Die Gartenlaube (1884)/Heft 11
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No. 11. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Das junge Mädchen fuhr jäh empor; die Scenen der
Nacht standen wie mit einem Zauberschlage vor ihrer
Seele. Ach, es ist schrecklich; wenn ein paar Stunden
Schlaf die traurige Gegenwart hinweggescheucht haben,
doppelt schwer überfällt dann beim Erwachen die Wucht
des Leides die geängstigte Seele, sie auf’s Neue erschreckend, auf’s
Neue zu Boden schleudernd.
Sie strich sich über die Stirn; ob es denn Wahrheit? Und wie um sich zu überzeugen, stand sie auf und schlich an der schlummernden Frau von Ratenow vorüber in das Nebenzimmer.
Eine starke Zugluft wehte ihr entgegen, die Fenster waren geöffnet, und über das, was dort auf dem Bette lag, hatte man ein weißes Laken gebreitet. Unbeweglich starrte sie es an; eine furchtbare Kälte stieg ihr zum Herzen, und unwillkürlich schlangen sich ihre Hände in einander. „Vater unser, der Du bist im Himmel,“ klang es in ihrer verstörten Seele, sie fühlte, sie müsse beten, und hatte doch nicht die Macht, ihre Angst, ihre Bitten in eigne Worte zu kleiden – „und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern!“
Dann flogen erschreckend grelle Töne in das Gemach, dort unten auf der Straße blies der Trompeter, wie allmorgendlich, die Reveille.
„Dem Papa seine Soldaten müssen aufwachen,“ hatte Tante Lott dem kleinen Mädchen einst erklärt, wenn die munteren Klänge hinübergeschallt waren bis in die Burg.
„Komm, Else, mein altes Gör, das weckt ihn nimmermehr!“ sagte Frau von Ratenow’s Stimme, und sie zog das Mädchen an die Brust. „Ihm ist wohl, mein Kind – nicht wahr, wir gönnen ihm den Frieden?“ –
Das Begräbniß war vorüber. Die Herren des Gefolges kamen vom Kirchhofe zurück und verabschiedeten sich vor der Pforte desselben von Moritz und dem Bennewitzer.
Lieutenant von Rost schlenderte über den Fahrweg, um seine Braut und Schwiegermutter zu begrüßen, die jenseits desselben spazieren gingen; vielleicht nicht blos aus dem Grunde, um frische Luft zu schöpfen, sondern um ein bischen zu sehen von der Leichenparade. Frau Cramm liebte das, und Annie nicht minder; ein großes Feuer, eine Trauung oder ein Begräbniß trieb sie sicher in die Nähe des Schauplatzes.
Der Bräutigam grüßte und ging neben Annie her, ohne ihr den Arm zu bieten; besonders ritterlich war er nicht veranlagt, und er hatte auch von vornherein seine Braut nicht verwöhnt mit dergleichen Dingen, was Annie jedoch tief und schmerzlich empfand; es wäre doch hübsch gewesen, so recht innig und zärtlich selbander durch die Straßen zu ziehen, damit die Leute auch sähen, wie sie sich lieben.
„Lieber Sohn,“ begann Frau Cramm, „hörtest Du nicht, wie es Fräulein von Hegebach geht? Sie soll ja förmlich versteinert sein im Schmerz, wie Annie mir erzählt.“
Die junge Dame nickte eifrig. „Ja, denke Dir, Leo, ich war vorhin dort – sie sprach gar nicht und sieht aus zum Erbarmen; sie hat sich doch mit dem alten Mann nur ‚so so‘ gestanden und au fond gar keinen Grund zu dieser Verzweiflung! Aber sie ist wie zerschmettert – begreifst Du das?“
Er ließ den Kneifer fallen. „Es wäre möglich,“ erwiderte er, „zwei so erschütternde Vorgänge auf einmal.“
„Zwei?“ Mutter und Tochter riefen es wie aus einem Munde.
Er schwieg eine Weile und sagte dann: „Sie hat sich am Sterbebette des Vaters mit dem Bennewitzer verlobt.“
Ein doppelter Laut des Erstaunens traf sein Ohr. „Hat das Mädchen ein Glück!“ rief die rundliche ältere Dame im schwarzen Sammetpaletot.
„Es ist erstaunlich, nicht wahr?“ fragte Lieutenant von Rost mit einer Miene, die es stets zweifelhaft ließ, ob er es ironisch oder ernsthaft meine.
„Ein großes Glück!“ wiederholte Frau Commerzienrath Cramm. „Und das herrliche Bennewitz und die kostbare Equipage! Im vorigen Jahr war ja sogar Prinz H. dort zur Jagd!“
Annie schwieg. Sie dachte daran, wie Else in der Pension so oft bis zur Ermüdung über den Büchern gesessen und gelernt für das Erzieherin-Examen, wie sie sich stets so einfach gekleidet. Ja wahrhaftig, das ist Glück! Wer hätte das gedacht!
So flog denn die Kunde von einer Verlobung der kürzlich Verwaisten mit dem Oheim durch das Städtchen, in Windeseile; und sie selbst saß in ihrem Mädchenstübchen in dem langen schleppenden Trauerkleide, und über der tiefschwarzen Crêprüsche leuchtete ihr bleiches Gesicht förmlich geisterhaft, mit dem unendlich wehen Zug um den Mund.
Viel hatte sie noch nicht gesprochen seit jenem Morgen, aber Tante Ratenow desto mehr. Sie hatte auch nicht geweint, aber sie war umhergegangen mit der verstörten Miene, hatte sich von einem Platz auf den andern gesetzt, die Hände im Schooß und finster zur Erde blickend; kaum daß Nahrung über ihre Lippen gekommen, kaum daß sie Nachts ein wenig geschlummert. Sie [174] sah immer und immer wieder das verfärbte Antlitz des sterbenden Vaters, sie fühlte das ängstliche Tasten nach ihrer Hand und wie sich die Kette um diese schloß, diese unsichtbare entsetzliche Kette, die sie ihr Leben lang tragen sollte. War es nicht mehr als grausam, die heilige Macht der Todesstunde, die zwingende Gewalt eines letzten Willens zu benutzen, um ein Menschenherz unglücklich zu machen zeitlebens? „Vater, Du hast mich nicht lieb gehabt!“ stöhnte sie auf. Und dann sah sie wieder das glückliche Lächeln, als er ihre Hände in einander gefügt, den letzten, ach so leichten Athemzug, als sei die arme Brust von einer schweren Last befreit; er starb zufrieden, er starb ruhig – und sie mußte leben, leben! Es war entsetzlich!
Noch hatte sie den nicht wiedergesehen, in dessen Hand der Vater ihre Rechte gelegt; und Frau von Ratenow hatte nicht weiter in sie gedrungen. Sie vertrug sich nicht wohl, diese tiefe stumme Trauer, mit dem bräutlichen Glück. Aber nun vom Begräbniß zurückgekehrt, hatte der Bräutigam doch Verlangen mit der zu sprechen, die ihm anvertraut war in jener ernsten Stunde.
Frau von Ratenow, ebenfalls in tiefer Trauer, stieg die Treppen empor, um Else diesen gewichtigen Besuch zu verkünden. Sie hielt ein paar Zweiglein Cypressen in der Hand, die hatte der Bennewitzer vom Sarge genommen, ehe man ihn hinabgesenkt – ein letzter Gruß für die Tochter.
Die stattliche Frau klopfte weniger resolut als sonst an die Thür und trat dann ein. Else saß am Tische und hatte Schreibpapier vor sich liegen und die Feder; nun schob sie den angefangenen Brief in die Mappe und erhob sich. Frau von Ratenow drückte den Cypressenzweig in die kleine Hand und strich über die blasse Wange.
„Hegebach läßt Dich grüßen; er meint, es würde Dir ein Bedürfniß sein, mit ihm vereint an das Grab zu treten; der Wagen wartet noch angespannt, Else. Willst Du Dich zurecht machen? Er wird Dich abholen hier oben.“
Bei den Worten „mit ihm vereint“ zuckte sie zusammen, und eine dunkle Röthe überzog einen Moment das bleiche Gesicht. Sie antwortete nicht, aber sie schüttelte leise den blonden Kopf.
„Warum hast Du alle Rouleaux hernieder gelassen,“ fragte die alte Dame, „als ob Gottes Sonne etwas Entsetzliches wäre?“ Und sie zog die Vorhänge aus einander, daß blendendes Sonnenlicht hereinströmte und sich um das Mädchenhaupt wob wie ein Heiligenschein. Sie mußte die Augen schließen, so unbarmherzig hell schossen die Strahlen herein.
„Sieh hinaus, Else!“ Frau von Ratenow faßte sie an der Hand und zog sie zum Fenster. „Schau, wie die Knospen springen an den Apfelbäumen, und wie blau der Himmel ist! Man soll die Todten ehren, Kind, aber der Lebendigen nicht darüber vergessen, und Du hast Pflichten gegen das Leben, fasse Dein Herz in die Hand!“
Das Mädchen hob nicht den Blick, sie war womöglich noch blasser geworden.
„Ich gehe nun hinunter, Else, ich habe noch ein paar Worte mit Frieda zu reden; von neulich her. Derweilen schicke ich Dir Deinen Bräutigam herauf. In solchen Tagen tritt die Etiquette in den Hintergrund, und zudem ist er kein junger Fant. Wenn Ihr zurück kommt vom Kirchhofe, so trinkt Ihr eine Tasse Kaffee bei mir. Gott befohlen, Else.“
Sie war gegangen. Wie im wilden Schmerz griff das Mädchen an die Stirn und krallte die kleine Hand in das blonde weiche Haar. Gab es denn keinen Ausweg mehr? Ihre Augen flogen fast entsetzt durch das Zimmer; nun sollte sie ein Versprechen einlösen, dem ihr Herz so fremd gegenüber stand! Ach, frei sein, frei sein nur noch einmal! Es war so entsetzlich zu wissen, daß jeder solcher Gedanke eine Sünde. Ganz mechanisch nahm sie das zierliche schwarze Mantelet um und setzte das Trauerhütchen auf. Dann sanken die Hände, die die Schleife binden wollten, schlaff hernieder – dort auf der Schwelle. – –
„Onkel!“ stammelte sie.
Er war herüber geschritten zu ihr und hatte ihre beiden Hände in die seinen genommen; nun zog er sie an die Lippen.
„Meine theure Else,“ sagte er weich, „es war eine schwere Stunde, in der wir uns gefunden, aber eine ernste und heilige zugleich, die Bürgschaft für eine Zukunft im treuen und herzlichen Zusammenleben.“
Er sprach warm, aber es klang dennoch steif, was er sagte, fast pedantisch. Es war, als höbe sich die Brust des Mädchens wie erleichtert, aber sie schwieg.
„Ist es Dir recht, Else, wenn wir jetzt zusammen das Grab Deines Papa’s besuchen?“
Sie nickte. Er nahm den Sonnenschirm vom Tisch und reichte ihr denselben, und dann bot er ihr den Arm; sie legte kaum fühlbar die Hand hinein, so verließen sie das Zimmer und schritten die Treppe hinunter, durch den Flur bis zum Wagen. Er hob sie hinein in die schwellenden Kissen aus weicher silberfarbiger Seide und breitete sorglich die köstliche Decke über ihre Kniee. Sie hatte die Augen noch nicht aufgeschlagen, jetzt, im raschen Vorüberfahren, hob sie den Blick; Frau von Ratenow stand am Fenster und winkte mit der Hand.
Ein unsäglich elendes Gefühl kam über das Mädchen, als sie so dahin rollte in dem eleganten Fuhrwerk; wie verkauft, wie ihrer selbst nicht würdig kam sie sich vor, und mit einer raschen Bewegung zog sie den Crêpschleier vor das Gesicht; es war ihr als schäme sie sich, daß die helle klare Frühlingssonne ihr in die Augen scheine.
Sie bemerkte nicht den dargebotenen Arm beim Eingang des Kirchhofes, sie schritt hastig vorwärts.
„Wo willst Du hin, Else?“ fragte er, „das Grab ist auf dieser Seite.“
Aber sie war schon an einem andern Hügel niedergesunken und hielt die Hände in einander gerungen, wie im verzweifelten Gebet. Wenn sie noch lebte, dann – eine Mutter kann ihr Kind nicht hineinstoßen in ein liebeleeres Leben, nein, niemals!
Er stand abseit, ruhig wartend. Es dauerte lange, bis sie sich erhob, sich umwandte und ihm folgte zu dem frischen Hügel, an dem noch die Erdschollen unordentlich lagen, ein trauriger Anblick, den man unter zahllosen Kränzen zu verbergen gesucht hatte.
