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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 27.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.


Unter den eben aufknospenden Baumreihen der Ringstraße Wiens – zwischen Kolowrat- und Stubenring – ging an einem sonnigen Apriltage um die Mittagsstunde ein junger Mann auf den vom Gedränge freien Kieswegen, die Hände auf dem Rücken, langsam dahin und drückte mit einem gewissen Selbstbewußtsein oder jugendlichen Kraftgefühle seine Schritte dem Boden ein. Zu solchem Selbstgefühle schien freilich die ganze Gestalt desselben berechtigt, wenn anders Dinge, welche die äußere Erscheinung bilden, dazu berechtigen können. Der dunkelblonde männliche Kopf war offenbar vor Wind und Wetter nie sehr ängstlich gehütet worden und hatte doch einen vorherrschenden Ausdruck bewegten Geisteslebens in den feinen Zügen und den groß und scharfblickenden blaugrauen Augen bekommen, und mit diesen faßte er die ihm zur Linken über das Trottoir dahin fluthende Menge auf, die Reihe der kunstgeschmückten Paläste und die Erzeugnisse des rastlos nach den schönsten Formen und Farben jagenden Luxus in den Läden. Es war etwas wie eine philosophische Betrachtung, als er sich jetzt sagte, wie wenig anerkannt doch die bewundernswürdige Phantasie von Tausenden von erfinderischen Köpfen bleibe, die all diese Formen und Gebilde erzeuge und diese Farben zusammenstelle, wie unbelohnt alles Das, was von wahrer Kunstschöpfung in diesen Dingen stecke, und welch wunderliche Welt es sei, in der sich so selten die tüchtige Leistung und die gute That lohne, während so unausbleiblich „die Schuld sich räche“, wie Goethe sagt. –

Unser Spaziergänger war wirklich ein Philosoph. Aber jetzt nahm plötzlich eine Erscheinung seine Aufmerksamkeit in Anspruch, wie sie nur ein junger Mann und kein Philosoph so fest ins Auge zu fassen pflegt.

Es war eine Dame in einem dunklen Stoffkleide, einem ebenso einfachen, mit seiner Form noch dem Winter angehörenden Hut, den nichts weiter schmückte, als der grün umhergeschlungene Schleier, und in einem warm die Schultern umhüllenden Tuche. Es konnte zweifelhaft sein, ob das junge Mädchen, das etwa zwanzig Schritte weit vor dem Wandelnden auf dem Promenadenwege stehen geblieben, eine Dame sei oder eine Zofe oder ein Fräulein vom Ladentische. Aber nicht der Wunsch, über diese Frage ins Klare zu kommen, ließ unsern Spaziergänger sie so betroffen ins Auge fassen; auch nicht die auffallende Schönheit der Gestalt, die, sie mochte nun sein was sie wollte, sie zu einem ausgezeichneten Modell für jeden Bildhauer machen mußte. Es war ihr feines, von wenig Farbe angehauchtes geradliniges Profil, das ihm auffiel, weil es eine dämmernde, längst halb erloschene Erinnerung in ihm heraufbeschwor. Er nahm dies Profil wahr, weil sie eben vor einer ihr begegnenden Frau aus dem Volke stehen blieb und dabei auf ihre Schulter zurückblickte, auf welche sie eben mit großer Anmuth die feine Hand legte, um das herabgesunkene Tuch höher heraufzuziehen.

Mit der ihr begegnenden, ärmlich und hexenhaft aussehenden Alten sprach sie eifrig und leise und wandte, als er an ihr vorüberschritt, das Gesicht von ihm ab. Wie seltsam deutlich doch die Erinnerung war, welche das Gesicht dieser ihm noch gänzlich fremden Dame in ihm wachgerufen hatte! Bis in seine früheste Jugend reichte diese Erinnerung zurück. Er sah sich in Knabenjacke und Strohhut als etwa zwölfjährigen Knaben mit seinem Erzieher, einem würdigen Candidaten und jetzt längst ehrwürdigen „Pastor auf dem Lande“, in den zu seinem väterlichen Gute gehörenden Wiesengründen, die eine Thalmulde zwischen waldbewachsenen Höhen ausfüllten, umherstreifen. Wie wohl jeden Knaben von regem Geiste erfüllte auch unsern Spaziergänger einst der Trieb, sich allerlei Sammlungen aus der Natur einzuheimsen, und so schritt er, Raban von Mureck, an einem schönen Sommernachmittage über das karge, sonnverbrannte Gras der Fläche, auf der die schon niedersinkende Sonne seine aufgeschossene Gestalt mit der Botanisirbüchse und die höhere des Erziehers mit einer Ledertasche von langen, lächerlich dünnbeinigen Schatten begleiten ließ. Botanisirbüchse und Ledertasche waren ziemlich gefüllt, und man strebte heimwärts, und zwar auf einem Waldwege, der weiter thaläbwärts über eine Mühle führte, wo der Müller eine in gutem Rufe stehende Schenke hielt. Als man den Wald erreicht hatte, der an der Wiesenmulde entlang sich abwärts senkte, und unter dem grünen Laubdache eine Strecke weit dahingeschritten war, sagte der Candidat plötzlich lächelnd:

„Sehen Sie, Raban, da ist die merkwürdigste Pflanze von allen, die wir heute noch gefunden haben – welch wunderliche Pilzgebilde hier im Holze vorkommen!“

Raban war schon auf den seitwärts liegenden kleinen Mooshügel gesprungen, auf dem die entdeckte Pflanze stand, die freilich hier so überraschend erscheinen mußte, als wäre man plötzlich auf die blaue Blume der Romantik gestoßen.

Blau war diese Blume auch, und sah aus wie eine große Glocke über einem schönen schlanken weißen Stengel – aber ein Gebilde der Romantik war sie nicht, sondern nur ein, ganz zierliches freilich, der Schirmmacherkunst – es war ein feiner seidener Sonnenschirm, der mit dem Handgriffe in den moosigen Boden gesteckt worden und nun als Attribut feinster Civilisation hier im

[442] wilden Walde seine Eleganz den alten grauen Stämmen zeigte, die nicht die geringste Empfänglichkeit für das kokett sich unter ihnen spreizende Ding zu haben schienen.

Raban hatte es aus dem Boden gerissen, und während der Candidat die feinen Quästchen bewunderte, welche an seidenen Schnüren an der Handhabe hingen, sagte der Knabe:

„Es müssen Damen bei einem Spaziergang sich hier aufgehalten und den Schirm vergessen haben.“

„Wir treffen sie vielleicht, wenn wir eilen, noch in der Mühle,“ antwortete der Candidat, „und holen uns einen freundlichen Dank von ihnen.“

So gingen sie denn fürbaß, und nach zehn Minuten hatten sie die Mühle erreicht. Neben dieser, über dem Teich, in den das schäumende Wasser von den Rädern stürzte, lag der Garten mit der langen vorn offenen Laube; und unter dieser stand in der That eine Gruppe von jungem Damen, drei Mädchen im blühendsten Backfischalter, neben einer älteren, sie durch ihre stattliche, wohlgenährte Gestalt überragenden Frau, aber alle offenbar im Begriff aufzubrechen, ihre Handschuhe knöpfend, ihre Tücher umnehmend. Raban eilte eifrig seinem Candidaten vorauf, um noch im rechten Augenblick da zu sein und ihnen das von ihnen im Walde vergessene Kleinod zu überreichen – hochgeröthet stand er plötzlich vor ihnen, und seinen Schirm erhebend sagte er, ein wenig außer Athem:

„Wir fanden das im Walde – es gehört gewiß Ihnen, und Sie sind wohl schon bekümmert gewesen, es verloren zu haben …“

Die jungen Mädchen wandten sich ihm zu, aber sie antworteten nur alle im selben Augenblick mit einem schallenden Gelächter. Selbst die ernst aussehende ältere Dame begann zu lachen – die jungen Mädchen aber schienen Krämpfe vor Lachen bekommen zu wollen.

Raban stand wie mit Blut übergossen. Und dann ging die Verlegenheit, womit ihn dieser seltsame Empfang erfüllte, in etwas wie zornige Gereiztheit über.

„Was lachen Sie denn?“ sagte er, von Einer auf die Andere schauend.

„Juliane, Dein alter Schirm! Es ist gar zu komisch!“ rief eines von den Mädchen aus.

„Es ist ein alter Schirm,“ sagte jetzt die ältere Dame freundlich erklärend, „den wir im Walde zurücklassen wollten – aber der uns mit komischer Hartnäckigkeit verfolgt. Wir haben ihn schon vorher einmal unter einen Strauch gelegt, aber kurz nachher ist uns eine Bauernfrau, die da umher Beeren sammelte, schreiend nachgelaufen gekommen, um uns den vergessenen Schatz wieder einzuhändigen ...“

„Und hat noch einen Groschen als Finderlohn verlangt,“ kicherte das kleinste der Mädchen.

„Verlangen Sie auch einen Finderlohn?“ brach das neben ihr stehende spöttisch aus.

„Haben Sie denn nicht gesehen, daß er sich, gar nicht mehr schließen läßt, und daß die Seide ganz verschlissen ist?“ fiel naseweis das mit Juliane angeredete Dämchen ein.

Raban, der vor Beschämung und Gereiztheit immer röther geworden, biß die Lippen zusammen und wollte den Schirm geärgert weit von sich schleudern, als die dritte, die größte von den Dreien, vortrat und ihn ihm aus der Hand nahm. Sie sah ihn dabei mit einem weichen leuchtenden Blick an und sagte:

„Wir danken Ihnen aber doch – es war ja doch so gut von Ihnen, uns den Schirm so weit nachzutragen – vielleicht ist er auch noch gar so schlecht nicht – geben Sie ihn mir – ich will ihn mit heimnehmen.“

Raban fühlte sich durch diese gütigen Worte aus seiner grausamen Verlegenheit gezogen, durch sie war in die Wunde, die seinem reizbaren Knaben-Ehrgeiz geschlagen worden, so sanft Oel gegossen. Er antwortete, während er den Schirm hergab, nur mit einem Aufblick in das fromme schöne Mädchenantlitz vor ihm – dieses wandte sich aber jetzt rasch ab; sie gingen jetzt fort, die zwei andern noch immer lachend und kichernd, während die ältere Dame mit einer huldvollen Kopfneigung grüßend an dem unterdeß auch angekommenen Candidaten vorüberschritt.

„Marie ist doch immer die Gutmüthige,“ hörte Raban noch Julianen sagen – daß sie hinzusetzte: „wir können den Schirm jetzt da unten in’s Wasser werfen,“ vernahm er nicht mehr, auch nicht Mariens Antwort: „nein, ich hab’ ihm gesagt, ich wolle ihn mit heimnehmen, und muß es jetzt doch auch thun.“

Als sie aus dem Gesichtskreise waren, fragte Raban den Candidaten, ob er die Damen kenne?

Er kannte sie natürlich nicht – aber „der Müller wird sie kennen“, und dieser in der That kannte sie, auch die Frau Müllerin, die bald herauskam, um den neu angelangten Gästen das gewünschte Bier zu bringen. Die Damen waren Niemand anders als die gnädige Frau von Tholenstein zu Arholt mit ihrer Enkelin, dem Fräulein Marie, und die beiden Andern waren Freundinnen von Fräulein Marie oder Cousinen oder so etwas aus der Stadt, die zum Besuche des Fräuleins auf Arholt waren, das nur eine halbe Stunde entfernt lag, sodaß sie öfter Spaziergänge bis hierher zur Mühle machten, – und Fräulein Marie war die reichste Erbin im Lande und würde einmal, da sie keine Brüder hatte und Vater und Mutter todt waren, ganz Arholt und viele andere Güter erben.

Das waren die Auskünfte, die bereitwillig die Müllerin gab – unzulänglicher war die, welche Raban von dem Candidaten erhielt, als er diesen fragte:

„Ist Arholt nur eine halbe Stunde von hier? Dann ist es bis dahin ja auch nur eine kleine Stunde von Mureck, von unsrem Hause. Wie kommt es dann, daß wir die Leute dort nicht kennen – daß der Vater und diese sich nie besuchen – daß bei uns nie die Rede von so nahen Nachbarn ist?“

Der Candidat hatte nichts darauf zu erwidern, als: „Das müssen Sie Ihren Herrn Vater fragen, Raban. Ich kann nicht den geringsten Aufschluß darüber geben.“

Der Candidat hatte ihn niemals darüber reden hören und auch niemals darüber nachgedacht, weshalb der Vater seines Zöglings, der noch in den besten Jahren stehende und der Geselligkeit sonst keineswegs abholde Gutsherr von Mureck, der manchen Verkehr mit befreundeten Familien auf weiter entlegenen Gütern pflog, außer aller Berührung mit seinen nächsten Nachbarn, der Familie auf Arholt, blieb. Vielleicht hätte er sich sonst nach dem Grunde erkundigt und damit freilich nur unnütz seine Zeit verloren; er hätte nichts erfahren, als daß vor Jahren, in der Zeit, wo noch der wunderliche Junggeselle, der Freiherr Martin Tholenstein, bei, der alten Dame, seiner Mutter, auf Arholt gelebt, Herr von Mureck nicht selten dort gewesen, auch die Arholtschen auf Mureck; daß er aber nach dessen Tode bald allen Verkehr eingestellt: augenscheinlich weil einem Manne wie ihm der Umgang mit solch einer alten Dame, wie die Tholensteinsche Großmutter, langweilig und lästig war.

