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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[805]

No. 50.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Glockenstimmen.

Eine Bürgergeschichte aus dem 17. Jahrhundert.
Von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Johanne schüttelte trübe den Kopf. „Das hast Du längst in überreichem Maße gethan. Aber an mir ist es, darüber zu wachen, daß Du nicht fürder Opfer bringst. Habe ich Dir nicht gesagt, daß Zacharias heimkommt und nun Herr in der Papiermühle wird? Willst Du als halb überflüssiger Knecht von ihm gehudelt sein? Soll ich die Sünde auf mich laden, daß Du um unserer Jugendfreundschaft willen Deine besten Jahre verlierst?“

Hermann sah ein, sein Verleugnen war vergebens. In heißem Schmerz hob er die Hände zu ihr auf. „Wie gerne gebe ich sie hin für die Seligkeit, daß ich für Dich arbeiten darf!“

Ihr Herz krampfte sich zusammen. „Ach Gott!“ seufzte sie, „warum quälst Du mich und hast kein Einsehen, ich mag predigen, wie ich will?“

Dann faßte sie sich gewaltsam. Tief senkte sie die dunklen Wimpern, als vermöchte sie nicht den Eindruck ihrer Rede zu schauen, und sprach: „Lieb’ und Treu’ zwischen Mann und Weib kann nur da zum Heil gedeihen, wo ein christliches Ehebündniß sie zusammen schließt. Und solches ist bei uns unmöglich. Niemals würde meine liebwerthe Frau Mutter ihre Einwilligung dazu geben, niemals Zacharias und unser Vormund, der Rathsbrunnenmeister. Und – Gott helfe mir!“ – sie mußte noch einmal Athem holen, und ihre kleine Hand ballte sich fest zusammen, als sie mit einer Stimme sprach, die Hermann wie eine zersprungene Glocke klang: „Und auch ich vermöchte es nicht. Ich kann kein armes Weib, und Du kannst kein großer Bürger werden.“

Wie ein Donnerschlag fuhren ihm ihre Worte in die Seele. Einen Augenblick war es ihm, als müsse er lachen. Hatte er ihr beim Knistern des Nachtlämpchens nicht selbst erzählt, was es bedeutet, ein armes Weib zu sein? War ihr die rasch zum Ende führende Pest nicht erträglicher erschienen, als das langsam fressende Elend? Sie zog jetzo ihre nützliche Lehre aus den Erzählungen von seiner armen Mutter, die ihm aus dem Herzen geflossen waren. Sie blieb die echte Tochter ihres Vaters, eine Meisterin in der Kunst, das Leben klug zu führen.

Da faßte ihn Benjaminlein an seiner herabhängenden Hand. Wie Kinder oft hören und begreifen, was man unverständlich für sie hält, hatte auch der Kleine verstanden. „Komm, wir wollen die zwölf silbernen Apostel suchen. Drüben in der Kirche liegen sie vergraben, da, wo die steinerne Katze hinschaut. Wenn Benjamin sie findet, schenk er sie Dir, dann bist Du auch reich.“

Der Kleine sah ihn auffordernd an. Er hatte dieselben Augen wie Hannchen, voll leuchtender Lichtpünktchen auf dem hellbraunen Grunde, und so lieb und mild hatte sie ihn auch allezeit angesehen, wenn sie ihm Gutes erwies, da sie noch Kinder waren.

Vor der holden Erinnerung verging ihm das höhnische Lachen. Er strich Benjamin über das danke Köpfchen und sprach ernste wenn auch mit zitternder Stimme:

„Statt nach den silbernen Bildern der zwölf Boten zu suchen, denke lieber daran, daß sie, die das Christenthum in alle Welt trugen, arm waren wie ich, und daß ihr Meister sprach: ‚Eher geht ein Kameel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kommt.‘ Dir aber, Hannchen, sage ich“ – und er richtete sich mannhaft zu seiner schlanken Höhe auf – „Dir sage ich, Du überhebst Dich mehr, als Dir zukommt. Redest Du doch, als seiest Du ein hochgebornes Fräulein aus der Neidecke, ob auch Dein Urgroßvater nichts anderes war als der meinige. Wir sind beide Bürgerskinder von Arnstadt, und es haftet an meinem Namen so wenig ein Makel, als an dem Euren. Warum soll es mir unmöglich sein, aus dem zerfallenen Sterbekleidhäuslein mich empor zu arbeiten? Gar manches arme Arnstädter Kind ist schon zu Ehren gekommen vor aller Welt. Aber glaube nicht, daß ich Dir Fürstellung thue, von Deiner Meinung abzulassen. Ich habe in dieser bitteren Stunde gelernt, daß es dem Manne nicht ziemt, das Weib alle Wege um ein Fünkchen Liebe anzubetteln. Und jede Mühe wäre auch bei Dir vergebens. Denn so lieblich Du anzuschauen bist, Dein Herz ist klein und verschrumpft geblieben, daß es nur gerade weit genug ist, um Stand und Geld hinein zu schließen. Aber für die Liebe, die wie der Hauch unseres Herrgottes durch die Welt zieht, hat es keinen Raum. Darum achte ich, es ist wie eine tönende Schelle an der wohl verschlossenen Thür des reichen Hauses, nicht wie eine schön klingende Kirchenglocke. Lebe so glücklich, wie eine große Bürgerstochter es vermag. Der arme Hiob schüttelt den Staub der hochmüthigen Stadt, allwo nur der Reichthum etwas gilt, von den Füßen. Fahre wohl!“

Er schritt rasch hinaus und achtete nicht auf ihre ihm nachgestreckten Hände, auf die mit gebrochener Stimme gestammelten Bitten. Als ihre zitternden Füße sie in das Haus hinüber getragen hatten, ging er schon am Weißebach entlang von dannen. Da that sie ihrer Sippe seinen Weggang kund. Frau Henningin athmete auf; aber die Kinder weinten. Trine fuhr wie ein wild [806] gewordener Flederwisch umher, und Bejaminlein sprach zu ihr: „Garstige Hanne!“ und aß zu ihrer Strafe das Mittagebrod nicht, das sie ihm vorlegte, und es waren doch blau gesottene Dickköpfchen aus der Gera.




Als der Tag sich neigte, wanderte Hermann langsam durch den Steigerwald zurück, den er vor einem Vierteljahr in athemloser Hast herabgekommen war. Die bereiften Zweige der Buchen und Eichen wölbten sich über ihm gleich Kirchenhallen, vom Abendlicht rosig angehaucht. Ueber das abgefallene Laub, das welke Gras des Bodens breitete sich eine glitzernde Decke von feinen Eiskrystallen.