Sie verharrte auch hier ohne ein Wort, ohne eine Thräne; er faßte nach ihrer Hand, sie entzog sie ihm leise.
„Wollen wir fahren?“ fragte er nach einer Viertelstunde tiefen Schweigens. Sie bejahte und schritt wieder rasch voran durch die schmalen Wege zwischen den Gräberreihen. Am Wagen zögerte sie, sie wäre viel lieber gegangen. Er bot ihr schweigend die Hand zum Einsteigen und setzte sich schweigend neben sie. – Er wußte, was es heißt, von einem frischen Grabe heimzukehren, er fand ihr düsteres Wesen nur zu begreiflich; sie hatte überhaupt etwas Scheues, Ernstes, zuweilen sogar Herbes. Sie sollten erst wieder lachen lernen, die braunen Kinderaugen, wenn sie nicht mehr auf Noth und Sorge zu blicken brauchten, wenn das berauschende Parfüm eines sorglosen, sonnenhellen Daseins um die blasse Stirn wehte in den behaglichen Räumen auf Bennewitz und in dem köstlichen Park. Sie würde es wieder finden, das Lächeln, auf den Reisen; Paris wollte er ihr zeigen zu allernächst, sie war doch eben auch nur ein sterbliches Mädchen, und Paris - nun Paris, das ist ein undefinirbar verlockendes Wort für ein Frauenohr.
Sie hatte wieder das Gesicht in den Schleier gehüllt und sah nicht rechts noch links. Vor der Reitbahn, an der sie hinfuhren, standen Lieutenant von Rost und der Rittmeister von H. Sie grüßten tief und blickten dem Gefährt nach und dem schwarzen Schleier, der einen Moment durch das Fenster des Wagens flatterte.
„Noch hat sie es nicht gelernt,“ sagte Rost, „wie eine grande dame in den Polstern zu liegen; sie saß wie ein gescholtenes Kind auf der Schulbank. Na, lange wird’s nicht dauern, die Weiber haben ein unglaubliches Geschick für so etwas.“
„Glauben Sie, daß es von ihrer Seite Passion ist?“ fragte von H.
„Pah!“ machte Rost und sah seinem Pferde entgegen, das eben der Bursche heranführte.
Frau von Ratenow war indessen wirklich bei Frieda gewesen; die Laune der jungen Frau schien so unverbesserlich wie ein Landregen, der am Siebenschläfer fällt. Sie hatte kaum ein Wort der Theilnahme gehabt für die Verwaiste. Lili war einmal hinauf gekommen mit dem Vorsatz, sehr kühl zu condoliren; aber dem abgehärmten stillen Mädchen gegenüber war ihr gutes flatterhaftes
[175] Herz dennoch übergeflossen; sie hatte rothgeweinte Augen, als sie wieder zu Frieda kam.
„Mein Gott, weswegen denn?“ sagte ärgerlich die junge Frau, „sie hat ja doch ihr Glück dabei gemacht! Fange Du nicht auch so an wie Moritz, der mit einer Miene diese Verlobung verkündet, als sei mindestens ein Weltunheil im Anzuge.“
„Aber Frieda! Man sieht doch nicht so aus, trotz aller Trauer, wenn man ein Glück sein nennt! Nein Frieda, Du bist schlechter Laune und willst Jemand haben, den Du ärgern kannst. Ich kenne Dich ja doch, kleine Schwester, gelt? Sie hat Dir einmal einen Courmacher weggefangen, Friedchen. Wie? Auf Moritz kannst Du im Ernste doch gar nicht eifersüchtig sein; guter Gott, er hat sich im Leben noch um keine Andere echauffirt, als just um Dich.“
Aber weder Neckerei noch Zuspruch hatte vermocht, die schlechte Laune der schönen Frau zu bannen; es ging ja Alles drunter und drüber, seit Else hier, und jetzt war gar keine Aussicht, daß sie das Haus verließ. Man mußte womöglich noch der Trauer wegen Rücksicht nehmen, sie war eben jetzt keine Person mehr, die sich übersehen ließ, sie war die Braut eines Mannes, der immerhin zu den Tonangebenden gehörte in jenen Kreisen, die in der Provinz als die ersten galten. Und Frieda hatte auf ihr dunkelblaues Costüm eine Korallenbroche gesteckt, denn sie trauerte nicht mit; was ging sie auch der alte verkümmerte Mann an, der seine zwei müden Augen geschlossen!
Die alte Dame aber war zu ihr eingetreten mit einem solchen Ausdruck von Befriedigung in ihrem vollen Antlitz, daß die schwarze Crêphaube einen ganz wunderlichen Contrast dazu bildete. Alles das, was sie für das Mädchen erhofft, war in Erfüllung gegangen, das arme kleine Gör hatte wirklich und wahrhaftig das große Loos gezogen. Und wie hübsch sie sich benahm, so ernst und so gefaßt und dennoch so stolz, und wie „niedlich“ sie aussah in den tiefschwarzen Gewändern! Nicht einmal mehr hatte sie versucht, wie vor dem Tode des Vaters, die Abwehrende und Spröde zu spielen – ach ja, solcher Blick in ein Auge, das sich schließen will für immer, hat eine ernste hochheilige Macht, und läßt alles wie Tand und Kinderspiel erscheinen, was Einen noch werth gedünkt bis dahin. Else hatte gewiß gern die stützende Hand erfaßt, die sich ihr bot just in dem Augenblick, da ihr Lebensschifflein steuerlos zu treiben begann auf dem wilden Meere des Lebens!
„Sie ist ein gutes kluges Kind, die Else, Gott segne sie!“ Die Traner um den Hingeschiedenen war bei der alten Dame nicht allzutief. Freilich, Eines that ihr leid, sie hätte ihm gern das Glück gegönnt, ein paar Jahre noch recht behaglich zu leben, aber Gott wußte auch hier wohl das Richtige; sie hatten sich ja doch einmal nicht besonders vertragen, der Bennewitzer und er, möglicher Weise hätte er die völlige Harmonie gestört. Und kränklich war er immer gewesen – ja, ja, er war erlöst – mochte er sanft ruhen.
Sie ließ sich mit einem sehr freundlichen „Guten Morgen“ in einen von Frieda’s zerbrechlichen Fauteuils nieder und erkundigte sich mit heller Stimme nach dem Befinden der Enkelchen, so daß die junge Frau förmlich verwundert ihre blauen Augen auf sie richtete.
„Na, Friedchen,“ fuhr sie behaglich fort, „was sagst Du eigentlich zur Else? Deine närrischen Mucken von neulich sind doch hoffentlich verflogen, wie?“ Und sie griff nach der Hand der jungen Frau. „Höre, Schatzkind, mir ist eine große Last von der Seele genommen, Du siehst es mir wohl an, und – wenn mich was freut, das weißt Du ja, so habe ich es gern, wenn auch andere Leute vergnügt sind. Du kannst Dir einmal etwas ganz besonders Hübsches zum Geburtstage wünschen, Friedchen. Ja? Na, nur heraus mit der Sprache – Lili, helfen Sie ’mal.“
Die junge Frau machte noch immer keine freundliche Miene, obgleich es verheißungsvoll genug lautete, was da in ihre Ohren klang, denn nobel war Mama Ratenow immer in ihren Cadeaux.
„Du bist sehr gütig, Mamachen,“ kam es zögernd über die vollen Purpurlippen; „ich –“
„Nun, Du hast Zeit, Dich zu besinnen; übereile Dich nicht. Ich hatte so daran gedacht, wie es wäre, wenn Moritz mit Dir eine Reise machte, eine Saison in Baden-Baden, nach der Schweiz und den italienischen Seen – wie? Auf die Kinder will ich wohl achten. Na, überlege Dir es, mein Kücken. Guten Morgen! Ich will nur ’mal nach Moritz sehen, er ist bei den Lämmern. Guten Morgen, Kinder!“
Ja freilich, sie verstand es; sie wußte für jeden Menschen die Melodie zu finden, nach der er gern tanzte, und sie wußte auch, daß niemals die Wirkung ausblieb. So auch hier. Die beiden Schwestern saßen plötzlich eng an einander geschmiegt auf der Chaiselongue und blätterten in der neuesten Modezeitung; da war ein so wunderhübsches elegantes Reisecostüm; wenn man das in einer andern Farbenzusammenstellung wählte, vielleicht in bleu gensd’armes? Moritz reiste ungern, freilich, es war ihm zu unbequem, und er scheute die Ausgaben, denn Frau Frieda reiste nicht billig – nun aber konnte er nicht anders. Reisen! O Wort voll Entzücken! Reisen – Baden-Baden – !
Moritz war wirklich der Einzige, der halsstarrig blieb.
„Was ist es nur mit Dir, Jung?“ fragte die Mutter, „wie kannst Du Dir die dumme Eifersüchtelei mit Frieda so zu Herzen nehmen? Sie ist auf dem besten Wege, vernünftig zu werden.“
Er griff sich wie ärgerlich an den Kopf. „Du hast mich in falschem Verdachte, Mutter. Ich habe diese Laune Frieda’s einfach ignorirt, wenn ich auch nicht umhin kann, einzugestehen, daß mich ihr Benehmen verletzte. Es mag übrigens sein, daß sie eine Spur von Recht hatte – ich war vielleicht zu voreilig besorgt um des Mädchens Geschick.“
Sie gingen zusammen über den Hof während dieses Gespräches; die Frühlingssonne lag golden auf dem alten Herrnhause; die großen Linden am Thorwege hatten smaragdgrüne, fast transparente Blätter; auf den Dächern der Wirthschaftsgebäude sonnten sich die Tauben in langer Reihe, und plötzlich schwangen sie sich empor und ihr Flügelschlagen glich silbernen Funken auf dem tiefblauen Himmelsgrunde.
Ein Wagen rollte pfeilschnell durch die Einfahrt und hielt vor der Freitreppe.
„Das Brautpaar, Moritz,“ sagte Frau von Ratenow, rascher vorschreitend. „Wo willst Du hin, Moritz?“
Der Sohn hatte die Mütze vom blonden Scheitel genommen und ging grüßend dem Pferdestalle zu.
„Ich will nach der Sultana sehen, der Roßarzt kommt heute, um den Fuß noch einmal zu untersuchen.“
„Komisch!“ murmelte die alte Dame, eilig weiter gehend, und sie holte gerade noch das junge Paar an der Hausthür ein und drückte die kleine Mädchenhand im schwarzen Lederhandschuh.
Sie sah merkwürdig aus, die Else, so seltsam starr und entschlossen. Herr Gott ja, ihr Vater – aber dies war doch unnatürlich, hätte sie nur wenigstens geweint! – Und so saß sie auch in dem Fauteuil beim Kaffee in dem behaglichen Zimmer der Tante; nach dem Gartensalon standen die Flügelthüren geöffnet, und die ganze weiche warme Frühlingsluft zog bis hier herüber; auf den Steinfließen der Terrasse lag voll und heiß der Sonnenschein, und einzelne Strahlen fielen wie scharf begrenzte Streifen in das Gemach, und darinnen tanzten Millionen Sonnenstäubchen.
Das Mädchen hatte den feinen Kopf gewandt und sah regungslos dort hinein mit den heißen Augen, ohne ein Wort zu sprechen, ohne den leisesten Antheil an der Unterhaltung zu nehmen. Was sollte sie auch dabei?
Sie kam sich vor wie Eine, die, ausgestoßen aus einem blühenden Garten, in winterliches Eis und Schnee versetzt wurde; sie stand darinnen und fror, fror bis in’s innerste Mark. Und von jenseits winkten blühende Rosen und fragten:
„Warum ließest Du Dich zwingen?“
Und die Schwalben flogen vorbei und zwitscherten:
„Ist das Dein Muth gewesen, schämst Du Dich nicht?“ –
Und sie schämte sich; wie ein Gluthstrom packte sie die Scham, die echte mädchenhafte Scham, daß sie aufsprang und hinaus eilte auf die Terrasse und in den Garten durch die lieben alten Wege, immerzu in hastigen Schritten.
Martin Behaim, der „große Kosmograph“.
Durch die Straßen von Alt-Nürnberg schritt im Jahre 1491 ein sonderbar gekleideter Mann, dessen buntfarbiges Gewand auf südliche Abstammung deutete. Staunend sahen ihm die Leute nach, aber, unbekümmert, um die Menge, bog er sicher von der einen Straße in die andere, als ob er eines Führers nicht bedürfte, bis er in der Zistelgasse in dem wohlbekannten Hause des Rathsherrn Michael Behaim verschwand.
