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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[105]

No. 7.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ein armes Mädchen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Der Tag nach solchem Feste ist in jedem Hause der gleiche; abgespannte Gesichter bei den Damen, bei den Herren etwas Kopfweh, die Zimmer noch nicht ganz in Ordnung, die Dienerschaft verschlafen, – das Beste bleibt dann immer noch das Frühstück.

Es war beinahe zwölf Uhr, als man sich zu diesem Zweck im Eßzimmer versammelte. Frau von Ratenow kritisirte streng, sie war offenbar nicht in der besten Laune; Frieda gähnte viel, und Tante Lott schwelgte in Erinnerungen und beschrieb noch einmal ganz genau jede Toilette.

„Wo ist Else?“ fragte endlich Moritz, der bis dahin ziemlich schweigsam gegessen und getrunken hatte.

„Sie kommt gleich, Moritz,“ versicherte Tante Lott, „sie wollte nur erst vollständig Toilette machen; sie will zu ihrem Vater, er soll nicht ganz wohl sein.“

„Glaube ich schon,“ meinte die alte Frau von Ratenow.

„Sah das Kind nicht entzückend aus, Cousine?“ fragte Tante Lott.

„O ja!“ war die kühle Antwort. „Uebrigens, wann fängt nun endlich der Unterricht an?“

„Vorläufig noch nicht,“ erklärte Moritz ruhig; „ich habe die Absicht, damit noch bis Ostern zu warten. Und da wollte ich Dir den Vorschlag machen, Tante Lott, Du drehst in diesem Jahre Deinen Plan um, gehst jetzt die vorgeschriebenen acht Wochen in Dein Stift und nimmst Else mit.“

Tante Lott’s gutes altes Gesicht war plötzlich leichenblaß gewordem „Jetzt hier fort?“ stammelte sie, „wo Else sich so gut – – ich bitte Dich, Moritz –“

„Mir paßt es gar nicht,“ erklärte Frieda; „ich hätte lieber gesehen, die Mädchen lernten endlich stille sitzen.“

„Ach ja, Frieda!“ rief Tante Lott tragischer denn je, „biete Alles auf! Wenn das Kind jetzt fortginge, es hieße ein Glück morden!“

Die junge Frau lachte hell und belustigt. „Tante, Du verdienst, daß Dir noch bei lebendigem Leibe ein Denkmal unter einer Thränenweide, mit Rosen umrankt, gesetzt wird.“

„Es reimt sich nicht immer, Herzen und Schmerzen, Cousine Lott!“ rief Frau von Ratenow. mit erhobener Stimme; „es sollte mir unendlich leid sein, hättest Du Dingen Vorschub geleistet, die wir mit allen Kräften abzuschwächen bemüht sind.“

Das Gesicht des alten Fräuleins war jäh erblaßt. „Ich habe nichts dazu gethan, Ratenowchen,“ sagte sie ernst und bestimmt; „so etwas heißt Niemand kommen, das ist ein Wunder, das Gott schickt. Es kommt –“

„Es kommt,“ fiel ihr Frieda noch immer lachend in’s Wort.

„Es kommt wie Nelkenduft im Winde,
Es kommt wie durch die Nacht gelinde,
Aus Wolken bricht des Mondes Schein!“

„Na ja, freilich,“ betonte Frau von Ratenow, „das ist sehr schön in’s Album zu schreiben – hier kommt’s auf was Anderes an. Echauffirt Euch übrigens nicht; sie kann ruhig bleiben und wird vernünftig sein.“

„Wie manche Mädchenjugend ist schon an diesem Wort zu Grunde gegangen!“ murmelte Tante Lott.

„Zum Lachen ist dies nun gerade nicht, Frieda!“ Die Augen der alten Dame richteten sich vorwurfsvoll auf das noch immer lachende schöne Gesicht der Schwiegertochter.

Die junge Frau wollte eben den Mund zu einer Erwiderung öffnen, als die Falten der Portière aus einander flogen und Else eintrat. Ihr ganzes Wesen schien gehoben, man sah es an den leuchtenden braunen Augen, an den rosigen Wangen. Ihr „Guten Morgen!“ klang so frisch und herzlich, es war, als fliege ein fröhlicher Sonnenstrahl durch das Gemach.

„Dein Vater ist nicht wohl?“ fragte Tante Ratenow freundlich.

„Leider nein, liebe Tante; ich will gleich nachher in die Stadt.“

„Es giebt Thauwetter,“ mahnte Moritz, „zieh Dir feste Stiefeln an.“

„Und wenn Du wieder zurück bist, Else, komm einmal auf mein Zimmer,“ setzte Frau von Ratenow hinzu.

„Eine Empfehlung von Herrn Lieutenant Bernardi.“ Der Diener war zu Moritz getreten und überreichte ihm ein Billet.

Tante Lott fühlte plötzlich ihre Hand ergriffen von einer kleinen zitternden Hand. Moritz las, er sah dabei sonderbar aus; er las es noch einmal, dann sagte er, ohne Jemand anzublicken:

„Lieutenant Bernardi läßt sich allerseits bestens empfehlen, er bedauert sehr, dies nicht persönlich thun zu können, die Zeit sei ihm leider zu knapp bemessen. Er reist nämlich heute Abend sechs Uhr nach H. ab, wohin er an Stelle eines erkrankten Cameraden ein Commando bekommen hat. Er bittet, dem Ueberbringer Dieses seine Geige, sowie die Noten übermitteln zu wollen, und hofft, daß den Damen der gestrige Tag wohl bekommen sei und daß man ihm ein freundliches Andenken bewahren werde.“

[106] „Hole die Geige aus dem Salon!“ befahl Moritz. Dann nahm er eine Visitenkarte aus seinem Notizbuche, schrieb ein paar Worte mit Bleistift, couvertirte und gab das Briefchen dem zurückkehrenden Diener. „Unsere Empfehlung an Herrn Lieutenant Bernardi.“

Die zwei braunen Mädchenaugen sahen wie erstarrt dem kleinen Violinkasten nach, der da eben hinter der Portière verschwand. Es war so still im Zimmer geworden, man hörte nur das Klirren der Messer und Gabeln, die Frau von Ratenow auf den Teller legte und wieder hinwegnahm. „Es fliegt ein Engel durch das Gemach,“ heißt es; diesmal war es ein Todesengel, der eine kaum erschlossene schöne Blume knickte, die eben so glückselig in einem jungen Menschenherzen zu sprießen begann.

Moritz wollte endlich etwas sagen; er bezwang sich, in das junge tieferblaßte Gesicht dort drüben zu blicken.

„Nun, Else, wollen wir zur Stadt gehen? Wollen wir den Kindern Schulbücher besorgen?“ Er schob ihr plötzlich die Hand hin über den Tisch in einer unwillkürlichen Bewegung.

„Na, dann hätten wir lange genug gesessen, Kinder; gesegnete Mahlzeit!“ Frau von Ratenow erhob sich und Else ging hinaus; sie wollte ihre Sachen holen, sagte sie mit tonloser Stimme.

„Um Gotteswillen, das arme Kind!“ weinte Tante Lott. „Sie liebt ihn, sie lieben sich Beide.“

„Der Bernardi ist ein anständiger Mann,“ erklärte Frau von Ratenow. „Ich sage Dir, weine nicht, Lott,“ fuhr sie fort, „ich habe lange gewußt, daß es so kommt, aber eine alte Frau, wie ich, hat ja überlebte Ansichten – nun ist’s so weit.“

„Guten Morgen!“ rief Frieda, „ich mache Toilette. – Schade, daß Bernardi fortgeht, unsere schönen Musikabende!“ Sie verschwand im Nebenzimmer. Moritz hörte, wie sie dort sang und kosend mit ihrem Söhnchen sprach.

„Moritz,“ sagte Frau von Ratenow, „beim Goldschmied Thomas im Schaufenster liegt ein kleines Emailarmband; Else hat sich vor ein paar Tagen so sehr darüber gefreut; kaufe es, verlege das Geld einmal, ich geb’s Dir wieder nachher. Na, guten Morgen.“

„Bitte, geh hinauf, Tante Lott, sieh nach dem Mädchen,“ bat Moritz in förmlich nervöser Hast.

„Ist denn Alles vorbei nun?“ fragte die kleine weinende Dame, „Alles?“

„Aber, bestes Tantchen, es ist doch nun nicht anders!“

Sie wandte sich ab und trocknete die Augen; dann stieg sie langsam die Treppen hinan.

Else saß am Fenster und schaute in den Garten; der Schnee war von den Bäumen abgethaut und schwarz und feucht bogen sich die Aeste im Winde. Der Himmel hatte sich grau bezogen, ein feiner Regen stiebte hernieder und nahm die Aussicht in das Land hinein. Tante Lott machte sich am Kachelofen zu schaffen, das Mädchen durfte ja nicht sehen, daß sie weinte, und sie nahm das Staubtuch und fuhr über die glänzende Politur der Möbel, auf denen doch kein Stäubchen lag; sie wollte etwas sagen, und sie wußte nicht was.

Die Thür zu dem Schlafzimmer des jungen Mädchens war geöffnet; die alte Dame ging in ihrer Verlegenheit auch dort hinein. Da stand das zierliche weißverhängte Bett, und das kleine Crucifix aus Perlmutter hing am Kopfende des Lagers; das hatte sie aus der Herrnhuter Gemeinde mitgebracht; im Winkel am Ofen das Puppenschränkchen mit all dem süßen Tand aus der Kinderzeit, und auf dem Tischchen unter dem Spiegel, sorglich in frisches Wasser gestellt, der halbverwelkte Veilchenstrauß von gestern. Die Uhr tickte im Nebenzimmer, sonst war’s unheimlich still.

Dann ein Thürengehen dort innen und Moritz’ Stimme, so weich, als spräche er mit einem Kinde: „Else! Else! Wie siehst Du aus! Was fehlt Dir denn?“

„Mir? Gar nichts, Moritz.“

„Du bist unsere gute vernünftige Deern, Else.“

Sie fuhr vom Stuhl empor. „Sage nichts! Sei ruhig, Onkel Moritz!“ rief sie und ging an Tante Lott vorüber, die, eben wieder hereingetreten, beide Hände nach ihr ausstreckte, und schloß die Thür ihres Zimmers hinter sich zu.

Er wandte sich zum Fenster. „Wie mich das dauert, Tante Lott! – Dort unten geht sie,“ bemerkte er nach einer Weile, „sie ist im Hut und Mantel; ich hätte sie nicht so allein fort lassen sollen. Wo will sie hin, Tante Lott, sie biegt links ab durch den Garten?“

„Da geht sie immer nach dem Kirchhof, Moritz; es ist näher, weißt Du; sie nimmt den kleinen Weg an der Gertrauden-Capelle vorüber.“

Sie ging in der That dorthin. Einen klaren Willen hatte sie augenblicklich kaum. Der Schnee war schon sehr weich und das Wandern mühsam; sie war so müde mit einem Male, so furchtbar müde. Nicht weit von dem Eingange des Friedhofes sah sie Annie Cramm daherkommen. Die junge Dame trug die Schlittschuhe über den Arm und schien es sehr eilig zu haben; nun kam sie über den Fahrdamm in ihrem eleganten braunen Eiscostüm.

„Guten Morgen, Else; wie ist’s bekommen?“ Es war ein forschender Blick, der unter dem Schleier hervor auf das blasse Mädchengesicht fiel.

„Ich danke, Annie, gut,“ erwiderte sie.

„Willst Du auf den Kirchhof? Herr Gott, welch elegische Gedanken in aller Morgenfrühe nach solch lustigem Fest!“

Else nickte nur.

„Ich komme noch bis zur Pforte mit, Else, wenn Du erlaubst. Du weißt doch, daß Du eine ganz berühmte Persönlichkeit geworden bist über Nacht,“ plauderte sie im Gehen. „Der Papa kam vorhin aus der Weinstube, und denke nur, er erzählte als größte Neuigkeit – ich hätte mich halb todt lachen können – Bernardi habe Deinetwegen mit Lieutenant P. getauscht, weil er sich einen Korb geholt bei Deiner Tante oder bei Dir, was weiß ich’s! Ich sagte gleich: so ein Unsinn – Bernardi! Nun, Du weißt ja auch, Else, und nimmst mir das nicht übel, er kann doch einmal kein armes Mädchen heirathen.“

So trostlos und weh sahen die zwei braunen Mädchenaugen in diesem Moment die Sprecherin an, daß diese erschreckt stillschwieg und ihre Schlittschuhe von der linken Hand in die rechte nahm.

„Na adieu, Else,“ sagte sie endlich. „Ich komme vielleicht Nachmittags zu Euch herunter. Grüße Frau von Ratenow!“

Nun stand sie an dem Grabe und starrte es an; es war so kalt und stumm, es war eben nur ein Grab, todt, was drunter lag. Kein Mensch auf dem Kirchhofe, nur ein kleines vorwitziges Rothkehlchen saß da und schaute sie an mit den runden neugierigen Aeuglein. So furchtbar schwer hatte sie die Bedeutung dieses Grabes nie empfunden wie in dieser Stunde, es wollte das andächtige Gefühl nicht kommen, das sie sonst immer ergriff, wenn sie hier weilte. „Warum lebe ich überhaupt, warum haben sie mich damals nicht gleich mit hier hineingelegt!“ so schrie es auf in ihrer Seele.

„Sie werden sich hier erkälten, Fraulein,“ sagte der alte Todtengräber, der, die Hände in den Taschen, auf großen Holzpantoffeln langsam daher kam. „Zu sehen ist ja doch nichts jetzt, Fräulein; aber im Frühjahr wird’s hübsch hier, da kommen die blauen Krokus hoch, die Sie gepflanzt haben.“

Sie ging wieder und bog in die Stadt ein; da war ja noch der alte mürrische Papa, und er war krank; sie hatte es ganz vergessen über die letzten Stunden, diese schweren Stunden. Auf der Straße kam ihr Lieutenant Rost entgegen; als er sie erblickte, stutzte er, sie sah so blaß aus und sie dankte so abwesend. Einen Moment blieb er stehen und schaute der schlanken Mädchengestalt nach, dann ging er, leise pfeifend, weiter; er pfiff immer, wenn ihn etwas peinlich berührte.

„Gut, daß Du kommst, Elschen! Ach, der Papa, der Papa!“ flüsterte die Siethmann dem jungen Mädchen auf dem Flur zu. „Es ist kein Fertigwerden mit ihm seit gestern, wo der Bote den großen Schreibebrief brachte; und vorhin hat sich gar noch der Bennewitzer Herr anmelden lassen, und nun ist er ganz wüthig.“

Else trat ein in das Zimmer zu dem alten Mann. Er saß im Lehnstuhl am Fenster, die Pfeife lag auf dem Tische und seine Hände hielten einen zerknitterten Brief.

„Da kommst Du endlich einmal, Else; ich kann verderben und sterben hier; und Deinetwegen habe ich doch nur den Aerger mit dieser verfl ..... Geschichte.“

Sie hatte kein Wort der Erwiderung auf den ungerechten Vorwurf. „Ich bleibe bei Dir, Papa, wenn es Dir lieb ist,“ sagte sie nach einer Pause.

„Nein! Das will ich gar nicht; Du weißt, daß das nicht geht. Aber sprechen muß ich mit Dir, Du mußt es doch wissen, [107] daß es kein Recht mehr giebt, daß sie mir gestern den Bettel in’s Haus zurückgebracht haben, weil – na, weil eben ich es bin; wenn der Bennewitzer ich wäre und ich er, so fiele das Butterbrod natürlich nicht wieder auf die fette Seite.“

Else schwieg; ihr that der Kopf so weh, und es war ja auch so gleichgültig, was nun noch kam im Leben.

„Aber der Teufel soll mich holen, lasse ich die Karre so stecken; ich gehe weiter, und wenn ich bis ans Reichsgericht gehen muß und dabei verhungern sollte! Und was meinst Du,“ fuhr er fort und schlug mit der geballten Hand auf den Tisch, „da läßt mir dieser Mensch, der kein Jota Recht mehr hat wie ich, noch einmal ein Almosen anbieten und läßt mir sagen, er würde heute noch selbst erscheinen bei mir! Hast Du je so etwas für möglich gehalten? Er soll nur kommen, die Siethmann soll ihn nur hereinlassen, ich bin gerade in der rechten Stimmung.“

Ach, war es denn nicht entsetzlich trostlos und öde in der Welt? In der Welt, wo Alles sich nur dreht um den Besitz; in der Welt, wo selbst das edelste und reinste Gefühl des Menschenherzens den erbärmlichsten Interessen weichen muß? Es ekelte dem Mädchen vor dem Reichthum, vor der Macht des Geldes; ihr Glaube, ihre Liebe, ihre Ideale, sie lagen in den Staub getreten – und so sollte sie leben? Sie fuhr mit beiden Händen an die Schläfen, als der alte Mann wieder begann zu schelten.

„Papa, laß doch!“ bat sie. „Es ist ja ganz gleichgültig – ich brauche nichts.“

Sie schwiegen Beide. Else stand am Ofen und sah in das unwohnliche verräucherte Zimmer; draußen tröpfelte das Schneewasser eintönig in der Dachrinne und dann und wann scholl ein Laut von der Straße herauf. Jetzt Schritte, die Hausthür wurde aufgemacht und die Schritte kamen die Treppe herauf. Sie verließ das Zimmer.

„Bleiben Sie unten, Herr von Hegebach,“ bat sie leise und bog sich über das Geländer der Treppe.

„Warum? Ich muß meinen Vetter sprechen.“

„Papa ist so aufgeregt,“ klang es zurück.

„Sie sehen bleich aus, gnädiges Fräulein, beirrt es Sie, wenn ich –?“

„Papm ist krank, glaube ich,“ wandte Else ein.

„Kann ich mit Ihnen reden, gnädiges Fräulein?“

„Mit mir? O ja – aber –“

„Wo?“ ergänzte er.