Noch einmal schauten durch eine Lichtung die Schwedenschanze, der enge Mauerring und die hohen Thürme Arnstadts empor, überwallt von Abendnebeln. Aber nicht wie sonst hing Hermanns Auge sehnsüchtig an der Vaterstadt. Nur einen ernsten Scheidegruß warf er hinab auf das allmählich in Grau übergehende Bildlein. Dann setzte er seinen Stab weiter fort über den breiten Bergrücken. Die bemoosten Stämme traten zusammen wie eine feste Wand und schlossen den Rückblick hinter ihm ab.

Endlich lichtete der Wald sich vor ihm. Er stand an der Schlucht, in welcher der Weg hinab gen Erfurt führte. In der Abenddämmerung breitete drunten die große Stadt sich aus. Das Getöse des Menschengewimmels drang wie Meeresbrausen heraus. Es war ein stattliches Bild, das vor ihm lag.

Da dräuten die trutzigen Thürme der Cyriaxburg; der eine trug eine schwedische Kugel in der Mauer, wie ein Held seine Wunde, ohne zu wanken. Hier stieg das steile Dach der Hochschule auf. Waren auch ihre Mauern in den schweren Kriegsläuften schwarz angeräuchert, so leuchtete doch hell der Strahlenkranz, den hochberühmte Männer um sie gewunden hatten. Dort lag auch das graue Augustinerkloster, aus dem der Mann hervorgegangen war, der die Mißbrauche der Kirche ausfegte mit seiner Feder, als sei diese das feurige Schwert eines Cherub, er, der Bettelmönch, der arme Bergmannssohn.

Und in dem weiten Wallringe vertrug sich auch Entgegengesetztes. Neben den evangelischen Kirchen erhob sich der katholische Dom; selbst das Volk Israel hatte da drüben vor der Krämerbrücke ein Heim gefunden.

Die große Landstraße, welche die beiden stolzen Handelsstädte Leipzig und Frankfurt verband, führte durch Erfurt. Vielgereiste, welterfahrene Leute hielten allda Einspruch und Verkehr, und durch die neuen Anschauungen, welche sie mitbrachten, wurden alte Vorurtheile überwunden, hemmende Schranken hinweg geräumt. An solchem Orte vermochte einer tüchtige Kraft sich emporzuarbeiten. Das hatte er schon erfahren, da er das erste Mal dort war, an seinem Vetter und an sich.

Zwischen den stattlichen Bauwerken ragte der hohe Schlot der berühmten Glockengießerei von Möhring’s selig Wittwe auf. Damals, als der kaiserliche General Hatzfeld vor Erfurt lag, hatte eine Karthaunenkugel den Schornstein gestreift und eine Ecke mitgenommen: aber er sandte seine Rauchwölkchen doch eifrig in den abendlichen Himmel, als winke er mit einem weißen Tüchlein. Hermann wußte, daß er mit Freuden wieder aufgenommen wurde, denn wenn auch viele Menschen in der Stadt herumliefen und nach Broderwerb spähten, so mußte das in dreißigjährigem Kriege verlotterte Volk doch erst wieder lernen zu arbeiten. Und das verstand der Arnstädter aus dem Grunde.

Und wie jetzt Stern an Stern am dunkeln Himmel auftauchte, so entzündete sich drunten in der Ebene Licht an Licht. Die kleinen Häuser der Stadtsöldner auf den Wällen erleuchteten sich, einen Funkenring um ein Meer von Feuerpunkten ziehend. Lichtstrahlen schossen darüber aus den Fenstern der Thurmwächter in die Nacht hinaus, und über allem leuchteten die bunten gothischen Fenster des Domes. Da wurde ihm das Herz weit, und mit einem Gefühle, als kehre er in die Heimath zurück, schritt er nach Erfurt hinab.

Es war Martinsabend. Die große Maria Gloriosa erhob ihre mächtige Stimme dem Bischof Martin zu Ehren, und auf den Graten standen die Currendeschüler und sangen: „Eine feste Burg ist unser Gott“, dem Doctor Luther zum Preise. Die feierlichen Klänge stiegen in schöne Harmonie verschmolzen zum gestirnten Himmel auf, den beiden großen Streitern des Herrn als Opfer dargebracht. Und auch die Menschen vertrugen sich; Papist und Lutheraner verzehrten friedsam ihre Martinsgänse und die mit Mus gefüllten Martinshörner und schauten den Kindern zu, die, Stablichter tragend, durch die Straßen liefen und sangen:

„Martin war ein braver Mann,
Zündet tausend Lichter an,
Daß er droben sehen kann,
Was er drunten hat gethan.“

Die Lutheraner kränkte es nicht, daß der Ursprung des Festes katholisch war – der heilige Martin ist Schutzpatron der Trinker, und sein Namenstag wurde darum nach allem Brauch mit Schmaus und Trunk gefeiert – und die Katholiken ärgerten sich nicht, daß die lutherischen Kinder das Verslein allein auf den Reformator bezogen. Die Menschheit war einmal durch Schaden klug und des dreißigjährigen Krieges überdrüssig geworden.

Auch in der Gießerei machte Eberhard heute frühzeitig Feierabend und begab sich dann hinüber nach dem Wohnhause. Dort roch es schon nach dem sich bräunenden Martinsvogel.

„Habt Ihr die Gans auch ordentlich mit Borsdorfer Aepfeln gefüllt und das Kräutlein Beifuß nicht vergessen?“ fragte er scharf die Köchin.

Da klappte hinter ihm die Stubenthür, und der stahlgraue Rock der Meisterin drückte sich durch die Hauspforte. Aber er hatte seitwärts gelugt, mit ein paar Schritten sie erreicht und führte sie nun an der Hand wie ein unartiges Kind in das Geheimstüblein Herrn Möhring’s selig, wo der Zahltisch stand und ein zwerghaft gebauter dickleibiger Schrank, sowie die mit Eisen beschlagene, mit Schlössern behangene Geldtruhe.

„Ich sage Euch, Meisterin: so kommt Ihr noch in Unehre und Verfall,“ hub er an. „Allezeit habt Ihr ein Gemunkel und Geflüster mit den Mägden, und verschwindet, so es Abend wird, aus Eurem Haus. Ich erachte Euch derowegen für einen Quirlequitsch. Wohin wolltet Ihr soeben, da ich Euch erwischte und wieder anher führte in sicheres Gewahrsam? Redet!“

Sie wand sich hin und her: aber seine scharfen rothbraunen Augen ließen sie nicht los. „Zu Isaak in die Judengasse,“ gestand sie endlich, verlegen an ihrer Schürze zupfend.