Bald darauf verbreitete sich in den Patricierhäusern die Kunde, daß jener „fremde Herr“ ein Nürnberger Kind sei, der Martin Behaim, der vor 32 Jahren hier das Licht der Welt erblickt hatte, der Martin, der einst nach Venedig, Antwerpen und Wien reisen mußte, um den Tuchhandel zu betreiben, dann aber in der weiten Welt verschwunden war, ohne von seinem Wohlergehen viel nach der Heimath zu berichten. Jetzt sei er wieder gekommen, um „seine wertheste Angehörige“ zu besuchen. Gerade von Lissabon führe sein Weg, wo er am Hofe des Königs von Portugal lebe und wo er zum Ritter geschlagen wurde.
Da schüttelten die alten Herren ihr Haupt aus Verwunderung ob solcher seltsamen Schicksale, die ein Sohn ihrer Stadt erlebt, und neugierig schauten schöne Frauenköpfe aus den Erkerfenstern, wenn der Ritter Martin wieder einmal in der buntfarbigen portugiesischen Tracht durch die engen Gassen dahinschritt und Bekannte mit spanischer Reverenz begrüßte. Und wenn er die alten Gefreunde zum ersten Male besuchte, da erröthete wohl tief manches Jungfrauenantlitz, wenn Herr Martin die Tochter des Hauses scharf ansah, das naive Fräulein, welches in dem festen Glauben lebte, daß ein Nürnberger nur eine Braut aus den Töchtern der befreundeten Sippe heimführen könne und folglich in den fernen Ländern ledig geblieben war.
Aber die Gunst der Frauen verlor er bald, da er ihnen erzählte, daß er wohl 700 Meilen von hier auf der Insel Fayal (in der Azorengruppe) sein Gemahl habe. Und wenn er auch hinzufügte, daß sein Schweher, der über die Insel regiere, kein farbiger Heide sei, sondern ein fürnehmer deutscher Herr, der sich Jobst von Hürter nenne, so konnten sie ihm doch nicht vergessen, daß er keine Nürnbergerin gefreit.
Auch die Männer schienen mit dem Ritter Martin nicht zufrieden zu sein, denn selbst in dem denkwürdigen Jahre 1492, da Columbus im Hafen von Palos die Anker lichtete, um die Neue Welt zu entdecken, hingen sie fest an alter Sitte. Martin Behaim aber setzte sich über die hergebrachten Regeln leicht hinweg. Auf die strenge Kleiderordnung achtete er nicht, sondern trug das leichtfertige scheckige Gewand der Portugiesen. Auch steckte er zu auffällig den Gelehrten heraus, und er, der früher den Tuchhandel betrieb, hielt es jetzt unter seiner Würde, sich mit Handelsgeschäften zu befassen.
Aber sein Wissen ehrten die angesehensten Väter der Stadt, und ihnen zu lieb hat der vielgereiste Mann seinen berühmten „Erdapffel“ angefertigt, den ersten dieser Art, der noch heute von der Familie Behaim in Nürnberg pietätsvoll aufbewahrt wird. Als das Kunstwerk vollendet war, da erschienen wohl oft Gäste im Hause des Rathsherrn Michael Behaim, und mehr als einmal wiederholte sich hier das fesselnde Schauspiel, daß der alte Rathsherr und der anmuthige Kreis junger Damen, den Erklärungen des gelehrten Anverwandten lauschten – jener Moment, den der talentvolle Maler Max Baer, ein Schüler des Professor Lindenschmit, in seinem Bilde (vergl. S. 177) so trefflich wiederzugeben wußte.
Später wurde unser Martin zu den berühmtesten Söhnen seiner Stadt gezählt, um seinen Namen wob die Nachwelt einen dichten Sagenkreis, und lange Zeit hindurch wollte man ihm den Ruhm großartigster Entdeckungen sichern und ihn sogar über Columbus stellen. Die kritische Forschung hat inzwischen das Dunkel gelichtet, und indem wir ihren Fingerzeigen folgen, wollen wir versuchen, in aller Kürze ein Lebensbild dieses außerordentlichen Mannes vor den Augen unserer Leser zu entrollen.
Wie kam es wohl, daß schon über die Herkunft Martin Behaim’s die früheren Geschichtsschreiber so verschiedenartige Nachrichten verbreiteten, daß sie ihn bald für einen Eingeborenen der Insel Fayal, bald für einen Portugiesen, bald für einen Böhmen slavischer Rasse ausgaben? Die letzte Angabe wird uns leicht erklärlich, wenn wir ein wenig in dem Stammbaume seiner Familie blättern und dort erfahren, daß dieselbe ihren Ursprung auf das alte Geschlecht derer von Schwarzbach in dem Kreise von Pilsen in Böhmen zurückführt. Auch der Umstand, daß man ihn für einen Portugiesen hielt, darf uns in Anbetracht einer Zeit nicht verwundern, in welcher das Nationalitätsprincip nicht so stark ausgebildet war, wie dies heutzutage der Fall ist. Martin Behaim wirkte in Diensten des Königs von Portugal, und Leute, die ihm persönlich ferner standen, hielten ihn für einen geborenen Portugiesen.
Damals herrschte überhaupt ein reger Verkehr zwischen Deutschland und jenem südlichen Königreiche. Viele Deutsche wanderten schon vor Behaim’s Zeiten nach Portugal aus. Sie ließen sich dort nicht allein als Kaufleute nieder, sondern führten auch neue Gewerbe ein. Namentlich waren die deutschen Buchdrucker dort sehr zahlreich und deutsche Artilleristen sehr gesucht. Außerdem rüstete auch die deutsche Hansa für die Entdeckungsreisen der Portugiesen die Schiffsexpeditionen aus, und die Könige von Portugal nahmen gern deutsche Colonisten auf, welchen sie die neu entdeckten Inseln zur Ansiedelung übergaben. So war, wie wir schon in der Einleitung erwähnten, der deutsche Jobst von Hürter Gouverneur der Insel Fayal in den Azoren.
Kein Wunder also, daß auch Martin Behaim dem Auswandererzuge nach Portugal folgte. Als er in Venedig auf seinen Handelsreisen den Hafen mit dem buntbewimpelten Mastenwalde erblickte, von den Wundern der fernen Länder hörte, da ergriff ihn das Gefühl des Großartigen, das in den weiten Seereisen lag, da faßte er den Entschluß, hinauszusteuern in die weite Welt, nach den durch Sage und Märchen verklärten Ländern des Südens. Und wem sollte er sich anschließen, um seine Sehnsucht zu stillen, wenn nicht jenen portugiesischen Seefahrern, von deren kühnen Plänen damals die gesammte gebildete Welt sprach, deren frischer Ruf den Glanz der berühmtesten Reisenden der Vorzeit überstrahlte?
Und er brauchte seine Wahl nicht zu bereuen. In Lissabon fand er den Mittelpunkt aller jener hochfliegenden Bestrebungen, die darauf gerichtet waren, den Schleier von dem „Meere der Finsterniß“ zu heben, „hinter welchem nichts mehr bekannt ist“, den Seeweg nach Ostindien und der Goldinsel Cipangu, dem japanesischen Inselreiche, zu entdecken. Hier aber, wo die Pläne der größten Seefahrer seiner Zeit einer sachverständigen Kritik unterzogen wurden, erschien er keineswegs als ein Abenteurer und Neuling. Er war ein würdiger Sohn Nürnbergs, in dem die mathematischen Studien in hoher Blüthe standen und in dem ein Regiomontanus lehrte. Wohl durch die Erfindungen dieses berühmten Meisters angeregt, führte er bei den dortigen Seefahrern ein wichtiges Instrument ein, das neue Astrolab.
Seit uralten Zeiten waren die Sterne die untrüglichen Wegweiser für die kühnen Seeleute, die ihre zerbrechlichen Fahrzeuge dem Meere anvertrauten. Aus ihrem Stande wurde der Ort berechnet, an dem man sich befand, und schon frühzeitig haben die Griechen einfache Instrumente erfunden, mit deren Hülfe die Höhenwinkel von Sonne, Mond und anderen Sternen gemessen wurden.
Aber die alten Astrolabien, welche auch die Araber benutzten, waren aus Holz gearbeitet und ruhten auf einem Dreifuß, eine Einrichtung, die wohl hinreichte für Messungen auf dem festen Lande, auf den schwankenden Schiffen aber mit den größten Unannehmlichkeiten verbunden war. Behaim führte nun ein Astrolab ein, das aus einer metallenen Kreisscheibe bestand, die in Grade und Minuten eingetheilt war und in der Mitte einen Zeiger zum Visiren der Sterne besaß. Diese Scheibe wurde nicht aufgestellt, sondern an einem Maste aufgehängt und behielt durch ihre eigene Schwere stets senkrechte Richtung.
Die portugiesische Regierung, die auch unter König Johann II. das große Vermächtniß des Prinzen Heinrich, des Seefahrers, auszuführen bestrebt war, suchte den begabten Deutschen für ihre überseeischen Unternehmungen zu gewinnen, und Behaim wurde aufgefordert, an der berühmten Entdeckungsreise theilzunehmen, die im Jahre 1484 unter der Führung von Diogo Cão zu Stande [179] gekommen war. Ihr Hauptresultat war bekanntlich die Entdeckung des „Königreiches Congo“.
Heute, wo die Congofrage so lebhaft die Gemüther beschäftigt, wo an die Erschließung dieses großen Gebietes so vielfache Hoffnungen geknüpft werden, können wir auch annähernd den vierhundertjährigen Gedenktag der Entdeckung dieses Landes feiern.
In einem ausführlichen Bericht dieser Reise heißt es: „Nachdem Diogo Cão das Capo de Lopo Gonsalvez und desgleichen das Capo de Catherina, das letzte Land, das zu den Zeiten des Königs Don Alfonso entdeckt worden, umschifft, gelangte er an einen ansehnlichen Fluß, an dessen Mündung er auf der Südseite die erste steinerne Säule[1] aufrichtete, als wodurch er von der ganzen Küste, die er hinter sich gelassen, im Namen des Königs Besitz nahm. Wegen dieser Säule, die vom heiligen Georg genannt wurde, weil der König diesen Heiligen in besonderer Verehrung hielt, wurde dieser Fluß lange Zeit do Padrão genannt; aber jetzt heißt man ihn Congo, weil er ein Königreich, welches diesen Namen führt, und welches Diogo Cão auf dieser Reise entdeckte, durchströmt, obwohl der Fluß bei den Eingeborenen eigentlich Zaïre heißt (nach Mittheilungen unseres geschätzten Mitarbeiters, des Herrn Dr. Pechuel-Loesche lautet der richtige Name in der Congosprache „Nsadi“, „großes Wasser“). Derselbe ist durch seine Wassermasse bemerklicher und ansehnlicher als durch seinen Namen, denn zur Zeit, wo in jenen Landen Winter ist, fällt er mit solcher Macht in das Meer, daß man noch 20 Meilen von der Küste seine süßen Wasser findet.“
Die Besitzergreifung von Congo war nicht nur nominell, sondern hatte sogar die scheinbare Einführung der christlichen Religion in jenen Ländern zur Folge. Die Eingeborenen, von welchen der Bericht meldet, daß sie alle „sehr schwarz mit krausem Haar“ waren, wurden zu Tausenden auf einmal getauft. Es gab wohl Hunderte von christlichen Kirchen am Congo, aber sie sind sämmtlich verschwunden, nur hier und dort findet man noch heute spärliche Ruinen der ehemaligen Gotteshäuser.
Nach dieser denkwürdigen Reise wohnte unser Martin Behaim auf der Insel Fayal, und hier soll er Columbus die „Nachricht von Fichtenstämmen, Leichnamen und selbst Canots, die mit Häuten bedeckt und mit Menschen von einem gänzlich unbekannten Stamme besetzt gewesen und von Winden und Meeresströmungen an die Küsten von Fayal, Graciosa und Flores verschlagen worden“, mitgetheilt haben. Man hat wohl versucht, Behaim als den eigentlichen Entdecker Amerikas, als denjenigen, der Columbus auf den richtigen Weg gewiesen, hinzustellen. Auch hat man ihn lange Zeit für den Entdecker der Magellan’schen Straße gehalten, aber neuere Forschungen haben das Irrthümliche dieser Behauptungen dargethan. Trotzdem bleibt ihm der Ruf eines ausgezeichneten Geographen erhalten, hat ihn doch der Geschichtsschreiber Herrera „Cosmografo de gran opinion“ genannt. Er starb in Lissabon im Jahre 1506 oder 1507.
