschen mit Verderben. Rettungslos ist das Schiff verloren, das zwischen eine Gruppe von Eisbergen gerieth oder den oft Kilometer langen Wall nicht umsegeln kann. Von den Eisbergen zermalmt oder in den Grund gebohrt, das ist das Los vieler Seefahrer, die auf dem Atlantischen Ocean verschollen sind. Um diesen Gefahren zu begegnen, haben neuerdings die seefahrenden Nationen die Einrichtung getroffen, daß alle Beobachtungen, die während der transatlantischen Fahrten über die Zahl und Bewegungslinie der Eisberge von den Schiffskapitänen angestellt wurden, von New-York nach Europa und von den europäischen Haupthäfen nach New-York telegraphisch berichtet werden. Die absegelnden Kapitäne können auf Grund dieser Nachrichten ihren Kurs ändern und der Gefahr wenigstens zum Theil aus dem Wege gehen.

Die Eisberge führen, wie jedes Gletschereis, auch Felsstücke mit sich, die, nachdem das Eis geschmolzen, auf den Meeresgrund sinken. Aus den Tiefen der tropischen See haben die Forscher vor Kurzem solche [352] Steine gehoben, die, wie wir dies früher mitgetheilt haben (vergl. Nr. 14 Jahrgang 1884), von den Gletschern Europas während der Eiszeit in jene südlichen Regionen getragen wurden.

Auch unfreiwillige lebende Passagiere hat man von Zeit zu Zeit auf den Eisbergen gesehen, Eisbären, denen die langsame Fahrt in den polaren Gewässern anfangs ein besonderes Vergnügen bereiten mag, bis sie freilich zu spät bemerken, daß der Zug nach Süden für sie nicht paßt und die Reise zu gebildeteren Menschen ihnen Verderben bringt.

Das südliche Polarmeer ist an Eisbergen viel reicher, als das nördliche, wie überhaupt die südliche Halbkugel in ihren höheren Breitegraden eine besonders starke Gletscherformation aufweist. In Südamerika steigen ja bekanntlich die Gletscher der Anden bis an den Meeresspiegel hinab, und ihre von dichten Waldungen umrahmten Ufer bieten einen eigenartigen Kontrast zwischen dem Reich des Lebens und dem des Todes. Leben doch dort Kolibri und Papageien in ausgesprochenen Gletscherlandschaften. – i.     


Traumverloren. (Mit Illustration S. 341.) Was heißt träumen? Ein unlösliches Räthsel ist der Traum im Schlaf, eine geheimnißvolle Erscheinung, in welcher die große Menge seit jeher Aeußerungen übernatürlicher Mächte wahrzunehmen glaubte. Wie oft soll schon der Traum den Augen der Sterblichen den dunkeln Schoß der Zukunft enthüllt haben! Im alten Griechenland gingen Kranke in den Tempel des Asklepios, um dort während des Schlafes durch einen von der Gottheit eingegebenen Traum ein Mittel gegen ihre Krankheit geoffenbart zu erhalten, und es giebt auch moderne Philosophen, welche empfehlen, die vergänglichen Traumbilder als Mittel zum Erkennen verborgener oder beginnender Krankheiten zu verwerthen. Aber trotz alledem kann man bekanntlich auf Träume nicht bauen, sie täuschen und narren uns.

Dasselbe, was man den unzuverlässigen Kindern des Morpheus nachsagen muß, gilt auch von den Träumen, in die bei offenen Augen das „süße Nichtsthun“ und der „holde Müßiggang“ uns so leicht einwiegen. Träumen, anstatt zu denken und zu schaffen, heißt dem Herrgott den Tag stehlen, und das ist allemal gefährlich, selbst wenn man eine Schönheit ist, wie die Traumverlorne auf unserm Bilde.

Ein Sehnen nach Glanz und Glück und Liebe ist ja meist der Inhalt solcher Träume, und die Erfüllung aller Herzenswünsche, die sich im Leben vielleicht nie verwirklichen, vollzieht sich im Traum so leicht! Daß aber jedem Traume zunächst ein Erwachen folgt – hat es nicht schon Jeder an sich selbst erfahren? – th.     


Universal-Petroleum-Laterne. Die Zeit beginnt gerade, in der wir so gern das Zimmer meiden und tief in den Abend hinein im Freien verweilen. Da hat ein erfinderischer Kopf dafür gesorgt, uns besseres Licht für diese Zeit zu verschaffen, als das des unzuverlässigen Mondscheins oder der gewöhnlichen Petroleumlampe, die so leicht bei dem leisesten Windzuge erlischt. Die Metallwaaren- und Laternenfabrik Albert Hauptvogel in Dresden bringt als Saisonnovität eine Universal-Petroleum-Laterne auf den Markt, die mit einem sturmsicheren Brenner versehen ist, eine Leuchtstärke von drei Kerzen besitzt und ziemlich sparsam brennt, da ihr Petroleumkonsum in drei Stunden etwas über einen Pfennig kostet. Doch dies sind nicht die einzigen Vorzüge des neuen elegant ausgestatteten Artikels. Durch höchst einfachen Mechanismus kann diese Laterne zu den verschiedensten Zwecken verwandt werden, bald als Tischlampe, bald als Hängelampe dienen, oder die Stelle einer Wand- oder Handlaterne vertreten. Wer also Licht im Garten, auf der Veranda oder im Hausflur braucht, dem können wir diese neue Laterne empfehlen. – i.     