„Hattet Ihr schon wieder kein Geld?“ schalt er. „Warum kauftet Ihr Euch dann dieses Messer und die silberne Gürtelkette?“ Er strich prüfend über das Geschmeide, das ihre runde Gestalt umschlang, und hob das schöne verzierte Messer empor. „Ist formirt wie ein Türkensäbel und gänzlich ungeziemend für ein Frauenzimmer. Wollt Ihr die großmächtige Judith fürstellen? Laßt das unterwegen. Hab’ ich Euch nicht hundert Mal gesagt: drei Pfennige muß ein rechtschaffener Mensch haben, einen Zehrpfennig, einen Nothpfennig, einen Sparpfennig? Aber Ihr seid ein verthunliches Weib. Wollet Ihr Bankerott spielen? Gelüstet Euch darnach, daß Eure Sachen obrigkeitlich petschiret werden und die Gießerei im Aufstrich verkauft wird? Dann stellt Euch der Rath leichtsinniger Schuldenmacherei halber auf den Pranger, als welcher bei Euch ein absonderlich Spectakul ist, ein Vogelbäuerlein auf langer Stange.“

Sie faßte ihn erschrocken mit beiden Händen und sah ihn mit ihren großen harmlosen Augen hülflos an.

Er wurde dadurch besänftigt. „Nun, noch einmal will ich Euch von dem Pranger erlösen und mit meinem Sparpfennig aushelfen. Den Nothpfennig habt Ihr schon dahin. Doch müßt Ihr mir darüber eine Handschrift geben; denn von einem Weib kann man sich des Schlimmsten versehen.“ Er holte ein Säcklein aus seiner Truhe und zählte ein rundes Sümmchen aus.

„Es ist auch ein Kaisergüntherthaler dabei,“ rühmte er.

Sie kicherte schon wieder sorglos. „Ihr thut so wichtig, daß man meint, ein Arnstädter Thaler sei mehr, denn ein andrer.“

Er nickte mit vielsagendem Blick.

„Daran ist auch etwas. Zum mindesten hält der Thaler in Arnstadt länger vor, als bei Euch. Macht Eure drei Kreuze unter die Schrift. Weiter bringt Ihr Weibsvolk es doch nicht. So. Und nun gestehet, wohin Ihr gestern Abend gequitscht seid.“

Jetzt wandte sie sich gänzlich ab und begann an ihrem Trauring zu drehen.

Er hielt ihre runden Finger mit seiner thönernen Pfeife nieder. „Denkt nicht mir zu entschlüpfen. Wir Arnstädter wischen [807] über nichts mit dem Flederwisch weg, sondern kehren jegliche Ecke richtig aus und säubern sie von Spinnweben. Ich frage Euch als treuer Diener Eures weiland Ehegesponsen,“ fuhr er erhobenen Tones fort.

Sie schüttelte sich wie ein trotziges Kind.

„Waret Ihr einmal bei der Wahrsagerin an der Hirschlache?“

Sie nickte.

„Nun erzählt mir wenigstens,“ sprach er, und nahm einen ehrbaren väterlichen Ton an, „auf daß ich höre, ob Ihr auch nicht in die Fallstricke des Satans gerathen seid.“

„Da sei Gott für!“ rief sie. „Ich habe von ihr einen Traum auslegen lassen. Mir träumte von Rauch und Feuer: der Qualm bedeutet Unglück, die helle Flamme Glück; von Eiern und Geziefer: die Eier bringen Verdruß, das Geziefer Geld. Und wirklich, Ihr habt es mir geschafft. Nun fehlt der Verdruß noch, das Glück und das Unglück.“

„Und habt Ihr nicht nach einem neuen Ehegesponsen geforscht?“ fragte er und klopfte mit seiner Pfeife auf ihre Hand, in der fünf tiefe Grübchen standen.

Sie hielt sich die Augen zu.

„Könnet Ihr es nicht geduldig erwarten, bis Gott eine Verrückung Eures Wittwenstuhles verhängt?“

Sie lugte ihn ängstlich an.

„Nun?“ forschte er lachend, daß seine weißen Zahnreihen blitzten.

„Ach, vielwerther Obergesell,“ gestand sie und schaute schämig zur Seite. „Sie hat ein Ei ausgeschlagen, darin war eine Hochzeitskirche.“

„In einem Ei?“ lachte er auf. „Ihr Weiber seht immer, was Ihr Euch wünscht.“

„Sie meinte, es sei Einer mit hellem Haar.“

Das fuhr ihm vor den einst dunkellockigen Kopf. Aber dann machte er ein pfiffiges Gesicht.

„Kann schon sein. Hat Sie auch bedacht, daß weiß noch heller als gäl ist?“

Die alamode Anrede verwirrte sie gänzlich. „Hör Sie“ wurde nur die Stadtschultheißin genannt. Sie verstand darüber den Sinn der Worte nicht. So ergeht es zuweilen dem schwachen Geschlecht. Aber sie war bedacht, auch feine Lebensart zu zeigen. Ganz geschmeichelt verstauchte sie sich und sprach: „Wie es Ihm beliebt, Mosjö.“

So war es nach Eberhard’s Sinn.

„Und nun zeige Sie, daß Sie eine tüchtige Frau ist, und richte Sie eine ordentliche Mahlzeit zu. Für den deutschen Mann ist das Speisen ein ernstes Werk. Mit dem Taufschmaus wird er im Leben empfangen, mit dem Leichenschmaus heimgeleitet, und jegliches Fest, so zwischen diesen beiden Ereignissen liegt, muß gebührendermaßen durch ein Mahl gefeiert werden, soll es ein würdig begangenes heißen. Die Gans allein thut es nicht; es könnten wohl noch ein paar Schüsseln heute am Platz sein.“

„Eine Birntorte hab’ ich noch,“ sprach sie.

Er schüttelte den Kopf. „Süßes Geschlecke. Schicke Sie die Magd nach dem Fischersand. Ein Paar Karpfen können nicht schaden, und so Sie die Hühner, die draußen am Küchenhaken hängen, gleich in den Topf steckt, giebt es eine Suppe mit geröstetem Brod. In diesem Falle will ich Ihr durch die Finger sehen, so Sie nicht knickert.“

„Wie Er meint, Mosjö,“ stimmte sie zu.

„Wahrlich, Meisterin, Sie hat heute ein paar Backen, als ob sie im Gießofen geglüht wären,“ schmunzelte er. „Wie wär’s, wenn Sie mir als Vorkost ein Mäulchen gäbe?“

Sie hatte schon ihr „Wie Ihm beliebt“ auf der Zunge. Da klopfte es bescheiden. Die Meisterin schritt mit dem Leuchter von Glockenguß hin und öffnete. Da stand Hermann Zimmermann in dem braunen Rahmen der Thür. Frau Möhringin schrie auf und mußte den Leuchter hinsetzen, daß es klang wie ein Freudengeläut, und Eberhard’s Fingern entfiel die Pfeife und zerbrach.

Hermann merkte die Bestürzung nicht.

„Wollt Ihr mir noch einmal Arbeit geben?“ fragte er in so festem Tone, daß die Beiden meinten, er rede mit fremder Stimme. „Ich werde nicht wieder fortgehen. Ich bin dort ein unnützer Knecht worden.“

Die Meisterin machte nicht viel Worte; aber sie rannte nach den Schlüsseln von Keller und Speisekammer.