Der Erdglobus, den er während seines Aufenthalts in Nürnberg im Jahre 1492 dargestellt, ist ein äußerst werthvolles Denkmal für die Geschichte der geographischen Anschauungen jener so tief bewegten Periode der großen Entdeckungen. Er ist aus Pappe gefertigt, die über eine hölzerne Kugel gespannt ist, und sein Durchmesser mißt 54 Centimeter. Ueber die Pappe ist noch eine Gypskruste gelegt und diese wieder mit Pergament überzogen. Das Meer ist auf demselben ultramarinblau, die Länder braun und grün, die schneebedeckten Gipfel der Berge weiß, die Schrift mit Gold und Silber, sowie mit rothen, weißen und gelben Farben aufgetragen. Der ganze „Erdapffel“ ist mit zahlreichen Erläuterungen beschrieben, die auf unserer Abbildung[2] im Auszuge mitgetheilt werden.
Für das strebsame und gewerbfleißige Nürnberg ward dieser „Erdapffel“ noch von einer besondern Bedeutung, denn nach diesem Muster wurden später ähnliche Globen angefertigt, und lange blühte in Behaim’s Vaterstadt die Zunft der „Globenmacher“ und „Kartenzeichner“.St. v. J.
- ↑ Die Schiffscapitaine der Portugiesen errichteten anfangs in den neu entdeckten Ländern hölzerne Kreuze als Zeichen der Besitzergreifung jener Gebiete im Namen ihrer Herrscher. König Johann II. befahl, anstatt dieser Kreuze steinerne Säulen von der Höhe von zwei Mannslängen mit dem königlichen Wappenschild und entsprechenden Inschriften zu errichten. Die erste dieser Säulen wurde von Diogo Cão vor gerade 400 Jahren am Congo aufgestellt. – Eine ausführliche Beschreibung dieser Reise, sowie des Behaim’schen Globus findet der Leser in dem allgemein verständlich geschriebenen und interessanten Werke: „J. Löwenberg’s Geschichte der geographischen Entdeckungsreisen“. Otto Spamer, Leipzig. 1881.
- ↑ Eine treue Copie der ersten Tafel aus dem Werke „Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern“. Von Johann Gabriel Doppelmayr. Nürnberg. In Verlegung Peter Conrad Monaths. 1730.
Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.
Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Wie dem auch sey, dieser Großoheim und die Familientraditionen über ihn haben die Einbildungskraft des Knaben außerordentlich beschäftigt. Alles, was man von ihm erzählte, machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mein junges Gemüth, und ich versenkte mich so tief in seine Irrfahrten und Schicksale, meine jugendliche Phantasie beschäftigte sich Tag und Nacht so mit ihm, daß ich mich ganz in ihn hineinlebte und daß mich manchmal am hellen, lichten Tage ein unheimliches Gefühl ergriff und es mir vorkam, als sey ich selbst mein seliger Großoheim und als lebte ich nur eine Fortsetzung des Lebens jenes längst Verstorbenen!
In der Nacht spiegelte sich dasselbe retrospektiv zurück in meine Träume. Mein Leben glich damals einem großen Journal, wo die obere Abtheilung die Gegenwart, den Tag mit seinen Tagesberichten und Tagesdebatten enthielt, während in der unteren Abtheilung die poetische Vergangenheit in fortlaufenden Nachtträumen wie eine Reihenfolge von Romanfeuilletons sich phantastisch kund gab.
In diesen Träumen identifizirte ich mich gänzlich mit meinem Großohm und mit Grauen fühlte ich zugleich, daß ich ein anderer war und einer anderen Zeit angehörte. Da gab es Örtlichkeiten, die ich nie vorher gesehen, da gab es Verhältnisse und Zustände, wovon ich früher keine Ahnung hatte, und doch wandelte ich dort mit sicherm Fuß und sicherm Verhalten.
Da begegneten mir Menschen in brennend bunten, sonderbaren, wildfremden Trachten und mit abentheuerlich wüsten Physiognomien, die mir alte Liebe oder verjährten Haß einflößten, und denen ich dennoch wie alten Bekannten die Hände drückte – ihre fremdklingende, nie gehörte Sprache verstand ich, zu meiner Verwunderung antwortete ich ihnen sogar in derselben Sprache, während ich mit einer Heftigkeit gestikulirte, die mir nie eigen war, und während ich sogar Dinge sagte, wovon ich früher keine Ahnung hatte und die mit meiner gewöhnlichen Denkweise widerwärtig kontrastirten.
Dieser wunderliche Zustand des Traumlebens dauerte wohl ein Jahr, und obgleich ich wieder ganz zur Einheit des Selbstbewußtseyns kam, blieben doch geheime Spuren in meiner Seele. Manche Idiosynkrasie[1], manche fatale Sympathie und Antipathie, die vielleicht im Widerspruch mit meinem eigentlichen Naturell, ja sogar manche Handlungen, die im Widerspruch mit meiner Denkweise sind, erkläre ich mir als Nachwirkungen aus jener Traumzeit, wo ich mein eigener Großoheim war.
Sie hat mein späteres Dichten und Trachten bestimmt. Wenn [180] ich Fehler begehe, deren Entstehung mir unbegreiflich erscheint, schiebe ich sie gern auf Rechnung meines morgenländschen Doppelgängers. Als ich einst meinem Vater eine solche Hypothese mittheilte, um ein kleines Versehen zu beschönigen, bemerkte er schalkhaft: er hoffe, daß mein Großoheim keine Wechsel unterschrieben habe, die mir einst zur Bezahlung präsentirt werden könnten.
Es sind mir keine solche orientalischen Wechsel vorgezeigt worden, und ich habe genug Nöthen mit meinen eignen occidentalischen Wechseln gehabt.
Aber es giebt gewiß noch schlimmere Schulden als Geldschulden, welche uns die Vorfahren zur Tilgung hinterlassen. Jede Generazion ist eine Fortsetzung der andern und ist verantwortlich für ihre Thaten. Die Schrift sagt: die Väter haben Härlinge (unreife Trauben) gegessen und die Enkel haben davon schmerzhaft taube Zähne bekommen.
Es herrscht eine Solidarität der Generazionen, die auf einander folgen, ja die Völker, die hinter einander in die Arena treten, übernehmen eine solche Solidarität und sind nicht bloß die Erben sondern auch die Schuldner. Die ganze Menschheit liquidirt am Ende die große Hinterlassenschaft der Vergangenheit. Im Thale Josaphat wird das große Schuldbuch vernichtet werden oder vielleicht vorher noch durch einen Universalbankrott.
Der Gesetzgeber der Juden hat diese Solidarität tief erkannt und besonders in seinem Erbrecht sankzioniert; für ihn gab es vielleicht keine individuelle Fortdauer nach dem Tode und er glaubte nur an die Unsterblichkeit der Familie; alle Güter waren Familieneigenthum, und niemand konnte sie so vollständig alieniren,[2] daß sie nicht zu einer gewissen Zeit an die Familienmitglieder zurückfielen.
Einen schroffen Gegensatz zu jener menschenfreundlichen Idee des Mosaischen Gesetzes bildet das römische, welches ebenfalls im Erbrechte den Egoismus des römischen Charakters bekundet: die Rechtsbestimmungen in Bezug auf Testamente sanczioniren hier den grinsenden Eigenwillen der Selbstsucht, des starren Personaldünkels, der bis übers Leben hinaus seine Besitzthümer mißbrauchen will und der am Ende unter dem Namen Familia nur seine Haussklaven kennt.
Doch ich will mich nicht in allgemeine Betrachtungen verlieren, ich will hierüber keine Untersuchungen eröffnen und meine persönlichen Bekenntnisse verfolgend will ich vielmehr die Gelegenheit benutzen, die sich mir hier bietet, wieder durch ein Beispiel zu zeigen, wie die harmlosesten Thatsachen zuweilen zu den böswilligsten Insinuazionen von meinen Feinden benutzt worden. Letztere wollen nemlich die Entdeckung gemacht haben, daß ich bey biographischen Mittheilungen sehr viel von meiner mütterlichen Familie, aber gar nichts von meinen väterlichen Sippen und Magen[3] spräche, und sie bezeichneten solches als ein absichtliches Hervorheben und Verschweigen und beschuldigten mich derselben eiteln Hintergedanken, die man auch meinem seligen Kollegen, Wolfgang Göthe vorwarf.
Es ist freylich wahr, daß in dessen Memoiren sehr oft von dem Großvater von väterlicher Seite, welcher als gestrenger Herr Schultheiß auf dem Römer zu Frankfurt präsidirte, mit besonderem Behagen die Rede ist, während der Großvater von mütterlicher Seite, der als ein ehrsames Flickschneiderlein auf der Bockenheimer Gasse auf seinem Werktische hockte und die alten Hosen der freyen Reichsstadt Frankfurt ausbesserte, mit keinem Worte erwähnt wird.
Ich habe Göthen in Betreff dieses Ignorirens nicht zu vertreten. Was mich selbst betrifft, so habe ich zu solchen Insinuazionen immer achselzuckend geschwiegen und dem lieben Gott gedankt, daß man mir nichts schlimmeres nachzusagen wisse.
Jene böswilligen und oft ausgebeuteten Interpretazionen und Insinuazionen möchte ich dahin berichtigen, daß es nicht meine Schuld ist, wenn in meinen Schriften von einem väterlichen Großvater nie gesprochen ward, und wer mich kennt, weiß, wie wenig Geburtsdünkel in meiner Natur liegt.[4]
Die Ursache ist ganz einfach: ich habe nie viel von ihm zu sagen gewußt. Mein seliger Vater war als ganz fremder Mann nach meiner Geburtsstadt Düsseldorf gekommen und besaß hier keine Anverwandten, keine jener alten Muhmen und Basen, welche die weiblichen Barden sind, die der jungen Brut tagtäglich die alten Familienlegenden mit epischer Monotonie vorsingen, während sie die bei den schottischen Barden obligate Dudelsackbegleitung durch das Schnarren ihrer Nasen ersetzen. In die Familienchronik meines Vaters konnten sie mich nicht frühzeitig einweihen; nur über die großen Kämpen des mütterlichen Clans konnte von dieser Seite mein junges Gemüth frühe Eindrücke empfangen, und ich horchte mit Andacht, wenn die alte Bräunle oder Brunhildis erzählte.
Mein Vater selbst war sehr einsilbiger Natur, er sprach nicht gern, und unterhielt mich nie mit alten Geschichten. Nur einmal, als ich noch ein kleines Bübchen, stellte ich ihm eine dahin gerichtete Frage.
Ich erinnere mich, es war an einem jener schönen, sonnigen Sonntage, die ich zu Hause zubringen durfte, während ich die Werkeltage über in der öden Franziskaner-Klosterschule schmachtete – da nahm ich hier eine Gelegenheit wahr, meinen Vater zu befragen, wer mein Großvater gewesen sey? Auf diese Frage antwortete er halb lachend, halb unwirsch: „Dein Großvater war ein kleiner Jude und hatte einen großen Bart.“[5]
Den andern Tag, als ich in den Schulsaal des Klosters trat, wo bereits meine kleinen Kameraden versammelt waren, beeilte ich mich sogleich ihnen die wichtige Neuigkeit zu erzählen, daß mein Großvater ein kleiner Jude war, welcher einen langen Bart hatte.
Kaum hatte ich diese Mittheilung gemacht, als sie von Mund zu Mund flog, in allen Tonarten wiederholt ward mit Begleitung von nachgeäfften Thierstimmen. Die Kleinen sprangen über Tisch und Bänke, rissen von den Wänden die Rechentafeln, welche auf den Boden purzelten nebst den Tintenfässern, die Bänke wurden umgeschmissen und dabey wurde gelacht, gemeckert, gegrunzt, gebellt, gekräht – ein Höllenspektakel dessen Refrain immer der Großvater war, der ein kleiner Jude gewesen und einen großen Bart hatte.
Der Lehrer, welchem die Klasse gehörte, vernahm den Lärm und trat mit zornglühendem Gesichte in den tosenden Saal und [181] fragte gleich nach dem Urheber dieses Unfugs. Wie immer in solchen Fällen geschieht: ein jeder suchte kleinlaut sich zu diskulpiren, und am Ende der Untersuchung ergab es sich, daß ich Aermster überwiesen ward, durch meine Mittheilung über meinen Großvater den ganzen Lärm veranlaßt zu haben, und da ich denselben nicht verleugnete, büßte ich meine Schuld durch eine bedeutende Anzahl Prügel.
Es waren die ersten Prügel, die ich auf dieser Erde empfing und ich machte bei dieser Gelegenheit schon die philosophische Betrachtung, daß der liebe Gott, der die Prügel erschaffen, in seiner gütigen Weisheit auch dafür sorgte, daß derjenige, welcher sie ertheilt, am Ende müde wird, indem sonst am Ende die Prügel unerträglich würden.[6]
Der Stock, womit ich geprügelt ward, war ein Rohr von gelber Farbe, doch die Streifen, welche dasselbe auf meinem Rücken ließ, waren dunkelblau. Ich habe sie nicht vergessen.