Das genügte ja auch zur Erklärung. Nur genügte es Raban nicht, als er heimgekommen war und so etwas, nachdem er sein kleines Abenteuer dem Vater erzählt, aus dessen eigenem Munde vernahm. Raban hatte ihm sehr lebhaft geschildert, wie gut ihm Marie Tholenstein gefallen habe und wie man ja einmal hinüber fahren könne, nach einiger Zeit, wenn die garstigen Mädchen, ihre Freundinnen aus der Stadt, glücklich abgezogen – der Vater aber hatte ihn sehr nachdenklich angeblickt und dann nach einer Pause sich abwendend gesagt:

„Was gehen Dich die Mädchen an? Spiele, wenn Du willst, mit den Söhnen des Amtmanns und muthe mir nicht zu, mich bei den Weibsleuten auf Arholt zu langweilen! Ich denke nicht daran!“

Damit war die Angelegenheit zwischen Vater und Sohn erledigt – nicht aber aus dem Denken und Sinnen des Knaben das Bild des jungen Mädchens verschwunden. Im Gegentheil, in den nächsten Tagen hatte er gar nichts anders denken können, als wie reizend dieses so fromm dreinschauende junge Wesen sei, wie leuchtend sie ihn angeblickt; er hatte noch fortwährend diese guten blauen Augen sich anleuchten sehen – bis nach und nach freilich, im Laufe all der kleinen, und großen Ereignisse eines Knabenlebens, im Laufe der Tage und der Wochen dieser Glanz erloschen und das ganze Bild allmählich verflüchtigt und verdrängt – wenigstens sehr tief in den Hintergrund solch einer vielbeschäftigten Knabenseele gedrängt war.

Aber seltsam, heute wo Raban als erwachsener junger Mann, der seine Studienjahre hinter sich und von seinem Vater bereits ein Gut zu eigner Verwaltung erhalten hatte, auf der Ringstraße zu Wien spazierte, trat dies Bild mit größter Lebendigkeit wieder vor ihn hin. Er wußte selbst nicht, warum das junge Mädchen, an dem er vorübergegangen und deren Züge er nur flüchtig erblickt hatte, ihn so plötzlich lebhaft an jene kleine Retterin [443] aus einer knabenhaften Verlegenheit erinnerte und an jenes erste Aufdämmern eines ebenso knabenhaften Verliebtseins, den ersten Anhauch eines Gefühls, der so rasch dahingegangen wie der Hauch eines Kindermundes auf einen Spiegel. Aber er mußte daran denken, und zugleich verließ ihn der Gedanke an das Schicksal der auffallend schönen und graziösen Erscheinung nicht, die in so verdächtiger Unterhaltung mit der Alten dagestanden, und ein Gefühl unendlichen Mitleids überkam ihn über die Tausende von Wesen, die in diesem großen wilden Weltgetriebe wie arme schwache willenlose Körner auf die Räder eines erbarmungslosen Mühlwerks geschüttet und darin zu Staub zermalmt werden.

Als Raban am Ende des Rings angekommen war und noch einen Blick auf die schöne Architektur des Gewerbemuseums geworfen hatte, wandte er sich, schritt quer über die Straße und ging den Weg, den er gekommen, nun an der andern Seite der Straße zurück bis zu den Anlagen des Stadtparks, durch welche er nun, linkshin abschweifend, seinen Weg nahm. Als er an das Ende derselben, in denen der Lenz schon an allen seinen Blüthenwundern wirkte, gelangt, fiel sein Blick auf eine ihm halb noch durch Gesträuch verborgene Bank, auf welcher ein eisgrauer alter Mann mit einem weißen Schnurrbart vornübergebeugt den warmen Sonnenschein auf sich wirken ließ. Neben ihm, auf der Bank aber, wie eifrig ihm zuredend, saß zu Raban’s Ueberraschung dasselbe schlanke junge Mädchen – dasselbe junge Mädchen, dessen Erscheinung ihn vorhin betroffen gemacht und das so nun noch einmal vor ihm auftauchen sollte! Er faßte zuletzt ihre Züge voll in’s Auge, und wieder kam ihm auf’s lebhafteste die Erinnerung an seine Knabenbekanntschaft; jetzt um so stärker, als sie mit einem offnen Aufschlag der Augen seinem Blicke begegnete – es waren Augen, die ihn wie mit einem Zauber, welcher Vergangenheit zur Gegenwart machte, anleuchteten! Aber gleich darauf auch blickte sie zur Seite, auf ihren Gesellschafter – Raban sah jetzt, daß der alte Mann einen Stelzfuß trug – und wandte ihre Züge von dem Vorüberwandelnden ab.

Vielleicht ist der alte verstümmelte Invalid ihr Vater . . . wahrscheinlich ist er es, dachte Raban; und sie hat ihn vielleicht zu ernähren, hat für sich und den alten Mann zu sorgen, und hat schwache Arme und weiche Hände! Es kam ihm das heftige Verlangen, sich der armen Person, wenn sie es wirklich bedürfen sollte, anzunehmen und rettend in ihre Lage einzugreifen – eines jener Verlangen, welches beim Anblick fremder Noth und fremden Kummers ja leicht in uns emporsteigt, für Augenblicke uns beschäftigt, auch wohl über die Mittel und Wege dazu nachdenken läßt und dann, bevor aus dem Gedanken etwas wie eine That geworden, von andern Eindrücken verwischt und vergessen wird.

Eine That folgte aus der Begegnung Raban’s mit dem jungen Mädchen, das ihn so lebhaft in frühere Tage versetzt hatte, aber doch. Er schrieb’ am Abende noch an seinen Vater und bat diesen um eine Aufklärung, weshalb er eigentlich seit so viel Jahren den Umgang mit der ihm doch nahe benachbarten Familie auf Arholt vermieden habe.




2.

Als der Brief geschrieben war, machte Raban Toilette, um im Salon der würdigen Dame zu erscheinen, bei der er, seit er nach Wien gekommen, die meisten seiner Abendstunden zubrachte, als erklärter, wenn nicht Verlobter, doch Verehrer ihrer zweiten Tochter. Er hatte Leni von Eibenheim im vorigen Herbst auf einem Gute in seiner Heimath kennen gelernt, wo sie ein Paar Wochen hindurch zum Besuche gewesen – ihre glänzende Erscheinung hatte ihn angezogen und gefesselt, ihre Bildung war ihm außergewöhnlich erschienen, so gründlich und vielseitig, verglichen mit der Bildung der ihm bekannt gewordenen Töchter des Landes; dabei hatte ihr Wiener Dialekt, die Freimüthigkeit, womit sie sich aussprach, das natürliche frische Wesen der Süddeutschen etwas so Reizendes für ihn gehabt, daß er ihr leidenschaftlich den Hof gemacht. Und nun, nachdem der Vater sich mit Muße und Gründlichkeit nach den Verhältnissen der Eibenheims zu erkundigen Zeit gehabt, war er nach Wien gekommen, um sich von dorther die Frau zu holen, die „es ihm angethan“, deren Stammbaum seinen Vater mit der nöthigen Achtung erfüllte.

Im Salon der Frau von Eibenheim überwog das aristokratische Element, ohne andere auszuschließen, ohne namentlich das gelehrte, das literarische, das künstlerische „hintan zu halten“. Ein dreimal neu aufgelegter Dichter war der, der das Privilegium hatte, die Gesellschaft mit Anekdoten aus seinem Verkehr mit erstaunlich viel Fürstlichkeiten und Hoheiten zu unterhalten, und ein Custode des kaiserlich königlichen Antiken- und Münzcabinets, der als erste Autorität auf dem Gebiete der Kenntniß alter Pfennige, Groschen und Heller galt; dann ein Professor, der das berühmteste Buch üher Moose, Flechten und ähnliche Parasitenbotanik geschrieben hatte. Die geistige Bedeutung hob hier auf denselben Rang wie die Geburt und der Reichthum, und natürlich und folgerichtig gab sie ganz vorzugsweise die Berechtigung, für die Unterhaltung zu sorgen und das Wort zu führen. Als Raban eintrat, war es eben der Custode, der, mit seinem langen Rücken, an eine Ecke des Kaminsimses gelehnt, es führte und den auf niederen Sesseln im Rundkreise um die Flamme sitzenden Damen von den oft so sinnreichen Devisen erzählte, welche man vielfach auf den Denkmünzen des fünfzehnten bis siebenzehnten Jahrhunderts finde.

„Ich bitte Sie, Doctor,“ unterbrach ihn dabei herantretend ein Graf Kostitz, ein pensionirter Cavalleriemajor; „suchen Sie mir aus allen diesen Sinnsprüchen nur einen einzigen aus, der sich zu einem schlagenden geflügelten Wort verwenden ließe.“

„Ach, Kostitz, Sie haben immer noch nicht Ihr geflügeltes Wort gefunden?“ rief lachend die Baronin Eibenheim, die Hausfrau.

„Wie sollt’ ich!“ versetzte er. „Zwischen uns und die Unsterblichkeit haben bekanntlich die Götter den Schweiß gesetzt.“

„Und zur Unsterblichkeit wollen Sie sich aufschwingen auf den Fittigen geflügelter Worte?“ sagte der Dichter.

„Geflügelter Worte? Bei Gott, ich wäre zufrieden, hätte ich nur eines an der Schwungfeder erfaßt! Nur Eines!“ entgegnete spöttisch lächelnd Graf Kostitz. „Haben Sie das nicht längst erkannt, daß die einzige Art und Weise, wie der Mensch auf die Nachwelt kommt, das geflügelte Wort ist, das er ihr hinterläßt? Glauben Sie denn, die Nachwelt werde sich Ihre Gedichte vorlesen lassen? Nein, man wird fragen; was Sie gesagt haben, und wenn Niemand darauf antworten kann, so werden Sie gründlich verschollen sein. Glauben Sie, man werde viel Zeit haben im zwanzigsten Jahrhundert, alle Bücher zu lesen, sich mit vorübergegangenen Menschen und Dingen zu beschäftigen? Wahrhaftig nicht! Aber man wird von Oxenstierna wissen, daß er gesagt hat: Mein Sohn, u. s. w,, von Talleyrand, daß er seine eigenthümliche Ansicht über den Zweck, wozu uns die Sprache gegeben sei, hatte, von Shakespeare, daß er der Erfinder des großen Worts: ‚Sein oder Nichtsein‘ war, und in dem Einen: „Ist Alles schon dagewesen“ wird sich das Andenken an Rabbi Akiba, an Uriel Acosta und an Karl Gutzkow zusammt der ganzen modernen Literatur zusammenziehen, verdichten, krystallisiren. Sehen Sie das nicht deutlich voraus?“

Man lachte, und machte nun dem Grafen scherzhafte und spöttische Vorschläge zu einem geflügelten Wort.

Raban hatte sich unterdeß zu Leni gewandt, die neben einer verheiratheten älteren Schwester auf einem Divan im Hintergrunde saß und mit ihr über ein Modekupfer sich berathen hatte. Leni schob das Heft von sich, und indem sie ihre schöne volle Büste emporhob und Raban mit ihren glänzenden, verheißungsvollen braunen Augen anblickte, wollte sie wissen, wie er den Tag zugebracht.

„Höchst gewissenlos,“ versetzte Raban, „ich habe in mein Bildungsconto nicht einen einzigen Posten einzutragen gehabt; weder ein Museum, noch eine Bildergallerie, noch ein Künstleratelier, noch sonst eine ausgesuchte Merkwürdigkeit; ich bin einmal wieder der Philosoph aus der Sperlingsgasse gewesen und habe den Tag mit Träumen und ‚Beobachten‘, um es euphemistisch auszudrücken, hingebracht – das heißt als Müßiggänger.“

„Na,“ versetzte Resi, die ältere Schwester, die an einen Sohn der Gräfin Lorbach verheirathet war, einen Reichstagsabgeordneten von der feudalen Partei, „das spricht für Sie, Herr von Mureck, das heißt wenn wir gutmüthig genug sind, es als Galanterie für uns auszulegen …“

„Du meinst, Resi, Herr von Mureck wolle damit sagen, daß es keine andere Merkwürdigkeit für ihn hier gebe als …“

„Was?“ fiel Resi ein, „das wäre ein zweifelhaftes Compliment; zu den Stadtmerkwürdigkeiten möchte ich doch nicht gehören – ich bedanke mich. Ich meine nur, es ist viel löblicher, Abends in der Gesellschaft mit frischen Geisteskräften zu erscheinen, als todtmüde von allerlei Studien, erschöpft von allerlei überflüssigen

[444]

Das „goldene Thor“.0 Einfahrt in die Bai von San Francisco.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[445]

Chinesische Theestube in San Francisco.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[446] Anstrengungen oder gar noch dampfend von einer fulminanten Rede im Reichstag, wie so oft mein edler Gatte.“

Leni lachte. Raban aber durfte das Lob, welches ihm gespendet wurde, nicht annehmen – er hatte am wenigsten während des Tages daran gedacht, seine Geisteskräfte frisch zu erhalten, um am Abend im Salon der Frau von Eibenheim glänzen zu können.