„Wie gut war es, daß Ihr eine herrliche Erkostung anordnetet, werther Obergesell,“ rief sie diesem eilig zu. „Ihr habt doch immer Recht. Und viel Dank, daß Ihr Euer Geld dazu gabt. Das ist einmal ein Festtag. Seht, der Traum geht aus. Nun ist auch das Glück da.“

Eberhard stampfte wüthend mit dem Fuße auf. „Und das Unglück und der Verdruß werden auch nicht ausbleiben. – Nehmt nur um Gotteswillen Eure fünf Sinne zusammen, daß der Karpfen wenigstens nicht mißräth,“ griesgramte er. „Denket daran: Essig, Wein, Ingwer, vier Loth gemeinen Pfeffer, zwei Loth langen Pfeffer, Zimmetröhren, Weinbeerlein, Mandeln habt Ihr an die Tunke zu spendiren.“

„Sorget nicht! Einen solchen Karpfen, wie ich heute schmore, habt Ihr noch niemals gespeist,“ tröstete sie. Beide hatten die alamode Anrede vergessen.

Verdrüßlich führte Eberhard seinen Vetter in seine Hinterstube. Als ihm dort Hermann seine bitteren Erfahrungen erzählte, kam er auf andere Gedanken. Er bedauerte seinen jungen Versippten; aber er that es auf seine Weise.

„Vermaledeites Weibsvolk!“ fluchte er. „Wir Männer müssen zusammenhalten. Wir sind jetzunder in der Minderzahl; es sind zu viele von uns in dem großen Kriege todtgeschlagen worden. Da nehmen die Weiber überhand. Nach dem Bauernkriege ist es ebenso gewesen. Dazumal sind sogar Gesetze gegen die Ueppigkeit des Weibsvolkes erlassen worden. Aber endlich haben sie doch zu Kreuze kriechen müssen, wie sich’s gebühret. Denn: Mannshand oben!“

„Sie soll oben bleiben,“ sprach Hermann. „Alsdann ist aber auch vonnöthen, daß wir selbst das Haus gegründet haben, darin wir das Regiment führen, und nicht Begehren tragen, uns in ein Nest zu setzen, welches das Weib gebaut hat.“


Eberhard nickte. „Bleibe bei diesem Grundsätze; ich kann ihm meinen Beifall nicht versagen, wiewohl ich für mich hierentgegen die Meinung hege, daß ein Weib Gott danken soll, so sich Einer findet, der ihr erbärmliches Nest regiert. Und sie danken zuletzt auch Alle Gott. „Aber“ – er blinzelte Hermann an – „es dürfen sich nicht Zwei dazu bereit erklären, sintemalen sie, so die Wahl ihnen zusteht, nicht wissen, wie sie am wohlsten thun wollen.“




In schweren Zeitläuften lernt der Mensch schnell mit dem Mißgeschicke fertig werden, bald wieder nutzbringenden Arbeiten, kleinen Freuden des Lebens sich zuwenden. Als in Arnstadt die Schneeflocken in stürmischem Getümmel herabtaumelten auf die welken Blätter der Gärten, das blanke spitze Kieselpflaster der Gassen, die schwarzen Erdhügel in der Pestilenzecke, da schallte von den Tennen der fröhliche Tact der Drescher, schnurrten in den Stuben lustig die Spinnräder, beehrten die Hausfrauen sich gegenseitig mit Schlachtschüsseln, ertönte das Jauchzen der Kinder, die sich im Schlitten fuhren und Schneemänner bauten.

In der Papiermühle fachte die Muhme Schmidtin das Fünklein Lebenslust wieder an. War es doch Erntemond, da die Heimsuchung hereinbrach, und nun befand man sich schon im Hornung. Sie redete so lange auf die Frau Henningin ein, bis diese eine Ausrichtung beschloß. Der Rathsbrunnenmeister war erbötig, als männlicher Beistand das junge Volk im Zaume zu halten; denn der fürsichtige Zacharias zögerte noch immer mit seiner Heimkehr, dieweil der Schnee des Winters die weite Reise gefährlich machte.

Eines Tages erschien Trine in allen befreundeten Häusern, wo es junge Gesellen und Jungfern gab, und brachte eine wohlgesetze Einladung zu der gütigen Fürliebnehmung einer Spinnstube mit möglichster Bedienung jetziger Zeit. Als der Abend kam, war die Stube festlich hergerichtet: der Boden mit Sand bestreut; der grüne Kachelofen geheizt; auf der braun gebeizten Kannerücke reihten die Bierkrüge sich an einander, die lange Tafel bedeckten Tücher, deren weißen Grund blaue und rothe Streifen durchzogen, und daraus standen wie Silber glänzende Zinnschüsseln, aus denen die Tractirung aufgetragen war.

Die Erste, welche ihren Einzug hielt, war die Muhme Schmidtin. Sie hatte sich bereit erklärt, den Gastgebern im [808] Nöthigen der Gäste beizustehen, wie das üblich war, und den Discurs zu wenden, so die Rede auf unliebsame Dinge kommen sollte.

Und sie erwies sogleich ihre gesprächsame Laune, „Ich wünsche allerseits einen gesegneten Abend,“ begann sie. „Das ist recht, daß Ihr aufhört, allezeit Trübsal zu blasen. Ei, welch fürtreffliche Wurst habt Ihr aufgetafelt! Wie hoch ist der Kuchen aufgegangen! Und wie schmuck sieht die Hanne wieder aus!“

Die Schmidtin hatte Recht. In der frischen Winterluft war Johanne auf’s Neue erblüht; ihre Wangen hatten die zarte Rundung, ihre warmen Farben den weichen Schmelz wieder erhalten. Sie konnte mit Fug abermals die schönste Jungfer in Arnstadt heißen. Aber es entging der Muhme, daß ein scharfer Zug um den kleinen Mund sich gelegt hatte, und die sonst leuchtenden rehbraunen Augen mit hartem Blicke um sich schauten. Johanne, welche beschäftigt war, die Lichter anzuzünden, achtete der Schmeichelei nicht. Die Muhme zwinkerte der Frau Henningin zu, die hinter ihrem weitläufigen Spinnrad saß, auf dessen Fuß die Weise mit befestigt war, und einen neuen Wocken anlegte. Dann hub sie wieder an: „Mühmchen, ich verhoffe, daß Du Deine holzböckische Art dem Nicolaus Fischer gegenüber endlich aufgiebst. Seit einem Jahre läuft er schon mit der Leimstange nach Dir. Ich fürchte, ich fürchte, er wird es endlich überdrüssig; denn die angesehensten Bürgersippen reißen sich um ihn.“

Frau Henningin steckte das Ende einer neuen Flachskaude in den Schürzenbund, breitete die gelben feinen Härchen über den Schooß und nörgelte mißmuthig: „Es wird doch nicht die Narrethei mit dem Hermann Zimmermann Ursache Deiner Weigerung sein? Seine Bravheit, sein getreues Herz in Ehren; aber Du wirst doch nicht vergessen, was Du Deiner Sippe und unserem angesehenen Namen schuldest?“

„Lieber gar!“ rief die Muhme, die Hände zusammenschlagend.