Auch den Namen des Lehrers, der mich so unbarmherzig schlug, vergaß ich nicht: es war der Pater Dickerscheid; er wurde bald von der Schule entfernt, aus Gründen, die ich ebenfalls nicht vergessen, aber nicht mittheilen will.[WS 1]
Wie der Name des Mannes, der mir die ersten Prügel ertheilte, blieb mir auch der Anlaß im Gedächtniß, und jedesmal wenn von kleinen Juden mit großen Bärten die Rede war, lief mir eine unheimliche Erinnerung gruselnd über den Rücken. „Gesottene Katze scheut den kochenden Kessel,“ sagt das Sprüchwort und jeder wird leicht begreifen, daß ich seitdem keine große Neigung empfand, nähere Auskunft über jenen bedenklichen Großvater und seinen Stammbaum zu erhalten oder gar dem großen Publikum, wie einst dem kleinen, dahinbezügliche Mittheilungen zu machen.
- ↑ Sinnes- oder Empfindungseigenheit.
- ↑ Entäußern.
- ↑ Ein Lieblingswort Heine’s in Bezug auf seine Verwandtschaft. Es findet sich an mehreren Stellen dieser Memoiren, doch hat er es mehrfach wieder durchgestrichen. Meist hat er es in wegwerfendem Sinne angewandt, so in dem Sonett („Nachlaßgedichte“ Band 18):
„Sie küssten mich mit ihren falschen Lippen,
Sie haben mir credenzt den Saft der Reben,
Und haben mich dabei mit Gift vergeben –
Das thaten mir die Magen und die Sippen.
Es schmilzt das Fleisch von meinen armen Rippen,
Ich kann mich nicht vom Siechbett mehr erheben,
Arglistig stahlen sie mein junges Leben –
Das thaten mir die Magen und die Sippen.“ u. s. w. - ↑ In einem Briefe an den französischen Gelehrten St. René-Taillandier vom 3. November 1851 sagt Heine: „Meine Vorfahren gehörten der jüdischen Religion an; ich war niemals eitel auf diese Abkunft, – fühlte ich mich doch schon hinlänglich gedemüthigt, wenn man mich für ein schlichtweg menschliches Geschöpf nahm, während Hegel mich glauben gemacht hatte, daß ich ein Gott sei.“
- ↑ Dieser Großvater hieß Heymann Heine und ist in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gestorben.
- ↑ Hyazinth in den „Reisebildern“ macht eine ähnliche tiefsinnige Bemerkung (Werke, Band II, S. 251).
Die Ereignisse im Sudan.
Der Sudan (arabisch Beled-es-Sudáhn, das heißt das schwarze, das Negerland) tritt in der neueren Staatengeschichte zu Anfang unseres Jahrhunderts auf, genau um dieselbe Zeit, in welcher die moderne Geschichte des heutigen Aegyptens unter Mohammed Ali beginnt, der seine eroberungssüchtige Hand auch nach Dongola und Nubien und später sogar nach Kordofan und Sennaar, also dem eigentlichen Sudan, ausstreckte. Der gewaltige Pascha, der trotz der Grausamkeiten seiner blutigen Despotenherrschaft immerhin als der Regenerator Aegyptens angesehen werden muß, denn er besaß auch großartige Regenteneigenschaften, hatte durch die Massenermordung der Mamluckenbeys auf der Citadelle von Kairo (am 1. März 1811) die Macht dieser kleinen unabhängigen Fürsten gebrochen. Die übrig gebliebenen flüchteten mit ihren Anhängern nach Nubien, dessen Bevölkerung zu ihnen hielt, aber der Pascha folgte ihnen auch dahin und vernichtete sie vollends, freilich erst nach jahrelangem Kampf.
Die weiten Länderstrecken behielt er dann als gute Beute, und die Bewohner fügten sich einfach der Macht des Stärkeren. Mit kundigem Blick erkannte Mohammed-Ali die große Bedeutung des Ländergebietes am Zusammenfluß des Weißen und Blauen Nils, der von jenem Punkt aus als Ein gewaltiger Strom nordwärts nach Aegypten fließt. Dort lag, und zwar am linken Ufer des Blauen oder östlichen Flusses, ein kleines ärmliches Negerdorf, das anfangs den Soldaten des Paschas wegen der Nähe des Wassers als Lagerplatz diente und später befestigt wurde, um eine dauernde Garnison aufzunehmen. Ansiedler fanden sich bald und der Ort wuchs zusehends von Jahr zu Jahr, bis endlich eine große Stadt daraus wurde: das jetzige Khartum. Die Lage war überaus günstig für den gesammten Handel der südlichen Binnenländer, deren Productenfülle ungeahnte Quellen des Reichthums erschloß, die nun nach Kairo hinabgeleitet wurden. Gold, Elfenbein, Gummi und – Sclaven waren damals die Haupthandelsartikel und sind es, mit einer Menge anderer Erzeugnisse, bis auf den heutigen Tag geblieben, namentlich stammt mehr als die Hälfte aller Sclaven, die nordwärts nach Aegypten und den übrigen afrikanischen Ländern am Mittelmeer, nach Asien und bis nach Constantinopel gehen, aus jenen Gegenden.
Durch stets erneute Annectirungen vergrößerte sich der Länderbesitz Aegyptens in erstaunlicher Weise: ganz Kordofan mit der Hauptstadt El-Obeid wurde ägyptisch, und den Schlußstein machte das westlich davon [182] gelegene Königreich Darfor, das erst unter dem Ex-Khediv Ismaïl im Jahre 1875 hinzukam. Schon früher waren nach Osten hin Taka mit der Hauptstadt Kassala und die Provinz Fassogl unterjocht und alle umwohnenden Beduinenstämme tributär gemacht worden, sodaß sich endlich das ägyptische Reich in Mittelafrika vom 23. bis zum 40. Längengrade erstreckte, wo das Rothe Meer die östliche Grenze bildete.
Leider ging nur mit der Vergrößerung die Verbesserung nicht Hand in Hand, sondern das Gegentheil trat ein, nämlich eine abscheuliche Mißwirthschaft und zwar durch maßlosen Steuerdruck, durch Frohnarbeit, gewaltsame Aushebung zum Militärdienst, überhaupt durch despotische Gewaltherrschaft der einzelnen Gouverneure und Mudire, deren ganze Rechtspflege oft nur in der Bastonnade und in willkürlicher Einkerkerung bestand. Von oben her, das heißt von Kairo, der Residenz des Khedivs und dem Sitze der höchsten Regierungsbehörden, kam auf alle Klagen, wenn sie überhaupt dahin gelangten, keine Abhülfe und zwar aus dem einfachen, freilich auch tief beklagenswerthen Grunde, weil dort die Mißwirthschaft fast ebenso schlimm war. Sie trat dort nur weniger offenkundig hervor, denn sie war äußerlich unter dem Firniß einer europäischen Halbcivilisation verhüllt, jenes kläglichen Scheindinges, das so wesentlich zu dem Zusammensturze beitrug, der die Absetzung des Khedivs Ismaïl im Jahre 1879 zur Folge hatte. Unter seinem Sohne und Nachfolger, dem jetzigen Khediv Tewfik, der es ruhig mit ansehen mußte, wie sofort nach seinem Regierungsantritte die Engländer sich im Lande festsetzten und einen stets wachsenden Einfluß gewannen, brach dann im eigentlichen Aegypten die Revolution unter Arabi Pascha aus. Sie begann so glänzend, fast wie eine nationale Schilderhebung, um alsbald so kläglich im Sande von Tel el Kebir zu verlaufen, jenem mysteriösen Siege, der das Tedeum in der Paulskirche in London wohl schwerlich verdiente.
Um dieselbe Zeit trat, wie wir schon in unserem letzten Artikel erwähnten, auch im Sudan ein Sahid, das heißt ein Einsiedler von der Insel Aba im Weißen Nil unterhalb Khartum an die Oeffentlichkeit, welcher in den dortigen Gegenden bereits seit etwa einem Jahre viel von sich hatte reden machen und auch schon einen beträchtlichen Anhang besaß, der ihn fanatisch verehrte und ihn zu großen Dingen berufen glaubte. Das war Mohammed Achmed aus Dongola, ein gewöhnlicher Schiffszimmermann in Khartum, aber ein Mann von lebhaftem Geiste und weitgehenden Plänen. Er begab sich nach Tamaniat, in der Nähe Khartums, um sich bei einem alten Derwisch durch Auswendiglernen des Korans zum Fahkih, das heißt zu einem Gotterleuchteten, ausbilden zu lassen. Dann zog er sich auf die ebengenannte Insel zurück, kasteiete sich, mahnte zur Buße, aber auch zum Kampfe für den reinen Glauben – und der „Mahdi“, der neue Prophet, war fertig. Seine Gegner, bis jetzt noch die überwiegende Mehrzahl der Islam-Bekenner, nennen ihn freilich den „falschen Propheten“, aber für seine Anhänger, die sich unglaublich schnell vermehrten, ist er der echte, der „von Allah auf den rechten Weg Geleitete“.
Man hatte natürlich anfangs nur ein mitleidiges Lächeln für dergleichen „Tollheiten“, auch dort, wo ein ernstes Einschreiten zu sofortiger Unterdrückung weit besser am Platze gewesen wäre, nämlich in Aegypten selbst, gegen das die Bewegung zunächst gerichtet war.
Von Khartum wurden wohl einige hundert Mann Soldaten gegen die Aufrührer abgeschickt, aber die Soldaten wurden entweder zurückgeschlagen, oder sie machteu gemeinsame Sache mit dem Mahdi, traten zu ihm über und lieferten ihm dadurch Gewehre und Munition. Schon gingen seine Sendboten nach allen Himmelsgegenden und riefen die Beduinenstämme zur Mithülfe, verhießen allen himmlischen Lohn und nannten nun auch dreist den wahren Grund der Empörung: die Abschüttelung des verhaßten christlich-europäischen, hier speciell des englischen Jochs und der nicht minder verhaßten Paschawirthschaft in Kairo – und noch immer trafen Telegramme des Gouverneurs von Khartum beim Khediv ein: die Sache sei von keiner großen Bedeutung, und man werde der Aufständischen schon Herr werden. So war der Frühling 1883 herangekommen, und nun schlug plötzlich die lang verhaltene Gluth in hellen Flammen auf und warf einen solchen Feuerschein über die Länder, daß auch die blödesten Augen sehend wurden.
Die Empörung war nämlich in eine neue überaus gefährliche Phase getreten, denn, wie anfangs nach Westen, so hatte sie sich jetzt auch unaufhaltsam nach Osten verbreitet, die Takastämme ergriffen und war über Kassala nordöstlich hinauf bis nach Suakin[1] an das Rothe Meer gelangt. Die Herrschaft des Khedivs über den ganzen unermeßlichen Süden seines Reichs stand jetzt in Frage, und Armeen waren nöthig und bedeutendes Kriegsmaterial, um ihn siegreich zu behaupten; Geld natürlich in erster Reihe, und es fehlte in Kairo an Allem. Die Schwäche der ägyptischen Regierung kam hinzu, die sich schon früher von den Engländern die Hände hatte binden lassen. Aber eben diese Engländer, welche doch die Aufrechthaltung der Ruhe und Ordnung im Lande als Grund ihres Protectorats vorgeschützt, blieben unthätig, und Herr Gladstone gab von seinem Cabinet in Downingstreet aus die Weisung, lieber den Sudan ganz fallen zu lassen und sich nur auf die Vertheidigung der Küstenstädte des Rothen Meeres zu beschränken. Ein Schrei der Entrüstung ging durch ganz Aegyptenland. Doch hatte man wenigstens den Trost, daß der englische General Hicks, der bereits mit dem (gut oder schlecht, wie es eben gehen wollte) neuorganisirten ägyptischen Heer von etwa 7000 Mann am Weißen Nil stand, das Feld nicht widerstandslos räumen werde. Er hatte schon im Sommer 1883 zwischen Kana und Duem mehrere Gefechte mit den Insurgenten siegreich bestanden [183] und rückte nun südwestlich nach El-Obeid vor, dem Hauptquartiere des Mahdi, um dort einen entscheidenden Schlag zu führen. Aber bevor er hinkam, erreichte ihn das entsetzliche Schicksal: er selbst und sein ganzes Heer wurden von den Rebellen niedergemacht. Der Weg nach Khartum stand jetzt dem Mahdi offen, der aber vorzog – man weiß nicht recht, aus welchem Grunde – in Kordofan zu bleiben.