„Ich verdiene Ihr Lob doch nicht, Gräfin,“ sagte er. „Ich bin sogar so egoistisch, es als ein Recht der Männer in Anspruch zu nehmen, wenn sie den Tag über gearbeitet haben, in der Gesellschaft die Erholung bei den Frauen zu suchen, sich die Tagessorgen von ihnen wegplaudern zu lassen.“

„Kennen Sie Tagessorgen?“ fragte Leni Eibenheim.

„Sorgen gehören zum Leben. Wer sie nicht hat, macht sie sich.“

„Zum Beispiel, daß zur nächsten Lucca-Aufführung kein Billet mehr zu haben sein wird?“

„Oder daß Ihr Pferd sich eine Fessel verstaucht hat …?“

„Welch fürchterliche Anhäufung von Schrecklichkeiten!“ unterbrach Raban diese Scherze – „gut, daß nichts dergleichen auf mir lastet – ein Pferd besitze ich hier nicht einmal, und dem Ausgeschlossensein von Opernaufführungen setze ich die neidenswertheste Seelenruhe entgegen. Aber Tagessorgen kenne ich dennoch, und meine heutige bezog sich auf die Frage, ob Ihre Regierung hinlänglich für die Invaliden, die verstümmelten Krieger sorgt?“

(Fortsetzung folgt.)

Zehntausend Meilen durch den Großen Westen der Vereinigten Staaten.[1]

Von Udo Brachvogel.0 Mit Illustrationen von Rudolf Cronau.
VI.
Californien einst und jetzt. – Die Siebenhügelstadt am Stillen Ocean. – Asien in Amerika. – Im Chinesen-Ghetto von San Francisco. – Die Seelöwenfelsen.

Kein Land der neuen Welt ist so viel beschrieben und, was in diesem Falle gleichbedeutend ist, so viel gepriesen worden, wie Californien. Jahrelang lag eine vollständige Wunderglorie darüber, die noch dazu aus dem solidesten Golde war. Die Plötzlichkeit, mit welcher das neue Dorado die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, die Entlegenheit und Schwerzugänglichkeit, in welcher es trotzdem noch für volle zwei Jahrzehnte blieb, und endlich die Schätze, die sich von ihm aus über die Völker der Erde ergossen – das Alles machte diesen Nimbus recht wohl erklärlich. Mit der Vollendung der ersten Ueberlandbahn wurde das anders. Sie zog das Märchenland am Stillen Ocean in den Bereich der Alltagsgebiete. Statt darüber zu lesen und zu hören, fing man an, es zu bereisen, es mit eigenen Augen zu sehen. Und wenn darunter auch das Wunderartige mehr und mehr gelitten hat, so haben doch die Naturreichthümer und die Naturschönheiten des Landes nach wie vor jede Prüfung und jeden Vergleich siegreich genug bestanden, um Californien noch immer Californien bleiben zu lassen. Selbst der hastigste Flug, in welchem der Ueberlandzug heutigen Tages den Reisenden vom Mississippi aus über die Prairien, die Felsengebirge und das continentale Binnenbecken des Großen Westens trägt, ist hinreichend, ihn mit der thatsächlichen und scheinbaren Oede dieses riesigen Zwischengebiets derartig zu erfüllen, daß er sich bei seiner Einfahrt in dies viel gelobte Californien unwillkürlich den Athem einer neuen Erde, eines wirklich gelobten Landes entgegen schlagen fühlt. Und wie von dieser, so von der andern Seite her, wenn er, vom Ocean kommend, durch die mächtigen Dünen- und Felsenpforten des Goldenen Thores (vergl. Illustration) in die Bai des heiligen Franciscus einfährt. Starr und finster ragen aus der salzigen Meerfluth die braungelben, scharfgeschnittenen Höhenzüge, welche die mächtige Bai umschließen. Eine enge Gasse nur öffnet sich dem von Asien und Australien kommenden Fahrzeuge, links sind steil abfallende Wände, rechts dräuen die Kanonen des mächtigen, die goldne Gasse beherrschenden Forts. Fernher aber grüßen die langen Höhenzüge der Sierra Nevada, überragt von der Doppelkuppe des Monte Diabole. Fahrzeuge durchschneiden die herrliche Bucht allüberall, dort stöhnen die breitbrüstigen Ferryboote hinüber und herüber, den Personenverkehr zwischen San Francisco und den zahlreichen kleineren rings die Bai umgürtenden Ortschaften vermittelnd, hier zieht ein stolzer Dreimaster seine Bahn, dort ruht ein mächtiger, eisengepanzerter Koloß, ein Kriegsschiff vor Anker, drüben ragt der Mastenwald der buntbewimpelten Handelsflotte, und überall schaukeln die kleinen, mit seltsamen Segeln versehenen Boote der Fischer und die noch seltsameren Kähne und Fahrzeuge einzelner chinesischer Schiffer (vergl. Anfangsvignette).

San Francisco ist gegenwärtig der Größe nach die siebente Stadt der Union. Die erste und schwierigste Station auf dem Wege zur Millionenstadt, die erste Viertelmillion hat es glücklich hinter sich. Aber nicht nur was seine Bewohnerzahl anlangt, steht dieses New-York des Stillen Oceans in der vordersten Reihe der Städte Amerikas. Ganz unabhängig von der stolzen Schwesternsippe jenseits der Felsengebirge – „in den Staaten“, wie es der Californier nennt – hat sich San Francisco zur amerikanischen Metropole von eigenen Gnaden aufgeschwungen. Nicht umsonst ist es in seiner Jugend durch ein halbes Dutzend Unruhen gegangen, die ebenso viele Kämpfe auf Tod und Leben gegen Feinde geregelter Staatsordnung bezeichneten. Nicht umsonst durch die elementaren Katastrophen ebenso vieler Feuersbrünste, von denen zwei die junge Commune in einen einzigen großen Scheiterhaufen verwandelten. Eine durchaus massive, stattlich-schöne Geschäftsstadt breitet sich heute über diesen Brandstätten der fünfziger Jahre, zunächst dem Hafen und mit diesem auf gleichem Niveau aus. Darüber aber erhebt sich in vielfach gegliederter Terrassenansteigung die weitgedehnte Wohnstadt. Zu ihr hat vorwiegend die eichenfeste Rothtanne der Sierra Nevada das Baumaterial geliefert.

Weithin leuchten ihre hellgestrichenen Villen und Cottages, mit ununterbrochen blühenden Blumenvorhöfen an Straßen aufgereiht, welche in ihrer Schnurgeradheit mit echt californischer Kühnheit die Sanddünen jener sieben Hügel hinauf und hinunter geführt sind, auf denen sich nach römischem Weltstadtrecept auch diese jüngste und westlichste der Weltstädte erhebt. Welchen ihrer [447] Theile man aber auch durchwandelt oder auf den wunderbaren Drahtseilbahnen, die hier über Berg und Thal führen, durchfährt, – in den ebenen, von massiven Prachtbauten gesäumten Hafen- und Geschäftsstraßen, wie in den endlosen, die Dünen bedeckenden Holzhäuserfluchten: überall ist es ein fertiges, ausgewachsenes Stadtwesen, welches man vor sich hat. Nirgends mehr eine Spur von baulicher Primitivität, von jener Pionierarchitektur, welche das einstige Heerlager des alten San Francisco kennzeichnete. Viel eher macht sich die Neigung zu allerlei architektonischem Schmuck- und Schnörkelwerk geltend, wie es in Erkern, Balcons, Säulenvorbauten, Eckthürmchen und dergleichen seinen Ausdruck findet. Geradezu Muster von Solidität und Großartigkeit finden sich unter den öffentlichen Gebäuden, den Privatpalästen der Millionäre, den großen Geschäftshäusern und den Hôtels, von welch letzteren das „Palace Hotel“ selbst in Amerika, der Heimath der Riesenhôtels, nicht seines Gleichen hat. (Vergl. den illustrirten Artikel von Th. Kirchhoff, „Gartenlaube“ 1874.)

Geradezu einzig aber ist San Francisco als kosmopolitische Stadt. Nicht einmal hinter New-York steht es in der bunten, verschiedensprachigen und verschiedenfarbigen Mischung seiner Bevölkerung zurück. Leider ist damit neben einer der interessantesten Illustrationen für das weltstädtische Wesen San Franciscos auch zugleich sein wundester Fleck berührt, jener Wundfleck, der geradezu mörderisch für die herrliche Stadt zu werden drohte, als vor drei Jahren die Washingtoner Bundesregierung selbst seinem weiteren Umsichgreifen Einhalt gebot: die chinesische Invasion San Franciscos!

Es soll hier nicht vergessen werden, welchen Werth der „gelbe Mann“ Asiens, der durch das gelbe Metall Amerikas über den Stillen Ocean gelockt wurde, für das letztere als menschliches Werk- und Lastthier gehabt hat. Wie übertrieben auch die Behauptung wäre, daß Californien, wie es heute ist, vornehmlich das Resultat chinesischer Arbeit sei, ebenso ungerecht wäre es zu leugnen, daß beim äußeren Aufbau der bezopfte „John“ thatsächlich seine Hand überall im Spiele gehabt habe. Die Chinesen waren und sind noch zur Stunde die Arbeitsbienen auf diesen reichen pacifischen Fluren. In den Fabriken stellen sie das Gros der Arbeiter; ihrer bedient sich der Weinkeltner; der Getreide- und Obstbauer ruft sie zur Zeit seines Anbaues und seiner Ernten herbei, und endlich sind sie im Küchen- und Hausdienst unerläßlich. In Massen und ganzen Arbeitertrupps aber haben sich diese vielbefehdeten Söhne des himmlischen Reiches erst recht verwendbar und in Folge dessen auch erst recht unentbehrlich erwiesen.

Das sind Thatsachen, an denen nicht leicht zu rütteln ist und die gar manches beweisen. Unter Anderem auch das Eine: daß es nicht die Masse allein ist, durch deren Verwendung der Chinese ein Culturelement in den pacifischen Gebieten geworden ist, sondern daß auch der Einzelne ein fleißiger, stiller, unermüdlicher Werkmann ist, daß er Geschick mit Geduld verbindet, und daß er um Vieles billiger, und ungleich lenksamer ist, als der kaukasische Durchschnittsarbeiter Californiens. Aber diese sich auf den ersten Blick und namentlich von der Ferne aus so sauber ausnehmende Medaille hat ihre Kehrseite. Und diese Kehrseite ist nicht nur das Gegentheil von Sauberkeit, sondern sie ist dies auch in solchem Grade und in solcher Ausdehnung, daß man sie nur einmal zum Gegenstand eigener Anschauung zu machen nöthig hat, um die Erbitterung vollkommen zu verstehen, mit der die gesammte pacifische Bevölkerung gegen die fernere Chineseneinwanderung kämpfte, bis dem Congresse das gesetzliche Verbot derselben auf zehn Jahre abgerungen war. Eine einzige Stunde im „Chinatown“, im Chinesenviertel San Franciscos genügt, um, ganz abgesehen von allen Lohnfragen und Arbeitsproblemen, auch im menschenfreundlichsten Gemüthe diese Ueberzeugung wachzurufen. Eine einzige Stunde – vorausgesetzt natürlich, daß sie nicht blos einem oberflächlichen, etwa nur den Curiositätenläden, Tempeln, Theehäusern[2] und dem Theater „John Chinamans“ geltenden Gang durch die Hauptstraßen dieser Chinesenstadt auf amerikanischem Boden gewidmet wird. Nein, man muß an der Hand eines Detectivs, der in allen Mysterien dieses Labyrinths von Uebervölkerung, Schmutz, Pestluft, Laster und Ungesundheit zu Hause ist, in die Seiten und Schlupfpfade desselben und von ihnen in seine Höhen und Tiefen dringen. Dann erst erfährt man, wie der als Arbeiter in Massen so werthvolle Chinese in Massen lebt, und wie er gerade den Boden jenes Landes, das seinen Zuwanderern die freiesten und weitesten Tummelflächen bietet, dazu benutzt, um auf ihm das unheimliche Problem zu lösen, welches Minimum von Raum und Lebensluft und welches Maximum von Schmutz der Mensch ertragen kann.