„In der That – ich wüßte nicht –“

Die Siethmann kam herzu und schloß eine Thür auf. „Es ist ganz ordentlich und auch nicht zu kalt, Elschen.“

Es war eine schmale Kammer, in der sie nun standen; im Hintergrunde der Aepfelvorrath der alten Frau, eine Truhe, mit grellbunten Blumen bemalt, und ein Kleiderschrank, dazu zwei Spinnräder und eine Haspel, und über dem Ganzen lag der Duft des Obstes. Der letzte fahle Abendschein brach durch das kleine Fenster und beleuchtete das vornehme Gesicht des Bennewitzer Hegebach.

„Ich komme, um noch einmal mit dem Papa zu sprechen; er macht sich doch nur unnütze Aufregungen und Kosten, gnädiges Fräulein; seien Sie überzeugt, daß er keinen Erfolg haben wird von einem erneuten Vorgehen, und daß ich es tief beklage, ihn –“

„Ich habe gar keinen Einstnß auf Papa,. Herr von Hegebach,“ antwortete Else.

„Das thut mir leid! Aber Sie können ihm doch vielleicht sagen, daß ich noch immer bereit bin, meinen damaligen Vorschlag aufrecht zu erhalten.“

„Papa nimmt kein Geld geschenkt,“ klang es kühl zurück.

„Aber warum fassen Sie das so auf?“ fragte er, ebenfalls kühler werdend. „Ich biete ihm ja nur die Zinsen eines Capitals an, das ich nicht aus dem Gesammtbesitz herausziehen darf.“

„Ich verstehe davon nichts, mein Herr!“ war die Antwort.

„Sie sollten trotzdem meine Absicht bei Ihrem Herrn Papa vertreten, in seinem und in Ihrem Interesse, liebe Nichte.“

„In Papas Interesse? Er will für sich nichts. Und ich, ich danke Ihnen sehr.“

„So sprechen nur Mädchen in Ihrem Alter, die noch nicht wissen, was es heißt –“

„Kein Geld zu haben – arm zu sein?“ unterbrach ihn fragend das junge Mädchen, und die ganze Bitterkeit ihrer Seele drängte sich auf die zitternden Lippen. „Ich weiß es, Herr von Hegebach, man lernt es ja bald im Leben! Wenn Gott gerecht wäre, er erschaffte keine armen Mädchen, oder er ließe sie wenigstens gleich gefühllos und ohne Herz zur Welt kommen!“

Er war unwillkürlich zurückgetreten und starrte auf den kleinen schmerzverzogenen Mund, der diese Worte eben ausgesprochen.

„Woher kommt diese Bitterkeit?“ fragte er endlich; „andere Mädchen in Ihrem Alter weinen höchstens, wenn ihnen eine Enttäuschung bereitet wird.“

„Ich habe keinen Grund zum Weinen,“ erwiderte sie kurz.

„Ich möchte nicht so fortgehen, Else von Hegebach,“ begann er nach einer Pause, „es ist mir, als thäte ich unrecht, ließe ich Sie in der bitteren Stimmung zurück. Versprechen Sie mir wenigstens, es noch einmal in Erwägung zu ziehen, was ich vorhin sagte; es ist kein Almosen, es ist ein Recht, welches Ihnen zusteht.“

„Ich glaube nicht, daß Papa –“

„Aber Sie doch!“

„Ich? O, ich habe mein Gouvernanten–Examen gemacht!“ Es war wieder der alte, bittere Ton. Fast höhnisch klang es.

„Sie haben den Starrkopf des Papas,“ sagte er, nach dem Hut greifend. „An wen muß ich mich wenden, der etwas Macht über Sie besitzt?“

„Ich fürchte, Sie suchen vergebens nach einer solchen Persönlichkeit, Herr von Hegebach.“

„Adieu, gnädiges Fräulein!“ – Sie neigte leicht den Kopf, und er ging.

Als das Mädchen allein war, lehnte sie die Stirn gegen die getünchte Wand; wie ein Stöhnen klang es durch die kleine Kammer, und wie ein Sturm schüttelte es den schlanken Körper.

„Wer war da?“ fragte der alte Herr verdrießlich, als sie wieder zu ihm eintrat.

„Der Bennewitzer, Papa.“

„Und Du hast ihn nicht zu mir gelassen?“

„Ich sagte ihm, Du seiest nicht wohl; er wollte Dir auch nur noch einmal die Jahresrente anbieten.“

„Hole ihn der – –,“ brauste der alte Herr auf; „es ist der sicherste Beweis, daß er in schlechten Schuhen steht.“

„Soll ich bei Dir bleiben, Papa? Willst Du noch Thee?“ fragte sie.

„Nein! Ich gehe zu Bette, mir ist nicht ganz recht.“

„Laß mich doch hier!“ Sie war im Dunkeln ganz nahe zu ihm getreten; nun lagen ihre Hände auf seiner Schulter.

„Ei was, Else! Sieh mal, was willst Du hier?“ Es klang fast sanft.

„Ich denke manchmal, ich gehöre zu Dir, Papa.“

„Ja, ja! Aber dann müßte ich nicht eben ein Bettelmann sein, Kind.“

„Ob es nicht dennoch anginge, Papa?“

Sie erhielt keine Antwort. „Da sieh mal, Else,“ sagte er endlich, „der Bennewitzer hat nicht Kind noch Kegel, und wenn es gerecht zuginge, so müßtest Du das Alles einst bekommen. Ja, aber eben weil Du ein Mädchen bist, – es steht ja expreß in dem niederträchtigen Testament: Töchter sind von der Erbfolge definitiv ausgeschlossen.“

Sie knieete plötzlich neben ihm und legte ihren Kopf auf seine Hand.

„Und,“ fuhr er fort, „das wurmt mich noch alle Tage, daß Du kein Bub bist – nicht um meinetwegen, nein, um Deinetwillen. Deine Mutter schrie auf vor Schreck, als man ihr sagte, Du seiest ein Mädchen; wir hatten gemeint, Du müßtest absolut ein Bursch sein. Ihr letztes Wort war noch: ‚Ach, ein Mädchen! Ein armes kleines Mädchen!‘ Na ja, es ist nun so; Du mußt halt sehen, wie Du durchkommst, Kind. Aber versprich mir mal eins – wenn ich todt bin – – gethan habe ich freilich nichts, daß Du mich arg lieb haben könntest; alle anderen Menschen thaten mehr für Dich – die Ratenow und der Moritz – aber man kann sich seinen Vater ja nicht aussuchen auf der Welt, Else.“

„Nein, Papa, und ich kann ja auch nichts dafür, daß ich ein armes Mädchen bin,“ sagte sie kindlich, und zwei große Thränen rollten auf die Hand des alten Mannes.

„Nun, weine nur nicht, Kind, weine nur nicht!“ Er war schon wieder nervös. „Du mußt auch gehen, Else, es wird schon so finster.“

[108]

Facsimilie eines Blattes aus dem Manuscript von Heinrich Heine’s Memoiren.

[109] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [110] Sie erhob sich und suchte nach Hut und Mantel. „Schlaf wohl, Papa; wenn ich Zeit habe, komme ich bald wieder. Ich fange morgen den Unterricht an, Papa.“

Wieder ging sie durch die finstere, schmutzige Straße; sonst hatte sie sich immer gefürchtet um diese Zeit, heute dachte sie nicht daran. Der Wind hatte sich aufgemacht und sauste durch die lange Allee, und der feine Regen drang durch den Schleier und kühlte Wangen und Augen.

Sie schritt so langsam, als wäre es ein Maiabend. Dort unten bog plötzlich ein Wagen aus dem Thor der Burg und fuhr in raschem Tempo an ihr vorüber – es war des Bennewitzers Fuhrwerk. Er hatte also jedenfalls Tante Ratenow einen Besuch gemacht; vielleicht um in ihr die Verbündete zu finden.

„Könnt’ ich nur sterben, so wäre mir wohl,“ klang es ihr durch den Sinn. Sie mußte hinein in das Haus, und sie wäre doch am liebsten fortgelaufen, so weit ihre Füße sie tragen wollten.

„Fräulein, Sie möchten gleich zur alten Frau von Ratenow kommen,“ sagte der Diener im Hausflur. Sie gab Hut und Mantel ab und ging hinein.

Frau von Ratenow saß auf dem Sopha; eine Flasche mit zwei Gläsern stand auf dem Tisch und der Duft einer feinen Cigarre schwebte noch in der Luft. „Wie geht es Deinem Vater?“ fragte sie und winkte dem Mädchen, sich zu setzen.

„Ich danke, es ging so leidlich, Tante.“

„Du siehst blaß aus; das macht das Tanzen, Else.“

„Ja, Tante.“

„Sieh mal, dort kommt das Blondmäuschen,“ sagte die alte Dame und lachte dem zierlichen Mädchen zu, das eben feierlich und mit einem Ausdruck von Wichtigkeit durch das Zimmer auf Else zuschritt. „Von der Großmama, Tante!“ flüsterte es und legte dem jungen Mädchen einen kleinen schweren Gegenstand in den Schooß, um dann eilig wieder in sein Versteck zu laufen. Es war ein schlichter schwarzer Emailreifen, den Else in der Hand hielt.

„Du bist so gut, liebe Tante,“ sagte sie, und blickte sie an mit den schönen braunen Augen; es waren keine Kinderaugen mehr seit heute früh; und sie küßte die dargebotene Hand. „Ich werde es zum Andenken an Dich tragen.“

„Ich wollte Dich bitten darum, Else. Und nun geh. – Der Bennewitzer läßt sich Dir übrigens empfehlen.“

In ihrem Stübchen legte sie hastig den Reifen hin; sie wollte kein Mitleid, sie könnte es nicht ertragen, meinte sie. Als ob ein bischen Tand und Schmuck ihr das Herzeleid und die aufschreiende Sehnsucht nehmen könnte! Sie wäre gern allein gewesen, aber dann würden sie denken, sie weine um ihn, und sie wollte doch nicht eine Thräne vergießen, darum nicht eine.

Aber es ging doch nicht! Ein süßer Duft hauchte sie plötzlich an, ein Duft, der noch gestern berauschend um sie geschwebt. Dort standen die Veilchen, seine Veilchen, und es war, als sprächen sie mit seiner Stimme: „Das Glück – ist dieser Augenblick nicht das Glück?“ Sie schluchzte plötzlich laut auf, es klang wie ein Schmerzensschrei, und im nächsten Augenblick öffnete sich die Stubenthür und Tante Lott hielt das bebende Mädchen im Arm.

Tante Lott wußte ja Alles, sie durfte auch sehen, daß ihr Herz zerrissen war, ganz zerrissen.

(Fortsetzung folgt.)

Das Schicksal einer deutschen Fahne.

Erinnerung aus unserem „letzten Krieg um den Rhein“.


Der „letzte Krieg um den Rhein“, der deutsche Feldzug von 1870 und 1871 in Frankreich, steht unter den großen Völkerkämpfen einzig da in der Weltgeschichte. Selbst vieljährige Kriege alter wie neuer Zeit vermögen für Eroberungen, Schlachten und Gefechte, Gefangene und Trophäen an Waffen und Fahnen einer Macht nicht stärkere Zahlen aufzustellen, als dieser Krieg von nur halbjähriger Dauer in Deutschlands Ehrentafel einzugraben hatte. Man muß sich die Zahlen immer und immer wieder vor Augen halten, um es zu glauben, welch Ungeheures wir alle vor dreizehn und vierzehn Jahren erlebt haben; in den 180 Tagen des eigentlichen Krieges wurden 20 große Schlachten geschlagen, über 150 Gefechte geliefert, 26 feste Plätze erobert, 11,860 feindliche Officiere und 371,981 Unterofficiere und Gemeine in Gefangenschaft geführt, 7441 Kanonen, 855,000 Gewehre und Hunderttausende von anderen Waffen erbeutet und 107 Fahnen und Adler als Siegeszeichen dem Feinde abgenommen. Dabei ist nicht zu vergessen, daß durch die Uebergabe von Paris und durch die Flucht der Franzosen in die Schweiz noch 9648 Officiere und 330,000 Soldaten Frankreichs unschädlich gemacht worden waren. Die Deutschen hatten nur in wenigen Gefechten sich zurückzuziehen, von ihren 8 verlorenen Kanonen nahmen sie die beiden bei Coulmiers stehen gebliebenen in Orleans wieder, und die einzige deutsche Fahne, die im ganzen Kriege in Feindes Hände fiel, ging unter Umständen verloren, welche diesen Verlust zu einer der denkwürdigsten militärischen Ehren erheben.

Als das Jahr Siebenzig zu Ende ging und von den Armeen, welche Gambetta’s Feuergeist „aus der Erde gestampft“, keine seine oberste Hoffnung: die Entsetzung voll Paris, zu erfüllen vermocht, entsprang dem Kopfe dieses kühnen Advocaten ein neuer Feldzugsplan, dessen Gelingen Deutschland in unabsehbare Gefahren gestürzt haben würde. Eine aus vier neuen Armeecorps zusammengesetzte, 150,000 Mann starke „Ostarmee“, von dem einzigen kaiserlichen Generale, der aus Metz entkommen war, von Bourbaki, befehligt, sollte das von schwachen Kräften belagerte Belfort entsetzen, durch Elsaß in Süddeutschland einbrechen, in dem wehrlosen Lande rasch vordringen, die Hunderttausende französischer Gefangenen befreien und so von Deutschland aus die Deutschen in Frankreich zwingen, Paris freizugeben, um Deutschland zu retten.

Daß dieser Plan nicht gelang, ist das unsterbliche Verdienst der Heldenführer und Heldenschaaren, die, in furchtbarster Winterkälte, vor sich einen dreifach überlegenen Feind und hinter sich eine feindliche Festung mit starker, gut geführter Besatzung, die dreitägige Schlacht (15. bis 17. Januar 1871) an der Lisaine schlugen, eine dünne, aber eherne Kette bildend, an welcher die letzte französische Armee zerschellte.

„Ihre heldenmüthige siegreiche dreitägige Vertheidigung Ihrer Stellung, eine belagerte Festung im Rücken, ist eine der größten Waffenthaten aller Zeiten,“ – so schrieb am 20. Januar an den General von Werder König Wilhelm, der am 18. – der würdigste Abschluß des letzten großen Sieges! – deutscher Kaiser geworden war.

Während dieser Ereignisse um Belfort und während General von Manteuffel mit einer neu zusammengesetzten „Südarmee“ in Eilmärschen heranzog, um Werder und Treskow (dem Belagerer von Belfort) zu Hülfe zu kommen, war namentlich für die rückwärtigen Verbindungen derselben das Corps Garibaldi’s, das nach Werder’s Abzug gegen Belfort hin sich in Dijon festgesetzt hatte, eine um so drohendere Gefahr für Werder’s wie für Manteuffel’s Unternehmungen, als man über die Stärke desselben nicht genaue Auskunft hatte erlangen können. Diese abenteuerliche Truppe in ihrer so bedenklichen Stellung möglichst unschädlich zu machen, war als schwere Aufgabe dem General von Kettler übertragen und von ihm glänzend gelöst worden.

Nach Angabe des Generalstabswerkes (5. Band, S. 1204) bestand von Kettler’s Brigade aus 51/4 Bataillonen der beiden pommerschen Regimenter Nr. 21 und 61, aus 2 Schwadronen des pommerschen Dragonerregiments Nr. 11 und aus der 5. leichten und 6. schweren Batterie des II. Armeecorps; im Ganzen 4000 Mann Infanterie, 260 Pferde und 12 Geschütze.

Garibaldi, als dessen Generalstabschef ein Nichtsoldat, Dr. Bordone, fungirte, hatte seine Vogesen-Armee in 5 Brigaden eingetheilt, die 1. unter Despeche, die 2. unter dem Italiener Lobbia, die 3. unter Menotti Garibaldi, die 4. unter Ricciotti Garibaldi, die 5. unter dem polnischen Grafen Bossak-Hauke, jede ungefähr 3000 Mann stark. Dazu kamen 5 schwache Escadrons Chasseurs à cheval, 3 Batterien à 6 Geschütze und eine Anzahl Franctireur-Corps, welche keinem Brigadeverbande angehörten: die Franctireurs de la mort, die Compagnie de la revanche, [111] des vengeurs etc. Außer diesen, Garibaldi unterstellten, aus Abenteurern aller Nationen, besonders Italienern, bestehenden Truppen, etwa 15,000 Mann, stand in Dijon die etwa 25,000 Mann starke Division Pelissier, französische Mobilgarden und mobilisirte Nationalgarden aus dem Süden, 20 Bataillone und Artillerie, außerdem Depot-Compagnien und Trains.

Dijon ist eine offene Stadt von circa 40,000 Einwohnern, deren mittelalterliche Wälle zu Promenaden eingeebnet sind. Auf der Westseite der Stadt treten kahle oder mit Weinbergen bedeckte Vorberge der Côtes d’or bis auf 5 Kilometer an die Stadt heran; noch näher, 11/2 Kilometer von den Vorstädten entfernt, liegen zu beiden Seiten der Straße St. Seine-Dijon 2 Bergkegel, welche sehr frappant an den Königstein und Lilienstein bei Dresden erinnern, jeder mit einem Kirchdorf gekrönt: Talant und Fontaine. Ein hügeliges Plateau ist die Gegend nach Norden und Osten zu, vollkommen flach das südliche Vorterrain der Stadt.

Die stärkste Front war die nordwestliche, wo die mit je 2 Belagerungsgeschützen aus Lyon armirten Bergkegel sturmfreie Forts bildeten; an diese schloß sich in großem Zuge, Bogen um Bogen, um die Stadt herum eine von durchbrochenen Weinbergsmauern, Schützengräben und Geschützeplacements gebildete Vertheidigungslinie an, welche, bis 3 Kilometer von den Vorstädten entfernt, die Dörfer Pouilly, St. Apollinaire und Quetigny zu Stutzpunkten hatte.