Ganz sichere Details über die Hicks’sche Niederlage fehlen noch immer und werden auch wohl nie, wenigstens von keinem Augenzeugen, zu uns gelangen, denn die Ueberlebenden, wenn es deren überhaupt gab, sind verschollen oder nachher umgekommen. Von einer anderen späteren Schlacht dagegen nördlich von El-Obeid, wo am 4. December 1883 fast ein ganzes Negerregiment von den Aufständischen niedergemacht wurde, liegen genauere Berichte vor, und zwar von englischen Officieren, welche die Wahlstatt besuchten und Skizzen davon, wie die beifolgende (auf Seite 185), nach Europa sandten. In jenen Ländern denkt man im Kriege an kein Begraben der Gefallenen; Tausende von Aasgeiern werfen sich auf die Leichen und lassen nach wenigen Tagen nur noch die Gerippe übrig, die an der sengenden Wüstensonne bleichen und vertrocknen. Ein mitleidiger Sturm verschüttet sie dann gelegentlich mit seinen Sandmassen.
Mittlerweile war der General Baker mit seinem neuen Gensd’armerie-Corps und einem sehr unzuverlässigen ägyptischen Regiment vor Suakin eingetroffen, um den in der Nähe landeinwärts liegenden Städten Sinkat und Tokar, die von den Beduinen belagert wurden, Entsatz zu bringen. Auch sein Schicksal vor Sinkat ist bekannt, und beide Städte fielen in die Hände der Insurgenten. So triumphirte zu Anfang dieses Jahres die Sache des Mahdi fast auf der ganzen Linie, denn die in verschiedenen Städten des Sudan und des Sennaar zerstreut liegenden und noch dazu wenig zahlreichen ägyptischen Garnisonen haben genug zu thun, sich ihrer eigenen Haut zu wehren. Suakin selbst ist vor der Hand nicht weiter bedroht, denn es liegt dicht unter dem Schutz der englischen Kanonenboote und man wird auch sonst keine Anstrengung scheuen, es zu halten. Diese Stadt ist der wichtigste ägyptische Hafenplatz am Rothen Meer, der fast den gesammten mittelafrikanischen Binnenhandel nach Arabien, zunächst nach Djedda, vermittelt und von den Engländern seit langem aus erklärlichen Gründen bevorzugt, das heißt mit scheelen Augen angesehen wird. In wenig Tagen gelangen die Dampfer von Suakin nach Aden, und Aden ist die Hauptetappe vom Suezcanal nach Indien ... wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, weiß auch, was wir damit sagen wollen.
So standen die Sachen im Januar dieses Jahres, als England, was es nur sechs Monate früher hätte thun sollen, sich endlich ermannte.
Die öffentliche Meinung in London und in ganz England, ja, man darf wohl sagen von Europa, sprach sich plötzlich in so lauter und einstimmiger Entrüstung aus, daß die empörten Wogen derselben nahe daran waren, den alten Gladstone von seinem Ministersitz hinwegzuschwemmen – nun mußte gehandelt werden und zwar energisch und schnell. Die Art und Weise, wie es geschah, war freilich seltsam genug und auf den ersten Blick fast abenteuerlich-romantisch.
Schon in der ersten Februarwoche nämlich durchflog ein Mann, ein einzelner Mann, in arabischer Tracht auf leichtfüßigem Reitkameel die unabsehbare nubische Wüste, seine wenigen Gefährten weit hinter sich lassend und sein treues Thier zu immer größerer Eile anspornend, als ob jede versäumte Minute ein unersetzbarer Verlust wäre, unaufhaltsam nach Süden zu, dem Ziel seiner Reise. Dieser Muthige war Gordon. Das englische Cabinet hatte ihn von Brüssel, wo er sich dem belgischen König für die Congo-Expedition zur Verfügung gestellt, telegraphisch nach London gerufen, wie einen Retter in der Noth, und zwar zur Stillung des Aufruhrs im Sudan. In wenig Stunden waren seine Instructionen ausgefertigt, mit unumschränkten Vollmachten für alle seine Handlungen und unter ausdrücklicher Gutheißung derselben im Voraus von Seiten der englischen Regierung. Die „Gefahr im Verzug“ mußte gewaltig drängen, um einen einzelnen Mann, seine Verdienste und Fähigkeiten mochten noch so groß sein, mit einer solchen Machtfülle auszurüsten. Es geschah dennoch; mithin der beste Beweis, in welch peinlicher Verlegenheit das englische Cabinet, und zwar durch eigene Schuld, sich befand. Als man darauf Gordon um das „Wie“ fragte, soll er geantwortet haben: „Entweder an der Spitze einer Armee oder allein.“ Eine Armee war nicht da, also ging er allein, und nach kaum acht Tagen stieg er bereits in Alexandria an’s Land. Er war übrigens dort kein Neuling, kein Fremder, wie ihm der Orient überhaupt, und zwar im weitesten Sinne genommen, bis nach Indien und China seit langen Jahren eine zweite Heimath geworden war.
Die Biographie dieses in mehr als einer Beziehung außerordentlichen Mannes ist überaus interessant; hier ist uns natürlich nur eine ganz flüchtige Skizze derselben gestattet. Charles George Gordon wurde am 28. Januar 1833 in Woolwich geboren; er stammt, wie er selbst sagt, aus einer Soldatenfamilie und wählte deshalb auch die militärische Laufbahn. Als junger Officier nahm er an der Belagerung Sebastopols Theil, wo Lord Wolseley Major in seinem Regimente war, und ging im Jahre 1860 mit der englisch-französischen Expedition nach China.
Einige Jahre später trat er sogar ganz in chinesische Dienste gegen die Aufrührer in der sogenannten Hung-Rebellion und erwarb sich so große Verdienste um die Unterdrückung des Aufstandes, daß ihn der Kaiser zum Mandarin erster Classe (von der Pfauenfeder und der gelben Robe) ernannte; das erhaltene Geschenk von 10,000 Pfund Sterling vertheilte er aber unter seine Soldaten. Im Jahre 1865 nach England zurückgekehrt, wo ihn das Volk sofort Chinese-Gordon, den Chinesen-Gordon, nannte, denn er war sehr populär geworden, trat er als Oberst wieder in die englische Armee und wurde Leiter und Inspector der Befestigungswerke von Gravesend, an der Themsemündung, in welcher Stellung er bis zum Jahre 1871 blieb. Diese sechs Jahre, die, im Vergleich zu den vorhergehenden ruhmvollen und glänzend bewegten, sehr still und einförmig waren, nennt Gordon selbst die angenehmsten seines Lebens, weil er dort ganz seinen menschenfreundlichen Neigungen und Plänen nachgehen konnte, die eine Haupteigenschaft seines Charakters ausmachen. „Sein Haus war Schule, Hospital und Armenküche, und man meinte weit mehr bei einem Missionair als bei einem Ingenieur-Obersten zu sein. Wer arm, krank oder sonst unglücklich war: an Gordon’s Thür klopfte Keiner vergebens. Vorzugsweise nahm er sich der Schiffsjungen an, ging in ihre Schule, um sie selbst zu unterrichten, besorgte ihnen in London gute Capitaine für die erste Reise, und stattete die ärmeren unter ihnen mit allem Nöthigen aus.“[2]
Der bekannte Afrikareisende und Eroberer Samuel Baker (ein Bruder des oben erwähnten Generals B.) war es, der im Jahre 1873 den Khediv Ismaïl auf Gordon aufmerksam machte, als es sich um eine geeignete Persönlichkeit handelte, dem überhand nehmenden Sclavenhandel im Sudan energisch entgegenzutreten und überhaupt in den dortige Regionen Ordnung und bessere Verwaltung zu schaffen. Wie sehr Gordon der Mann für diesen Posten war, zeigte er alsbald, schon durch Anlage eines Militärcordons von Khartum aus, den Blauen Nil hinauf, bis zu den Seen, wodurch der Sclavenhandel in den dortigen Gegenden scharf überwacht und mit Erfolg bekämpft wurde. Den vielen sonstigen Mißbräuchen in der gesammten Verwaltung konnte er allerdings nur in beschränktem Maße steuern, was ihm Verdrießlichkeiten aller Art und Feindschaften zuzog.
Bei der gesammten Bevölkerung dagegen war er sehr bald beliebt geworden, denn er verkehrte leutselig mit allen, sprach ihre Sprache und bequemte sich ihren Sitten an. Mit dem Sturz des Khedivs Ismaïl, im Jahre 1879, legte auch Gordon sein hohes Amt nieder, um es jetzt durch eine seltsame Verkettung der Umstände und unter weit ernsteren Auspicien wieder anzutreten.
Sein bloßes Erscheinen in Khartum, am 18. Februar, von dem dort Niemand eine Ahnung hatte, wirkte wie ein Wunder und wie eine Erlösung. Gleich am nächsten Tage ergriff er mit starker Hand die Zügel der Regierung und seine ersten Proclamationen riefen allgemeine Begeisterung hervor: Erlaß aller rückständigen Steuern (die Listen davon wurden auf dem Marktplatz öffentlich verbrannt), Reduction aller Steuern auf die Hälfte, Aufschließung der Gefängnisse und Freilassung aller wegen geringer oder oft gar keiner Vergehen Eingekerkerter, offene Audienz für Jedermann ohne Ausnahme, Einsetzung einer Commission zur Prüfung und wenn möglich zur sofortigen Erledigung aller Bittgesuche, [184] und endlich reichliche Vertheilung von Nahrungsmitteln und Geld an die Bedürftigen.
Nur ein Schatten und leider ein sehr dunkler fällt auf die Handlungsweise dieses Mannes, der in wenig Tagen mehr gethan, als die besten Gouverneure, die noch dazu in jenen Ländern sehr rar sind, in Jahren. Dieser Schatten trübt das edle, echt humane Bild Gordon’s dergestalt, daß wir fast irre an ihm werden und umsonst nach einer Lösung des Räthsels suchen. Er hat nämlich auch zugleich den Sclavenhandel im Sudan wieder freigegeben.
Es ist dies unter allen Umständen ein im Interesse der Humanität höchst bedauerlicher Schritt, aber zur richtigen Würdigung der Tragweite desselben ist eine genauere Kenntniß der alten Gebräuche und Sitten der Sudanvölker unerläßlich, und es wird die Aufgabe unseres nächsten Artikels sein, gerade diese Fragen zu erörtern. Adolf Ebeling.
Dschapei.
Grüß’ Gott!“ so grüßte der Jäger mit freundlichem Blicke.
Die alte Baslerin vergaß völlig, den Gruß zu erwidern. Sie schaute dem Jäger nur immer in die Augen; schließlich frug sie gedehnten Tones:
„Han – Du – bist ’leicht Du derselbig’ Jaager vom Trischübl?“
„Ja.“
„Der Festei?“
„Ja. Und – wer bist denn Du?“
„Ich? Ich bin der Nannei ihr Mutter.“
Ein dunkles Roth flog über Festei’s Wangen. Er streckte der alten Baslerin die Hand entgegen und sagte:
„Schau – das freut mich schon recht – g’wiß wahr! Weißt – d’Nannei hat mir schon gar oft von Dir verzählt – ja – und so viel gleichschauen thust ihr! Wo kommst denn her – han?“
„No – auf B’such bin ich halt g’wesen bei mei’m Deandl.“
„Mein – die wird aber a Freud’ g’habt haben! Und wo willst denn jetzt hin?“
„Heim will ich, heim, ’nunter nach Bartlmä!“
„Ja mein, Mutterle,“ that Festei ganz erschreckt, „da bist ja weit vom Weg. Der Steig, der führt ja am Funtensee. Weißt – drunten, wo ’s Wasserl lauft, da hättst links ausbiegen sollen.“
Die alte Baslerin war völlig trostlos.
„No – geh – schau – so viel macht’s ja net aus,“ begütigte Festei. „Weißt – a bißl weiter vorn, da führt a Jagdsteig ’nunter am richtigen Weg. Und wann’s Dir recht is, nachher geh’ ich ganz gern so weit mit Dir, bis D’nimmer fehlen kannst.“
„Bist a recht a guter Mensch!“ nickte die Alte mit dankbarem Lächeln dem Jäger zu. „Geh nur – geh nur voraus – ich komm’ Dir schon nach.“
So schritten sie auf dem schmalen Pfade dahin und Festei mußte Nannei’s Mutter wohl für ein recht neugieriges „Weiberleut“ halten, da sie nimmer müde wurde mit Fragen und Fragen über seine Person, über seinen Dienst und sein Gehalt, über seine Herkunft und über den Stand seines Vermögens. Sie interessirte sich sogar für die Fristen, nach denen Festei’s Gehalt eine Aufbesserung erfahren sollte, wie für die Summe, zu welcher derselbe im besten Falle anwachsen könnte.