Beschreiben läßt sich das nicht. Aus einem regelmäßigen und schönen Stadttheile hat diese chinesische Invasion nicht nur die gesammte weiße Bewohnerschaft, sondern auch jede Erinnerung an den Comfort, an die nothwendigsten Einrichtungen, ja an die Menschenwürdigkeit vertrieben. Wo es früher Räume und Zimmer gab, giebt es heute nur noch Löcher und Unterschlüpfe. Als Schlafgelasse aber dienen hölzerne Verschläge, die, gleich Schiffskojen oder Hühnerställen drei- und vierfach über einander gefügt, nur in der Mitte der jetzt von ihnen angefüllten Räumlichkeiten einen engen, krummen Gang freilassen, durch den sich ein erwachsener Mensch nur eben durchwinden kann. Und überall reichen diese Verschläge hin: bis unter die Dächer hinauf, bis zwei und drei Stockwerke unter die Erde, wo der Zimmermann zum Maulwurf wird, um immer neuen Raum für diese menschlichen, den Tag über fleißig arbeitenden Wesen zu gewinnen, die sich hier für die Nacht, lebenden Leichnamen gleich, verkriechen und vergraben. Und dazu überall der süßlich widerliche Geruch des Opiums, den man, einem Schiffsgeruche gleich, noch tagelang nach einem Besuche dieser Schlafspelunken nicht aus der Nase bekommt. Und überall ein Schmutz, der in feuchtklebrigen Massen die Wände bedeckt, der den Fuß auf Schritt und Tritt ausgleiten läßt, der die geschwärzten Verschlagsbretter, zwischen denen man sich nur gebückten Hauptes dahinschieben kann, überzieht und überschleimt! Genug davon, der Ekel hat auch seine Rechte, welche die Feder des Schilderers zu respectiren hat!

Wie zahlreich das menschliche Gewürm ist, welches allnächtlich die Unterschlüpfe dieses Chinesenquartiers durchwimmelt und dort für Miethpreise, die bis fünfzig Cents per Monat heruntergehen, „bei sich“ ist? – wer will es sagen! Haben doch die San Franciscoer Behörden selber noch nie so recht dahinter kommen können oder wollen! Aber in welchem Maß es mit jedem Jahr seit der Gründung dieses mongolischen Ghettos angewachsen ist, das beweist mit erschreckender Unwiderleglichkeit die nach allen Seiten hingehende rapide Ausbreitung dieses mörderischen städtischen Gemeinschadens, welche es sehr wohl gerechtfertigt hätte, wenn derselbe schon längst mit einer im wahrsten Sinne des Wortes chinesischen Mauer umgrenzt und gewaltsam in diese Grenzen eingezwängt worden wäre. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob selbst durch eine solche Mauer dieser Zweck hätte erreicht werden können. Denn wie sich diese menschlichen Maulwürfe und Kellerwürmer durch zwei und drei unterirdische Stockwerke in die Erde hineinwühlen, ja sich sogar Gänge, die wieder von den allgegenwärtigen Schlafverschlägen eingesäumt sind, unter den Straßen hinweggraben: so würden sie auch unter jeder Mauer weg, die nicht mindestens haustief fundamentirt wäre, in die übrige Stadt vordringen. Der Unfehlbarkeit dieses stillen, geräuschlosen, man möchte sagen, elementaren Vordringens der Chinesen aber entspricht ganz genau diejenige, mit welcher die weißen Bewohner der Stadt widerstandslos die Nachbarschaft der gelben Eindringlinge räumen. Und da sie bei dieser Flucht stets dafür sorgen, daß zwischen der neuesten chinesischen Eroberung und ihnen mindestens zwei oder drei leere Häuser bleiben, so können die unternehmenden Zopfträger sich still und unmerkbar auch über diese, die außer ihnen absolut keine Miether finden würden, verbreiten, um das Geschäft der Weißenvertreibung mit einer geräuschlosen Unwiderstehlichkeit fortzusetzen, welche in der Geschichte der Rassenkämpfe ohne Gleichen dasteht.

Auf solche Weise haben diese asiatischen Eroberer San Franciscos nicht nur einige der wichtigsten früheren Hauptstraßen der Geschäftsstadt, sondern zwischen diesen und um sie herum einen ganzen ansehnlichen Stadttheil derartig in ihren ausschließlichen [448] Besitz bekommen, daß er selbst erst nach vollständiger baulicher Revolution wieder für Weiße bewohnbar sein würde. Denn wie der Chinese wohnt und schläft, so treibt er auch sein Geschäft in den engsten Winkeln, Kammern und Löchern oder auf den schmutzigsten Gassen und Durchgängen. Seine Fleisch- und Eßwaarenboutiquen starren von demselben Schmutz, wie seine Schlafstätten, Lasterhöhlen, Spielhäuser und Opiumhöllen.

Selbst das Charakteristische und Malerische, das ihre farbigen Schilder, Häuserzierrathe, Tempelembleme, Fahnen und bunte Laternen und Lampions den Hauptstraßen ihres Quartiers geben, vermag sich unter den steten Feindseligkeiten, denen der Reinlichkeitssinn und vor allen Dingen die Nase des kaukasischen Besuchers dieser Regionen auf Schritt und Tritt ausgesetzt ist, nur erst allmählich und auch da nicht immer zu einer wirklich erquicklichen Geltung zu bringen. Der Charakter des Ganzen bleibt der des Wüsten, Ungehörigen und Barbarischen.

Im Chinesenviertel von San Francisco.

Doch nun hinaus aus der Enge des wunderlichsten und ungeheuerlichsten, mit nichts als einem von Maden wimmelnden Käse zu vergleichenden Stadtgewinkels, dessen sich irgend eine Großstadt des Occidents rühmen darf! Höher hinauf – den Dünenrücken, an dem es bereits emporzukriechen beginnt, hinan – über ihn und die ihn bedeckenden Cottages und Villen hinweg, noch über zwei oder drei weitere Bergrücken fort, bis uns des Oceans unendliche Fluth entgegenschimmert! Der stolze Pacific – klippig fallen seine Gestade in schwärzlichen Massen hernieder. Eine schneeige Brandung säumt den schmalen Sandstreifen, der sich längs ihres Fußes hinzieht. Auf der Höhe einer dieser Klippen aber steht das Cliff house, ein beliebter Vergnügungsplatz, zu seinen Füßen die in graubraunem Gezack aus der Fluth aufragenden „Seelöwenfelsen“. Heiseres Gebell durchdringt die rauschende Brandung. Aus ihrem weißen Schaum aber schieben sich von allen Seiten her die ungefügen Fettleiber der erst durch ein Gesetz, jetzt durch den Willen der Bevölkerung von San Francisco vor der Kugel des Jägers geschützten Seelöwen empor, die zu Hunderten auf dem engen Raum dieser beiden Klippen hausen. Keine Stadt der Welt erfreut sich des Besitzes einer zoologischen Anlage, wie diese. Die Kosten ihrer Erhaltung trägt sie selbstredend allein und dankt das bischen Schutz, das man ihnen vor dem Robbenjäger und Schläger gewährt, durch die gewissenhafteste Vermehrung. Leib an Leib gedrängt überwimmeln sie an sonnigen Nachmittagen die Abhänge des ihnen ausschließlich gehörenden Klippenasyls. Mit einem Opernglase kann man vom Strande oder von den Veranden des „Klippenhauses“ jede ihrer Bewegungen verfolgen, und als wüßten sie es, daß sie eine der alleroriginellsten Sehenswürdigkeiten San Franciscos, ja der ganzen pacifischen Küste sind, so werden sie nicht müde, das zackige Gefelse auf und nieder zu klimmen, in’s Wasser herabzuplumpen, einander den Raum streitig zu machen, mit einem Wort einer verehrlichen menschlichen Zuschauerschaft Alles zum Besten zu geben, was diese schlechterdings nur von halbcivilisirten Seehunden verlangen kann.

Jenseits des absonderlichen Thiergewimmels aber breitet sich das Meer so ruhig und endlos dahin, als wolle es den Menschen immer auf’s Neue herausfordern, ihm den Namen beizulegen, den es doch längst schon trägt: des Stillen Oceans und des Großen zugleich.

Und nun den Blick zurück, landeinwärts gewendet! Weitab an der inneren Bai, nur eben mit ihren äußersten Vorstadtausläufern bis in den Gesichtskreis des Meeres hinausgreifend, liegt die Stadt. Was das Auge von hier zunächst überschaut, sind die Dünen, Uferfelsen und langgestreckten Bergrücken jenes Küstengebirges, welches von Panama bis nach Alaska hinauf, nur von wenigen Einfahrten und dahinter liegenden Buchten unterbrochen, das Gestade dieses größten aller Oceane säumt, einem einzigen Wall gleich! Bis zu 3000 und 4000 Fuß hoch und bis zu 40 Meilen breit dämmt es das Land gegen das Weltmeer ein. Dann fällt es zur californischen Tiefebene ab, welche, in ihrer oberen Hälfte vom Sacramento, in ihrer unteren vom San Joaquin durchströmt, in ihrer Baumlosigkeit einer handtellerflachen Steppe gleichen würde, deckten sie nicht die reichsten Ackerfelder und Weidetriften.

Von der stürmischen Jugend des einstigen Schatzgräberlandes, von dem wüsten Urkern einer aus Gold, Lastern und Blut sich aufringenden internationalen Civilisation nirgends mehr eine Spur. Gefestigte Verhältnisse und des Gesetzes unantastbare Herrschaft überall. Städte und Anwesen über das ganze Land verstreut; Eisenbahnen nach allen Richtungen der Windrose führend; längs derselben Wein- und Fruchtgärten, weite Ackerflächen, noch weitere von Heerden übervölkerte Savannen; Wohnstätten bis in die Höhe der Sierra Nevada und der Küstengebirge hinauf; die einstigen Goldgräberlager in Trümmerhaufen gesunken oder zu festgegründeten, geordneten Gemeinwesen erwachsen; das ist das heutige Gold- und Abenteurerland am Pacific.


[449]
Sieben neu aufgefundene Jugendgedichte
von
Emanuel Geibel.

 Frohes Erwachen.

Fahrt wohl ihr Bücher so trüb und stumm!
Fahr wohl du düsteres Haus!
Der Frühling ist kommen, der Winter ist um,
Es zieht mich ins Freie hinaus.

5
Muß singen, muß singen voll Freudigkeit,

Das Herz ist mir frisch und gesund;
Muß lieben, muß lieben zur Blüthenzeit
Und küssen den rosigsten Mund.


 Frühlingsfeier.

Frühling, Frühling ist gekommen!
Haucht mit leisem Klang der West,
Erd’ und Himmel feiern heute
Selig ihr Vermählungsfest.

5
Siehst du nicht die Blumenkränze

Im Gelock des Mädchens blühn?
Siehst du droben nicht des Jünglings
Großes Mondesauge glühn?

Tausend Sänger, buntbefiedert,

10
Sind zu ihrem Fest erwacht,

Rothe Rosen, Liebesfackeln,
Flammen duftig durch die Nacht.

Und es rauscht und klingt und flüstert
In den Tiefen, auf den Höhn,

15
Und die Wonnethränen thauen,

Und die leisen Küsse wehn.

Aber wir, durch all die Feier
Wandeln wir in stiller Lust;
Denn was Erd’ und Himmel fühlen,

20
Füllt auch uns, auch uns die Brust.


 Der Hirtenknabe.

Der Hirtenknabe treibt im Apennin,
Er läßt bergauf, bergab die Heerde ziehn;
Doch ruht er nicht am schattig grünen Hang,
Nicht hört er auf der Vögel Lustgesang;

5
Vor seiner Seele schwebt des Mädchens Bild,

Das er verlor, und seine Thräne quillt.

Doch endlich, als der blaue Tag sich neigt,
Und flammenroth die Sonne niedersteigt,
Als leise durch den feierstillen Wald

10
Des Klosters Spätgeläut herüberschallt,

Hat Müdigkeit den schwachen Leib erfaßt
Und seine Glieder sehnen sich nach Rast.

Und wo durchschauert von des Zephyrs Wehn
Im Lorbeerhain des Tempels Trümmer stehn,

15
Wo im Gemach am Grund die Blume wankt,

Um Marmorsäulen sich der Epheu rankt,
Da streckt er sich in’s weiche Moos zur Ruh,
Und seine müden Augen fallen zu.