Nachdem General Kettler beim Heranmarsch von Montargis aus nach Dijon hin schon in Avallon auf Garibaldianer und Franctireurs gestoßen und auch in dem Städtchen St. Seine, etwa drei Meilen nordwestlich von Dijon, gezwungen war, gegen mörderische Angriffe von Privatpersonen aus dem Hinterhalt und ihren Wohnhäusern nach der vollen Schwere des Kriegsrechts vorzugehen, mußte er, trotz seiner geringen Streitmacht, seinen Gegner in Dijon selbst aufsuchen. Er brach am 21. Januar in aller Frühe von St. Seine auf, traf in Val Suzon auf den Feind, trieb ihn vor sich her und besetzte gegen 2 Uhr Nachmittags mit seiner linken Flügelcolonne die Höhen von Daix, etwa 4 Kilometer vor Dijon. Vergeblich versuchte die feindliche Infanterie, unterstützt durch ihre zahlreiche Artillerie auf dem Bergkegel von Talant, die Pommern aus dieser Stellung zu werfen.

Mit Ruhe und Kaltblütigkeit wurden alle Angriffe 3 Stunden hindurch abgewiesen. Ein weiteres Vorgehen deutscherseits hing jedoch von der Sicherung der rechten Flanke ab. Da, es war gegen 5 Uhr Nachmittags, erhielt General von Kettler die sehnsüchtig erwartete Meldung, daß seine rechte Flügelcolonne das in der Höhe von Daix gelegene Plombières mit stürmender Hand genommen, und nun hieß es noch einmal auf der ganzen Linie „vorwärts“! Und vorwärts ging es. Vor dem linken Flügel zerstob die italienische Brigade Menotti Garibaldi, das I. Bataillon 61 stieß bis in die Nähe von Fontaine vor, das II. Bataillon jagte den Feind zwischen den Höhen von Talant und Fontaine hindurch und stürmte die am Fuß des Bergkegels von Talant gelegenen Häuser.

Hier aber gebot die sinkende Nacht den Kämpfern ein gebieterisches Halt! Ein Halt nach schweren Verlusten! Elf Officiere und 184 Mann deckten todt und verwundet das Schlachtfeld. Unter ihnen, zum Tode verwundet, der Commandeur des I. Bataillons 61, Major Priebsch. Todt der Oberstabsarzt Dr. Born! In treuer Erfüllung seiner Pflicht bis in die vorderste Reihe der Kämpfenden den Verwundeten zu Hülfe eilend, hatte er sich, gänzlich erschöpft von der schweren Arbeit, auf einen Stein niedergesetzt, um neue Kräfte zu sammeln, als ein feindliches Geschoß ihm die Stirn durchbohrte und ihn lautlos niederstreckte zum ewigen Schlaf.

Auf dem eroberten Boden, gegenüber den starken, sturmfreien Positionen von Talant und Fontaine, bezogen die Bataillone nun im Schnee und aufgeweichten Lehmboden, jeder Erquickung nach forcirtem Marsch und blutigem Gefecht entbehrend, das Bivouac. Kein Holz, kein Stroh war vorhanden, nicht einmal Wasser zum Abkochen. Aber der Muth der Bataillone war nicht gebrochen. Während der ganzen Nacht beunruhigten Vorposten-Compagnien den Feind durch Patrouillen, und als Dijon noch im Schlafe lag, gegen Morgen, machte die 7. Compagnie noch einen Vorstoß, wobei sie bis zu dem Zollhause von Dijon vordrang und die Brigade Ricciotti Garibaldi in den Rücken faßte, sich schließlich aber zurückziehen mußte, als die Brigade Menotti in das Gefecht eingriff.

Trotz aller dieser Erfolge beschloß jetzt General von Kettler mit Rücksicht auf den ihm gewordenen Auftrag und die übergroße Erschöpfung der Truppen, von einem weiteren Angriff gegen die festen Positionen des Feindes zunächst abzustehen und den Rückzug auf die weiter hinten liegenden Ortschaften anzutreten. Zwar versuchte noch der Feind, als gegen 10 Uhr Morgens das Wetter sich aufhellte und die Bewegungen zu übersehen waren, namentlich die Räumung von Daix und Plombières, mit starken Colonnen den Rückzug der Deutschen zu stören; doch wurde er so entschlossen zurückgewiesen, daß er es vorzog, auf jegliche Offensivbewegungen zu verzichten.

Nur das zwischen Dijon und Darois in Changey Ferme vorläufig errichtete Feldlazareth fiel mit sämmtlichen Verwundeten, Aerzten und Dienern dem Feinde in die Hände, der, allerdings unter Verletzung der Genfer Convention, Alles nach Dijon transportiren ließ. Als Major Priebsch am nächsten Tage seinen Wunden erlag, wurde er mit militärischen Ehren bestattet, und Garibaldi, sein Sohn Menotti und seine Tochter folgten dem Sarge des deutschen Helden. Trotz alledem konnte es der alte Garibaldi, obwohl er allein an Gefangenen 7 Officiere und 431 Mann verloren hatte, nicht unterlassen, zur selben Zeit durch seine Tiradenposaune zu verkünden: „Ihr habt sie gesehen, die Fersen der furchtbaren Soldaten Wilhelm’s, Ihr, die jungen Soldaten der Freiheit! Ihr habt die kriegsgeübtesten Truppen der Welt besiegt.“

Am verhängnißvollen 23. Januar stand von Kettler mit seiner vereinten Schaar, die Front gen Süden gerichtet, zum Angriff auf Dijon abermals bereit. Als aber, erst um elf Uhr, der dichte Nebel sich verzog, zeigte die Sonne ihm die ganze Größe seiner Aufgabe. Garibaldi hatte, offenbar in dem Glauben, ein ganzes preußisches Armeecorps vor sich zu haben und aufzuhalten, Dijon in einer Weise befestigt, daß es gegen eine bedeutende Macht vertheidigt werden konnte.

Nichts destoweniger ging Kettler voll Muth und Entschlossenheit wiederum zum Angriffe über und gewann, an Chaussee und Eisenbahn Langres-Dijon vorgehend, langsam und stetig gegen Dijon an Terrain. Da, gegen 4 Uhr Nachmittags, erhielt das 2. Bataillon des 61. Regiments den Befehl zur Unterstützung des rechten Flügels des ersten Treffens vorzugehen. In Compagniecolonnen aufgelöst, nahm es, das erste Treffen rechts überflügelnd, seinen Weg anfänglich an der Westseite der Chaussee entlang, dann längs des Dammes der Eisenbahn Dijon-Langres und gelangte, den Feind überall zurückwerfend, weit über die allgemeine Feuerlinie hinaus, bis in die Nord-Vorstadt von Dijon. Hier angekommen, kam von der Eisenbahn her sowie aus den Vorstadthäusern ein so überlegenes, umfassendes Feuer, daß sich die 3 Compagnien des Bataillons (5., 6., 7.) zum augenblicklichen Schutze gegen dasselbe in einen dem Feinde eben abgenommenen Steinbruch warfen. Hauptsächlich kam das Feuer, wie jetzt bemerkt werden konnte, aus einem großen dreistöckigen, zur Vertheidigung eingerichteten Fabrikgebäude, etwa 150 Schritte entfernt, in der rechten Flanke, welches von circa 600 Garibaldianern und Mobilgarden mit Repetirgewehren vertheidigt wurde.

So lange dies Fabrikgebäude in der Hand des Feindes blieb, war an ein erneutes Vorgehen gar nicht zu denken. Es mußte also der Versuch gemacht werden, dasselbe im Sturme zu nehmen. Den Auftrag hierzu erhielt die 5. Compagnie.

Entschlossen, ohne Zögern, und mit kräftigem Hurrah brach dieselbe aus dem deckenden Steinbruche vor, der Fahnenträger Pionke mit dem hochgetragenen Feldzeichen Allen vorauf! In diesem Augenblicke eröffnen aber auch die Franzosen aus allen Fenstern und Schießscharten der Fabrik ein verheerendes Feuer auf die Stürmenden. Nur wenige Schritte und der Fahnenträger stürzt, von vielen Kugeln getroffen, zu Boden, noch im Tode die Fahne fest umklammernd. Rasch faßt jetzt Sergeant Breitenfeldt dieselbe. Doch war’s ihm nicht vergönnt, sie hoch zu heben. Ein schneller Tod rafft ihn und die ganze Fahnensection in wenig Augenblicken fort. Nun eilt Lieutenant Schulze herbei, reißt die Fahne unter den Leibern ihrer treuen Hüter hervor, und, hoch sie schwingend, trägt er sie der Compagnie vorauf, hinein in den Kugelregen. Auch er fällt, aus zwei Wunden entströmt sein junges Leben. Da erblickt die sinkende Fahne der Bataillonsadjutant, Lieutenant von Puttkamer, springt eilends, schon aus einer Kopfwunde blutend, vom Pferde, ergreift das Feldzeichen, und mit dem Rufe „Vorwärts!“ es hoch erhebend, führt er [112] die tapfere Compagnie unaufhaltsam vor. Der alte preußische Schlachtenruf „Vorwärts!“ war aber sein letztes Wort auf Erden. Dicht unter den Mauern der Fabrik, von vielen Kugeln getroffen, haucht der letzte Träger der Fahne des 2. Bataillons sein Leben aus. Wohl eilten noch der Tapferen Viele zur Rettung der Fahne herbei, doch gelang sie Keinem. Alle fielen. Eine Heldenschaar, im Tode erblaßt, hielt über dem gesunkenen Zeichen die Fahnenwacht.[1]

Die Vertheidiger
der einzigen 1871 verloren gegangenen deutschen Fahne.
Bronzegruppe von Aloys Löher.

Nur wenigen Resten der gänzlich aufgeriebenen Compagnie gelang es, nachdem alle Officiere gefallen, den deckenden Steinbruch wieder zu gewinnen. Als sie hier gewahr wurden, was [113] ihnen in Folge des dichten Pulverdampfes und der eingetretenen Dunkelheit wegen entgangen war, daß Keiner die Fahne wieder gebracht, gingen nach einander zwei Abtheilungen Freiwilliger vor, um die Fahne zu suchen. Vergeblich, sie Alle fanden den Tod bis auf Einen, der blutend und vom Feinde verfolgt unverrichteter Sache wiederkehrte.

Am nächsten Tage fanden französische Arbeiter, welche das Gefechtsfeld aufräumten, unter einem Leichenhügel, zerschossen, zerbrochen und mit Blut getränkt, die Fahne des 2. Bataillons.

Heute erhebt sich hier das Denkmal, welches das Regiment 61 seinen tapferen Cameraden errichtet hat.

Einzelne Theile der Fahne, wie die silbernen Quasten, sind später von französischen Arbeitern zurückgekauft und schmücken jetzt die neue von unserm Kaiser Wilhelm dem Bataillone verliehene Fahne. Wo die übrigen Stücke der alten Fahne hingekommen sind, hat trotz aller Nachforschungen nicht mit Sicherheit ermittelt werden können.[2]

Der oberste Kriegsherr würdigte die Heldenthat des von so schwerem Verlust betroffenen Bataillons in der gerechtesten Weise. An den General Manteuffel gelangte folgende in Homburg unterm 9. August 1871 erlassene Cabinets-Ordre, welche den besten Schluß unserer Erinnerung an dieses Ereigniß bildet:

„Aus den Mir vorgelegten Berichten habe Ich mit Genugthuung ersehen, daß das 2. Bataillon des 8. Pommerschen Infanterie-Regiments Nr. 61 am 23. Januar dieses Jahres, an welchem Tage dasselbe vor Dijon seine Fahne verlor, mit heldenmüthiger Tapferkeit gefochten hat und daß der Verlust der Fahne eines jener beklagenswerthen Ereignisse gewesen ist, die als das Resultat widriger Umstände Niemand zum besonderen Vorwurf gereichen. Die Fahne ist weder durch einen siegreichen Feind erobert, noch durch eine entmuthigte Truppe aufgegeben worden; ihre Stätte unter den Leichen ihrer tapferen Vertheidiger ist auf dem Schlachtfelde noch ein ehrendes Zeugniß gewesen für die Truppe, welcher sie vorangeweht hatte, bis die einbrechende Nacht sie den hütenden Blicken entzog. In Anerkennung der von dem 2. Bataillon des 8. Pommerschen Infanterie-Regiments Nr. 61 bewiesenen Tapferkeit, verleihe Ich demselben die beifolgende neue Fahne mit dem Bande der von Mir für den Feldzug 1870/71 gestifteten Denkmünze, an dessen einem Ende sich die wieder aufgefundene Quaste der Banderolle der alten Fahne befindet, und beauftrage Sie (General Manteuffel), dieselbe dem Bataillon in Meinem Namen feierlich übergeben zu lassen.
Wilhelm. 
  1. Der künstlerischen Verherrlichung dieses tragischen Augenblickes ist die von Aloys Löher modellirte Bronzegruppe geweiht, welche gegenwärtig im Saale des Casinos des 61. Infanterie-Regimentes in Thorn sich befindet. Auf der Gruppe, die unser obenstehender Holzschnitt wiedergiebt, sinkt Lieutenant von Puttkamer, die Fahne in der Hand, zusammen, Sergeant Breitenfeld, im Vorstürmen begriffen, stützt ihn mit dem linken Arme, während sein rechter Arm mit dem Säbel vorwärts weist. Zu ihren Füßen liegen links der Lieutenant Schulze todt, das Gesicht nach aufwärts gekehrt, daneben rechts, das Gesicht gegen den Boden gedrückt, Sergeant Pionke, den ein Schuß in die Stirn getödtet.
  2. Einer der damaligen Kampfgenossen, Herr Emil Totzeck, welcher durch eine zum Theil in poetischer Form ausgeführte Schilderung des Kampfes vor Dijon uns zu dem vorliegenden Artikel veranlaßte, theilt darin einen Brief von Menotti Garibaldi an den Commandeur des 61. Regiments mit, in welchem bedauert wird, daß man die aufgefundenen Fahnenreste nicht zurückgeben könne, weil man sie auf höheren Befehl nach Lyon habe absenden müssen.

Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.
Jeder Nachdruck verboten. 
I.

Ich habe in der That, theure Dame, die Denkwürdigkeiten meiner Zeit, in so fern meine eigne Person damit als Zuschauer oder als Opfer in Berührung kam, so wahrhaft und getreu als möglich aufzuzeichnen gesucht.

Diese Aufzeichnungen, denen ich selbstgefällig den Titel Memoiren verlieh, habe ich jedoch schier zur Hälfte wieder vernichten müssen, theils aus leidigen Familienrücksichten, theils auch wegen religiöser Skrupeln.

Ich habe mich zwar seitdem bemüht, die entstandenen Lakunen nothdürftig zu füllen, doch ich fürchte, postume Pflichten zwingen mich, meine Memoiren vor meinem Tode einem neuen Autodafé zu überliefern, und was alsdann die Flammen verschonen, wird vielleicht niemals das Tageslicht erblicken.

Ich nehme mich wohl in Acht, die Freunde zu nennen, die ich mit der Hut meines Manuskriptes und der Vollstreckung meines letzten Willens in Bezug auf dasselbe, betraue; ich will sie nicht nach meinem Ableben der Zudringlichkeit eines müßigen Publikums und dadurch einer Untreue an ihrem Mandate bloßstellen.

Eine solche Untreue habe ich nie entschuldigen können; es ist eine unerlaubte und unsittliche Handlung, auch nur eine Zeile von einem Schriftsteller zu veröffentlichen, die er nicht selber für das große Publikum bestimmt hat. Dieses gilt ganz besonders von Briefen, die an Privatpersonen gerichtet sind. Wer sie drucken läßt oder verlegt, macht sich einer Felonie schuldig, die Verachtung verdient.

Nach diesen Bekenntnissen, theure Dame, werden Sie leicht zur Einsicht gelangen, daß ich Ihnen nicht, wie Sie wünschen, die Lektüre meiner Memoiren und Briefschaften gewähren kann.

Jedoch, ein Höfling Ihrer Liebenswürdigkeit, wie ich es immer war, kann ich Ihnen kein Begehr unbedingt verweigern, und um meinen guten Willen zu bekunden, will ich in anderer Weise die holde Neugier stillen, die aus einer liebenden Theilnahme an meinen Schicksalen hervorgeht.

Ich habe die folgenden Blätter in dieser Absicht niedergeschrieben, und die biographischen Notizen, die für Sie ein Interesse haben, finden Sie hier in reichlicher Fülle. Alles Bedeutsame und Charaktristische ist hier treuherzig mitgetheilt, und die Wechselwirkung äußerer Begebenheiten und innerer Seelenereignisse offenbart Ihnen die Signatura meines Seyns und Wesens. Die Hülle fällt ab von der Seele, und du kannst sie betrachten in ihrer schönen Nacktheit. Da sind keine Flecken, nur Wunden. Ach! und nur Wunden, welche die Hand der Freunde, nicht die der Feinde geschlagen hat!

Die Nacht ist stumm. Nur draußen klatscht der Regen auf die Dächer und ächzet wehmüthig der Herbstwind.

Das arme Krankenzimmer ist in diesem Augenblick fast wohllustig heimlich und ich sitze schmerzlos im großen Sessel.

Da tritt Dein holdes Bild herein, ohne daß sich die Thürklinke bewegt, und Du lagerst dich auf das Kissen zu meinen Füßen. Lege Dein schönes Haupt auf meine Kniee und horche ohne aufzublicken.

Ich will dir das Märchen meines Lebens erzählen.

Wenn manchmal dicke Tropfen auf Dein Lockenhaupt fallen, so bleibe dennoch ruhig; es ist nicht der Regen, welcher durch das Dach sickert. Weine nicht und drücke mir nur schweigend die Hand.