„Siebenhundertachtzig Mark im Jahr?“ plauderte sie mit wägendem Kopfnicken vor sich hin. „Ah ja – da kann Eins schon davon leben.“
„Und Zwei auch – leicht – wann man ’s Hausen a bißl versteht,“ entgegnete Festei mit hastigem Worte. „Es is doch ’was Sichers! Und nachher – die vielen Schußgelder – – und – für alle Fäll’ – weißt – d’Pansion is auch net schlecht.“
Die alte Baslerin machte ein recht bedenkliches Gesicht zu diesen Worten. Wie aber Festei jetzt von dem Reste seines mütterlichen Vermögens sprach, von den elfhundert Mark, die als erste Hypothek auf einem großen Bauerngute lagen, und zu denen sich jetzt noch die dreihundert Mark von den beiden Adlern gesellten,
[185][186] da hellte sich ihr Antlitz auf, und ein vergnügliches Lächeln lagerte sich auf ihren Lippen.
Als die Beiden die Unterlahner Alm erreichten, von welcher aus auch ein Blinder den Weg nach Bartolomä gefunden hätte, da mahnte die alte Baslerin selbst den Jäger zur Umkehr.
Mit allen Fingern umspannte sie Festei’s rechte Hand und sah ihm mit einem guten Blick in die Augen:
„No also – jetzt grüß’ mir halt mein Nannei recht schön von mir,“ sagte sie. „Und – kannst ihr ausrichten, daß’s mich recht g’freut hat, weil ich Dich hab’ kennen lernen. Ja – bist a recht a guter Mensch! G’fallst mir!“ Und mit schmunzelnden Lippen frug sie: „Han – mein Nannei? Was sagst denn zu mei’m Nannei?“
„Mein – was is da zum sagen!“ stammelte Festei, während ein tiefes Roth sein Antlitz überzog.
„Gefallt’s Dir? Han?“
„Schau, Mutterle – das hab’ ich mich selber noch net g’fragt. Aber Eins weiß ich – daß ich versterben müßt’, wann ich d’Nannei net zum Weib sollt’ kriegen!“
Der herzinnige Ton dieser Worte trieb der alten Baslerin das helle Wasser in die Augen.
„Ja, ja – und schau – ich hab’ im Grund gar nix dagegen – weißt – seit ich Dich kenn’. Und – ich mein’ allweil, mein Nannei is Dir auch recht gut – aber weißt – wissen thut sie’s halt noch net. Sie wird’s aber schon noch merken – mein, da hab’ ich gar kein Angst net – mußt es aber net drängen, weißt, sie is halt noch arg jung. Und wenn sie’s nachher amal weiß – gelt, Festei – gelt – nachher – nachher –“ Eine Zähre um die andere kugelte der Alten über die Backen, während sie mit stockenden Worten zu den Augen des Jägers emporsprach. „Schau – haben thut’s net viel, mein Deandl – das bißl Häusl – das is ja kaum davon zum reden – aber weißt, brav is mein Nannei, brav – und gelt, Festei – da mußt halt schauen, daß ihr das bleibt! Weißt – d’Lieb’ – die verruckt ei’m halt diemal den Verstand – die macht ein’ ganz dumm – und drum – gelt, Festei – gelt – sei halt g’scheid – weißt – sei halt g’scheid!“
Die alte Baslerin zog ihr Tüchlein aus dem Rocksacke, wischte sich die Augen und schnäuzte sich mit großem Geräusche.
„Und jetzt b’hüt Dich Gott, Festei! Und ich dank’ Dir recht schön für Deine Führung.“
„Geh, Mutterle – es is ja so gern g’schehen. Und ’s Danken, das is ja ehnder an mir! Hast mir ja mein Glück gesagt! Und – sorgen brauchst Dich fein net – weißt – ich hab’s ja Alles z’gern, d’Nannei. Und – ja – somit b’hüt Dich halt Gott, Mutterle. Komm’ gut heim!“
„B’hüt Dich Gott, nochmal! B’hüt Dich Gott, Festei!“
So schieden die Beiden.
Die innerliche Erregung ließ die alte Baslerin schnellere Schritte machen, als es gut war für ihre Füße. Da empfand sie auch bald die Nothwendigkeit, eine kleine Weile zu rasten, und sie wählte dazu ein moosbewachsenes Plätzchen im Schatten einer herrlichen Fichte. Hier saß sie nun, mit dem Rücken wider den breiten Stamm gelehnt – und sann und rechnete, und rechnete und sann – ein leichtes Rieseln lief ihr durch die Glieder, am ganzen Leibe fühlte sie eine so wohlige Wärme – nach und nach begannen ihr die Gedanken zu stocken – und so lauschte sie dem Murmeln und Raunen des Schreinbaches, der zu ihren Füßen floß, und dem Summen der Schnacken, die ihr um die Ohren flogen – und da fielen ihr schließlich die schwer gewordenen Lider zu.
Als sie wieder erwachte, erschrak sie ordentlich vor den dunklen Schatten und dem dämmerigen Himmel.
Nun galt es Eile, wenn sie drunten am See noch eine Schiffgelegenheit erreichen wollte.
In Schweiß gebadet, langte sie nach einer Stunde im Bartolomäer Schloßhof an und sah gerade den letzten Nachen von der Lände stoßen. Doch ließen sich die Schiffer durch Rufen und Winken zu nochmaligem Anfahren bewegen.
Wie die alte Baslerin im dahingleitenden Kahne saß, da wischte und wischte sie immer mit ihrem Tuche, bald über das Gesicht, bald rings um den Hals.
Kalt und schneidend blies der abendliche Seewind über die hüpfenden Wellen.
Die alte Frau fing an zu frieren – und als der Nachen nach dreiviertelstündiger Fahrt um die Ecke des Falkensteines bog, wo der Wind noch schärfer einherzog, da rüttelte ein jäher Schauer den Rücken der Baslerin, und sie begann zu husten.
Wohlgemuthen Schrittes und still vor sich hinlächelnd war Festei den mäßig steilen Weg zurückgewandert. Es zog ihn zu Nannei; er meinte die Stunde nicht mehr erwarten zu können, in welcher er wieder vor dem geliebten Mädchen stehen durfte, Hand in Hand und Aug’ in Auge, nun mit dem Bewußtsein, daß seinem Glücke nur die Zeit noch hindernd im Wege stünde.
Und doch – als er die Sigerethquelle erreichte und sinnend seinen Schritt verhielt, da ward seine Sehnsucht überwogen von dem Gefühle seiner Pflicht, die ihm für heute noch eine Begehung der Grenze vorschrieb.
So schritt er linkerseits vom Pfade und begann über das grobe Geröll des steilanziehenden Grabens emporzusteigen.
Wie er nun mehr und mehr den Sigerethwänden sich näherte, war es ihm ein um das andere Mal, als ob er von den Felsen des gegenüberliegenden Rauhenkopfes den Widerhall einer menschlichen Stimme vernähme. Jetzt bog er um eine schroffe, scharfkantige Wandecke und ward eines seltsamen Anblickes gewahr. Hart an der Felswand zeigte sich über dem Gerolle ein kreisförmiger Wall von Steinen aufgeworfen, und aus der Vertiefung, die er umschließen mußte, flogen immer neue Steine hervor, wozu auch ab und zu der graue Kopf eines alten Mannes auf und nieder tauchte. Aus der Grube klangen abgerissene Worte untermischt mit dumpfem Stöhnen und lauten Weherufen.
Hastigen Schrittes näherte sich Festei und erkannte jenen Alten, der bei Nannei’s Almfahrt den Karren gezogen hatte – den verrückten Wofei.
„Ja was is denn? Was treibst denn da?“ rief der Jäger dem Alten zu.
Für einen flüchtigen Blick nur hob Wofei das Gesicht, welches blutige Flecke zeigte, dann schüttelte er, wie aus Unwillen über diese Störung, die wirren Haare, beugte sich nieder in die Grube, darin er auf den Knieen lag, und warf mit beiden Händen wieder Stein um Stein empor.
„So viel – so viel Steiner – und noch net -“ hörte der Jäger ihn stöhnen und murmeln, „so viel – hätt’s net denkt – aber macht nix – ich kenn’ ja ’s Platzl – ich find’ ihn schon – oh – ich kenne ja ’s Platzl – allweil tiefer – drunten muß er ja sein – Jesus Maria! ’s Blut! ’s Blut!“ so klang es plötzlich in heiseren Schreien von Wofei’s Lippen, und schaudernd schleuderte er einen Stein beiseite, den er mit dem Blute seiner eigenen, jammervoll zerschundenen Hände befleckt hatte. Nun aber warf er sich mit dem ganzen Leibe über den Grund – und wie ein Hund in einem Maulwurfhaufen scharrt – so begann er mit beiden Händen im Geröll zu graben und zu scharren, die Steine bespritzend mit dem Blute, welches ihm aus allen Fingern quoll – wimmernd und wieder lautauf heulend:
[187] „Jetzt kommt er – es is ja ’s Blut schon da – ’s Blut – gelt – ich hab’s ja g’sagt – ich find’ ihn schon – ich kenn’ ja ’s Platzl – ja, ja – wo bist denn? han? – Bist denn gar so weit drunten – so viel Steiner – so viel – und so viel Blut –“
Länger konnte Festei den grausen Anblick nicht ertragen. Er beugte sich über den Steinwall, riß den Alten am Arme in die Höhe und rief ihm in’s Ohr:
„Geh – hör’ doch auf! Was machst denn da? Zerreißt Dir ja Deine ganzen Händ’!“
„Laß mich aus – Jesus Maria – laß mich aus,“ kreischte Wofei, „jetzt muß er ja kommen –“
Rasch legte Festei Büchse und Bergstock bei Seite, nahm auch die zweite Hand zu Hülfe, und so zog er den Alten mit einem kräftigen Ruck aus der Grube.
Wofei zeigte wohl den Willen, sich zu wehren, doch fehlte ihm die Kraft – und wie er nun, von Festei’s Arm gestützt, an der Felswand lehnte, mit starren Augen, mit lautlos sich bewegenden Lippen, mit zerrissenem Gewande und blutüberströmten Knieen, bebend am ganzen Leibe, da überkam den Jäger ein tiefes Erbarmen mit diesem Menschen, in dessen schaudervollem Gebahren er nichts anderes zu sehen glaubte, als den aberwitzigen Ausfluß eines gestörten Geistes.
Er hob den Hut des Alten von der Erde und drückte ihn über Wofei’s Stirne.
„Komm’ – geh weiter, Alter,“ sagte er mit gutherzig mahnenden Worten, „komm’ – jetzt führ’ ich Dich –“
„Führen?“ unterbrach ihn Wofei mit ängstlichem Gestammel, „Führen willst mich – soso – so einer bist Du – weißt, Dich kenn’ ich schon – ich weiß schon, wohin – ah na - nur net so g’schwind – drum sag’ ich Dir’s – laß mich aus – laß mich aus!“
Von Wort zu Wort hatte sich Wofei’s Stimme zu wildem, drohendem Geschrei gesteigert und mit dem Aufgebot all seiner Kraft versuchte er den Arm aus Festei’s Händen los zu winden.
„Du dummer Kerl – was hast denn?“ rief der Jäger und faßte den Alten nur so fester, um ihn vor einem Sturz in die Grube zu bewahren.
„Laß mich aus – ich sag’ Dir’s im Guten –“ heulte der Irre. „Weißt – Dich kenn’ ich schon – gelt – einführen[3] willst mich – aber weißt – da bin ich auch noch da – lieber stirb ich – als so a Schand’ – im Guten sag’ ich’s – laß mich aus – oder – oder –“
Da fühlte Festei an seiner rechten Schulter den brennenden Schmerz eines Bisses – und unter einem leisen Wehruf ließ er die Arme des Alten fahren, der mit johlendem Gelächter über das rasselnde Geröll dem Thal entgegenstürmte.
Mit der Hand die schmerzende Schulter reibend, schaute der Jäger kopfschüttelnd dem Flüchtigen nach, welcher, den Hut in den Nacken pressend, immer wieder im Laufe unter kreischenden Worten das Antlitz wandte:
„Hast es jetzt g’sehen – Du – ich bin net der – der sich fangen laßt – weißt – mit mir is net zum spaßen – ja – frag’ nur den Andern – er liegt ja droben bei Dir – hahaha! – da hat er g’schaut – wie ’s ihn ’nunter g’rissen hat – über d’ Wand – haha! – der schlagt mich nimmer – der net – so geh – so fang’ mich doch – was macht’s denn – kann’s ja keiner sagen – d’ Steiner sind’s ja gewesen – d’ Steiner.“
Wohl war der Alte den Augen des Jägers schon entschwunden, doch immer noch klang der Hall seiner schrillenden Worte vom Thal einher, und unheimlich widertönte sein wildes Gelächter zwischen den ragenden Felsen, bis es endlich in der tieferen Ferne verstummte.