„Ei, Hermann ist viel größer als Nikel,“ ließ eine Stimme sich vernehmen, und Bastian kam hinter dem Ofen hervor.

„Und auch viel hübscher,“ ergänzte Christel, die ihm mit Benjaminlein folgte. „Was hat er für große blaue Augen! und was für schöne weiße Zähne!“

„Gott behüte Dich, Kind!“ rief die Schmidtin entsetzt. „Wie kannst Du also unziemlich sprechen? Ich werde es Deiner Schulmeisterin sagen. Sie soll Dich auf Erbsen knieen lassen, bis Du erkennst, daß alle Schönheit Würmerspeise ist. Und Dich, Bastian, muß der Lehrer mit dem Bakel Mores lehren.“

Christel wich erschrocken zurück. Aber Bastian schob trotzig seine kleine stämmige Gestalt vor die Muhme und, das pausbackige Gesicht in finstere Zornesfalten legend, stellte er sie zur Rede: „Ihr habt uns doch so oft erzählt, wie gern die Mutter den Vater gefreit hat. Warum wollt Ihr nun die Hanne dazu zwingen, den Nikel zu ehelichen? Nein, wir wollen auch heirathen, wen wir mögen, und dem Hermann gönnte ich unsere Hanne am liebsten.“

„Benjamin auch! Garstige Muhme!“ stimmte der Kleine bei und führte einen Streich nach ihrer steif gestärkten Schürze.

„Daß Gott erbarm! Ist das eine Rotte Korah!“ rief die Muhme. „Denkt an mich, Frau Henningin! Wenn die in die Höhe kommt, bleibt kein Stein auf dem andern stehen in der Papiermühle.“

Frau Henningin ließ verdrüßlich die Unterlippe hängen, wickelte ihren aufgebreiteten Flachs um den Wockenstab und steckte das veilchenblaue Band darum. Aber Bastian legte unbekümmert beide Arme breit auf den Tisch, stützte den Kopf aus die Hände und sprach: „Die Papiermühle gehört mir und nicht Euch, und wenn ich sie einreißen will, geht es Euch nichts an.“

Johanne führte die hülfreichen Geschwister wieder hinter den Ofen; aber sie gab jeglichem zum Trost ein Schlenkerwürstchen mit auf den Weg. Der Familienrath war damit zu Ende. Denn nun hub die Hausthür ein unaufhaltsames Geklingel an. Eine Jungfer nach der andern erschien, jede mit ihrem Spinnrad. Und die Muhme begann ihres Amtes zu walten wie der Hofmeister des Grafen in der Neidecke.

„Um Vergebung, liebes Mühmchen, wie befindet Ihr Euch?“

„Zu dienen, Frau Muhme, so so.“

„Freut uns sehr zu hören; wollet Platz nehmen.“

„Nein, Frau Muhme, nicht zu oberst, dazu bin ich zu gering.“

„Liebes Mühmchen, wer sollte oben sitzen, wenn nicht die Tochter vom größten Metzger der Stadt?“

„Ei, die Tuchmacher dünken sich noch mehr, der Bärbe Brotkorbin gebührt die Ehre.“

„Ich setze mich zu Hanne,“ sprach Barbara und rückte neben die Tochter des Hauses, die untenan saß und ihr freundlich Platz machte.

Zuerst mußte fleißig gesponnen werden. Die aus braun gebeiztem oder verschiedenfarbigem Holz gedrechselten Spinnräder waren festlich aufgeschmückt mit farbigen, golddurchwirkten Wockenbändern und gleißenden Netzbechern von Kupfer und Messing, die mit den Glöckchen und Ringen an den Spinnrädern um die Wette klirrten, als diese jetzt angedreht wurden. Gesang dazu war unerläßlich. Auch hierin war die Muhme, wie in allen Künsten, die dazu dienten, das Leben unterhaltsam zu machen, wohl erfahren. Wie sie in der Kirche sich allezeit beim Gesang wacker herfürthat mit Schnörkeln und langem Aushalten, so stimmte sie auch jetzt ein Lied an:

„Spinn, Mägdlein, spinn!
So hast du klugen Sinn,
Und triffst du das Rädlein ohne Ruh,
So schenk ich dir schöne Schnallenschuh.“

Die Jungfern antworteten im Chor:

„Schuh hin, Schuh her, stellt ein das Reden,
Ein plumper Platschfuß wächst vom Treten.“

Abermals hub die Muhme an:

„Ehr, Mägdlein, ehr
Die alte Spinnkunst sehr.
Und spinnst du heut deinen Wocken leer,
Ein Häublein von Seiden ich dir bescheer.“

Und wieder sangen die Jungfern:

„Was soll das Häublein? Müßt doch mich verstecken
Mit meiner Hängelippe vom Lecken.“

Eindringlicher noch stellte die Muhme vor:

„Preis, Mägdlein, preis
Der Spinnerinnen Fleiß.
Geschwinde spinne die Spule voll,
Ein Ringlein von Golde dein Lohn sein soll.“

Aber die Jungfern ließen sich nicht erweichen:

„Was Ringlein! Die Hände dürft Keiner doch sehn
Mit dem breiten Daumen vom Fadendrehn.“

Jetzt stieß die Muhme Johannen in die Seite und sang mit einer Stimme, die so mild klang, als sei sie mit Mehl bestreut:

„Spinn, Mägdlein, spinn
Du hast deß wohl Gewinn.
Hei! Hast du die Truhe voll schneeig Lein,
So wird dich der Nikel zu Ostern frein.“

Die Jungfern kicherten, Barbara’s Rad stockte, Johanne aber sang mit heller hoher Stimme:

„Hei! Habt Ihr das Bierfaß angeboten,
So mögt Ihr’s geruhig weiter schroten.“

Die Muhme begann dräuend mit dem Pfauenschweif auf sie los zu nicken, als sie weiter sang:

„Glaub, Mägdlein, glaub
Und sei dem Wort nicht taub:
Wenn du hienieden bist ledig geblieben,
So mußt du im Himmel die Wolken schieben.“

Die Jungfern, die überzeugt waren, daß keiner unter ihnen ein solches lächerliches Schicksal bevorstand, brachen in jubelndes Gelächter aus.