*               *
*
Anmerkung des Herausgebers. Die „theure Dame“ dieses Eingangs der Memoiren ist vielleicht nur eines jener Phantasiegebilde, an welche Heine sich so oft in seinen Werken, nicht blos in seinen Gedichten, wendet. Vielleicht aber ist es auch eine der Frauengestalten, welche Heine auf seinem Krankenlager zuweilen durch

[114] ihre tröstende Gegenwart erfreuten, und zunächst wäre alsdann an die „Mouche“ zu denken, dieselbe räthselhafte Frau, welche vor einigen Wochen unter dem Namen „Camilla Selden“ (jedenfalls einem Pseudonym)[WS 1] ihre Erinnerungen an Heine’s letzte Lebenstage veröffentlicht hat. Da aber die „Mouche“ erst im October 1855 mit Heine bekannt geworden, so ist wegen des wahrscheinlich früheren Beginns dieser Memoiren mit Sicherheit auch hierüber nichts zu sagen.

Aus den ersten Worten des Manuscriptes ließe sich noch auf eine andere Freundin Heine’s schließen, nämlich auf die Prinzessin Christina Belgiojoso, eine um die jungitalienische Bewegung hochverdiente Frau, in deren Hause in Paris Heine in besseren Tagen als willkommener Gast häufig verkehrt hatte. Das Manuscript nämlich, welches jetzt lautet: „Ich habe in der That, theure Dame“ etc., weist die, wieder ausgestrichenen, Correcturen auf: statt „theure“ – „erlauch …“, und statt „Dame“ – „Seele“. An die „Mouche“ hätte Heine schwerlich die Feder zu einem „erlauchte“ angesetzt.
Die vorstehende Widmung ist foliirt von Seite 1 bis 5. Auf der Rückseite des ersten Blattes steht das Brouillon eines bisher noch nie gedruckten Gedichtanfangs; es ist ein erster Entwurf, der nur die flüchtigen Gedanken festhalten sollte und noch der Durcharbeitung im Einzelnen bedurft hätte. Correcturen finden sich darin, wie in Allem, was Heine geschrieben, außerordentlich viele. Die Strophen lauten:

„Manch kostbar edle Perle birgt
Der Ocean; manch schöne Blume
Küsst nie ein Menschenblick, nur stumme
Waldeinsamkeit schaut ihr Erröthen
Und trostlos in der Wildnißöde
Vergeudet sie die süßen Düfte.[1]

Wenngleich tobsüchtig dort der Wind
Die Fluten peitschet, daß sie heulen,
Und ihnen straks zu Hülfe eilen
Entsetzlich gähnend aus den Tiefen
Die Ungethüme, die dort schliefen – –“

Die weiter unten folgende Fortsetzung des Memoirenmanuscripts, beginnend mit den Worten: „Welch ein erhabenes Gefühl“ etc. fängt an auf S. 32. Es fehlen also in unserem Manuscripte die Blätter 6 bis 31. Was ist aus ihnen geworden? – Die Antwort lautet: Heine’s Bruder Maximilian (vor einigen Jahren gestorben) hat nach dem Tode des Dichters, bei einer Durchsicht des literarischen Nachlasses, gegen den Willen der Wittwe Heine’s den Anfang dieser Memoiren im Kaminfeuer verbrannt!
Verbrannt aus ähnlichen Beweggründen, aus denen Gustav Heine die ihm verpfändeten Memoiren verheimlicht, aus denen andere Verwandte Heine’s, so z. B. seine Nichte, die Prinzessin della Rocca, sich ängstlich bemühen, über Heine’sche Familienfragen die lächerlichsten Entstellungen zu verbreiten. Maximilian Heine und die übrige Verwandtschaft des großen Dichters hat es nämlich als einen Schimpf empfunden, daß er, sammt ihnen allen, aus einer verarmten jüdischen Familie herstammt! Das ist der sehr durchsichtige Grund dieser Geheimnißkrämerei und Unwahrhaftigkeit, welche sich in allen Handlungen und Schriften von Heine’s Verwandten mit Bezug auf ihren weltberühmten Blutgenossen offenbaren. Heinrich Heine hat sicher im Eingang seiner Lebensschilderung offen und ehrlich, wie es sich ziemte, über seine bescheidene Herkunft gesprochen;
er hat wahrscheinlich auch dem alten Märchen von der adeligen Herkunft seiner Mutter ein Ende gemacht. Heine’s Mutter war die Enkelin des reichen Juden Isaak in Düsseldorf, der von seinem früheren Wohnsitz in Holland van Geldern (nicht von Geldern) hieß. Sie selbst wie ihr Vater sind bis an ihr Ende Juden geblieben. Ganz dasselbe gilt von Heine’s väterlichem Großvater und Vater. Maximilian Heine hat in seinen viel mehr Dichtung als Wahrheit enthaltenden „Erinnerungen an Heinrich Heine“ (Berlin 1868) von einem seinem Großvater mütterlicherseits, Isaak van Geldern, verliehenen „Adelsbrief“ gefabelt; kein wahres Wort an der Sache, wie Strodtmann längst nachgewiesen. Dasselbe gilt von Moritz „von“ Embden, wie ihn Maximilian Heine nennt, dem Gatten der Schwester Heinrich Heine’s. Als Maximilian Heine die ersten 26 Blätter der Memoiren seines Bruders verbrannte, handelte er ganz in dem Geiste, von welchem Heine’s Verwandte fast durchweg beseelt sind.
Zur Erklärung des Anfangs des Folgenden noch kurz die Bemerkung, daß Heine auf den unmittelbar vorhergehenden Blättern wahrscheinlich von seiner Erziehung durch katholische Priester erzählt und vielleicht einen feierlichen Gottesdienst geschildert hat, um dann fortzufahren:

Welch ein erhabenes Gefühl muß einen solchen Kirchenfürsten beseelen, wenn er hinabblickt auf den wimmelnden Marktplatz, wo Tausende entblößten Hauptes vor ihm niederknieend seinen Seegen erwarten!

In der italienischen Reisebeschreibung des Hofraths Moritz las ich einst eine Beschreibung jener Scene, wo ein Umstand vorkam, der mir ebenfalls jetzt in den Sinn kommt.

Unter dem Landvolk, erzählt Moritz, das er dort auf den Knieen liegen sah, erregte seine besondere Aufmerksamkeit einer jener Rosenkranzhändler des Gebirges, die aus einer braunen Holzgattung die schönsten Rosenkränze schnitzen und sie in der ganzen Romagna um so theurer verkaufen, da sie denselben vom Pabste selbst die Weihe zu verschaffen wissen.

Mit der größten Andacht lag der Mann auf den Knieen, doch den breitkrämpigen Filzhut, worin seine Waare, die Rosenkränze, befindlich, hielt er in die Höhe, und während der Pabst mit ausgestreckten Händen den Segen sprach, rüttelte jener seinen Hut und rührte darin herum, wie Kastanienverkäufer zu thun pflegen, wenn sie ihre Kastanien auf dem Rost braten; gewissenhaft schien er dafür zu sorgen, daß die Rosenkränze, die unten im Hut lagen, auch etwas von dem päbstlichen Segen abbekämen und alle gleichmäßig geweiht würden.

Ich konnte nicht umhin, diesen rührenden Zug von frommer Naivetät hier einzuflechten, und ergreife wieder den Faden meiner Geständnisse, die alle auf den geistigen Prozeß Bezug haben, den ich später durchmachen mußte.

Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen.

Es ist gewiß bedeutsam, daß mir bereits in meinem dreizehnten Lebensjahr alle Systeme der freien Denker vorgetragen wurden und zwar durch einen ehrwürdigen Geistlichen, der seine sacerdotalen Amtspflichten nicht im Gringsten vernachlässigte, so daß ich hier frühe sah, wie ohne Heuchelei Religion und Zweifel ruhig nebeneinander gingen, woraus nicht bloß in mir der Unglauben sondern auch die toleranteste Gleichgültigkeit entstand.

Ort und Zeit sind auch wichtige Momente: ich bin geboren zu Ende des skeptischen achtzehnten Jahrhunderts und in einer Stadt, wo zur Zeit meiner Kindheit nicht bloß die Franzosen sondern auch der französische Geist herrschte.

Die Franzosen, die ich kennen lernte, machten mich, ich muß es gestehen, mit Büchern bekannt, die sehr unsauber und mir ein Vorurtheil gegen die ganze französische Literatur einflößten.

[115] Ich habe sie auch später nie so sehr geliebt, wie sie es verdient, und am ungerechtesten blieb ich gegen die französische Poesie, die mir von Jugend an fatal war.

Daran ist wohl zunächst der vermaledeite Abbé Daunoi Schuld, der im Lyzeum zu Düsseldorf die französische Sprache docirte und mich durchaus zwingen wollte französische Verse zu machen. Wenig fehlte, und er hätte mir nicht bloß die französische, sondern die Poesie überhaupt verleidet.

Der Abbé Daunoi, ein emigrirter Priester, war ein ältliches Männchen mit den beweglichsten Gesichtsmuskeln und mit einer braunen Perüque, die so oft er in Zorn gerieth eine sehr schiefe Stellung annahm.

Er hatte mehre französische Grammatiken sowie auch Chrestomatien, worin Auszüge deutscher und französischer Klassiker, zum Uebersetzen, für seine verschiedenen Klassen geschrieben; für die oberste veröffentlichte er auch eine Art oratoire und eine Art poëtique, zwey Büchlein, wovon das erstere Beredsamkeitsrezepte aus Quintilian enthielt, angewendet auf Beispiele von Predigten Fléchiers, Massillons, Bourdaloues und Bossuets, welche mich nicht allzu sehr langweilten. –

Aber gar das andre Buch, das die Definizionen von der Poesie, l'art de peindre par les images, den faden Abhub der alten Schule von Batteux, auch die französische Prosodie und überhaupt die ganze Metrik der Franzosen enthielt, welch ein schrecklicher Alp!

Ich kenne auch jetzt nichts abgeschmackteres als das metrische System der französischen Poesie, dieser art de peindre par les images, wie die Franzosen dieselbe definiren, welcher verkehrte Begriff vielleicht dazu beiträgt, daß sie immer in die malerische Paraphrase gerathen.

Ihre Metrik hat gewiß Prokrustes erfunden; sie ist eine wahre Zwangsjacke für Gedanken, die bei ihrer Zahmheit gewiß nicht einer solchen bedürfen. Daß die Schönheit eines Gedichtes in der Ueberwindung der metrischen Schwierigkeiten bestehe, ist ein lächerlicher Grundsatz, derselben närrischen Quelle entsprungen. Der französische Hexameter, dieses gereimte Rülpsen, ist mir wahrhaft ein Abscheu. Die Franzosen haben diese widrige Unnatur, die weit sündhafter als die Greuel von Sodom und Gomorrha, immer selbst gefühlt, und ihre guten Schauspieler sind darauf angewiesen, die Verse so saccadirt[2] zu sprechen, als wären sie Prosa – warum aber alsdann die überflüssige Mühe der Versifikazion?

So denk ich jetzt und so fühlt ich schon als Knabe, und man kann sich leicht vorstellen, daß es zwischen mir und der alten braunen Perüque zu offnen Feindseligkeiten kommen mußte, als ich ihm erklärte, wie es mir rein unmöglich sey französische Verse zu machen. Er sprach mir allen Sinn für Poesie ab, und nannte mich einen Barbaren des teutoburger Waldes.

Ich denke noch mit Entsetzen daran, daß ich aus der Chrestomatie des Professors die Anrede des Kaiphas an den Sanhedrin aus den Hexametern der Klopstockschen Messiade in französische Alexandriner übersetzen sollte! Es war ein Raffinement von Grausamkeit. Gott verzeih, ich verwünschte die Welt und die fremden Unterdrücker, die uns ihre Metrik aufbürden wollten, und ich war nahe dran ein Franzosenfresser zu werden.[WS 2]

Ich hätte für Frankreich sterben können, aber französische Verse machen – nimmermehr!

Durch den Rektor und meine Mutter wurde der Zwist beigelegt. Letztere war überhaupt nicht damit zufrieden, daß ich Verse machen lernte und seyen es auch nur französische. Sie hatte nemlich damals die größte Angst, daß ich ein Dichter werden möchte; das wäre das Schlimmste, sagte sie immer, was mir passiren könne.

Die Begriffe, die man damals mit dem Namen Dichter verknüpfte, waren nemlich nicht sehr ehrenhaft, und ein Poet war ein zerlumpter armer Teufel, der für ein paar Thaler ein Gelegenheitsgedicht verfertigt und am Ende im Hospital stirbt.

In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks.

Meine Mutter aber hatte große hochfliegende Dinge mit mir im Sinn, und alle ihre Erziehungspläne zielten darauf hin. Sie spielte die Hauptrolle in meiner Entwicklungsgeschichte, sie machte die Programme aller meiner Studien, und schon vor meiner Geburt begannen ihre Erziehungspläne. Ich folgte gehorsam ihren ausgesprochenen Wünschen, jedoch gestehe ich, daß sie Schuld war an der Unfruchtbarkeit meiner meisten Versuche und Bestrebungen in bürgerlichen Stellen, da dieselben niemals meinem Naturell entsprachen.

Zuerst war es die Pracht des Kaiserreichs, die meine Mutter blendete, und da die Tochter eines Eisenfabrikanten unserer Gegend, die mit meiner Mutter sehr befreundet war, eine Herzogin geworden[WS 3] und ihr gemeldet hatte, daß ihr Mann sehr viele Schlachten gewonnen und bald auch zum König avanziren würde, – ach da träumte meine Mutter für mich die goldensten Epauletten oder die brodirsten Ehrenchargen am Hofe des Kaisers, dessen Dienst sie mich ganz zu widmen beabsichtigte.

Deshalb mußte ich jetzt vorzugsweise diejenigen Studien treiben, die einer solchen Laufbahn förderlich, und obgleich im Lyceum schon hinlänglich für mathematische Wissenschaften gesorgt war, und ich bei dem liebenswürdigen Professor Brewer vollauf mit Geometrie, Statik, Hydrostatik, Hydraulik und so weiter gefüttert ward und in Logarithmen und Algebra schwamm, so mußte ich doch noch Privatunterricht in dergleichen Disziplinen nehmen, die mich in Stande setzen sollten, ein großer Strategetiker oder nöthigenfalls der Administrator von eroberten Provinzen zu werden.

Mit dem Fall des Kaiserreichs mußte auch meine Mutter der prachtvollen Laufbahn, die sie für mich geträumt, entsagen; die dahin zielenden Studien nahmen ein Ende und sonderbar! sie ließen auch keine Spur in meinem Geiste zurück, so sehr waren sie demselben fremd. Es war nur eine mechanische Errungenschaft, die ich von mir warf als unnützen Plunder.

Meine Mutter begann jetzt in anderer Richtung eine glänzende Zukunft für mich zu träumen.

Das Rothschildsche Haus, mit dessen Chef mein Vater vertraut war, hatte zu jener Zeit seinen fabelhaften Flor bereits begonnen; auch andere Fürsten der Bank und der Industrie hatten in unserer Nähe sich erhoben und meine Mutter behauptete, es habe jetzt die Stunde geschlagen, wo ein bedeutender Kopf im merkantilischen Fache das Ungeheurlichste erreichen und sich zum höchsten Gipfel der Macht emporschwingen könne. Sie beschloß daher jetzt, daß ich eine Geldmacht werden sollte, und jetzt mußte ich fremde Sprachen, besonders Englisch, Geographie, Buchhalten, kurz alle auf den Land- und Seehandel und Gewerbskunde bezügliche Wissenschaften studiren.

Um etwas vom Wechselgeschäft und von Kolonialwaaren kennen zu lernen, mußte ich später das Komptoir eines Banquiers meines Vaters und die Gewölbe eines großen Spezereyhändlers besuchen; erstere Besuche dauerten höchstens drei Wochen, letztere vier Wochen, doch ich lernte bei dieser Gelegenheit, wie man einen Wechsel ausstellt und wie Muskatnüsse aussehen.

Ein berühmter Kaufmann, bei welchem ich ein apprenti millionnaire[3] werden wollte, meinte, ich hätte kein Talent zum [116] Erwerb, und lachend gestand ich ihm, daß er wohl Recht haben möchte.

Da bald darauf eine große Handelskrisis entstand und wie viele unserer Freunde auch mein Vater sein Vermögen verlor, da platzte die merkantilische Seifenblase noch schneller und kläglicher als die imperiale, und meine Mutter mußte wohl eine andre Laufbahn für mich träumen.

Sie meinte jetzt, ich müsse durchaus Jurisprudenz studiren.

Sie hatte nemlich bemerkt, wie längst in England, aber auch in Frankreich und im konstituzionellen Deutschland, der Juristenstand allmächtig sei, und besonders die Advokaten, durch die Gewohnheit des öffentlichen Vortrags die schwatzenden Hauptrollen spielen und dadurch zu den höchsten Staatsämtern gelangen.

Da eben die neue Universität Bonn errichtet worden, wo die juristische Fakultät von den berühmtesten Professoren besetzt war, schickte mich meine Mutter unverzüglich nach Bonn, wo ich bald zu den Füßen Makeldeys und Welkers saß und die Manna ihres Wissens einschlürfte.

Von den sieben Jahren, die ich auf deutschen Universitäten zubrachte, vergeudete ich drei schöne blühende Lebensjahre durch das Studium der römischen Kasuistik.

Welch ein fürchterliches Buch ist das Korpus Juris, die Bibel des Egoismus!

Wie die Römer selbst blieb mir immer verhaßt ihr Rechtskodex. Diese Räuber wollten ihren Raub sicher stellen und was sie mit dem Schwerte erbeutet, suchten sie durch Gesetze zu schützen; deshalb war der Römer zu gleicher Zeit Soldat und Advokat. Wahrhaftig jenen römischen Dieben verdanken wir das gepriesene römische Recht, welches im grellsten Widerspruch mit der Religion, der Moral, dem Menschengefühl und der Vernunft steht.[WS 4]

Ich brachte jene ……[WS 5] Studien zu Ende, aber ich konnte mich nimmer entschließen von solcher Errungenschaft Gebrauch zu machen, und vielleicht auch weil ich fühlte, daß Andere mich in der Advokasserie und Rabulisterey leicht überflügeln würden, hing ich meinen juristischen Doktorhut an den Nagel.