Noch grüßt des Abends Gold den dunkeln Hain,

20
Da tritt ein Wandrer zu dem Knaben ein;

Die goldne Laute trägt er fest im Arm,
Sein Blick ist klar, sein Odem liebewarm,
Der singt in’s Saitenspiel ein leises Wort,
Und küßt des Knaben Stirn, und schreitet fort.

25
Die Sternennacht zieht feierlich herauf,

Durch Silberwölkchen geht des Mondes Lauf,
Der Tag erglüht in gold’ner Feuerpracht,
Noch ist vom Traum der Knabe nicht erwacht;
Er schlummert fort. Ihn weckt kein Morgenroth,

30
Denn der ihn liebend küßte, war der Tod.


 Trinklied im Sommer.

„Ei sagt mir doch, ihr Leute, wer hat euch das Trinken gelehrt,
Daß ihr den ganzen Sommer nach Weine so begehrt,
Daß ihr vom heißen Mittag im kühlen Schatten trinkt,
Bis glühendroth die Sonne in’s blaue Meer versinkt?“

5
Wer uns das Trinken gelehrt hat, das sei dir offenbar,

Das ist die große Sonne am Himmel goldig klar,
Im Sommer ist sie durstig, da trinkt ihr Strahlenmund
Viel Bäch’ und Quellen und Seeen wohl trocken bis auf den Grund.

Wer uns das Trinken gelehrt hat, das ist das blaue Meer,

10
Hat’s auch schon Wasser die Fülle, doch dürstet es gar sehr;

Es trinkt alle Ströme und Flüsse im raschen Wogenlauf,
Es trinkt von Morgen bis Abend, und höret nimmer auf.

Wer uns das Trinken gelehrt hat, das ist die Liebe so heiß,
Die singt und flammt im Herzen, wie jeder Verliebte weiß,

15
Und stürzten wir nicht darüber des Weines duftige Fluth,

So würden wir noch verbrennen vor lauter Liebesgluth.

So haben wir’s Trinken gelernet. Drum Flaschen auf Flaschen her!
Stoßt an, es lebe die Sonne, es lebe das blaue Meer!
Stoßt an, es lebe die Liebe im Herzen glühend rein!

20
Stoßt an, es lebe der Sommer, es lebe der goldne Wein!


 Der Held der Vendômesäule.

Durch die hohen Gassen brauset tausendstimmiger Gesang,
Festlich schmettern die Trompeten in der Trommeln dumpfen Klang,
Waffen blitzen, Federn wallen, und die stolzen Banner wehn,
Drauf der Freiheit junge Farben hell wie Regenbogen stehn.

5
Um die erzgegoss’ne Säule, die im Kuß der Morgengluth

Wie von blut’gen Streifen schimmert, brandet rings der Menge Fluth,
Da ertönt der Glocken Stimme von der Kathedralen Thurm,
Und die Lieder der Geschütze hallen drein, wie Donnersturm.

Und wem gilt des Volkes Jauchzen, und wen meint der Trommeln Schall?

10
Wen verkündet uns der Glocken, der Kanonen Widerhall?

Wessen Bildniß schimmert drohen auf der Säule stolzem Schaft,
In des Tages erstem Strahle feierlich und riesenhaft?

Ist es Memnon, der Aegypter, Eos königlicher Sohn,
Der bei ihrem Gruß die Wüste füllt mit wunderbarem Ton?

15
Ist es Cäsar, der den Westen mit gewalt’ger Hand bezwang?

Ist’s der hohe Philippide, der zum fernsten Osten drang?

Ja, es ist ein Memnon, Brüder, von des Morgens Glanz umwallt,
Dessen Heldenruhm die Wüste feierklingend widerhallt;
Ja, es ist ein Cäsar, welcher Rom und Gallien gebot;

20
Ja, es ist ein Alexander, der des Ostens Reich bedroht.


Aber ach! Er ist gesunken, und die Feier sieht er nicht,
Und ihn zieren nicht die Kränze, die sein Volk ihm dankbar flicht;
Nur ein stolzer Königsadler, der dem sieggewohnten Heer
Einst auf seinen Zügen folgte, bringt die Kunde über’s Meer.

25
Und wo sieben Trauerweiden auf ein einfach weißes Grab

Ihre trüben Schatten werfen, senkt er langsam sich herab,
Flüstert leis dem großen Todten seine Botschaft in das Ohr,
Und zu ew’gen Sonnenhöhen schwingt er rauschend sich empor.


 Der Rosenstrauch.

An deinem Fenster steht ein Rosenstrauch
Voll rother Rosen,
Und täglich kommt der laue Frühlingshauch,
Damit zu kosen.

5
Er flüstert manches süße Liebeswort,

Wer mag’s verstehen?
Und grüßt und küßt die Blumen immerfort
Mit leisem Wehen.

Nimm dir ein Beispiel, du mein holdes Kind,

10
An deinen Rosen,

Und laß mich kommen, wie den Frühlingswind,
Und mit dir kosen.

Noch süßre Lieder kenn’ ich, als der Hauch,
Du sollst sie wissen,

15
Und sanfter grüßen, Liebchen, kann ich auch,

Und weicher küssen.


 Der bleiche Engel.

Der Mond scheint durch die Bäume,
Kein Vöglein singet mehr,
Die Blumen selber schlummern,
Und still ist’s weit umher.

5
Da schwebt ein bleicher Engel

Ueber die fernen Höhn,
Sein Aug’ ist blau und heilig,
Sein Antlitz lilienschön.

Den armen müden Menschen

10
Lächelt er freundlich zu,

Und wo er Thränen siehet,
Da bringt er süße Ruh.

Die kranken Herzen alle
Singt er in Schlummer ein,

15
Und wenn sie wieder erwachen,

Muß es im Himmel sein.


(Die vorstehenden Gedichte von Emanuel Geibel sind nach den uns zur Verfügung gestellten handschriftlichen Aufzeichnungen des Dichters aus dem Jahre 1833 hier zum ersten Male gedruckt. Geibel, im Jahre 1815 geboren, war also zur Zeit der Abfassung der Gedichte achtzehn Jahre alt.)




[450]

Die Segnung der Alpen.

Eine blaue, stumme Weite wölbt sich uns zu Häupten. Nur die zerklüfteten Felsengipfel, aus denen selbst in Sommertagen kühle Schneeluft weht, ragen reglos in dies Blau, stundenweit hört man den Flug des Windes, das Rauschen des Bergbachs und jenen Lebensstrom, der durch die tiefgelegenen Wälder zieht. Dann wird es wieder stille – minutenlang, stundenlang und tagelang. Droben aber auf den herben, steinigen Halden blüht das Gras zwischen den verwitterten Blöcken, kurze blaue Blumen nicken darin, und die Bergbienen summen darüber und tauchen in die süßen Kelche.

Es kommt die Nacht mit ihrem unermeßlichen Sternengefunkel, es kommt der Morgen mit seiner sieghaften Sonnenpracht, aber stumm und ungesehen zieht das eine und das andere vorbei in unwandelbarer Ruhe. Denn drunten, unter dem Schutz des Felsvorsprunges, liegen wohl ein paar braune Hütten, und durch den nahen Wiesenhang klingt das Geläute der Alpenheerde, aber die Menschen, die hier weilen, haben ihr hartes Tagewerk, das Sinn und Kräfte ganz in Anspruch nimmt, und das keine Zeit gewährt, um träumend dieser Welt zu lauschen.

Das ist die Natur und das Leben unserer Hochalpen, wie es seit tausend Jahren war und wie es noch heute fortbesteht in feierlicher Einsamkeit.

Es kann nur natürlich scheinen, daß in dieser geheimnißvollen Welt auch die alten Lebensgeister der Natur zäher und tiefer haften, als auf jeder anderen Scholle, daß diese riesige elementare Gewalt eine heimliche Scheu über das Herz der Menschen breitet, obschon es die muthigsten Menschen sind, die hier wohnen.

Und so bevölkert denn eine Schaar von Elben, Kobolden und Dämonen und – von verklingenden Erinnerungen unseres Volkes jene Felsenklüfte; die Sage, die von den Pforten der Paläste längst verstoßen ist, wohnt und nistet noch heimlich in den verwitterten Hütten, wo nur die Mäher der Alpen das Wildheu bergen. Dort sprühen die Funken von der Sense des finsteren „Almgeists“; dort tönt im Morgengrauen das gellende Jauchzen unsichtbarer Stimmen, und um das mitternächtige Feuer drängen sich verzauberte Gestalten mit feurigen Augen und gespenstigen Formen.

Wilhelm Riefstahl.

Auch die alten Götter, die nicht weichen wollten aus der bergenden und nährenden Phantasie des Volkes, zeigen in jenen Höhen noch die Spur ihrer tausendjährigen Vergangenheit. Der Alpenfürst „Woaden“, der über alle Schätze im Bergesinnern gebietet, ist nur der Schatten des alten Wodan, und wo sein Fuß hintritt, nennt man’s „die Straße der saligen Fräulein“; noch heute flüstert die Sage von „Wendel“, dem Hirtengott und vom Bergkönig Oswald, dem mächtigen „Wetterherrn“. So blühen tausende von stillen Erinnerungen weiter, aber die verschüchterte Liebe des Volkes hat sich in Furcht verwandelt, und mit einer heimlichen Scheu blickt das Bergvolk unserer Tage in die wilde Kraft der Elemente, in denen es nur mehr den Zorn der Entthronten spürt.

In diesem Bangen, das freilich nur der Naturmensch, nicht der Gebildete begreift, das kein Wort hat und das doch wortlos durch die Tiefen der Volksseele strömt, sehnt die Gemeinde dann sich doppelt nach der schirmenden Kraft, welche der Himmel des Christenthums ihr bietet. Und so greift der gewaltige Arm der Kirche auch in diese stille einsame Bergeswelt und prägt das Zeichen seiner Macht auf das ungeheure Walten ungebändigter Mächte.

Das ist kein Wort von kleinlicher Tendenz, sondern wir weisen nur auf jenen großen welthistorischen Proceß, der sich damit vollzog, auf den Ausgleich zwischen dem Christenthum und der germanischen Heidenwelt. Unvermerkt und leise trat die eine Form an die Stelle der andern, und wer unbefangen in die Welt blickt, der muß sich gestehen, daß diese Cultusformen des christlichen und speciell des katholischen Glaubens vielleicht nirgends ergreifender, tiefsinniger und künstlerisch schöner zu Tage treten, als wo sie sich mit den Sitten und Bräuchen der Bergwelt verknüpfen, als da, wo sie im Rahmen der großen Natur stehen.

Solche Feste sind z. B. die herrlichen Bittgänge um den Erntesegen, so glänzt die Leonhards-Fahrt[3] als ein farbenglühender Tag noch durch den Novembernebel, so tritt uns, in ernsteren Tönen, die Segnung der Alpen entgegen, jene stille Feier, die wohl zu dem Ergreifendsten gehört, was unserem Volksleben übrig blieb.

Vor allem ist die Sitte noch in Voralberg und Montafon zu Hause. Die sogenannten Niederalpen oder „Niederleger“, die man im Frühsommer zuerst bezieht, sind dort „Maiensässe“ geheißen, und wenn diese eingesegnet werden, dann drängt sich natürlich eine bunte Menge fröhlichen Volkes herzu. Man ist noch drunten in bewohnter Gegend, und die ganze Feier hat einen Zug von lebensfroher Zuversicht.

Viel ernster und großartiger aber ist das Bild, wenn es dann im August in die einsamen mächtigen Hochalpen geht. Da wird der kleine Kreis, der sich ehrfürchtig um den Priester drängt, fast nur von wenigen Sennerinnen und Hirten gebildet; mit scheuer Andacht umgeben sie das Feuer, in das die geweihten Kräuter geworfen werden, und mit dem ganzen Ernste, den oft das Antlitz unbewußter Menschen ausprägt, lauschen sie den fremdartigen Worten. Der Priester aber sprengt mit einem grünen Zweig das Weihwasser in die Lüfte; durch das Gestrüpp der Kiefern und der Alpenrosen zieht der niedere blaue Rauch – und kein Laut erklingt in der Runde, als das Rieseln der Bäche und das Rauschen der Wälder. So steigen die stillen Bitten empor in die Ferne des Himmels, dann bekreuzen sich die Männer und Frauen und sind sicher – ihrer Erhörung.

Dies ist der Stoff des herrlichen Bildes, welches der gefeierte Maler Wilhelm Riefstahl uns hier vor Augen führt und in dem die ganze originale Kraft seines Schaffens uns entgegentritt. Der Grundgedanke seiner Kunst ist in demselben verkörpert: die Landschaft in ihrer ganzen Größe und Unmittelbarkeit realistisch darzustellen und zugleich in dieselbe Gestalten hineinzutragen, die nicht blos als Staffage am Wege stehen, sondern die einen bedeutsamen culturgeschichtlichen Vorgang tragen.