Dann sang Barbara wie ein Mäuslein zirpend:

„Dem Nikel kann Keine widerstehn,
Laßt uns treten und lecken und Faden drehn.“

Nun schnurrten die Rädlein eifrig, und Alle vereinigten sich zum Schlußvers:

„Dank, Mägdlein, dank
Dem Schöpfer, daß du nicht krank,
Auf daß du kannst fein oft und viel
Noch treiben dieses Wockenspiel.“

Da klingelte die Thür wieder. Herr Fischer an der Spitze der Junggesellen erschien:

„Guten Abend mit einander.“

Im Nu waren viele Fäden abgerissen, und im selben Augenblick hatten die jungen Männer den Jungfern die Wocken entwunden. Mit einem Kuß mußten sie dieselben lösen. Lautes Gelächter und Geschrei entstand; ein paar Räder fielen dabei um

[809]

Weihnachtsmarkt auf der Plaza Mayor in Madrid. Nach dem Oelgemälde von J. Araujo.

[810] und zerbrachen. Nikel schaute erpicht nach Johannens Faden; aber diese hatte vorsichtig das Rad angehalten, und der sonnenklare haarfeine Faden ruhte unverletzt in den feinen Fingerspitzen. Dagegen riß Barbara den ihrigen entzwei, da Nikel zwischen sie und Johannen trat. Wollte er nicht unhöflich sein, mußte er den Wocken nehmen. Sie löste ihn mit einem Kuß aus seine rothen Wangen aus.

Er wandte sich dann gereizt zu Johannen: „Die Jungfer Henningin hat für keinen Junggesellen einen Kuß mehr übrig, so viel hat sie ihren Flachs geküßt, geleckt und durch die Finger gezogen.“

„Mißgönnt es dem zermarterten Kräutlein nicht,“ antwortete die Muhme Schmidtin statt ihrer. „Denk, was es leiden muß mit rupfen und raffen, ertränkt werden, darnach auf der Haiden gedörret, von Neuem gedroschen und geschlagen, zerbrochen, umbgeschwungen und durch Stacheln und Spieße der Hecheln geschleift werden. Erst wenn es an dem Galgen des Wockens hänget, wird es mit Küssen herrlich tractiret.“

„Welche Wohlredenheit die Muhme besitzt!“ rühmten Alle.

Diese aber flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand Herrn Fischer zu: „Also gehet es auch einem wackeren Freier, der um eine spröde Jungfer wirbt. Erst martert sie ihn; aber wer ausharrt, führt die Braut heim, und dann kommt die Zeit, wo der Mann schnapp! abhaspelt, was er vor der Hochzeit ausgewickelt hat. – Nun aber,“ erhob sie ihre Stimme, „wollet Platz nehmen.“

Die jungen Gesellen drängten sich in bunter Reihe zwischen die Jungfern. Das Schmausen und Trinken begann und damit die Hauptthätigkeit der Muhme.

„Ich bitte die ehrenwerte Kumpanei,“ begann sie zu nöthigen, „daß sie die liebe Gottesgabe nicht verachtet, wenn sie auch nicht zum Besten gerathen ist. Nehmt Euch noch ein Stück von dem gepreßten Schweinskopf, Vetter Rathsbrunnenmeister, kein Mensch kann auf einem Bein stehen. Jungfer Bärbe, tut nicht, als wäret Ihr ein Vöglein und hättet genug an einer Semmel, redet den Magenzipfel dazu an! Laßt Euch unsern Trunk gefallen, Herr Fischer, so gut wir ihn geben können. Freilich ist’s kein Fischer’sches Bier. Thut einen tapfern Zug, wackere Junggesellen! Betrübt es doch den Kurfürsten von Sachsen nicht, das Biergörgelein genannt zu werden, und ein Pfalzgraf soll sich gerühmt haben, seine Zechbrüder allezeit gen Bethlehem abzufertigen.“

Und die Frauen erwiderten: „Die Frau Muhme ist bewandert unter allen Potentaten.“

Und die Männer wehrten: „Wir werden uns eine keine Schwachheit ertrinken, wenn wir so dick und oftmals Gesundheit trinken.“

Dreimal ließen die Gäste sich nöthigen; erst als alle umständlichen Reden erschöpft waren und die Muhme ihre vom Sprechen schmerzende Brust hielt, griffen sie zu. Dann wurden die Tische abgeräumt; nur Nüsse und Bierkrüge blieben darauf stehen.

„Wollet Ihr nicht vor die Langeweile das Flachsorakel befragen?“ schlug die Muhme vor.

Die jungen Leute stimmten jubelnd zu. Jede Jungfer zupfte aus ihrem Wocken ein Bündelchen Flachs, die Junggesellen entliehen von ihren Herzgespielen sich auch eine Handvoll davon. Sie rollten ihn zu keinen Bällen zusammen, legten diese vor sich auf den Tisch und zündeten sie an. Der Flachs loderte auf und flog zur Decke empor. Wer zusammen sich erhob, dessen Ehe war im Himmel beschlossen. Es tönte Geschrei, Jubel, Scheltworte, und aus allem heraus das Klopfen der jungen Herzen.

Für Johanne und Nicolaus hatte die Muhme zwei Flachsbündelchen zusammengedreht und neben einander gesetzt. Vorsorglich zündete sie beide zugleich an. Aber waren sie zu fest gedreht? Sie hockten stöckisch schwälend auf dem Tisch. Da flog Bärbchens Flachshäuschen in einem kleinen feurigen Bogen empor und senke sich auf Fischer’s Bündelchen herab, das nach kurzem Bedenken aufflammte, während Johannens Bündelchen aus dem Tisch verglomm.

Die Muhme sah den Kuppelpelz, den ihr Fischer versprochen hatte, in Rauch aufgehen. Ihr Blut kam in Wallung. „Ich verhoffe,“ sagte sie, „daß dies ungebührliche Vorkommniß kein böses Zeichen sei. Werden hinfüro die Jungfern sich den Junggesellen an den Hals werfen?“

Barbara schaute sie erschreckt an.

Die Muhme kehrte ihr verächtlich den Pfauenschweif zu und reichte dem Fischer den Korb mit Nüssen. „Ich rate Euch, knacket eine Nuß. Je härter die Schale, je süßer der Kern.“

„Gebt uns ein Räthsel dazu auf!“ riefen die jungen Leute.

Und die Muhme sprach: „Was ist das?

Drunten im Grund
Steht ein bunter Hund;
Er ist von edler Art
Und hat einen blauen Bart.“

„Das wird Herr Fischer sein,“ riet Barbara, die sich wieder erholt hatte.

Die anderen Jungfern kreischten, Fischer horchte auf.

„Wie könnt Ihr so in den Tag hinein reden?“ rügte die Schmidtin.

Barbara warf den Kopf empfindlich auf. „Es paßt fürtrefflich auf ihn. Drunten auf dem Rieth wohnt er; sein Rock ist roth und grün, also bunt genug; wer wäre von edlerer Art als er, der größte Brauherr, dessen Vater das Weizenbier erfunden hat? Und einen blauen Bart hat er auch, wenn er von dem Balbierer kommt.“

Es fehlte der Muhme noch, daß Nicolaus geschmeichelt über seine roten, blauschwarz angehauchten Wangen strich.