Meine Mutter machte eine noch ernstere Miene als gewöhnlich. Aber ich war ein sehr erwachsener Mensch geworden, der in dem Alter stand, wo er der mütterlichen Obhut entbehren muß.

Die gute Frau war ebenfalls älter geworden und indem sie nach so manchem Fiasko die Oberleitung meines Lebens aufgab, bereut sie, wie wir oben gesehen,[4] daß sie mich nicht dem geistlichen Stande gewidmet.

Fortsetzung folgt.
  1. Dies variirt eine andere Strophe:
    „Wohl manche edle Perle birgt
    Der Ocean in dunkler Thruhe,
    Wohl manche Blume in der Wildniß
    Erröthet ungesehn, die süßen Düfte
    Vergeudend an die stumme Oede.“
  2. zerhackt; abgerissen.
  3. Millionärlehrling.
  4. Die betreffende Stelle muß in den von Maximilian Heine vernichteten Blättern sich befunden haben.

Des Sängers Werbung.

Von Anton Ohorn.

Um die bunten Scheiben webet
Mailicht, dämmernd süß und bang,
Durch die Kemenate bebet
Lautenschlag und Minnesang.

5
Und die Maid mit holdem Zagen

Blickt zum Sänger still empor,
Wonnig wie aus alten Sagen
Tönt sein Lied ihr an das Ohr:

„Meines Schlosses lichte Wände

10
Spiegeln freundlich sich im Rhein

Und aus grünem Rebgelände
Schaut es weit in’s Land hinein.
Diener hab’ ich und Vasallen,
In den Truhen edles Erz,

15
Säulenstolze, hohe Hallen

Und ein krankes, wundes Herz.

Aus den Ahnenbildern schauen
Ihres Stammes letzten Mann
Bange Augen schöner Frauen

20
Vorwurfsvoll und fragend an;

Daß ich nicht mehr einsam weile
Bei des Lenzes Hochzeitslust,
So erhör’ mein Flehen, heile
Meine sehnsuchtskranke Brust!“

25
Mit dem letzten Ton der Laute

Schweigt des blonden Knaben Mund;
Enger schmiegt sich an die Traute
Kosend der getreue Hund;
Nach dem schönen Sänger wendet

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Innig sie das Aug’ empor,

Und ein ganzer Himmel sendet
Seine Strahlen draus hervor.

„Nicht dein Schloß am grünen Rheine
Lockt mich, nicht dein edles Erz,

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Nicht Gelände, reich an Weine,

Mich erbarmt dein wundes Herz.
Küssen will ich manche Stunde
Deinen Liedermund so warm,
Daß dein krankes Herz gesunde

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In der Liebe weichem Arm.“

[117]

Des Sängers Werbung.
Nach dem Oelgemälde von Karl Gebhardt.

[118]

Dschapei.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


„Grüß’ Gott, Sennerin!“ ertönte eine weiche, freundliche Stimme.

„Grüß’ Gott auch!“

Ja – das – das war Nannei!

„Han, Sennerin – suchst ’was?“

„O mein Gott – ja! Mein Dschapei geht mir ab – mein Lamperl, so a liebs Viecherl. Mein’ ganze Freud’ hab’ ich dran g’habt – und jetzt kann ich’s nimmer derfinden.“

„Aber Deandl! Was weinst denn jetzt gar a so! Schau – das hat sich halt verlaufen – oder is wo ’neing’stiegen und traut sich nimmer ’raus – das wird sich doch wieder finden lassen! Und weißt – wann nix dagegen hättst – nachher thät’ ich Dir ganz gern suchen helfen.“

„Ja – ja! Bist a recht a guter Mensch – Du! Wer bist denn? Han? A Jaager – gelt?“

„Ja – Jagdg’hilf in der Ramsau – und seit gestern auf d’ Nacht bin ich da ’rauf ’kommen am Trischübl. Weißt – – No, no, Bella! Was hast denn? Sei doch z’frieden! – – Ja, weißt, der alte G’hilf’, der is jetzt pansaniert worden, der zieht nach Bertlsgaden ’nein – und drum habe ich vom Schüttaipl, wo ich bis jetzt mein’ Bezirk g’habt hab’, weg müssen und daher. Aber wie heißt denn, Deandl – han?“

„Nannei.“

„Nannei? So hat mein Mutterl auch g’heißen.“

„Hat’s g’heißen? Lebt’s ’leicht nimmer?“

„Na! Im letzten Fruhjahr is g’storben – unser Herrgott hab’s selig.“

„Ah geh –“

„Ja –“

„Und wie heißt denn nachher Du?“

„Hindammer Festei[1].“

„Festei? Das is aber a seltner Nam’ – aber – a schöner Nam’ – ja – Festei – Festei –“

„Jetzt schau nur g’rad, was mein’ Bella hat! Die zieht an wie auf der Schweißfährten! No – so lauf’ halt a bißl zu, Du Dapperl[2] Du! Wirst es gleich sehen, daß nix da is. – Also jetzt sag’, Nannei – wo hast denn schon überall g’sucht?“

„Gestern am Abend hab’ ich ’naufzu am Tabakmandl g’sucht, wo ’s allweil gar viel gern droben g’wesen is, und –“

„He, Bella – he – was hast denn? – was schaust denn jetzt da? – da drunten is nix –“

Und das Dschapei, welches nur unter schmerzender Mühe das eine Auge nach der Höhe richten konnte, sah am Rande der Schlucht ein Gesicht erscheinen und jählings wieder verschwinden.

„Jesses! Nannei! Da drunten liegt Dein Lampl!“

„Heilige Muttergottes!“ klang Nannei’s lautschluchzende Stimme entgegen, und ihr Antlitz neigte sich hernieder über den Felsrand. „Dschapei! Mein arm’s Viecherl! Dschapei! Dschapei!“ Und Nannei’s Kopf verschwand – „ich hab’s gesehen – es lebt noch – g’rührt hat sich’s – g’rührt!“

„So komm’, Deandl, komm’ – von da aus können wir net ’nunter – wir müssen unten ’rum.“

„O mein Gott – o mein Gott – arm’s Dschapei!“

Die Stimmen der Beiden verklangen unter ihren enteilenden Schritten und wurden nach einer kurzen Weile wieder vernehmbar von einer tiefer gelegenen Stelle her, an welcher ein Abstieg leichter zu bewirken war.

Mit ungeduldigem Winseln hüpfte auch schon der Teckel über die Steinabsätze hernieder, eilte in langen Sprüngen auf das Dschapei zu, stutzte, beäugte das Thier mit witternd vorgestreckter Nase und ließ dann ein lautes Geheul vernehmen. Nun umkreiste er ein paarmal das Lamm, näherte sich langsam dem Kopfe desselben und beleckte ihm schüchtern den Backen und die Kehle.

Indessen war Festei dem Mädchen beim Niedersteigen behülflich gewesen; er hatte, um sich selbst diese Mühe zu erleichtern, Büchse und Bergstock am Rande der Schlucht zurückgelassen.

„O mein Gott – o mein Gott – arm’s Dschapei! Ja was hast denn g’macht – was hast mir denn ang’stellt!“ rief Nannei unter Schluchzen, indem sie sich niederließ auf das Geröll, und achtsam hob sie mit beiden Händen den Kopf des Lammes in ihren Schooß.

Festei kniete an ihrer Seite auf den steinigen Grund, und während der Mund des Mädchens überfloß von jammernden, mitleidsvollen und schmeichelnden Worten, untersuchte er die Glieder des gestürzten Thieres. Die Wunde am Rücken erkannte er sofort für den Fangriß eines Adlers, und darauf gründete er die Vermuthung, als wäre das Dschapei entweder von dem gefiederten Räuber da herunter gestoßen worden, oder selbst in die Tiefe gestürzt, sei es in unbedachter Flucht, sei es in einem Taumel, welcher das Thier bei dem starken Blutverluste überkam.

Als Festei die Füße des Lammes einer genaueren Besichtigung unterzog, nahm sein Antlitz eine recht bedauernde Miene an.

„O mein, Deandl,“ sagte er zögernd, „da schaut’s schlecht aus! Das bißl da am Buckel, das machet noch lang nix – aber – die Füß’, die Füß’ – mein Gott, wie schau’n die aus! Da – der eine is völlig ’brochen, g’rad ober’m Knie – den ganzen Huf hat’s versprengt – und am andern Fuß is d’Schulter aus’prellt – und wie is Alles verschwollen! O mein, Deandl – da wird nimmer viel z’helfen sein – da wird wohl nix Bessers bleiben, als – als –“ Er brachte das Wort, das er sagen wollte, gar nicht hervor, da er in Nannei’s bekümmertes Antlitz sah, auf dem die dicken Thränen unablässig über die gerötheten Wangen rannen.

„Mein Gott, mein Gott – mein’ ganze Freud’ is das Thierl g’wesen – mein’ ganze Freud’ –“

„Ja – weißt ’was – probiren wir’s!“ sagte Festei nach einer Weile. „Ich hab’ meiner Bella amal an Fuß eing’richt’, und is wieder ganz gut worden! Mein – probiren kost’ ja nix! Probiren wir’s halt!“

„Ja – ja!“

„So komm’, Deandl, komm’, steh auf! Ich nimm jetzt nachher ’s Lampl und trag’s ’nunter in d’Hütten.“

Nannei erhob sich, mit den Händen die Augen wischend, und schaute zu, wie Festei das Lamm, welches Alles willig mit sich geschehen ließ, auf seine beiden Arme hob. Und als der Jäger den ersten Schritt dem Aufstieg entgegenthat, ging das Mädchen voraus, während der Teckel freudig bellend an die Kniee seines Herrn emporsprang.

„Steig’ nur zu, Nannei – steige nur zu!“ sagte Festei, als das Mädchen vor den aufwärts führenden Steinen Halt machte.

[119] Nannei blickte erröthend zu Boden. „Steige Du voraus!“ bat sie mit schüchterner Stimme.

Da huschte auch über Festei’s Wangen ein leichtes Roth, und abgewandten Gesichtes schritt er an dem Mädchen vorüber, um den steilen, unbequemen Pfad emporzusteigen, achtsam seine Last vor jedem Stoße bewahrend.

Nannei folgte ihm auf dem Fuße – und als sie Beide droben am Rande der Schlucht wieder Seite an Seite standen, sagte der Jäger:

„Geh, Deandl, sei so gut und hebe mir mein Gewehr auf und häng’ mir’s um d’Achsel ’rum!“

„Na, na, Festei, das trage ich Dir schon – und Dein’ Bergstock auch. Geh nur, geh nur zu, Festei!“

So schritt er voran, das Mädchen hinter ihm her, die Büchse des Jägers auf dem Rücken, seinen Bergstock über die Schulter geschlagen.




5.

Das war in den nächsten Stunden ein Hasten und Sorgen in Nannei’s Hütte!

Festei war nach dem Jägerhäuschen hinauf geeilt und hatte ein Schächtelchen mit Harzsalbe herbei gebracht, sowie ein Päckchen altes, mürbes Linnenzeug, das er sich zum Gewehrputzen mit auf den Berg genommen. Indessen hatte Nanner ihrem Liebling zur Seite des Herdes aus weichem Heu ein Lager aufgeschüttet und noch dazu ihre eigene Wollendecke darüber gebreitet. Auch hatte sie ein Feuer angeschürt und ein Geschirr mit Milch hinzugesetzt.

Nun begann die Cur.

Festei rieb dem Dschapei für’s Erste die Nüstern mit Enzian und flößte ihm einen Trunk frischen Wassers ein, der das Thier sichtlich erquickte. Dann kauerten sie sich alle beide, der Jäger und das Mädchen, vor das Lager des Patienten – und während Festei dem Dschapei an den verletzten Stellen das Fell schor und die mit lauer Milch gereinigten Wunden theils vernähte, theils nur verpflasterte, mußte Nannei den gebrochenen Fuß, den zersprengten Huf und die geprellte Schulter mit kaltem Wasser behandeln, damit sich die Geschwulst um ein weniges legen möchte. Als Festei mit seiner ersten Aufgabe zu Ende war, hieß er Nannei eifrig in ihren Bemühungen fortfahren. Er schnitt nun aus einem kliebigen Spaltholzscheite dünne, biegsame Schindeln, die er mit einem scharfkantigen Glasscherben glättete. Dann stach er aus dem geschlagenen Lehmboden der Hütte mit seinem Waidmesser zwei große Brocken heraus, zerbröselte sie und verrührte den so gewonnenen Lehmsand mit Wasser zu einem dicken Brei, in den er zerriebene Heusplitter und kurzgefaserte Linnenfäden mischte.

„Was ich fragen will, Nannei – hast denn an Spagat, oder sonst ’was zum Binden?“

„Ja, Festei – geh nur ’nein in mein Schlafkammerl; unterm Kreister steht a Schachtel, da is a Wuckerl[3] Strickgarn drin und a paar Böpperln[4] ganz a dicker Zwirn.“

Festei suchte das gewünschte Bindematerial hervor und trug dann alles Zubereitete vor das Lager des Patienten.

„So, jetzt laß’ nur gut sein, Nannei,“ sagte er, auf die Kniee sich niedersenkend, „jetzt mußt Du’s halten, ’s Lamperl, derweil ich den Fuß einrichte. Und wann siehst, daß ihm die G’schicht weh thut, nachher mußt net gleich auseinander sein – weißt – es geht halt net anders – ich muß ihm a bißl weh thun, wann ich ihm helfen will.“

„Ich will mich schon z’samm’ nehmen, Festei – ja – g’wiß,“ betheuerte Nannei und folgte den Anordnungen, die ihr der Jäger nun gab.

„Hast es fest?“

„Ja, Festei, ja!“

„No also –“ murmelte der Jäger zu einem schweren Seufzer, faßte mit der einen Hand die Schulter, mit der anderen das Kniegelenk des gebrochenen Fußes und fing gemach, doch kräftig zu ziehen an.

„Soooodala!“ sagte er, als der Knochen mit hörbarem Knack in die Bruchstelle klappte, und mit fröhlichen Blicken nickte er dem Mädchen zu, dem die Thränen in den Augen standen.

Das Dschapei hatte sich bei dieser Procedur unerwartet tapfer gehalten, kaum daß es den Hals ein wenig gereckt und ein bischen mit den unverletzten Füßen gerappelt hatte. Ob es wohl begriff, daß alles, was um sein Lager her vorging, zu seiner Rettung und Heilung geschah?

Nun wurde der eingerichtete Fuß geschindelt, mit dem Lehmbrei dick verstrichen, mit Linnenstreifen vielfach umwunden und schließlich fest mit doppeltgenommenem Garn verknüpft. Dann kam die Reihe an den zersprengten Huf. Die Splitter wurden ausgelöst, die Wunde wurde gewaschen, verpflastert und mit weichem Verbande umgeben. Auch mit der ausgerenkten Schulter des anderen Fußes kam Festei bald zurecht. Er drückte und schob und zog und rückte, bis das Gelenk sich wieder richtig bewegen ließ. Ein Verband war hier nicht nöthig, nur eine Fortsetzung der Kaltwasser-Behandlung. Nach alledem wurden dem Dschapei noch die Hinterfüße gefesselt, um es zu ruhigem Liegenbleiben zu zwingen.

„So – weiter können wir zwei nix mehr helfen – jetzt muß sich alles andere von selber machen,“ sagte Festei, sich erhebend. Er warf einen raschen Blick auf die plumpe, silberne Uhr, die er aus einem kleinen Täschchen des Hosengurtes hervorzog. „Sapperlot – halb zehne schon! No also – jetzt paß auf, Nannei! Jetzt laßt Du ’s Lamperl a halbe Stund’ so liegen, damit ’s a bißl verschnaufen kann – nachher giebst ihm a laaflete[5] Milli und ’leicht a g’weicht’s Brod – aber ja net z’viel – und wenn’s das nimmt, nachher giebst ihm am Nachmittag a recht a schöns Gras – gelt?“

„Ja – schon – aber –“ sagte Nannei, mit traulichen Augen zu dem Gesichte des Jägers aufblickend, „gehst denn jetzt fort?“

„Ja freilich, Deandl, ich muß ja mein’ Grenzgang machen. Weißt – im Dienst – da därf ich nix versaumen.“

„Na, na – um Gotteswillen net! Das möcht’ ich selber net haben,“ eiferte Nannei. „Aber – ich hab’ nur g’rad g’meint, ob net ’was essen möchst. Hast Dich doch so viel ’plagt!“

„Es is net so arg, Nannei – und was g’schehen is, das is gern g’schehn. Aber jetzt kann ich nimmer bleiben – am Abend ’leicht, da wann mich einladst, da – ja! Und somit b’hüt’ Dich Gott, Deandl – und – wann dem armen Viecherl da wieder besser wird, g’wiß, das sollt’ mich freuen, weil gar so dran hängst. B’hüt’ Dich Gott also, b’hüt’ Gott!“

Nannei fand kein Wort der Erwiderung; stumm nur reichte sie dem Jäger die Hand entgegen.

Mit kräftigem Drucke umspannte Festei diese Finger, tauchte zu einem langen Blicke sein Auge in das ihre, und mit einem nochmaligen, leisen „Gott b’hüt’ Dich, Deandl!“ wandte er sich ab und verließ mit hastigen Schritten die Hütte.

Ihm langsam folgend, trat Nannei unter die Thür und schaute ihm nach, bis eine Senkung des Weges seine schlanke Gestalt verdeckte.