Das feine künstlerische Verhältniß zwischen diesen beiden Elementen, zwischen Natur und Menschenwelt, zu erfassen und es in vollendete Harmonie zu setzen, das hat noch keiner so vermocht, wie er. Darin war er bahnbrechend in Deutschland und mit Recht konnte der gewaltige Menzel in seiner kurzen, aber absoluten Weise vor einem dieser Bilder sagen: „Das ist ein Stück Welt.“ Der Weg zu solcher Meisterschaft war freilich auch für Riefstahl lang und mühevoll genug, wenn auch sein Leben keine besonderen Stürme und Unfälle aufweist. Daß er Maler werden wollte, wußte er von Anbeginn, aber Maler zu werden, war damals [451] noch ein kärgliches Brod, und seine Eltern hatten wenig übrig, um diesen Träumen zur Wirklichkeit zu verhelfen. So schien der – Dekorationsmaler vorläufig der geeignetste Mittelweg.

Als halbgewachsener Junge zog er denn von Neustrelitz in Mecklenburg, wo er am 15. August 1828 geboren wurde, nach Berlin und trotz aller guten Vorsätze zum goldenen Handwerk kam es schließlich doch dahin, wohin es kommen mußte, daß er eines Tages statt der Werkstatt die Akademie besuchte. Sein Lehrer war Schirmer, auch Schnaase nahm den liebenswürdigsten und förderndsten Einfluß auf seine Entwickelung, doch war das Ziel, das er sich damals gestellt, nur die einfache Landschaft. Vor allem waren es Bilder aus Rügen und Westphalen, die ihn beschäftigten, denn er verstand den Zauber der Haide, den so wenige begreifen; daneben aber ward er durch eine Arbeit, die er für Kugler’s Kunstgeschichte übernommen hatte, in die großartigste Architectur geführt. Noch heute blüht diese Vorliebe ja hier und dort in seinem Schaffen auf.

Da endlich kam auch für ihn die große Stunde eines entscheidenden Werkes. Es war eine „Strandpredigt“ auf Rügen, die er etwa um die Mitte der fünfziger Jahre gemalt hat und die alsbald gewaltiges Aufsehen hervorrief, denn hier zum ersten Male war jener Versuch gemacht, in eine bedeutsame Landschaft einen ebenbürtigen bedeutsamen Vorgang hineinzustellen – Figuren, die nicht im Atelier nach dem Modell gezeichnet waren, sondern die der Künstler draußen in der Natur im freien Licht gemalt, als die leibhaftigen körperlichen Originale dessen, was er schildern wollte.

Und in dieser Richtung hat sich seitdem seine Kunst zu ihrer reichsten Blüthe entwickelt, mit immer steigender Betonung und immer glänzenderer Durchbildung des figürlichen Moments. Ganz besondere Nahrung aber erfuhr dies Bestreben, als er in den sechsziger Jahren zuerst in’s Hochgebirge kam, nach Tirol und in die Schweiz, aus denen eine Reihe seiner vollendetsten Bilder entnommen sind. So vor allem jene „Feldandacht von Passeyrer Hirten“, die auf der Münchener Ausstellung von 1869 den tiefsten Eindruck machte und die sich jetzt in der Nationalgallerie zu Berlin befindet, oder jenes „Begräbniß in Appenzell“, das der Karlsruher Sammlung gehört.

Ueberall tritt uns hier eine Wahrheit und Unmittelbarkeit der Handlung entgegen, daß wir jedes Gefühl absichtlicher Darstellung verlieren; wir sind selber mitten unter den Menschen, die dies thun oder leiden. Es ist der eigene mächtige Eindruck, der uns gegeben wird, und darum wirkt dieser Eindruck auch so mächtig weiter; dazu aber kommt ein Feingefühl, eine Ehrfurcht für die stumme Größe der Natur, die den Bildern Riefstahl’s neben ihrer Schönheit fast einen Zug von Weihe giebt.

Das kann freilich nur der, in dem der Mensch dem Künstler ebenbürtig ist, und gerade dieser Zug macht Riefstahl’s Persönlichkeit so würdevoll, so fesselnd und sympathisch. Er hat das Gesetz der alten Meister verstanden, daß der Künstler vor allem ein hochgebildeter Mann sein müsse, daß sich nur aus der Vielseitigkeit des Verstehens und der Anschauung die Einheit des eigenen Wesens und ein selbstständiger Stil gewinnen lasse. Sonst wird die Einheit zur Einseitigkeit und der Stil zur Manier.

In diesem Sinne ist es vielleicht zu beklagen, daß Riefstahl die Lehrthätigkeit wieder aufgab, die er fast ein Jahrzehnt an der Kunstschule in Karlsruhe geübt hat; seitdem ist sein Wohnsitz in München, wo er unter dem reichen vielgestaltigen Künstlerleben eine durchaus selbstständige, scharfgezeichnete Erscheinung darstellt.

Still, gemessen und anspruchslos in seinem äußeren Dasein, durch warmes Empfinden Allen verbunden, mit denen sich sein Leben berührt, ist Riefstahl doch innerlich vielleicht eine der vornehmsten Künstlernaturen, denen man begegnen kann. Aber auch sein Leben und Schaffen steht unter dem Worte: Noblesse oblige.
Karl Stieler. 

Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit. 0 Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)


10.

Am Dienstag Nachmittag stand Luise von Göchhausen in ihrem kleinen Zimmer im Wittthumspalais neben einem Tisch, auf dem ihre alte Schulzin eben das von ihr gefertigte Maskeradencostüm für die junge Herrin ausbreitete. Luise war klug genug zu wissen, daß sie sich nicht wie schlankgewachsene, schöne Mädchen kleiden dürfe; ebenso wußte sie, daß man ihre kleine Gestalt, ihre schiefe Schulter unter allen Verhüllungen heraus erkenne; es kam für sie also nur darauf an, etwas Drolliges, Originelles zu erfinden. Sie hatte einen feuerrothen Domino gewählt, und um dieser Wahl etwas Charakteristisches zu geben, wollte sie ein „Flämmchen“ vorstellen. Sie hatte sich eine spannenlange Flamme malen und diese an einem goldenen Reif befestigen lassen, welchen sie um den Kopf trug, dazu nahm sie nur eine schwarze Florbrille und keine Maske; wozu diese Unbequemlichkeit, zu erkennen war sie ja doch!

Sie fand, indem sie jetzt ihren Stirnreif vor dem Spiegel anprobirte, daß die Flamme ihr nicht übel stand, das kecke Gesichtchen sah koboldartig, aber pikant darunter hervor.

„Hör mal, Altsche,“ sagte sie jetzt überlegend zur Schulzin, „der Herzog hat ehgestern in Tiefurt und gestern Abend bei Witzlebens wiederholt versichert, ich werde nicht auf die Maskerade kommen, er spielt mir also, davon sei überzeugt, irgend einen Possen. Ich war diesen Morgen in der breiten Gasse. Onkel Wilhelm geht auch zu der Hofmaskerade, er sagte, daß er ein sehr würdiges Costüm bereit habe. Ich stellte ihm vor, daß er von meiner herzoglichen Portechaise profitiren und den Thaler für seine Sänfte sparen könne; wenn er meinen Trägern eine Kleinigkeit gäbe, wäre das ausreichend. Er solle auch zuerst hinbefördert werden. Dies alles leuchtete ihm sehr ein. Nun müsse ich mich aber bei ihm ankleiden, sagte ich, denn sonst könne ich die Portechaise nicht dorthin bestellen. Er war’s zufrieden, und ich hoffe, wir ziehen so den Kopf aus der Schlinge! So wie es dämmert, nimmst Du meine Garderobe und gehst voran. Um fünf Uhr entläßt mich die Herzogin, dann folge ich Dir unbemerkt; wenn also der Herzog irgend einen Schabernack plant, mir die Thür zunageln oder sonst einen Unsinn machen will, ist der Vogel ausgeflogen.“

„O je, wie Du klug bist, Kind,“ sagte die alte Zofe mit vor Bewunderung glänzenden Augen.

„Der Träger sind wir doch sicher?“

„Ich habe sie bestellt, sie ließen noch niemals warten; nun muß ich natürlich noch vorgehen und sagen, daß sie zu unserm Onkel kommen.“

„Thue das! Und – mir liegt doch sehr daran auf dem Balle zu sein – wie wär’s, wenn wir eine Viertelstunde später die Portechaise nach der breiten Gasse bestellten, die der Oberkämmerer gewöhnlich nimmt? denn sieh nur den aufgelösten Schnee, gehen könnte ich in Ballschuhen keinenfalls. Läßt uns also die Hofportechaise auf Ordre des Herzogs im Stich, so kann die gemiethete erst Onkel und dann mich hintragen.“

„Das ist ganz vernünftig bedacht, aber Du wirfst einen Thaler hinaus.“

„Lieber das, als meine Wette mit dem Herzoge verlieren.“

Die Schulzin ging, um die beiden verschiedenen Sänften zu bestellen, und machte sich dann heimlich, unter einem großen Regenschirm, mit dem in ein Tuch geschlagenen Anzug ihrer Dame auf den Weg zur Wohnung des Herrn von Göchhausen.

Zur festgesetzten Zeit standen Oheim und Nichte festlich gekleidet im Zimmer des alten Herrn.

„Wie findest Du mich, Luise?“ fragte er, indem er sich selbstgefällig von oben herunter beäugelte.

Er stellte einen Malteserritter in Gala vor; über weißen Seidenschuhen mit rothen Hacken trug er weiße seidene Strümpfe und ein ebensolches Beinkleid; ein Wams von schwarzem Sammet mit Kette und Kreuz, ein großer weißer Mantel mit dem achtspitzigen

[452]

Die Segnung der Alpen.
Nach dem Oelgemälde von Prof. W. Riefstahl.

[453] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [454] rothen Ordenskreuz und ein Barett mit wallenden Federn vervollständigten die kostbare Tracht. Etwas komisch sah allerdings die kleine magere Gestalt des alten Männleins und das röthliche Gesicht mit den vorstehenden wasserblauen Augen in diesem Pomp aus.

Luise versicherte ihm jedoch, daß er seinem Namen und seiner Stellung alle Ehre mache, was ihn sehr zu freuen schien.

Gleich darauf meldete Rohrmann die Ankunft der Hofportechaise.

„Bitte, benutzen Sie dieselbe zuerst, lieber Onkel,“ sagte die Nichte artig, „Ehre dem Ehre gebührt!“

Bon enfant!“ rief der Alte, „ich habe auch wenig goût für dies Warten, es regt meine Nerven auf!“

Rohrmann legte noch einen Pelzmantel über den dünnen, weißwollenen des Maltesers; er winkte seiner Nichte einen Kuß zu und verließ das Zimmer.

Unten hatte Ursula diensteifrig die kurze Strecke des Straßenpflasters mit etlichen Strohmatten belegt. Jetzt hielt sie einen mächtigen Regenschirm über das federnnickende Haupt ihres Gebieters, so wurde er von den beiden alten Dienstboten in die Sänfte gepackt. Es rann von den Dächern; auf der Erde standen dunkle Wasserpfützen, in denen sich das schwache Licht der über den Straßen an Stricken hangenden Oellaternen spiegelte, ein hohler Wind fuhr um die Ecken, aber in der kleinen Stadt herrschte, in Anlaß der Redoute, ein lebhafteres Treiben als sonst.

Die Portechaise schwankte jetzt in gewohnter Weise davon, und Rohrmann kehrte mit Ursula, stolz auf den vornehmen und vornehm beförderten Gebieter, in’s Haus zurück. Bald darauf kam auch die Miethsportechaise und brachte Luise als Flämmchen glücklich auf die Maskerade.

Das Fest war schon im besten Gange, als sie anlangte. Alle möglichen und unmöglichen Zeiten und Nationen hatten ihre Vertreter und Vertreterinnen geschickt. Fast alle waren in einer ganz bestimmten Charaktermaske erschienen, viele sehr unkenntlich und vermummt, andere in vortheilhaftem Putz und nur mit kleiner Flormaske versehen. Es war auch üblich, sich in zurückliegenden Zimmern, wo Dominos, Masken und Costüme zu haben waren, im Laufe des Abends umzukleiden und so ganz unerwartet wieder zu erscheinen, die Bekannten zu necken und allerlei Scherze in’s Werk zu setzen. Dies alles wurde mit der größten Wichtigkeit, ja einem wahren Feuereifer betrieben.

Luise von Göchhausen suchte mit ihren scharfen Augen nach dem Herzoge; sie brannte darauf, sich ihm vorzuführen und ihn mit dem Verlust seiner Wette zu necken. Endlich gewahrte sie einen germanischen Häuptling mit dem Bärenfell auf der Schulter, geschnürten Sandalen und einem hohen Helm mit Adlerfittichen. Es war eine sehr stattliche Maske, und obwohl dieselbe eine das Gesicht völlig deckende Larve mit langem Bart und großer Nase trug, glaubte sie doch den Herzog zu erkennen. Der Germane unterhielt sich angelegentlich mit einer schönen, maurischen Fürstin, die, nur wenig maskirt, sehr kenntlich als Milli von Werthern war.