Heilanstalt für Trunksüchtige in Dänemark. Die Kuranstalt Heimdal bei Tönsberg, deren Wirksamkeit sich auf die Heilung von Trunksüchtigen erstreckt, hat vor Kurzem ihren Jahresbericht veröffentlicht. 67 Procent aller Kranken haben als geheilt, 25 Procent als gebessert entlassen werden können; 8 Procent waren unheilbar. Diese Zahlen beweisen deutlich den Nutzen derartiger Einrichtungen. Es wäre auch interessant, etwas über die Wirksamkeit ähnlicher deutscher Heilanstalten zu erfahren, und wir sind gern bereit, kurze Berichte über die Thätigkeit derselben, die Aufnahmebedingungen etc. entgegenzunehmen und an dieser Stelle zu veröffentlichen. – i.     


Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 20: Hoffen und Harren macht Manchen zum Narren.


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

B. G. in K. Das neueste geschichtliche Werk unseres Großen Generalstabes „Brandenburg-Preußen auf der Westküste von Afrika 1681 bis 1721“ ist im Verlage E. S. Mittler und Sohn in Berlin erschienen. Dasselbe beruht auf sehr ernsten archivalischen Forschungen und publicirt zum ersten Male die Erlebnisse des Großen Kurfürsten in Bezug auf die ersten brandenburgischen Kolonien an der Küste von Guinea und Arguin. Zahlreiche Karten und Abbildungen der einzelnen Forts sind dem Werke beigegeben.

G. M. Ein Mittel, das dauernd Abhilfe schaffen würde, ist uns leider nicht bekannt[.] Im Uebrigen verweisen wir Sie auf den Inseratentheil unseres Blattes.

E. in Insterburg, C. K. in Torgau, C. H. in Bremen, J. A. in Komotau, L. M. H., C. B. in Orenburg. Nicht geeignet.


5. Quittung. Für die Hinterbliebenen des Schaffners Claus und die anderen bei Hanau verunglückten Bahnbediensteten


[ Liste der Spender (Zeilen 1 bis 38) ist noch nicht übertragen. ]

Mexico 40; Schwester Mauer mit Onkel und Tante 10; Adolf Moschkowsky, Correspondent in Königsberg i. Pr. 3. Summe der 5. Quittung ℳ 1227 (enthält die vom 20. Januar bis zum Schluß der Sammlung eingegangenen Beiträge). Gesammtbetrag der 1. bis 5. Quittung ℳ 7802,86.

Wir schließen hiermit die Sammlung, deren Vertheilung wir gemäß den erbetenen Vorschlägen des Kgl. Eisenbahn-Betriebs-Amtes Frankfurt am Main-Sachsenhausen und unter gerechter Berücksichtigung der Verhältnisse und Lage der einzelnen von dem Unfalle Betroffenen bewirkt haben. Den mildthätigen Gebern aber, welche es ermöglicht haben, die Thränen der beiden Wittwen und der neune Waisen zu trocknen und den Leiden der verunglückten Bahnbeamten Linderung zu schaffen, sagen wir herzlichen Dank.

Leipzig, den 1. Mai 1885. Die Redaktion. 


Inhalt: Trudchens Heirath. Von W. Heimburg. S. 337. – Stelldichein. Illustration. S. 337. – Eine Verschwörung. Von Johannes Scherr (Fortsetzung). S. 342. – Das Paznaunerthal. Mit Illustrationen aus dem Skizzenbuche von Mathias Schmid. I. S. 345. Hierzu Illustrationen S. 345-348. – Unter der Ehrenpforte. Von Sophie Junghans (Schluß). S. 348. – Blätter und Blüthen: Zur Dynastie Naundorff. Von Rudolf von Gottschall. S. 351. – Eisberge. S. 351. Mit Illustration S. 349. – Traumverloren. S. 352. Mit Illustration S. 341. – Universal-Petroleum-Laterne. – Heilanstalt für Trunksüchtige in Dänemark. – Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 20. – Kleiner Briefkasten. S. 352.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Näheres über diese Kämpfe findet sich in Hermann Schmid’s fesselndem Roman: „Friedel und Oswald“.
  2. Siehe „Gartenlaube“ 1884, Nr. 33.
  3. Portrait und Biographie von Mathias Schmid finden unsere Leser in der „Gartenlaube“, 1884, Nr. 37.