Eine Weile blieb sie noch sinnend stehen, dann strich sie die kleinen Zaushärchen aus der Stirn und ging an ihre Arbeit – und merkwürdig! Sie hatte doch bis zum Abend über Hals und Kopf zu thun, nachdem sie den Morgen und den halben Vormittag versäumt, und dazu nahm ihr noch die Speisung und Pflege des Dschapei viele, viele Minuten weg – es hätte ihr also wohl die Zeit wie im Fluge vergehen sollen! Und dennoch ward ihr der Tag so unerträglich lang, so lang, wie kein Tag noch auf den Bergen ihr geworden war.

Wie dann der Abend näher und näher rückte, überkam sie ein seltsames Gefühl von Unruhe und Bangigkeit, und es wollte ihr keine Mühe mehr schicklich und recht von der Hand gehen. Ein und das andere Mal mußte sie in der Arbeit inne halten, mußte sich die Stirn und die glühenden Wangen streichen und die beiden Hände auf den jungen, schwellenden Busen pressen.

Nannei meinte, das wäre Angst – Angst, daß Festei sie schelten möchte, da sie ja so leicht wohl irgend etwas in der Pflege des Dschapei versäumt oder versehen haben könnte.

Während sie noch darüber nachsann, in wieweit ihre Verrichtungen mit Festei’s Rathschlägen übereinstimmten, ließ sie plötzlich das glücklicher Weise schon geleerte blecherne Milchgefäß, das sie just in die Kammer tragen wollte, mit leisem Schrei zu Boden fallen und eilte fliegenden Schrittes der Hüttenthür zu.

Das war ein Juhschrei gewesen – und nun klang es von Neuem über die Höhe des Berges hernieder, erst in einem langgezogenen, [120] hohen Discanttone, dann in gewissen Intervallen sinkend und verschwebend:

„Juuuuh – huhu – huh!“

Da stemmte Nannei die Arme in die Hüften, hob sich auf die Fußspitzen und schmetterte einen jauchzenden Jodler hinaus in die dämmernde Luft.

Mit langen Sätzen kam der Teckel einhergesprungen, hüpfte freudig bellend an Nannei’s Schürze empor und gab nicht eher Ruhe, bis sich das Mädchen zu ihm niederbückte und ihm liebkosend den Rücken streichelte.

„Du wirst meine Bella noch schön verhätscheln,“ sagte Festei, als er näher kam.

„Na, na!“ lachte Nannei und schlug in die dargereichte Hand des Jägers ein. „Aber sag’, wie hat’s Dir denn ’gangen den ganzen Tag?“

„Gut, gut! Dank’ Dir schön! Und schau – da hab’ ich Dir ’was mit’bracht – ’s erste, das ich heuer gefunden hab’ –“ Er nahm den Hut vom Kopfe, löste aus der grünen Schnur ein kleines Edelweiß und bot es dem Mädchen hin, „’s erste, Nannei – ’s erste – und das bringt Glück – so sagen d’Leut’.“

„Ja – und das muß wahr sein – ich g’spür’s völlig in mir – so a Freud’ hab’ ich!“ sagte Nannei, während sie die Blume in Empfang nahm und sorgsam in ihr Mieder steckte. „Han? Wo hast es denn ’brockt?“

„Droben über der Sigerethwand.“

„Jesses na!“ fuhr das Mädchen erblassend auf. „Is Dir doch nix passirt dabei?“

„Ah na – wie soll mir denn da ’was passiren?“

„Gott sei Dank! Aber weißt – d’Sigerethwand – den Nam’ wann ich hör’ – weißt – da giebt’s mir allweil an Stich. Ja – denk’ Dir, Festei – da is mein arms Vaterl abg’fallen, wie er bei ei’m Gamsjagen an Treiber g’macht hat – ja!“

Mit theilnahmsvollen Augen schaute Festei in das bekümmerte Gesicht des Mädchens. Dann frug er leise: „Gelt – Dein Vater is der Basler-Muckei g’wesen?“

Nannei nickte, und nach einer kurzen Pause fuhr der Jäger fort: „Ja, ja – ich habe schon öfters reden hören davon. Aber komm’, Nannei, komm’ – jetzt müssen wir nach Dei’m Dschapei schauen. Was macht’s denn – han? Hat’s genommen, was ihm ’geben hast? Hat sich’s brav g’halten – schön stad, mein’ ich?“

„Aaah – der is gut – der is amal gut! So ein’ hab’ ich freilich noch nie net ’gessen!“

Wie der Jäger bei diesen Worten dem Innern der Hütte zuschritt, ging Nannei an seiner Seite her und erstattete mit übereifrigem Wortschwalle den gewünschten Bericht. Ein um das andere Mal nickte Festei befriedigt mit dem Kopfe – und wie er vor dem Dschapei kniete und dessen Pflaster und Verbände einer genauen Besichtigung unterzogen hatte, schaute er freundlich lächelnd zu Nannei empor.

„Gar net schlecht steht’s, Deandl – gar net schlecht! Ich mein’ allweil, Dein Lampl wird wieder – ja, ja! ’s wär’ aber auch kein Wunder – bei so einer Pfleg’, da müßt’ ja a Maustodter wieder kreuzg’sund werden!“

Nannei’s Antlitz strahlte förmlich, als sie diese Worte vernahm. Erstens einmal schon wegen ihres Dschapei – und dann – so meinte sie jetzt – dann hatte sie ja doch wohl Recht gehabt, wenn sie das seltsame Gefühl, von dem sie tagsüber verfolgt worden war, als die Angst erklärte, von Festei gescholten zu werden. Der Beweis war ja da: er hatte sie belobt – und alle Unruhe und Bangigkeit war nun dahin, und der helle Frohmuth lachte in ihrem Herzen.

„Aber jetzt setz’ Dich nur g’rad amal nieder, Festei,“ hastete sie von den Lippen, indeß sie dem Jäger eine Bank am Herde zurecht rückte, „da – komm’ – da setz’ Dich her! So – und jetzt koche ich Dir an Schmarren – Du, da pass’ auf – so an guten hast noch gar niemals net ’gessen!“ Und sie stand schon am Herde, Pfanne und Löffel in Händen.

„Ja, Deandl – ja – der wird mir schmecken, wie noch nie keiner net!“ betheuerte Festei, indem er Nannei bei ihren Hantirungen mit leuchtenden Augen verfolgte.

„Hast denn gar so an fürchtigen Hunger – han?“ frug das Mädchen mit lachenden Worten.

„No – das heißt – weißt – ja, schon!“

So plauderten die Beiden fröhlichen Tones weiter, während Nannei rührte, schürte und kochte, daß nur das Schmalz so prasselte und die Dampfwolken dickwallend sich emporkräuselten vom offenen Herde zur berußten Stubendecke.

Festei erzählte von seinem Dienste, der ihm über Alles ging – „ja,“ sagte er, „wann ich kein Jaager net sein könnt’, möcht’ ich gleich lieber gar net auf der Welt sein! So ’was Schöns giebt’s ja gar nimmer! Aber weißt – es is net g’rad weg’m Schießen und Jaagern – ah na – aber wann so draußen bist, in die Berg’, und Du schaust so umeinander, und Du hörst so Alles – da a Thierl und da a Vögerl – und nachher der Himmel und die Felsen – und drunten nachher die Bäum’ und ’s Thal, wo d’Sonn’ drein scheint, daß nur die Bacherln g’rad so blitzen – ja – weißt – da geht Dir g’rad ’s Herz aus einander, und Du mußt Juh schreien, ob D’willst oder net!“

Dann kam er wieder auf die Jagd zu sprechen und erzählte schnurrige Geschichten, in denen zumeist die Klugheit seines Hundes eine große Rolle spielte. „Ja, schau nur her, Du Kalfackter!“ rief er bei solch einem Berichte dem Teckel zu, der mit dem Dschapei friedlich das Lager theilte. – Nannei hinwieder erzählte von ihrer Mutter, von ihrem elterlichen Häuschen, von ihrem Dschapei und wie sie in dessen Besitz gekommen, von ihren Kühen, und hier besonders von der Scheckin, „die so viel g’scheidt is, ja g’scheiter schier als wie a Mensch.“

Nun war der Schmarren gar. Nannei legte neben dem Jäger ein berußtes Brettchen über die Bank und stellte die rauchende Pfanne darauf. Dann setzte sie sich auf die andere Seite, und zwei Löffel kreuzweis in den Schmarren steckend sagte sie:

„So – jetzt iß, Festei – jetzt iß nur zu solang, bis nimmer kannst!“

Mit sorglicher Miene hing sie an dem Gesichte des Jägers, als dieser den ersten Löffel voll zum Munde führte.

Bedächtig legte Festei den Kopf auf die Seite, kaute, schluckte und schnalzte mit der Zunge.

„Aaah – der is gut – der is amal gut! So ein’ hab’ ich freilich noch nie net ’gessen!“

„Nachher iß nur recht, Festei! Und – lang’[6] nur fest zu!“ lachte Nannei und faßte nun auch selbst den Löffel.

(Fortsetzung folgt.)

[121]

Erinnerungen an Paganini.

Die Triumphe, welche der „Wundermann auf der G-Saite“ einst in allen Ländern Europas erzielt hatte, wurden von einer berufenen Feder in ausführlicher Weise und zu wiederholten Malen den Lesern der „Gartenlaube“ vorgeführt. Darum müssen wir jetzt, da die musikalische Welt am 18. Februar den hundertjährigen Geburtstag des Geigerkönigs Nicolo Paganini feiert, von einer Würdigung seines wunderbaren Spiels und von einer eingehenden Schilderung seines vielbewegten Lebens absehen. Aber ganz stillschweigend wollen wir diesen Gedenktag nicht an uns vorübergehen lassen und wenigstens einige charakteristische Züge mittheilen, die weniger den Künstler als den Menschen Paganini uns vorführen.

Der Sage nach, die das Leben Paganini’s mit vielen ihrer wunder- und geheimnißvollen Blüthen umrankt, hatte der Mutterstolz den Knaben zum größten Geiger der Erde bestimmt. Denn der Frau des genuesischen Hafenmäklers soll bald nach der Geburt Nicolo’s ein Engel im Traum erschienen sein und ihr erklärt haben, daß der Wunsch, den sie in diesem Augenblick dem himmlischen Sendboten mittheilen würde, sicher in Erfüllung gehen werde. Und da habe die Mutter alle Schätze der Welt von sich gewiesen und für ihren Sohn nur den Ruhm des größten Geigers verlangt. Dieser Ehrgeiz der italienischen Frau hat sicher auf Paganini’s Entwickelung einen großen Einfluß ausgeübt, schrieb sie ihm doch später, als er bereits viele Lorbeerkränze errungen hatte: „Mein Traum hat sich verwirklicht, und was Gott mir versprochen, ist zugetroffen. Thue Alles, was in Deiner Macht liegt, damit Dein Name unsterblich werde!“

In der That war es auch anfangs nur der praktische Vater, der das Talent seines Sohnes als melkende Kuh betrachtete und nach Kräften ausnützte. Der Jüngling selbst schätzte das Geld gering und wurde es namentlich im Hazardspiel los. Man erzählt sogar, daß er oft in Folge der Spielwuth seine Geige versetzen mußte und auf fremden, geliehenen Instrumenten Concerte gab. Nach eigenen Angaben des Künstlers hätte ihn folgender Vorfall von dieser Leidenschaft geheilt.

Ein Prinz hatte es auf seine Geige abgesehen und wollte den Preis derselben erfahren. Paganini hatte keine Lust sich seiner „Guarneri“ zu entäußern, und forderte 250 Napoleonsd’or. Der Prinz hielt diese Forderung für einen Scherz, bot aber dem Künstler 2000 Franken an. Nun hatte Paganini damals nur 30 Franken in der Tasche und gerieth in’s Schwanken. Da holte ihn ein Freund zu einer Spielpartie für den Abend ab, und er beschloß, seinen Vermögensrest einzusetzen, falls ihm das Schicksal ungünstig wäre, den Kaufpreis anzunehmen und nach Petersburg zu reisen, um dort sein Glück zu versuchen. Schon hatte er seine 30 Franken bis auf 3 eingebüßt und sah sich im Geiste bereits auf dem Weg nach Norden, als ihn der Zufall plötzlich 160 Franken gewinnen ließ und seine Geige wie ihn selbst vor einer ungewissen Zukunft rettete. „Seit diesem Tag,“ erzählt Paganini, „zog ich mich völlig vom Spiel zurück, dem ich einen Theil meiner Jugend geopfert, und entsagte dieser unseligen Leidenschaft in der Ueberzeugung, daß ein Spieler überall verachtet sein müsse.“

A. Niggli, auf dessen treffliche Abhandlung[7] wir gerade in diesem Augenblick empfehlend hinweisen möchten, zweifelt mit Recht an der Wahrheit dieses Berichtes, den wir hier wiedergeben, weil er ein charakteristisches Zeichen bildet für die Art und Weise, in welcher Paganini selbst über seine Lebensschicksale die seltsamsten Märchen verbreitete.

Von der Leidenschaftlichkeit seines Charakters zeugt auch ein anderer köstlicher Vorfall, der sich in Ferrara ereignete. Paganini beabsichtigte hier unter Mitwirkung einer berühmten Sängerin ein Concert zu geben. Als diese ihm jedoch plötzlich ihre Betheiligung absagen ließ, wußte er eine ihm bekannte Tänzerin Pallerini zum Auftreten zu bewegen. Leider wurde die sonst mit anmuthiger Stimme begabte Dame vom Lampenfieber ergriffen und trug ihre Arie sehr unsicher vor. Beim Abgange derselben von der Bühne ließ sich neben dem obligatorischen Beifallklatschen auch ein lautes Zischen hören. Paganini sann auf Rache, die er noch an demselben Abende ausführte. Er kündigte an, daß er nunmehr auf seiner Geige verschiedene Thierlaute nachahmen werde. Das Auditorium hörte nun das Gezwitscher einiger Vögel, das Miauen der Katze und das Bellen des Hundes, als Paganini, in den Vordergrund tretend, plötzlich das Ya des Esels ertönen ließ und laut in das Publicum rief: „Das für Denjenigen, welcher gezischt hat.“ Der Witz war ihm aber schlecht gelungen. Er wußte nicht, daß Ferrara in der Umgegend als Sitz der Dummköpfe verspottet und daß der unmelodische Yalaut als Spottruf der Ferraresen gebraucht wurde. Kaum waren also die seltenen Töne seiner Geige entlockt, als sich das Publicum wüthend erhob und auf die Bühne drängte. Nur durch schnelle Flucht konnte sich der Geigerkönig vor den Stürmenden retten und mußte sich dem Schutze der heiligen Hermandad anvertrauen.

Aber aus dem leichtsinnigen Künstler wurde er bald zu einem sparsamen Manne, der nicht nur vernünftig für sich selbst sorgte, sondern, wie man ihm nachsagte, sogar in die Untugend des Geizes verfiel.

Schon in Italien hatte er große Einnahmen für seine Concerte erzielt, die jedoch durch seine Einnahmen im Auslande bedeutend übertroffen wurden. In Wien hatte er an einem einzigen Abende 12,000 Gulden, in Warschau 11,000 polnische Gulden, in Berlin 2400 Thaler eingenommen etc. Und doch waren diese Summen unbedeutend im Vergleiche zu dem in Paris erzielten Gewinne, der an fünf Abenden 90,000 Franken betrug, oder gar zu dem Erlöse aus den fünf Londoner Concerten, die ihm nach unserem jetzigen Gelde 400,000 Mark eintrugen. Seine Kunst hatte in der That goldenen Boden, und so war es ihm auch leicht, ein Vermögen von 2 Millionen Franken zu hinterlassen.

Es ist oft versucht worden, die Behauptung von dem Geize Paganini’s zu widerlegen, und seine Freunde führten als Beweis seiner Freigebigkeit das großmüthige Geschenk an, welches er dem französischen Componisten Berlioz gemacht hat. In der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1872 S. 32) wurde auch der Brief Paganini’s an den Componisten von „Romeo und Julie“ abgedruckt, der also lautete:

„Mein lieber Freund! Nachdem Beethoven entschlafen, konnte nur Berlioz ihn wieder aufleben lassen, und ich glaube nach dem Genuß Ihrer göttlichen Compositionen, die eines Genies wie des Ihrigen würdig sind, Sie bitten zu müssen, als Zeichen meiner Huldigung zwanzigtausend Franken anzunehmen, die Sie nach Vorzeigung des Beigeschlossenen von Herrn Baron von Rothschild ausgezahlt erhalten werden.“

Diese vielbesprochene Wohlthat Paganini’s wurde in letzter Zeit auf verschiedene Art gedeutet, und wir geben im Nachstehenden eine Stelle aus Hiller’s „Künstlerleben“ wieder, welche dem Streite über die 20,000-Frankenspende einen sonderbaren Abschluß verleiht und die wir in Folge unserer früheren Mittheilungen den Lesern der „Gartenlaube“ schuldig sind.

„Armand Bertin,“ sagt Hiller, „der reiche mächtige Besitzer des ‚Journal des Débats‘, hatte durch Berlioz selbst von der fanatischen Begeisterung des berühmten Geigers gehört und machte, da er den genialen Componisten liebte, Paganini den Vorschlag, sich ohne Unkosten als Spender der genannten Summe zu bekennen. Paganini that, was von ihm verlangt wurde.

‚Ist das denn wahr, sicher, möglich, glaublich?‘ frug ich Rossini.