Sie drängte sich an ihn heran, haschte nach seiner Hand und schrieb seinen Namen hinein. Sowie er ihrer ansichtig wurde, geriet er in Erstaunen, vergaß seine Verpuppung und rief mit einem deutlich unter der Maske hervortönenden Gelächter:

„Ei der Teufel, da ist sie ja wirklich! Diese dummen Kerls, und ich hatte sie doch so genau instruirt!“

„Vermuthlich dero Banditen, denen ich mit meinem Flämmchen nach Hause geleuchtet habe!“ sagte sie spöttisch knixend. „Gestatte also, wilder Krieger!“

„Armin, direct aus dem Teutoburger Walde,“ schaltete er ein.

„Nun denn, Armin, Fürst der Cherusker, gestatte, daß ich armes Flämmchen neben Dir weiter brenne.“

„Aber wie, in aller Kobolde Namen, hast Du vortrefflichstes Feuerzeug, meine wohl dressirten Sänftenträger ihrer Pflicht, ihrem schuldigen Gehorsam abwendig gemacht?“

„Deine Palankinbeförderer, o edler Germane?“ fragte sie erstaunt.

„Nun ja, die Hofportechaisenleute.“

„Himmel! Haben Durchlaucht denen arge Aufträge für mich gegeben?“ rief sie mit plötzlichem Erschrecken, indem sie sich angstvoll suchend nach ihrem Onkel, dem eleganten Malteser, umschaute.

„Still hier mit Deinen Titeln, Flamme, halt Maskenordnung; aber komm in ein Nebenzimmer, es scheint etwas quer gegangen zu sein, was wir aufklären müssen.“

Sie drängten sich zusammen aus dem Gewühl. In einem Winkel angekommen sagte er:

„Ist nicht, nachdem Ihr zehn Schritte im Gange waret, Dein Sitz zusammen gebrochen, der Portechaisenboden heraus gefallen, haben sich darauf Deine Träger nicht in Trab gesetzt, dadurch Dich genöthigt mit durch den Schmutz zu laufen, und Dich, bei fest geschlossener Thür, trotz alle Deinem Geschrei, in den Portechaisenstall getragen, den sie hinter Dir verriegelten?“

„Alles dies Schreckliche muß meinem armen Onkel, dem Oberkämmerer von Göchhausen geschehen sein!“ rief Luise, indem sie ihre Hände halb lachend, halb weinend zusammen schlug.

„Den Kukuk auch, das wäre Pech! Den also haben sie beim Wickel genommen, der kam in der Hofportechaise?“

„Ja, Durchlaucht, er, und ich bitte dringend, ihm so schnell wie möglich Hülfe zu senden!“

Der Herzog eilte fort, und Luise ging mit beschwertem Gewissen, obwohl sie sich unschuldig fühlte, die Herzogin Mutter aufzusuchen.

Sowie der Herzog vorhin die schöne Maurin verlassen hatte, war ein anderer Mann zu ihr heran getreten und hatte sie um den Tanz gebeten. Es war ein Beduine, mit weißem Mantel, Waffen im breiten Seidengürtel und bräunlicher Maske.

„Wir sind Landsleute, schöne Zoraide,“ flüsterte er mit innigem Tone, „wohnst Du auch jetzt in der Alhambra, stammst Du doch aus den heißen Gefilden Afrikas so wie ich, der Wüste Sohn. Welch ein Glück, Dich plötzlich im fernen Norden zu finden!“

Bei diesen Worten legte er seinen Arm um ihre feine Taille, zog sie fest an sich und flog mit ihr in den Reihen der Tänzer dahin.

Goethe hatte sich in der Tracht eines Eremiten möglichst unkenntlich gemacht; sein eigentliches Costüm war das eines Troubadours; jetzt floß ein weißer Bart von einer runzelvollen Maske herab, und die Kapuze seiner dunklen Kutte deckte seine braunen Locken. Er wußte, daß Frau von Stein als Ritterfrau kommen werde, er wollte sie, die ihn auch als Troubadour vermuthete, necken und ihr dann ein zärtliches Gedicht geben, das er in der Nachmittagsstunde für sie hingeworfen hatte. Jetzt spähte er mit prüfenden Blicken nach ihr aus.

„Suchst Du mich, würdiger Vater?“ lispelte plötzlich eine sanfte Stimme an seinem Ohre, und ein runder Frauenarm schob sich in den seinen.

„Also hast Du mich doch erkannt, Geliebteste?“ entgegnete er.

„Wie sollt’ ich nicht?“ fragte die Ritterfrau dagegen, und ging an seinem Arme mit ihm weiter.

Es beglückte ihn, daß die Theure ihn unter der Hülle herausgefunden hatte, daß sie ihm die Gunst schenkte, sich zu ihm zu gesellen. Er sprach zu ihr von der Sympathie ihrer Seelen; von der Seligkeit, sich im Schwarm der großen Menge abzusondern, hier sich verständnißvoll nah zu fühlen, unter der Maske unbeobachtet zu ein.

„Mein Herz ist doch immer bei Ihnen, Liebe, Einzige, die mich glücklich macht, ohne mir weh zu thun,“ sagte er zärtlich. „Doch auch nicht ohne Schmerz lebt sich’s in Deiner Nähe, denn Du leidest nicht immer meine Liebe, und meine ganze Seele ist doch voll von Dir. Sieh, diese Zeilen schrieb ich Dein gedenkend.“

„Gieb!“ lispelte seine Gefährtin. Er steckte ihr ein Papier zu, welches sie in ihrer an einer Kette herabhängenden Tasche barg.

Er fuhr fort: „Die Liebe zu Dir hält mich über dem Wasser, elend wär’ ich als Hofmann! Mich wundert, daß nicht die Meisten gar Kröten und Basilisken werden; das Gekriech, die Liebedienerei hört nicht auf. Oft denke ich, auch der Schmutz ist glänzend, wenn die Sonne darauf scheint, und nehme Alles hin; ich seh’s aber als Vorbereitung an, und nur durch Dich bin ich gestählt und dauere aus.“

Indem er so mit ernster Empfindung zu seiner Begleiterin redete, erstarrte er plötzlich. Er gewahrte die Herzogin Luise, die als Vestalin prächtig und edel in langen, goldgesäumten Gewändern dastand, ganz kenntlich, nur mit einer Florbrille. Und neben ihr eine Ritterfrau, ähnlich der, welche er am Arm führte, [455] aber völlig bekannt für ihn nach Haltung und Formen. Auch sie trug nur eine kleine Halbmaske, sodaß er den weichen, feingeschweiften Mund, das zarte und runde Kinn der angebeteten Frau ganz deutlich erkannte. Ja, sie war’s, Charlotte von Stein!

Aber wem hatte er denn sein tiefstes Herz enthüllt, wer hatte sich an ihn gedrängt, sein Gedicht empfangen? Rasch wandte er sich zu seiner Dame, aber diese, ihn scharf beobachtend, hatte ihre Doppelgängerin erkannt, und leise, während er sich ganz in’s Staunen versenkte, hatte sie ihren Arm aus dem seinigen gezogen und war im Gewühl verschwunden.

Er suchte ihr nachzueilen, aber das Gedränge war augenblicklich zu groß, des Tanzmeisters Commando hemmte ihn, neu antanzende Paare kamen ihm entgegen. Einmal glaubte er noch ihr schwarzes Sammetmützchen in der Ferne zu sehen. Dann hieß es:

„Nicht so stürmisch, heiliger Mann!“

„Was führt Dich aus Deiner stillen Klause unter die fröhliche Menge?“

„Hüte Dich, in die Fallstricke der Welt zu fallen und den jungen Schönen nachzulaufen!“

Als er sich endlich am Ausgange des Saals befand, als er die Freiheit fand, sich in den Nebenzimmern umzusehen, war die Gesuchte nirgends zu finden.

Verdrossen und nicht mehr aufgelegt, den beabsichtigten Scherz mit der Geliebten auszuführen, ging er sich umzukleiden, und fand sich in dem schönen Costüm eines Troubadours in geschlitzter Seide, mit zurückgeschlagenem Spitzenkragen und dem an kirschrothem Bande umgehängten Saitenspiele, bald wieder im Saale ein.

Die Gesuchte stand noch immer neben der herrlichen Vestalin.

Er flüsterte Frau von Stein zu, daß er ein Ausgeraubter, ein Betrogener sei, er bat sie, ihn lind zu behandeln, damit er sich, innerlich verwundet, an ihrer heilenden Nähe wieder herstellen könne.

„Armer Bertrand de Born!“ sagte sie laut, „also unter die Räuber seid Ihr gefallen? Nun tröstet Euch mit der Lehre, daß wir Kleinode nicht in dieser bunten und gefährlichen Welt offen vorzeigen dürfen, und daß Vorsicht stets noth thut.“

In diesem Augenblicke, während die Instrumente zu einem neuen Contretanze gestimmt wurden, kam ein Bauer mit einer pausbackigen ganzen Larve vor dem Gesichte auf die Herzogin Luise zu und forderte sie zum Tanzen auf.

Die hohe Frau dankte und sagte auf das Andrängen des Fremden:

„Ich tanze mit keinem Unbekannten.“

„O, erhabene Römerin,“ rief der Mann mit fremdlautender Fistelstimme, „weshalb kommst Du denn auf das Fest der Gleichheit, der Narrheit, der Lustigkeit, wenn Du von alle Dem nichts wissen willst?“

„Ich komme als Zuschauerin, lästiger Fremdling,“ entgegnete sie hoheitsvoll.

„Du wirst dem Leben und das Leben wird Dir gleichgültig bleiben, wenn Du nur von fern zu stehen wagst. Noch einmal bitte ich Dich, sündige nicht gegen die Gesetze dieses Festes! Genieße diese seltsame Welt wie sie ist und wirf Dich mit mir in ihre Strudel!“

„Nein; geh’, Zudringlicher!“

„Hochmüthiges Weib!“ sagte der Bauer mit gereizter, nicht mehr verstellter Stimme, und lüftete für einen Augenblick die Maske – es war der Herzog. „Dacht’ ich es doch,“ fuhr er ärgerlich fort, „als ich Dich so steif hier angenagelt sah, daß Du unsere Fröhlichkeit, unsere Späße unter Deiner Würde findest!“

„Mein Gemahl sollte zufrieden mit mir sein, daß wenigstens ich es weiß, was man seiner Stellung schuldig ist!“ rief die Herzogin ebenfalls in bitterem Tone.

„Ho, ho! also ich weiß es nicht? Hör’ meinen Grundsatz: nur Der hält ängstlich die äußere Form der Würde fest, der sie nicht wirklich behaupten kann!“

Goethe hörte mit Bedauern diesen Wortwechsel; rasch legte er seine Mandoline zur Seite, trat zur Herzogin heran und bat sie, ihrem Gemahle zu beweisen, daß sie auch mit den Fröhlichen genießen könne, indem sie mit ihm tanze. Zögernd folgte sie seiner Aufforderung, worauf der Bauer mit der Ritterfrau sich anschloß.

Als Goethe die Herzogin wieder an ihren Platz zurückführte, schritt eine kokett gekleidete französische Bäuerin mit hoher, weißer Flügelhaube Und bauschigem, geblümtem Kleide, am Arme eines eleganten Coeurkönigs, in dem man unschwer Herrn von Seckendorf erkannte, an ihm vorüber.

Sich auf ihrem hohen Absatze wendend, sah sie sich nach ihm um und flüsterte die ersten Reihen seines im Irrthum verschenkten Gedichts mit spöttischem Ton ihm zu:

„Sag’, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag’, wie band es uns so ganz genau?
Ach, Du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau!“

Erregt sprang er ihr nach; mit einer ihm nur allzu wohlbekannten Geberde warf sie ihm eine Kußhand zu und flog mit ihrem Cavalier in der Tanzcolonne davon. Es war Auguste von Kalb!

Neben dem Herzoge aber stand jetzt das Flämmchen.

„Hoher Herr!“ sagte es lustig, „wie Du Dich auch verstecken magst, mein Spürsinn findet Dich heraus. Beruhige mich, haben die Schergen Deines Zorns das unschuldige Opfer aus dem Portechaisenstalle erlöst?“

„Sei getrost, edelmüthige Flamme, das Opfer liegt in seinem Bette und trinkt Camillenthee, um sich von seinem Abenteuer zu erholen.“

„Und mein Titel, der Gewinn meiner Wette?“

„Wahrlich, Du hast Dich an Heldenmuth dem Armin ebenbürtig bewiesen, so heiße also von heute an – Thusnelda!“

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüthen.