„Daß Gott erbarm!“ schrie sie. „Seid Ihr eine also fürwitzige Jungfer, daß Ihr nach den Wangen der Männer schaut?“

Fischer legte sich in's Mittel. „Thut gemach,“ sagte er. „Warum sollen die Jungfern nicht nach den Junggesellen gucken? Ist doch Keiner zu verargen, wenn sie Begehren trägt, daß sich ein Gesponse darunter finden möge, und gern erführe, wie er ausschaut.“

„Ich weiß, wie der meinige ausschauen müßte,“ frohlockte Barbara, die merkte, daß das Zünglein der Wage auf ihre Seite sich neigte.

„Nun?“ fragte Nicolaus.

„Er müßte eine Gestalt haben rund und fest wie eine neugebundene Tonne, ein Antlitz, von Gesundheit und Kraft rötlich schimmernd wie eine kupferne Braupfanne, und er müßte alle Zecher unter den Tisch zu trinken vermögen.“

Nicolaus Fischer sah schmunzelnd an seiner Gestalt herunter; schon lange vermochte er nicht mehr seine großen Knieschleifen zu erschauen.

Aber das Zünglein der Muhme Schmidtin neigte sich nicht der Brotkorbin zu; heftig fuhr sie daher: „Sorget, daß Ihr nicht selbst unter dem Tisch lieget, Jungfer Bärbe; denn ich glaube, Euch ist – mit Respect zu vermelden – das Bier in die Krone gestiegen, also daß Ihr ausplaudert, was jegliche Jungfer verschweigen soll, wiewohl es auch darin zu weit gehen kann, indem jedes Ding seine Grenzen hat, auch die Ehrbarkeit und die Sprödigkeit und die Schweigsamkeit, mit der Du, Hanne, es heute so weit getrieben hast, als seiest Du von einem stummen Teufel besessen.“

„Ich schwieg,“ antwortete Johanne, „dieweil ich über Euer Rätsel nachsann. Ich habe es gelöst: es ist der Flachs.“

„Richtig!“ riefen Alle. „Die blaue Blüthe ist der blaue Bart.“

„Wie klug ist das liebe Herzchen!“ rühmte die Schmidtin. „Noch Keine hat das Räthsel gerathen, Herr Fischer. Wie bist Du nur darauf gekommen?“

Aber alle Anschläge der Muhme wurden heut zunichte. Johanne erwiderte: „Als Bärbchen sagte, wie ein Mann beschaffen sein müßte, den eine Jungfer gut leiden mag, ist es mir eingefallen. Denn ich meine, ein solcher muß sein hoch und schlank, wie der Flachs in den guten Jahren gerät, da um Lichtmeß das junge Volk im Sonnenschein tanzen kann; er muß Augen haben blau wie die Blüthe desselbigen und Haare hell und dick wie der Flachs, wenn er am Wocken hängt.“

„Da habt Ihr einen nippenläppischen Geschmack,“ polterte Nicolaus Fischer; „ich halte es für ein Strafgericht Gottes, wenn der menschliche Leib dünne bleibt. Jedem ehrlichen Christen segnet Gott sein Essen und Trinken und läßt ihn stattlich einhergehen, daß er die Augen durch seine Fülle erfreue.“

„Ich weiß, an wen sie denkt,“ rief Barbara. „So sah der Bursch aus, den Ihr damals beim Maienfest so siegreich bestanden habt, Herr Fischer.“

[811] „Siegreich?“ fuhr Johanne auf. „Hermann hat den Fischer in das Gesicht geschlagen, daß es ihm verging, Victoria zu rufen.“

Jetzt riß der Geduldsfaden der Muhme. „Daß Gott erbarm!“ zeterte sie. „Sind das züchtige Jungfern? Das Lerchenei schreit nach einem Zechbruder, die Henningin nach einem Riesen Goliath, und sie kratzen sich derowegen die Augen aus. Habt Ihr nicht gesehen, da die Liese Besser Kirchenbuße that, wie sie vor der Kirchthür lag, und Jegliches über sie hinwegschritt? Also ergehet es unehrbaren Weibspersonen.“

Barbara weinte laut, Johanne fuhr wie eine Flamme empor, und der Rathsbrunnenmeister gebot mit dröhnender Stimme: „Feierabend! Hört Ihr die Bierglocke läuten? Wir müssen uns heim begeben; sonst bringen uns die Scharwächter auf den Schub.“

Die Gäste brachen auf, tummelten sich durch einander, brachten ihren bestgeflissnen Dank dar, und wer mit einander an die Decke geflogen war, faßte sich bei der Hand und zog ab. Die Spinnstube war zu Ende.

Aber die Muhme Schmidtin noch lange nicht. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Man möchte erworgen und zerbersten. Das hat eine gutmüthige Seele, wie ich, für ihre Gefälligkeit.“

Der Rathsbrunnenmeister lachte mit seiner tiefen Stimme: „Danket Gott, wenn Ihr für Eure Gefälligkeit heut Abend nicht den Lästerstein tragen müßt,“ sagte er, indem er davon schritt.

„Den Lästerstein?“ zankte sie hinter ihm her. „Den will ich sehen, der mir ihn umhängt. Ein Schwarmgeist wie Ihr, der an kein rechtschaffnes Gespenst mehr glaubt, gewißlich nicht. Der soll froh sein, wenn er nicht in den Hexenthurm gesetzt wird, wegen gottlosen Unglaubens.“ Klingelnd schloß sie hinter ihm die Hausthür.

(Fortsetzung folgt.)




Weihnachten in Madrid.

Von Gustav Diercks.

Weihnachten! Was für ein Zauberwort für jeden Deutschen, was für Erinnerungen weckt es in uns! Von Kindesbeinen an gewöhnt, dieses Fest in jener sinnigen Weise zu begehen, die seit einer Reihe von Geschlechtern in Deutschland gebräuchlich ist, wollen wir den Weihnachtsbaum auch nicht entbehren, wenn wir fern von der Heimath sind.

Im Allgemeinen in Unkenntniß über die symbolische Bedeutung dieses Festes und der mit demselben verbundenen Gebräuche, sowie über die kurze Zeit, seit der Weihnachts- oder Lichterbaum in den nordischen Landen zur Geltung gelangt ist, halten wir das Fest als auf das Engste verbunden mit dem Christenthum und so alt wie dieses. Es wird uns schwer, zu denken, daß Weihnachten irgendwo in anderer Weise gefeiert wird als in Deutschland. Kaum aber überschreiten wir die Grenzen unseres Heimathlandes, da verschwindet auch schon der Lichterbaum, da verschwinden die meisten übrigen Gebräuche, die uns als zu dem Feste gehörig erscheinen. Nun erst werden wir uns bewußt, daß das poetische Kinderfest, zu dem Weihnachten geworden ist, ursprünglich eine viel weitere Bedeutung hatte, und daß es weit davon entfernt ist, specifisch christlich zu sein, sondern mit allen seinen Gebräuchen tief im Heidenthum wurzelt, einerseits im nordisch-germanischen, andererseits im alt-orientalischen.