‚Ich weiß es,‘ erwiderte der Maestro mit dem festen Ernste, der ihm nicht minder wohl anstand, als der scherzende Humor, in dem er sich meistens gefiel.“

Heute, wo so viel von Heinrich Heine geschrieben und gedruckt wird, wird es wohl am Platze sein, an jene sarkastische Schilderung zu erinnern, die der Dichter uns über das Auftreten Paganini’s in Hamburg gegeben. „Endlich kam auf der Bühne eine dunkle Gestalt zum Vorschein, die der Unterwelt entstiegen zu sein schien. Das war Paganini in seiner schwarzen Gala, der schwarze Frack und die schwarze Weste von einem entsetzlichen Zuschnitte, wie er vielleicht am Hofe Proserpina’s von der höllischen Etikette vorgeschrieben ist; die schwarzen Hosen ängstlich schlotternd um die dünnen Beine. Die langen Arme schienen noch verlängert, indem er in der einen Hand die Violine und in der andern den Bogen gesenkt hielt und damit fast die Erde berührte, als er vor dem Publicum seine unerhörten Verbeugungen auskramte. In den eckigen Krümmungen seines Leibes lag eine schauerliche Hölzernheit und zugleich etwas närrisch Thierisches, daß uns bei diesen Verbeugungen eine sonderbare Lachlust anwandeln mußte; aber sein Gesicht, das durch die grelle Orchesterbeleuchtung noch leichenartig weißer erschien, hatte alsdann so etwas Flehendes, so etwas blödsinnig Demüthiges, daß ein grauenhaftes Mitleid unsere Lachlust niederdrückte. Hat er diese Complimente einem Automaten abgelernt oder einem Hunde? Ist dieser bittende Blick der eines Todtkranken, oder lauert dahinter vielleicht der Spott eines schlauen Geizhalses? Ist das ein Lebender, der im Verscheiden begriffen ist und der das Publicum in der Kunst-Arena, wie ein sterbender Fechter, mit seinen Zuckungen ergötzen soll? oder ist es ein Todter, der aus dem Grabe gestiegen, ein Vampyr mit der Violine, der uns, wo nicht das Blut aus dem Herzen, doch auf jeden Fall das Geld aus den Taschen saugt?“

Und doch mußte Heine trotz dieses äußeren Eindruckes vor der Kunst des Mannes sein Haupt beugen. Aber in der scharfen Beurtheilung Paganini’s steht Heine nicht vereinzelt da.

Auch Goethe folgte nicht der großen Schaar der Bewunderer und schrieb an Zelter in einem Brief vom 13. November 1829 über Paganini’s Auftreten in Weimar: „Was die Aufmerksamkeit an diesem Virtuosen so in Beschlag nimmt, mag eine Vermischung sein des Grillenhaften mit der Sehnsucht nach Ungebundenheit. Es ist eine Manier aber ohne Manier; denn es führt wie ein Faden, der immer dünner wird, in’s Nichts. Es leckert nach Musik, wie eine nachgemachte Auster gepfeffert und gesäuert verschluckt wird.“

Daß Paganini diese harten Urtheile seiner Zeitgenossen durch sein schroffes Benehmen und die Schattenseiten seines Charakters oft herausgefordert, dafür möge nur folgendes Bruchstück aus dem oben angeführten Vortrage A. Niggli’s zeugen: „Im gleichen Athemzug, mit dem Paganini sich krampfhaft für seinen öffentlichen Ruf wehrte, nannte er das Volk verächtliche Canaille. ‚Was will denn das Thier?‘ war sein Ausdruck, wenn ein städtischer Arbeiter oder Bauer an ihn herantrat. War er mit seinem Postillon zufrieden, so sagte er wohl: ‚Das Rindvieh fährt gut.‘ Verlangte derselbe aber ein Trinkgeld von ihm, so setzte es italienische Redensarten ab, die sich kaum zur Wiedergabe eignen dürften.“

Darum fühlten sich auch edlere Naturen von Paganini abgestoßen und selbst einer seiner größten Verehrer und kein Geringerer als Franz Liszt hat über ihn folgendes Verdammungsurtheil abgegeben:

„Dieser Mensch, dem so viel Begeisterung entgegenjauchzte – er streifte die Menge, ohne sich traulich zu ihr zu gesellen; Niemand ahnte die Empfindungen, die sein Herz bewegten; seines Lebens Goldstrahl verklärte kein ander Leben, keine Gemeinschaft des Denkens und Fühlens verband ihn seinen Brüdern: fremd blieb er jeder Neigung, fremd jeder Leidenschaft, fremd selbst seinem eigenen Genius; denn was ist der Genius anders als die der Menschenseele ihren Gott offenbarende Priestermacht? – und Paganini’s Gott ist nie ein anderer gewesen als allein sein eigenes düstertrauriges Ich!“ – i.     



  1. Sylvester.
  2. Ungeschicktes, thörichtes Ding.
  3. Kreuzweis gewundenes Knäul.
  4. Kleine, rundgewundene Knäulchen.
  5. Lauwarme.
  6. Greife.
  7. Vergl. „Nicolo Paganini. Von A. Niggli“ abgedruckt in der „Sammlung Musikalischer Vorträge. Vierte Reihe“. (Verlag von Breitkopf und Härtel in Leipzig 1882.) Internet Archive

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Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.


Eine brennende Frage. Neben der die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich ziehenden und die höchsten Erwartungen erweckenden Elektrotechnik sehen wir, wenn auch zur Zeit erst als Project, eine andere hochwichtige technische Neuerung auftauchen: die Versorgung der Städte mit centralisirter Gasheizung.

Unstreitig gehört die künstliche Erzeugung von Wärme zu den dringlichsten Bedürfnissen des menschlichen Lebens. Uralt ist der Gebrauch des häuslichen, zur Geselligkeit lockenden Feuerherdes; derselbe verwandelte sich mit der Zeit in das Kamin und dieses in den Ofen, der gegenwärtig in den verschiedensten Constructionen benutzt wird.

Mit fortschreitender Cultur entstanden neben den häuslichen Heizapparaten auch zahlreiche industrielle Feuerungsanlagen, und alle diese in einer großen Stadt zu Tausenden zählenden Feuerherde senden ihre Verbrennungsproducte mit Ruß vermischt in schwarzen Rauchwolken durch die Schornsteine in die Lüfte, sodaß die hierdurch in Bezug auf Reinlichkeitssinn und Gesundheitspflege entstehende Belästigung einen hohen Grad erreicht hat. Es ist daher natürlich, wenn die Frage nach Mitteln zur Beseitigung des Rauches gegenwärtig mit großer Lebhaftigkeit behandelt wird.

Fast unzählige Vorschläge liegen hinsichtlich der Erzielung einer rauchfreien Verbrennung bereits vor, aber nur von einem Mittel darf man sich radicale Abhülfe versprechen, und dieses Mittel besteht darin, daß die Häuser in ähnlicher Weise, wie dies schon mit Wasser und mit Leuchtgas durch Centralanstalten geschieht, auch mit Heizgas versorgt werden.

Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß die centralisirte Versorgung der Städte mit gasförmigem Brennstoffe große Annehmlichkeiten bieten wird, indem dadurch gegenüber den jetzigen Heizmethoden jedenfalls Bequemlichkeit, Reinlichkeit sowie Zeit gewonnen werden können und wohl auch Geldersparniß zu erreichen ist.

In Erkenntniß dieser Umstände ist das Problem der centralisirten Gasheizung auch schon in das Bereich der praktischen Erwägungen seitens fachmännischer Kreise gezogen worden, wie die jüngsten Verhandlungen der deutschen Gasfachmänner über die Heizgasfrage lehren; nur über die Art und Weise der Ausführung gehen die Meinungen noch etwas aus einander.

Bereits vor längerer Zeit wurde Seitens einiger Techniker der Vorschlag gemacht, die Braunkohlen der 45 Kilometer von Berlin gelegenen Gruben bei Fürstenwalde an Ort und Stelle in Gas zu verwandeln und mittelst Druckpumpen dieses Gas durch Röhren der Metropole für Heizzwecke zuzuführen. Die Bemühungen, ein bezügliches Unternehmen in’s Leben zu rufen, scheiterten aber an dem zur Ausführung nöthigen großen Capital von circa 40 Millionen Mark, welches für die Heizgasversorgung von ganz Berlin berechnet wurde, obschon dabei ein Reingewinn von ungefähr 15 Procent in Aussicht gestellt worden war.

Diese weit sich erstreckende Gasleitung stellt der Ausführung keineswegs unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Eine ähnliche Anlage, wenn auch nicht in so großem Umfange, besteht z. B. schon in England, wo von Beckton auf 16 Kilometer Entfernung stündlich 6000 Cubikmeter Leuchtgas durch 1,2 Meter weite Röhren bis nach dem Mittelpunkte von London geführt werden. Andere ähnliche Unternehmen liegen in der von Centralstationen ausgehenden Beschickung ganzer Stadttheile mit Hochdruckdampf zur Heizung und Krafterzeugung vor, wie solche zu Boston und New-York bereits in Betrieb gesetzt sind.

Es lag auf der Hand, daß man sich in Anbetracht dieser Umstände zunächst mit der Frage befaßte, ob es sich lohnen würde, die bereits bestehenden Leuchtgasanstalten zur Versorgung der Städte mit Heizmaterial heranzuziehen.

Nach Versuchen von Professor Wagner ergeben 1,5 Cubikmeter Leuchtgas ungefähr denselben nutzbaren Heizeffect wie 1 Kilogramm Petroleum, sodaß das Leuchtgas als Küchenbrennstoff sich nicht viel theurer als Petroleum stellt, und deshalb wohl wegen seiner Reinlichkeit, Bequemlichkeit und größeren Sicherheit den Vorzug vor letzterem verdient. Nach anderen seiner Zeit in der Quedlinburger Gasanstalt angestellten Versuchen beträgt der jährliche Gasverbrauch für die Küche eines bürgerlichen Haushaltes von 6 Personen durchschnittlich 454 Cubikmeter und stellt sich daher bei dem Preise von 20 Pfennig pro Cubikmeter auf rund 90 Mark, sodaß durchschnittlich auf den Tag 25 Pfennig kommen, wobei der Kochapparat 6 normale Esser mit Hausmannskost versorgte und alle sonstigen culinarischen Operationen (früh Kaffee, Abends Suppe oder Thee etc.) mit der Gasflamme ausgeführt wurden.

Es ist bei alledem nicht zu leugnen, daß das Leuchtgas für Koch- und Heizzwecke zur Zeit noch theurer ist, als die festen Brennstoffe, und dies hat die Veranlassung zur Fabrikation billigerer Gassorten gegeben, welche keine oder sehr geringe Leuchtkraft besitzen, dabei aber beim Verbrennen bedeutende Hitze entwickeln. Als erster gelungener Versuch nach dieser Richtung hin ist das „Wassergas“ hervorzuheben. Dasselbe wird erzeugt, indem man magere Kohlen oder Coks unter Mitwirkung von Luft und Wasserdampf vergast, wodurch ein Gemisch aus Kohlenoxyd und Wasserstoff zu gleichen Theilen entsteht. Bei der Herstellung des Wassergases ist man in der Auswahl des Rohmaterials weniger beschränkt, als bei der Leuchtgasbereitung, und außerdem wird dabei der Coks, der auch nicht immer vortheilhaft zu verkaufen ist, mit in Gas umgewandelt.

Das Wassergas wird in Amerika bereits in sehr großem Maßstabe fabricirt; allein in den letzten zwei Jahren sind daselbst 34 solcher Gasanstalten gebaut worden, und gegenwärtig sind nach dem Berichte des Herrn von Quaglio, eines der eifrigsten Förderer dieser neuen Gasbereitung, in Chicago und San Francisco neue Wassergasanstalten von großartigen Dimensionen in der Ausführung begriffen. Das Wassergas ist, wie schon bemerkt wurde, an sich gar nicht oder doch nur schwach leuchtend; da es aber durch Zuführung von Naphthadämpfen leuchtend gemacht wird, so kann man dasselbe nicht nur als Heiz-, sondern auch als Leuchtgas benutzen. Das hier zu verwendende Naphtha-Oel gewinnt man in den großen amerikanischen Petroleumfabriken, und es ist dasselbe dort in solchen Massen und zu so billigen Preisen zu haben, daß man in Deutschland vorläufig noch nicht daran denken kann, ein solches billiges Rohmaterial für denselben Zweck zu erhalten. Indessen ist auch für unsere Verhältnisse die Frage nach der Verwendung des Wassergases zur Heizung und Beleuchtung gegenwärtig durch die Erfindung des Gasglühlichtes in ein neues Stadium getreten.

Das Gasglühlicht wird mittelst der sogenannten Incandescenzbrenner erzeugt, unter denen die von dem berühmten Physiker Clamond in Paris die bekanntesten und vollkommensten sind. Das Princip dieser Brenner beruht in der Hauptsache darauf, daß mittelst einer Anzahl kleiner, nichtleuchtender Gasflammen, die an den Seiten eines verticalen Rohres herausbrennen, ein über dieses Rohr gestülpter länglich konischer Korb aus zusammengeflochtenen dünnen Magnesiafäden bis zum Glühen erhitzt wird. Das Material zu diesem Korbe wird aus der gewöhnlichen pulverförmigen Magnesia bereitet, die mit einer geeigneten Flüssigkeit zu einem steifen Teig zusammengearbeitet und dann durch eine Nudelpresse getrieben wird, sodaß man fadennudelartige Magnesiafäden erhält. Früher mußte zur Speisung dieser Brenner gepreßte Luft verwendet werden, weshalb bei deren Benutzung ein kleiner Gasmotor nöthig war; der neueste Clamond’sche Incandescenzbrenner wird aber wie ein gewöhnlicher Argandbrenner auf den Gasarm aufgeschraubt und braucht nur mit einem den Luftzug bewirkenden Glascylinder versehen zu werden. Wie Herr von Quaglio in der jüngst zu Frankfurt am Main abgehaltenen Versammlung der deutschen Gasfachmänner mittheilte, geben diese Brenner im Vergleich mit der elektrischen, sowie auch mit der gewöhnlichen Gas- und Oelbeleuchtung ein äußerst angenehmes und dabei sehr reichliches Licht, bei welchem man die feinsten Farbennüancen unterscheiden kann. Durch diese Brenner wird der Leuchtwerth des Gases verdoppelt, sodaß das Gasglühlicht für gleiche Lichtstärke nur halb so viel kostet, wie das gewöhnliche Gaslicht.

Nach alledem handelt es sich also mit Bezug auf die Gasheizung nur noch um die Beantwortung der Frage: Liegt die Möglichkeit vor, ein für Heizung und Beleuchtung gleichzeitig geeignetes Gas zu genügend billigem Preise herzustellen? Es bedarf noch weiterer Versuche, um diese Frage zu beantworten. Th. Schwartze.     



Zukunftsmode des eisernen Jahrhunderts. Die Frau eines französischen Fabrikanten hat sich vor einiger Zeit aus feinstem vernickelten Stahldraht eine elegante Spitzengarnitur anfertigen lassen. Der erste Versuch soll so gelungen ausgefallen sein, daß man in der That an ausgedehntere Ausnützung dieser Idee denkt.




Blätter und Blüthen.


Die Aristokratie der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auch die große transatlantische Republik, die einen George Washington und einen Thomas Jefferson zu ihren Gründern zählt, hat ihre Aristokratie aufzuweisen. Der blutige, länger als vier Jahre währende Bürgerkrieg hat zwar die große Zahl jener Sclavenbarone hinweggefegt, welche auf ihren Landgütern beim Zucker- und Baumwollenbaue Hunderte und Tausende von Negersclaven beschäftigten und unter dem Wahlspruche: „Baumwolle ist König (Cotton is King)“ lange Zeit die erste Rolle in der Politik der nordamerikanischen Union spielten; allein die Abschaffung der Negersclaverei ist nicht im Stande gewesen, der amerikanischen Aristokratie ein Ende zu machen. Der Adel als solcher hat bekanntlich in den Vereinigten Staaten keinen Werth und verleiht keine besonderen Rechte, aber an die Stelle der Sclavenbarone sind die Geldbarone getreten und die „Baumwollkönige“ haben den „Eisenbahnkönigen“ Platz gemacht, weshalb uns aber der Ausspruch Julius Fröbel’s, die Vereinigten Staaten seien „eine Republik vornehmer Leute“, noch lange nicht gerechtfertigt erscheint. Der Besitz von Land und Geld ist die Leiter geworden, auf welcher eine Anzahl von Menschen über die Köpfe ihrer Mitbürger hinweg in eine bevorzugte Stellung emporkletterten. Dort angelangt, fanden jedoch manche dieser Emporkömmlinge bald heraus, daß der bloße Besitz von irdischen Reichthümern auch in Amerika noch immer keinen entscheidenden Anspruch auf Vornehmheit und hohe Stellung in der Gesellschaft verleiht. Man greift eben wieder auf das Ahnenwesen zurück, wenn auch nicht ganz nach der Weise der europäischen Adelsaristokratie.

Den Hauptsitz der amerikanischen Geldaristokratie bildet die mehr als anderhalb Millionen Einwohner zählende Handelsmetropole New-York; hier leben die Astors, die Vanderbilts, die Goulds etc. Vanderbilt besitzt einen größeren Reichthum als Astor, aber Letzterer gilt doch als vornehmer, weil sein Vater, Johann Jacob Astor, schon früher ein mehrfacher Millionär wurde, als der Vater Vanderbilt’s. Mit siebenzehn Jahren verließ der ältere Astor seine Heimath, das Großherzogthum Baden, ging zuerst nach London, wo ihm ein älterer Bruder die ersten [123] Wege bahnte, und wanderte dann im Winter 1783 nach Amerika aus. Er zählt zu jenen friedlichen Eroberern, die vor keinem Hindernisse zurückschrecken und den Welthandel in neue Bahnen lenken; Friedrich Kapp bezeichnet ihn als ein kaufmännisches Genie, in welchem sich Verdienst und Glück zu so wunderbarer Harmonie verketten, daß man nicht weiß, wo jenes aufhört und wo dieses anfängt, oder welches von beiden ihn so hoch emporgehoben und auf so stolzer Höhe befestigt hat. Johann Jacob Astor ist bekanntlich der Gründer der Colonie Astoria am Stillen Meere; noch bekannter dürfte die von ihm in der Stadt New-York gegründete Astor-Bibliothek sein, die zu den vorzüglichsten und besten in der ganzen Union gehört. Astor’s Charakter war nicht von allen Schwächen frei, aber er liebte die Gesellschaft geistig hervorragender Männer und sah sie gern als Gäste bei sich. Der Dichter Fritz Greene Holleck war lange Zeit sein täglicher Umgang, und Washington Irving zählte zu seinen intimsten Freunden, wie er denn auch die Colonie Astoria zum Gegenstande eines seiner Werke machte.