Dank für dreifache Wohlthätigkeit. Man fühlt erst recht das Glück, für einen Leserkreis, wie den der „Gartenlaube“, thätig zu sein, wenn man zu so oft wiederholten Malen die herzerhebende Erfahrung macht, daß keine Bitte, die unser Blatt zur Linderung irgend einer Noth an seine Freunde richtet, ganz unerhört bleibt, ja, daß selbst gewagte Wünsche oft die überraschendste Erfüllung finden. Dies erleben wir nun auch in den Erfolgen, welche den „Dreierlei Anliegen an die Glücklichen“, die wir in Nr. 16 ausgesprochen haben, bis jetzt schon in so reichem Maße zu Theil geworden sind.

Wir hatten um Nähmaschinen, Claviere und Fahrstühle gebeten, und heute liegen für alle drei Gegenstände schon Dankbriefe vor uns.

Die Firma G. Neidlinger stellte uns „für arme Frauen und Mädchen“ von ihren auf allen Weltausstellungen prämiirten „Original-Singer-Nähmaschinen“ eine Anzahl zur Verfügung und hat durch ihre Filiale, in Hamburg, Breslau etc. bereits einer Schneidersfrau in Hamburg, deren Mann an Gelenkrheumatismus darniederliegt, einer Lehrerwittwe in Bunzlau, der Vorsteherin der Ischler Hausindustrie und einer armen Arbeiterin in Leipzig ihre werthvollen Gaben zu Theil werden lassen. Wir dürfen mit unserem innigsten Dank noch die Zusicherung aussprechen, daß mit diesen Gaben die Opferwilligkeit der geehrten Firma nicht erschöpft ist. – Von Frau A. Otto in Gröba bei Riesa und einer ungenannten Dame sind uns auch zwei Hand-Nähmaschinen zugesandt worden, für die wir den freundlichen Geberinnen unsern Dank aussprechen.

Auch von den zahlreichen Bitten um Claviere konnten schon fünf erfüllt werden. Die Firma C. L. Glück, Hof-Pianofortefabrik zu Friedberg in Hessen, überraschte uns in wenigen Zeilen mit der inhaltreichsten Postkarte: „Sie können von uns für arme Lehrerswittwen zwei noch ganz gute Tafelclaviere und einen Flügel haben, – wir bitten um gefällige Bestimmungsadresse.“ Wer aus einer Reihe von zwanzig Briefen voll dringender Gesuche um ein Instrument drei zuerst zu berücksichtigende auswählen soll, hat eine harte Aufgabe; darum übersandten wir dem edlen Wohlthäter zur eigenen Bestimmung fünf der Briefe und erlebten die Freude, daß nun sogar vier Beglückte zum innigsten Dank Veranlassung finden werden; von den vier Instrumenten kamen je ein Tafelclavier an einen Schullehrer zu Bralitz, an eine Lehrerin der Arbeitsschule zu Löwenberg, beide in Schlesien, und durch den Herrn Hofprediger und Consistorialrath Scipio in Arolsen an den musikalisch sehr begabten Sohn einer armen Taglöhnerswittwe zu Rhena in Waldeck. Den Flügel hat Herr Glück für einen Lehrer bei Oberglogau in Schlesien bestimmt.

Der erste Dankbrief kam aus Löwenberg. Die von schweren Schicksalsschlägen heimgesuchte Mutter eines zum Lehrer bestimmten Knaben schreibt unter Anderem: „Heute ist das von der Redaction der ‚Gartenlaube‘ erbetene Clavier hier eingetroffen. Wo finde ich Worte, wie soll ich richtig dankbar sein! Mir mangeln die Kräfte, einer solchen Freude Ausdruck zu geben! Ich und mein Knabe haben nun ein Clavier! Sobald es da stand, jubelten meine Finger den Choral: ,O daß ich tausend Zungen hätte!‘ – Immer lauter wurden die Töne, ich vergaß meine Umgebung, [456] vergaß, daß unter meiner Wohnung die zweite Knabenclasse Schule hatte, Nichts störte mich, als später, während meiner eigenen Dienststunden, der Gedanke an mein neues theuerstes Kleinod, mein Clavier! Oft mußte ich hingehen, um zu sehen, daß es wirklich da stehe und daß mich kein Traum geneckt habe.“

Den Ausdruck dieser Freude setzen wir für den Wohlthäter her: er ist sein Lohn.

Gleich tief vom Herzen kommt der Dank der fünften Beglückten, einer Pastorswittwe in Sachsen, welcher von einem Manne, der nicht genannt sein will, ein noch sehr gut gehaltenes Fortepiano auf unsere Veranlassung zugesandt worden ist.

So groß unsere Dankbarkeit gegen die genannten Geber ist, so sehr drängt es uns zum Aussprechen des Wunsches: Möchten diese glänzenden Beispiele doch recht viele Nachfolge finden! Könnten wir all die oben erwähnten Briefe abdrucken lassen, gewiß würden nicht Wenige davon ergriffen und zögen es vor, im Falle solchen entbehrlichen Clavierbesitzes, statt eines geringen Verkaufsgewinnes, durch dasselbe Opfer sich auch denselben Lohn der Freude zu verdienen.

Unsern Dank haben wir endlich, drittens, für die Ablassung mehrerer Fahrstühle den menschenfreundlichen Gebern darzubringen. Zwei armen Gelähmten konnte, durch die Güte der Herren Richard Berta in Fulda und R. Fust in Penig, geholfen werden, aber drei ebenso Beklagenswerthe harren noch auf die Barmherzigkeit ihrer glücklicheren Mitmenschen.

Wie die Liebe nicht aufhört, wird auch das Schicksal nicht müde, der Wohlthätigkeit immer neue Ziele aufzustellen. Wir werden dringend um folgende Gegenstände gebeten:

einen Krankenwagen für eine seit acht Jahren rückenmarkskranke Frau;

ein leichtbewegliches Velociped für einen sechszehn Jahre alten Gelähmten, vom Arzte Dr. Polster in Mylau empfohlen;

ein künstliches Bein für „einen einbeinigen früheren Unterofficier“ in Berlin;

zwei Beschneidemaschinen für zwei Buchbinder, der eine in Ostpreußen, der andere in Böhmen, die Beide brustkrank geworden und nur mit Hülfe einer solchen Maschine in den Stand gesetzt werden, ihre Familien weiter zu ernähren.

Auch diese Bitten, wir wissen es ja, werden nicht vergeblich in der „Gartenlaube“ gestanden haben. Fr. Hfm.     


Ein Veteran aus der Zeit der Befreiungskriege ist der in Wolmirstedt (Provinz Sachsen) lebende frühere Chaussee–Einnehmer Wilhelm Münchsgesang. Derselbe trat im Alter von neunzehn Jahren 1810 bei den sächsischen Husaren in Köln in den Militärdienst ein und machte die Befreiungskriege mit. In zahlreichen Schlachten und Gefechten hat er im heftigsten Feuer gestanden und den Feinden wacker zugesetzt, ist aber auch selbst nicht immer nach Wunsch davongekommen. So erhielt er bei Wolkenitz in Rußland sowie in den Schlachten bei Leipzig und Bautzen fünf Blessuren, drei Pferde wurden ihm unter dem Leibe erschossen. – Am 8. November dieses Jahres feiert der noch rüstige Kriegsheld seinen vierundneunzigsten Geburtstag.

Ein Handwebe-Apparat. Es sei uns gestattet, im Nachstehenden einige Worte ausschließlich an die Leserinnen unseres Blattes zu richten. Wir möchten sie auf eine interessante und nützliche Neuerung auf dem Gebiete der weiblichen Handarbeiten aufmerksam machen, eine Neuerung, die vor vielen anderen kunstvollen Arbeiten wohl den Vorzug haben dürfte, daß sie die Augen schont und die Nerven nicht anstrengt. Frau Eugenia Wernicke hat einen kleinen, fast elegant aussehenden Apparat erfunden, auf dem jede Frauenhand Stoffstreifen verschiedener Breite weben kann, um aus diesem Material alsdann allerlei nützliche Dinge, wie Decken, Teppiche, Kissen aller Art, Unterröcke, Reisemützen etc. zusammenzusetzen. Man kann dazu nach Belieben Seide, Garn, Wolle jeder Gattung, und selbst Bindfaden verwenden und durch Musterweben, das mit keiner großen Mühe verbunden ist, die Arbeit unterhaltend und mannigfaltig gestalten. Die Handhabung dieses Apparates ist aus der nebenstehenden Abbildung zu ersehen. Eine ausführlichere Beschreibung würde uns zu weit führen, wir bemerken nur, daß die Erlernung der Webe-Arbeit eine sehr leichte, der Apparat selbst billig ist. Die Erfinderin (Frau Eugenia Wernicke in Berlin SW. Besselstraße 7), von der die Apparate zu beziehen sind, wird Anfragenden genauere Auskünfte ertheilen.


Kleiner Briefkasten.

B. D. in K. Ausführliche Artikel über den berühmten Illustrator des deutschen Kinder- und Familienlebens, Professor Ludwig Richter (geb. am 23. September 1803, gest. am 19. Juni d. J.), finden Sie im Jahrg. 1862, S. 116 und Jahrg. 1883, S. 612 unseres Blattes.

G. S. in H. Ihren Zwecken entspricht ganz die jüngste Publication des „Deutschen Vereins zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse“ in Prag „Deutsche Festbräuche. Dem Volke kulturgeschichtlich erklärt von Julius Lippert.“ (Prag 1884). Das 221 Seiten starke Buch stellt sich die Aufgabe, auf Grund anerkennenswerther Studien gerade über viele der alten Bräuche und Gewohnheiten unseres deutschen Volkes Aufklärung zu geben und durch Darlegung des inneren Zusammenhangs derselben der Ausartung dieser oft so sinnreichen Bräuche in leidigen Aberglauben entgegenzutreten. Ueber Türkenstechen, Vogel- und Königsschießen finden Sie sehr interessante Darlegungen auf S. 147 u. f., die deutsche Kirmes ist ebenfalls besprochen (S. 176 u. f.). Von den Zeiten der Feste und alten Zeichen der Festplätze handeln gleich zwei der ersten Abschnitte des Buches.

A. W. Besten Dank für den Beitrag, über den wir an betreffender Stelle quittiren werden! – Was Ihre Anfrage anbelangt, so müssen wir Ihnen rathen, sich an den Vorstand des „Centralvereins für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande“ in Berlin zu wenden.

P. H. in Königsberg. Uns ist eine andere Anstalt, als die von Ihnen selbst genannte, nicht bekannt.

N. M. W. in Wien. Sie verlangen elne Gefälligkeit von der Redaction dieses Blattes, sind aber selbst nicht so gefällig, derselben Ihren Namen zu nennen. Wir werden Ihre Bitte erfüllen, sobald mir wissen, mit wem wir es zu thun haben sollen.

B. K. Die in Nr. 20 erschienene Illustration der „Repser Burg“ ist von R. Püttner nicht nach einer Photographie, sondern nach einer uns von Karl Graffius in Maros Vásárhely eingesandten Skizze auf Holz gezeichnet.


Allerlei Kurzweil.


Schach.
Problem Nr. 6. Von L. N. in Breslau.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.

Magisches Tableau.
„Der Hund und die Wespen.“ Von S. Atanas.

Rösselsprung.
Von A. Berliner.


Auflösung des magischen Tableaus „Das Gespenst“ in Nr. 25: „Spiritismus.“ — Auflösung des Zahlen-Räthsels in Nr. 25: 0 P O  
O B
 


Inhalt:

[ Verzeichnung des Inhalts von Heft 27/1884; hier z. Zt. nicht transkribiert.]

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Unter Meilen sind in diesen Artikeln stets englische Meilen verstanden, von denen 46/10 auf die deutsche Meile gehen.
  2. In dem durch Schmutz und allerlei Winkelwerk ausgezeichneten Chinesenviertel finden sich einzelne bessere Kaufläden, Restaurants, Theater und Theestuben, welch letztere sich mitunter durch peinliche Sauberkeit und Eleganz auszeichnen. Wände und Decken sind mit reichem Schnitzwerk und Goldschmuck versehen, mit Ornamentik und Rankenwerk schwer überladen. Alles ist polirt und blank; bunte Papierlaternen und moderne Kronleuchter verstreuen ihr abgedämpftes Licht über die behaglich ihre Pfeifchen schmauchenden Gäste, denen die bezopften Aufwärter in zierlichen kleinen Tassen den Thee, Chinas Nationalgetränk, credenzen. (Vergl. Illustration S. 445.)
  3. Die Leonhards-Fahrt ist der uralte auf germanischen Gottesdienst zurückgreifende Umritt, der am 6. November oder in den Julitagen bei den dem Heiligen geweihten Capellen gehalten wird.