„Der is verruckt! Der is ganz verruckt! Der arme Kerl!“ murmelte Festei mit bedauerlicher Miene vor sich hin; dann griff er nach Bergstock und Büchse und stieg, dem Fuße der Felswand folgend, langsam der Höhe zu.
Das war ein mühsamer Weg, den er gehen mußte, bis er den Hundstodgipfel erreichte – und doch, als er da oben sich niedersetzte auf den gar säuberlich behauenen Landesgrenzstein, da fühlte er kaum die Stirn ein wenig warm. Festei war gewohnt, solche Wege zu gehen; er ging sie ja täglich – und der eben zurückgelegte war ihm dazu noch recht kurz geworden unter den steten Gedanken an den alten Wofei.
Nach kurzer Rast erhob er sich wieder und wanderte sicheren, furchtlosen Fußes über den schmalen, zu beiden Seiten steil abfallenden Grat dahin.
Als er den Sattel erreichte, der die Rothleitenschneid von dem Hundstod scheidet, wandte er sich niederwärts und umkreiste, auf dem brüchigen Felsenhange tiefer und tiefer steigend, die Hundstodgrube in der Richtung des Rothleitengrabens.
Plötzlich verhielt er den Schritt – aus dem Griesthal herauf war der Hall und Widerhall eines Schusses an sein Ohr gedrungen.
Das wird der Jagdgehülfe vom Wimbachschloß gewesen sein, der wird wohl einen Rehbock geschossen haben! dachte sich Festei – und wie er es dachte, hörte er zu seinen Häupten in der Wand die Steine rappeln. Er schaute zur Höhe und sah auf einer vorspringenden Platte eine Gemsgaise stehen, die trotz der Sommerhaare ordentlich grau war vor lauter Alter.
Festei riß die Büchse zur Wange, im Auffahren den Hahn des Kugellaufes spannend, und zielte lange – es galt ja nun, einen tödtlichen Schuß zu thun, da ihm bei einem nur verwundenden Schusse der Hund gemangelt hätte, den er heute im Jägerhäuschen zurückgelassen hatte, um dem übermüdeten Thiere einmal einen ordentlichen Rasttag zu gönnen.
Nun krachte die Büchse – grollend rollte das Echo in dem weiten Felsenkessel hin und wider – das Thier da oben schlug die Vorderläufe in die Luft, stürzte und kollerte leblos vor die Füße des Jägers.
Obgleich nun Festei an dem glücklichen Schusse seine rechte Freude hatte, so wär’ es ihm doch wieder lieber gewesen, wenn ihm der Zufall „die alte Großmutter da“ zu anderer Zeit in den Weg geführt hätte. Da er seine Jagdbeute wegen der heißen Jahreszeit noch heute hinunterliefern mußte in das Wimbachschloß, so sah er sich durch diesen Umstand der Freude beraubt, den Abend in Nannei’s Gesellschaft zu verbringen. Und er hätte sich gerade heute so sehr darnach gesehnt, die Stunden der Dämmerzeit an der Seite des geliebten Mädchens zu verplaudern!
Jetzt war die Sache freilich nicht mehr zu ändern – und so lud er das Thier, nachdem er es aufgebrochen, seufzend hinter die Schultern.
Den Umweg jedoch über Nannei’s Hütte wollte sich Festei nicht gereuen lassen.
[188] Als er den holperigen Pfad über den Rauhenkopf herniederstieg und die Almhütte zu Gesicht bekam, meldete er, wie allabendlich, sein Kommen mit einem hallenden Juhschrei. Doch keine Antwort klang ihm entgegen.
Er beschleunigte seinen Gang – und rief, da er noch weite Schritte bis zur Thür hatte, mit heller Stimme Nannei’s Namen. Kein Laut gab ihm Antwort. Nur das Dschapei hüpfte ihm in kurzen Sprüngen entgegen und wollte gestreichelt sein.
Die Hütte fand er offen – und als er die Almstube betrat, da mochte er sich wohl aus dem Fehlen des Wasserganters die Abwesenheit des Mädchens erklären.
Es war ein weiter Weg bis znr Quelle hinunter – und es konnte eine Stunde, unter Umständen länger noch dauern, bis Nannei wiederkehrte. Da durfte er nicht warten.
Freilich dachte er, daß sich Nannei um ihn sorgen möchte, wenn sie von seiner Heimkehr keine Kunde hätte. Er löste deshalb ein Blatt aus seinem Jagdkalender und schrieb darauf die Worte:
„Lübe Nannei Ich hab ein Gams geschosen und mus es hinuntertragen ins Wimbachschlos. Bhüt dich also Gott biß morgen. In der Fruh bin ich schohn widder heroben. Mit achtungsvohlen GrusseSylvester Hindammer.“
Mit einem gespitzten Hölzchen spießte Festei diese Botschaft an die Hüttenthür.
Dann ging er hinauf nach dem Jägerhäuschen und befreite seine Bella, deren winselnde Freude über das Wiedersehn mit ihrem Herrn gar kein Ende nehmen wollte.
Wie Festei wenige Minuten spater unfern der Hütte auf dem thalwärtsführenden Steige dahinschritt, kam das Dschapei wieder auf ihn zugetrippelt und zeigte alle Lust, ihm das Geleit zu geben, sodaß er das anhängliche Thier zuletzt mit scheltenden Worten zurückscheuchen mußte.
Nun stieg er rüstig dem Thale zu und je mehr die Strecke sich dehnte, die den Jäger vom Trischübl trennte, desto schwerer ward ihm die Last auf seinem Rücken – desto schwerer ward ihm auch das Herz.
Da war die Griesalm erreicht, und Festei ließ sich zur Rast auf den Schwellenblock nieder; doch mahnte ihn die sinkende Dämmerung bald wieder zum Aufbruch.
Wie er nun so dem vielgewundenen, buschbegrenzten Pfade folgte, meinte er plötzlich in einiger Entfernung vor sich am Wege rasche Tritte zu vernehmen.
Wer anders konnte da gehen, als der Jagdgehülfe vom Wimbachschloß? Der trug wohl jetzt seinen Rehbck nach Hause – so dachte Festei und rief den Namen seines Dienstgenossen mit halblaut fragender Stimme über den Weg dahin.
Sein Ruf aber wurde nicht erwidert – und als er lauschend nun stehen blieb, Vernahm er auch nicht mehr das mindeste Geräusch.
Da hatte er sich wohl im Hören getäuscht – so meinte er jetzt – und was er gehört, war am Ende nur ein Stück Wildpret gewesen, das, von dem Herannahen des Jägers aufgescheucht, eine Strecke den Weg entlang gewechselt war. Eine frische Fährte war auf dem feinen, vielzerstapften Kiese freilich nicht auszunehmen. Festei neigte aber doch um so eher dieser letzten Ansicht zu, als nun sein Hund die Nase mit fieberndem Winden gegen die dichten, bei der tiefen Dämmerung für die Blicke schon undurchdringlichen Büsche hob.
„Komm’, Bella, komm’“ mahnte Festei im raschen Weiterschreiten das zögernde Thier.
Als er eine Stunde spater den Flur des Wimbachschlosses betrat, kam unter der Thür der Jägerstube der hier stationirende Jagdgehülfe, eine stämmige Gestalt mit rothblondem Vollbarte, ihm entgegen, ein brennendes Kerzenlicht hoch in der Hand emporhaltend.
„Grüß’ Dich Gott, Festei. Was bringst denn?“
„A galte Gamsgais, an uralte!“ erwiderte Festei, setzte seine Waidmannslast auf die Dielen und reckte und wand dann mit einem erleichternden „Ah!“ die Schultern; „No – und was hast denn Du g’schossen? Han?“
„Ich? G’schossen?“
„No ja – Du hast doch g’schossen!“ hastete Festei, „So zwischen fünfe und sechse – droben – im obern Gries.“
„Na! Net amal an Schuß g’hört hab’ ich! Um die Zeit war ich drunten bei’m Futterstadl!“
Festei fühlte, wie alles Blut aus seinen Wangen wich und wie ein eiskalter Schauer seinen Nacken umrieselte.
„Heilige Muttergottes,“ klang es stammelnd und stöhnend von seinen Lippen, „der Schuß – und dieselbigen Tritt’ – das is kein anderer g’wesen, als – und jetzt weiß er, daß ich – heilige Maria – b’hüt’ Dich Gott, b’hüt’ Dich Gott – ich muß fort – fort.“
Taumelnd wankte er der Flurthür zu.
„Aber so sag’ nur g’rad – so sag’ doch –“
Festei hörte die Worte des Andern nicht mehr – keuchenden Athems stürmte er schon hinaus in die finstere Nacht.
Blätter und Blüthen.
Kleiner Briefkasten.
P. K. in Mainz. Wenn Sie noch eine Zeitlang warten, dann werden Sie das nee Buch der Königin von England in der deutschen Uebersetzung lesen können, welche die Gräfin Efemia Ballestrem vorbereitet. Eine billige englische Ausgabe desselben ist soeben in der Tauchnitz’schen Collection in Leipzig erschienen. – Daß wir über dieses Werk ausführliche Berichte nicht gebracht haben, hat seinen Grund. Nicht alle Literaturerscheinungen, die in der Tagespresse viel Staub aufwirbeln, sind für die weitesten Kreise unserer Leser besonders wichtig, und das Interessanteste an dem neuesten Buche der Königin Victoria dürfte die Thatsache bleiben, daß wiederum ein gekröntes Haupt mit einem literarischen Erzeigniß in die Oeffentlichkeit getreten ist.
Diese „Neuen Blätter aus dem Tagebuche eines Lebens in den Hochlanden“ – so lautet der Titel des Werkes – sind in der Hauptsache Schilderungen des Familienlebens der Königin. Nach „Enthüllungen“^ und „Sensation“ würde man in demselben vergeblich blättern, und auch für die Erörterung zeitgeschichtlicher Ereignisse bietet dasselbe wenig Erhebliches. Dagegen finden sich in demselben manche schönen Züge, die den edlen Charakter der hohen Verfasserin treu wiederspiegeln.
B. L. in H. Zur Erläuterung der bewußten Stelle in Heinrich Heine’s Memoiren (vergl. „Gartenlaube“ Nr. 9) über „die Tochter eines Eisenfabrikanten, die eine Herzogin geworden war“, möge Ihnen auch der nachfolgende Auszug aus den Memoiren des Marschall Soult, Herzog von Dalmatien, dienen, der uns von einem unsrer Abonnenten zugeschickt wird: „Ich war cantonnirt in den Bergen von Solingen,“ schreibt der Marschall, „und schlug mein Generalquartier in dieser kleinen Stadt auf. Ich wohnte bei Frau Berg. Beim Eintritt in ihr Haus war ich ihr gleichgültig. Drei Monate hierauf, am 26. April 1796, sagte sie mir die Hand ihrer Tochter zu, und sie gründete ein Glück, daß sich mit den Jahren stetig vermehrte.“
G. M. in Riga und Ab. in Göttingen. Als empfehlenswertheste Theaterschule nennen wir Ihnen die Wiener, an welcher Künstler wie Sonnenthal, Lewinsky und Baumeister unterrichten. Sie verdient wohl auch deshalb den Vorzug, weil das Hofburgtheater noch immer den Rang der ersten deutschen Bühne behauptet und Sie dort die besten Muster vor Augen haben. Näheres über Dauer des Cursus und Höhe des Honorars theilt Ihnen gewiß Herr Hofschauspieler Adolf Sonnenthal, Wien, Alsengrund, Lichtensteiner Straße 11 mit. Ehe Sie aber die Kosten des Wiener Aufenthaltes riskiren, wenden Sie sich an eine geeignete Persönlichkeit und bitten Sie dieselbe um ihr Urtheil, ob Sie wirklich Talent zum Schauspieler haben.
Herrn Rathsförster Walter Schier in Chemnitz. Die uns von Ihnen übersandten 51 Mark 25 Pf. für das deutsche Forstwaisenhaus haben wir richtig erhalten und an die Hauptsammelstelle abgeführt. Weitere Beiträge werden von uns gern entgegengenommen.
Inhalt: ...
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ [Ausgelassen ist die Passage:] Der Liberalismus hat den Priesterstand genug verunglimpft und man könnte ihm wohl jetzt einige Schonung angedeihen lassen wenn ein unwürdiges Mitglied Verbrechen begeht die am Ende doch nur der menschlichen Natur oder vielmehr Unnatur beizumessen sind.