Als Johann Jacob Astor, der frühere Trapper und Pelzhändler, schon als Millionär das reinliche und bequeme Geschäft des Couponschneidens betrieb, führte der ältere, seit einigen Jahren verstorbene Vanderbilt noch das beschwerliche Leben eines armen Schiffscapitains. Der jüngere Vanderbilt gilt aber wieder als vornehmer, als Joy Gould, der Eisenbahnkönig, denn dieser hat gar keine Ahnen, sondern ist seines Glückes eigener Schmied. Die Astors sind daher die Führer der „blaublütigen“ Aristokratie von New-York, während die Goulds an der Spitze jenes sogenannten „Shoddy-Adels“ stehen, der nicht im Stande ist, Ahnen aufzuweisen. Es erregte daher kein geringes Aufsehen in der New-Yorker Aristokratie, als unlängst ein Sohn Joy Gould’s es wagte, um die Hand einer Tochter Astor’s zu werben.

„Beim Frühstück.“
Von Carl Kronberger.

Außer der Geldaristokratie giebt es nun in den Vereinigten Staaten noch eine andere Art von Aristokratie, die man gern als die „Aristokratie des Geistes“ (aristocracy of intellect) bezeichnet. Diese Aristokratie findet sich vorzugsweise im Staate Massachusetts, und hier zumeist in Boston und der nahe dabei gelegenen Universität Cambridge. In neuester Zeit hat dieses aristokratische Selbstgefühl allerdings etwas abgenommen, aber man erinnert sich doch gern daran, daß in Boston und Cambridge Männer wie die Historiker Motley und Prescott, George Ticknor, Verfasser eines werthvollen Werkes über die spanische Literatur, die Dichter Longfellow, Lowell und Holmes und die Staatsmänner und Politiker Webster, Everett und Charles Sumner lebten. Der Dichter-Philosoph Ralph Waldo Emerson, der als ethischer Schriftsteller gefeierte William Ellery Channing, der edle freireligiöse Theodor Parker und der lange Zeit in Concord lebende Dichter Nathaniel Hawthorne zählen zu den besten Söhnen von Massachusetts. Die ersten Schlachten im Unabhängigkeitskriege wurden in Massachusetts geschlagen; dort landeten mitten im härtesten Winter 1620 die freiheitsliebenden Puritaner auf der „Maiblume“, und der freisinnige Dichter-Journalist William Cullen Bryant, der Herausgeber der „Evening Post“, in deren Redaction später unser Landsmann Karl Schurz für einige Zeit eintrat, wurde ebenfalls im Staate Massachusetts geboren. Mögen hier die erste und die beiden letzten Strophen des Gedichtes einen Platz finden, in welchem Bryant das erste Jahr des Unabhängigkeitskrieges von 1776 feiert:

0 „Vom Waldland kam die Heldenschaar,
Als durch das frischerwachte Land
Der Freiheit Ruf erklungen war,
Es bot zum Werk des Kriegs sich dar
Des Landmanns nerv’ge Hand.

0 Schon war der Kampf zu heißer Gluth
Auf Concords Ebenen entfacht,
Schon tränkte wie des Regens Fluth
Das frische Gras mit rothem Blut
Bei Lexington die Schlacht.

0 So brach der Tag der Freiheit an,
Durch Blut geweiht in Frühlingsau’n,
Gelöst war unsrer Knechtschaft Bann,
Und herrschend trat kein fremder Mann
Mehr in der Heimath Gau’n.“

Niemand wird die Bürger von Massachusetts darum tadeln, daß sie stolz auf ihr Geburtsland und auf ihre Vorfahren, die „Pilger von der Maiblume“, sind; wenn aber dieser Stolz zu einem aristokratischen Cliquenwesen führt, wie dies zu Zeiten der Fall gewesen ist, so ist dies gewiß nicht zu billigen. Den schneidendsten Gegensatz zu den früheren Sclavenhaltern der Südstaaten der Union bildeten zu allen Zeiten die Einwohner der Neu-Englandstaaten, namentlich von Massachusetts, von den Gegnern gewöhnlich „Yankees“ genannt. In den Jahren vor dem Secessionskriege, welcher der Negersclaverei ein Ende machte, standen sich in der Bundesgesetzgebung der Vereinigten Staaten die Vertreter von Massachusetts und die Repräsentanten der südlichen Sclavenstaaten am schroffsten gegenüber; und dies konnte kaum anders sein. Der freie Bürgerstolz der puritanischen Neu-Engländer, welcher für die freie Arbeit in die Schranken trat, mußte nothwendig mit den aristokratischen Sclavenhaltern, deren Politik eine immer weitere Ausdehnung der Negersclaverei anstrebte, in Conflict gerathen. Und hier war es in erster Linie der oben genannte Charles Sumner, welcher im Bundessenate der Vereinigten Staaten die Sclavenhalterpolitik mit aller Macht, die eine feurige Beredsamkeit verleiht, bekämpfte. Ohne Zweifel war hier die Aristokratie des Geistes, die sich mit dem freien Bürgerthum verband, mehr berechtigt, als die Aristokratie der südlichen Sclavenbesitzer, welche eine Verewigung der Negersclaverei anzubahnen bemüht waren. Die Geschichte hat zu Gunsten der Aristokratie des Geistes und des freien Bürgerthums entschieden, aber von einer vollständigen Aussöhnung zwischen den früheren Sclavenstaaten und den Neu-Englandstaaten kann noch bis auf den heutigen Tag keine Rede sein. Rudolph Doehn.     


Eugen Rouher, der „Vice-Kaiser“, †. Vor sieben Jahren, im Jahrgang 1877 der „Gartenlaube“, konnte uns von einem unserer Pariser Mitarbeiter noch ein Lebensbild des nun todten Mannes aufgestellt werden, welches ihm eine längere Dauer des Daseins versprach. Der damals Dreiundsechszigjährige (am 30. November 1814 geboren) war noch eine stattliche Erscheinung von körperlicher Kraft und geistiger Frische. Er stand, trotz der schweren Niederlage des zweiten Kaiserreichs, an der Spitze einer starken bonapartistischen Partei und konnte bereits, so lange der Sohn Napoleon’s III. die Hoffnung auf das dritte Kaiserreich aufrecht erhielt, als vorläufiger Vice-Kaiser Napoleon’s IV. gelten. Als aber Eugeniens Sohn in Afrika seinen frühen Tod gefunden hatte, brach mit seiner Hoffnung auch die Lebensfreude Rouher’s zusammen. Er zog sich vom öffentlichen Leben und auf sein einsames Landgut zurück, huldigte nur noch seiner unwandelbaren Treue gegen seines Kaisers Wittwe und mußte das traurigste Schicksal für einen vom Glück so hoch getragenen Geist über sich verhängt sehen: er war blödsinnig geworden. In den qualvollen lichten Augenblicken äußerte er den Wunsch, nach Paris zurückzukehren, um dort Heilung zu suchen. Sein Wille ward erfüllt, seine Hoffnung nicht. Als der Tod ihn am 3. Februar von seinen Leiden erlöste, führte er einen für die Welt schon lange vorher Gestorbenen mit sich fort.

Wie über Napoleon III. ist über Rouher ein gerechtes, unparteiisches Urtheil noch nicht möglich. Das Todtengericht über sie erfordert noch eine längere Zeit der Berathung, eine strengere Sichtung des Anklage- und Vertheidigungsmaterials. Frankreich hat von ihnen Gutes und Böses empfangen, und es ist noch nicht einmal ermittelt, welches von beiden sie gewollt und welches sie nicht beabsichtigt haben, und das nun doch mit auf ihrer Wagschale liegt.

Das Eine ist als sicher anzunehmen: Rouher handelte stets aus Ueberzeugung, nicht aus egoistischen Beweggründen. Er war in seiner Jugend Republikaner, aber nur der eben herrschenden politischen Mode [124] wegen. Als das Studium der Geschichte Frankreichs und des Charakters seiner Landsleute ihn belehrt hatte, daß in Frankreich die Republik auf die Dauer unmöglich sei, weil aus den Franzosen niemals Republikaner erzogen werden könnten, daß Frankreich stets nur groß gewesen und die Franzosen sich stets nur glücklich gefühlt unter einem starken persönlichen Regiment, schloß er sich mit ganzer Seele an Louis Napoleon an und ging mit demselben von diesem Augenblicke an durch Dick und Dünn. – Er mußte sich selbst sagen, daß es kein dankbarer Lebensgang war, den er mit diesem Entschlusse beschritt. Man weiß, daß er für das materielle Wohl Frankreichs Großes geleistet, ihm aber dankte es Niemand. Alles Gute kam auf das Conto des Kaisers. Da er mit derselben Beharrlichkeit die unwürdigen Unternehmungen seines Gebieters vertheidigte, da er wirklich der Advocat des zweiten Kaiserreichs war, so konnte sein Name nie zu reinn Ehren gelangen, und Folgen der fluchwürdigsten Art, wie das furchtbare Schicksal des Kaisers Max und seiner unglücklichen Gemahlin, wurden auf sein Schuldbuch gesetzt.

Zweierlei aber muß dem Todten gelassen werden: er gehörte nicht zu dem schmutzigen Troß des Tuilerienhofes – von dem unser Gustav von Meyern (Gartenlaube 1879, S. 194) sagte, daß er sich nie in schlechterer Gesellschaft befunden zu haben glaubte, als dort –, er hat sich rein gehalten von allem selbstsüchtigen Treiben; – und zweitens: als das Unglück über das Kaiserhaus hereinbrach und so Viele untreu wurden, blieb er dem Kaiser und den Seinen unerschütterlich treu. Fr. Hfm.     


Mutterfreuden.
Nach dem Oelgemälde von Siegwald Dahl.

Warnung! Von dem Redactionstische der „Gartenlaube“ kann man Vorgänge erblicken, die sich sonst dem schärfsten Beobachter im täglichen Leben entziehen. Vertrauensvoll weihen uns Hunderte und Tausende in die Verhältnisse ihres Privatlebens ein, und aus den Fragen, die an uns gerichtet werden, lassen sich Schlüsse über die Wirkung verschiedenartigster Unternehmungen auf die breiten Massen des Volkes ziehen. In dieser geheimeu Correspondenz der „Gartenlaube“ spielt die Geheimmittel-Frage eine ganz hervorragende Rolle. Es vergeht nicht ein Tag, an dem wir nicht von mehreren Seiten über den Werth dieser oder jener Pillen, Tincturen, Pulver, Salben etc. befragt würden, die sämmtlich nach den hochtönenden Anpreisungen ihrer Verkäufer unfehlbar alle oder die meisten Krankheiten heilen sollen, und alle diese Briefe zeugen von dem abscheulichsten Mißbrauch, den gewissenlose Speculanten mit der Unwissenheit hoher und niederer Stände in medicinischen Dingen treiben.

Diese Correspondenz war auch mehr als einmal die Veranlassung, daß wir in unserm Blatte das große Publicum vor einer derartigen frechen Ausbeutung warnten, die in den Augen eines jeden gerechten Menschen um so verwerflicher erscheinen muß, als sie gerade die schwer geprüften Kranken zu ihren Opfern ausspäht.

In letzter Zeit gingen bei uns sehr viele Briefe ein, in denen wir um Auskunft über ein neues Heilmittel ersucht wurden, welches unter der Flagge „Dr. Liebaut’s Regenerationscur“ sich unter den Annoncen fast aller Blätter breit macht. – Wir haben zwar die Briefe, so weit sie mit Adressen versehen waren und sich nicht in den unnöthigen Schleier der Anonymität hüllten, direct beantwortet, glauben jedoch im öffentlichen Interesse zu handeln, wenn wir über den „Regenerator“ an dieser Stelle ein sachverständiges Urtheil abdrucken. – „Der Ortsgesundheitsrath der Haupt- und Residenzstadt Karlsruhe“, welcher mit unermüdlichem Eifer gegen das Geheimmittelunwesen ankämpft, theilt uns zur beliebigen Benutzung mit, daß dieses „Heilmittel“ nur aus einem wässerigen, mit Zucker versetzten Auszuge verschiedener Pflanzenstoffe besteht, welcher dem decoctum sarsaparillae ähnlich ist und die angepriesenen Wirkungen selbstverständlich in keiner Weise besitzt. Dem berühmten Dr. med. Liebaut aber, welcher nach vierzigjährigen Erfahrungen und Erfolgen in Hospitälern und Kliniken die Heilkraft des Regenerator festgestellt hat, ergeht es wie dem „Herrn Dr. Airy“ der Firma Richter und Compagnie in Rudolstadt und anderen berühmten Collegen; von seiner Existenz ist nämlich nirgends eine Spur nachzuweisen.


Kleiner Briefkasten.

Abonnent der „Gartenlaube“ in Budapest. Die gewünschte Auskunft finden Sie in dem Artikel „Ein Triumph deutscher Kriegsindustrie“, „Gartenlaube“, Jahrgang 1883, Nr. 13.

A. W. in U. Wenden Sie sich an den Vorstand oder die Direction einer der Diakonissinnen-Anstalten zu Kaiserswerth, Dresden, Ludwigslust, Berlin, Breslau oder Stuttgart.


Allerlei Kurzweil.

Auflösung des Kreuzräthsels in Nr. 5:

Scataufgabe.

Sie sind Vorhand und haben die folgenden Karten: Treff-Bube, Coeur-Bube, Carreau-Bube, Carreau-König, Carreau-Neun, Carreau-Acht, Carreau-Sieben, Coeur-Aß, Coeur-Zehn und Treff-Aß.

Sie sagen darauf Grand an. – Zuerst spielen Sie den Treff-Buben. Im Scat liegen Pique-Bube und Pique-König. Sie verlieren das Spiel.

Wie sind die Karten vertheilt und wie ist der Gang des Spiels?


Auflösung der Schachaufgabe Nr. 2:

Weiß: Schwarz:
1. c 6 – c 7 K e 8 – f 7
2. c 7 – c 8 D S h 8 – g 6
oder S h 7 – f 8, g 5
3. f 5 : S g 6 resp. D c 8 – f 8 (:) matt.

Varianten. a) 1. ..., K d 7; 2. c 8 D †, K : D; 3. d 7 matt.
Varianten b) 1. .., S f 7; 2. d 7 †, K e 7; 3. c 8 S matt.



Inhalt: Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 105. – Das Schicksal einer deutschen Fahne. Erinnerung aus unserem „letzten Krieg um den Rhein“. S. 110. Mit Illustration S. 112. – Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit. Herausgegeben von Eduard Engel. I. S. 113. Mit Facsimile eines Blattes aus dem Manuscript von Heinrich Heine’s Memoiren. S. 108 und 109. – Des Sängers Werbung. Gedicht von Anton Ohorn. S. 116. Mit Illustration S. 117. – Dschapei. Von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 118. Mit Illustrationen S. 118 und 120. – Erinnerungen an Paganini. S. 121. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit: Eine brennende Frage. Von Th. Schwartze. – Zukunftsmode des eisernen Jahrhunderts. S. 122. – Blätter und Blüthen: Die Aristokratie der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Von Rudolph Doehn. S. 122. – Eugen Rouher, der „Vice-Kaiser“, †. S. 123. – „Beim Frühstück“. Illustration von C. Kronberger. S. 123. – Warnung. – Kleiner Briefkasten. – Mutterfreuden. Illustration nach dem Oelgemälde von Siegwald Dahl. – Allerlei Kurzweil: Scataufgabe. – Auflösung der Schachaufgabe Nr. 2. – Auflösung des Kreuzräthsels in Nr. 5. S. 124.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Es handelt sich um Elise Krinitz (1825–1896), eine deutsche Schriftstellerin und Pianistin. Der erste Besuch bei Heine fand am 19. Juni 1855 statt, der letzte fünf Tage vor seinem Tod 1856.
  2. [Die beiden Sätze im Manuskript:] Es war ein Raffinement von Grausamkeit, die alle Passionsqualen des Messias selbst übersteigt und die selbst dieser nicht ruhig erduldet hätte. Gott verzeih ich verwünschte Gott und die Welt und die fremden Unterdrücker, die uns ihre Metrik aufbürden wollten und ich war nahe dran ein Franzosenfresser zu werden.
  3. [Siehe dazu Die Gartenlaube (1884), S. 156:] Zur Erläuterung einer Stelle in „Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit“ (Nr. 7, Seite 115) wird uns aus Magdeburg geschrieben: „Es wird gewiß die Leser der ‚Gartenlaube‘ interessiren, wenn ich die Bemerkung mache, daß ‚die Tochter eines Eisenfabrikanten unserer Gegend, die eine Herzogin geworden war‘, von der Heine in seinen von Ihnen jetzt veröffentlichten Memoiren spricht, die Gemahlin des Marschalls Soult, Herzogs von Dalmatien, eine geborene Berg aus Solingen (bei Düsseldorf) war.“
  4. [Im Original:] Wahrhaftig jenen Dieben verdanken wir die Theorie des Eigenthums, das vorher nur als Thatsache bestand, und die Ausbildung dieser Lehre in ihren schnödesten Consequenzen ist jenes gepriesene römische Recht, das allen unseren heutigen Legislazionen, ja allen modernen Staatsinstituten zu Grunde liegt, obgleich es im grellsten Widerspruch mit der Religion, der Moral, dem Menschengefühl und der Vernunft.
    Ich brachte jene gottverfluchten Studien zu Ende
  5. [im Manuskript:] gottverfluchten