Das Julfest der alten Germanen, das auf ägyptischen Ursprung zurückweisende israelitische Fest der Hütten, die entsprechenden Feste der Perser und anderer orientalischer Völker waren alle der Geburtsfeier des Sonnenlichtes und seiner göttlichen Verkörperung geweiht, und das Christenthum sah sich gezwungen, dieselben sowie die anderen uralten im Naturcult wurzelnden religiösen Feste beizubehalten, wenn es bei den verschiedenen Völkern Eingang finden wollte. So wurde Christus an die Stelle der alten Sonnengötter gesetzt und seine Geburt am 24. December gefeiert.

Daraus aber erklärt es sich auch, daß dieses Fest in den einzelnen Ländern seinen besonderen nationalen Charakter annahm, daß die germanischen Völker es anders feierten als die slavischen und die romanischen; und diese Unterschiede wurden in dem Maße größer, als die reformatorischen Bewegungen begannen, als der seit dem frühen Mittelalter bestehende Kampf zwischen der im germanischen Norden fußenden Kaisermacht gegen das durch die Romanen gestützte Papsttum in der Reformation Ausdruck fand. Hatten die Missionäre früherer Zeiten und die Diener Roms gegen die altheidnischen Gebräuche der Weihnachtszeit geeifert, so suchte man dieselben später vollends aus dem Machtbezirk Roms zu verbannen und der Feier einen ganz specifisch christlichen Charakter zu verleihen, die Lebensgeschichte des Heilands direct und ausschließlich zum Mittelpunkt derselben zu machen, die Ueberreste der heidnischen Symbolik auszuschließen.

So darf es uns denn nicht überraschen, in Spanien, dem katholischsten Lande der Welt, fast gar keine Spuren heidnischer Gebräuche mehr zu finden, wie sie in Frankreich noch hier und da aus keltischer Zeit her bestehen, und alles das zu vermissen, was uns die Weihnachtsfeier in Deutschland so poetisch und lieb macht.

Der kirchliche Theil des Festes hat, besonders in Madrid, kaum irgend etwas Bemerkenswerthes aufzuweisen. Wie bei allen Kirchenfesten ist es eine reichere Prachtentfaltung, glänzendere Beleuchtung und Erweiterung des Gottesdienstes, wodurch die Festzeit bekundet wird. Ausnahmsweise sind Schaustellungen veranstaltet, die den Besuchern der Kirchen die Geschichte der Geburt des Heilandes in Erinnerung bringen. In einzelnen Gotteshäusern Spaniens bestand auch der Gebrauch, Mysterienspiele aufzuführen, die den Gegenstand der Weihnachtsfeier behandeln. Im Allgemeinen unterscheidet sich daher die Weihnachtsfeier nicht viel von denen anderer gewöhnlicher Feiertage und kann sich nicht messen mit der von Ostern. Es liegt dies offenbar im Charakter der „spanischen Religion“, in der die Anbetung der Heiligen, besonders aber der Jungfrau so vollständig überwiegt, daß die Persönlichkeit Christi darüber ganz vernachlässigt wird.

Der weltliche Theil der Weihnachtsfeier hat dagegen manches Eigenthümliche aufzuweisen, was völlig von dem in anderen Ländern Ueblichen abweicht. Dazu gehört besonders, daß während der ganzen Weihnachtszeit und noch ziemlich lange über dieselbe hinaus in einzelnen Volkstheatern Mysterien und Mirakelspiele aufgeführt werden, die denen des Mittelalters entweder getreu nachgebildet oder direct aus ihnen hervorgegangen sind. Dem Geist und Geschmack der Massen ist in diesen Dichtungen so weit Rechnung getragen, als es nur möglich ist, und diese Stücke unterscheiden sich von den Volkskomödien und Farcen nur durch ihre religiösen Gegenstände. In drastischster, derbster Weise ist der Inhalt der Evangelien da dramatisirt, und es fehlt ebenso wenig an geistlosen Witzen, die ihre Wirkungen auf die Lachmuskeln der Zuhörer und Zuschauer nicht verfehlen, wie an Prügeleien und Kraftscenen aller Art, durch die diese Mysterien zu höchst einträglichen Cassen- und Zugstücken werden, die fast immer volle Häuser erzielen und Jung und Alt auf das Höchste belustigen und befriedigen. Ein Unterschied im Verhalten der Theaterbesucher ist kaum zu bemerken. Wie bei anderen Vorstellungen werden die Kinder in die Theater mitgenommen; in den Logen sieht man die feineren Familien von ihren Kindermädchen und Ammen begleitet, und das Geschrei sowie Scenen der Kinderstube sind nichts Ungewöhnliches. Im Parterre und in den höheren Rängen kreisen die Flasche und die Eßvorräthe, die ein sorgsamer Familienvater mitgenommen hat. Das Einzige, worauf die Theaterdiener streng bei der Aufführung dieser religiösen Weihnachtsstücke halten, ist, daß die männlichen Individuen während des Spiels ihre Kopfbedeckungen abnehmen.

Einige Tage vor dem Fest wird ferner der Weihnachtsmarkt eröffnet, denn wenn auch in Spanien nicht die Sitte besteht, daß die erwachsenen Verwandten und Bekannten sich beschenken – was gewöhnlich am 6. Januar geschieht – so ist es doch im Allgemeinen Gebrauch, die Kinder mit Kleinigkeiten zu erfreuen, und außerdem macht die Festfeier noch in anderer Weise den Jahrmarkt erforderlich. Auf mehreren Plätzen der Stadt und in verschiedenen großen Straßen werden nun jene meist überaus urwüchsigen Buden errichtet, die man auch auf deutschen Jahrmärken sehen kann, und es entwickelt sich ein von dem der [812] letzteren nur durch seine Besucher verschiedenes lebhaftes Markttreiben. Alle Erfordernisse des Lebens, wie sie die Leute aus dem Volke brauchen, werden da feil geboten; was jedoch diesen Weihnachtsmarkt als solchen charakterisirt, sind die Verkaufsstellen von Krippen und von Süßigkeiten, die auch von den höheren Schichten der Bevölkerung frequentirt werden und die trotz ihrer großen Masse kaum im Stande sind, dem Bedürfniß der zahllosen Käufer zu genügen. Jedes Kind muß zu Weihnachten seine Krippe haben, wo also solche von Jahr zu Jahr nicht aufgehoben werden, da müssen neue gekauft werden. In reicheren Häusern begnügt man sich aber nicht damit allein, es werden vielmehr außerdem noch plastische Bilder der Gegend von Bethlehem, des Geburtshauses Christi angefertigt. Auf diese Bilder wird oft viel Mühe, Geld und Kunst verwandt, denn wer es vermag, läßt auf dem Fußboden eines Zimmers oder auf einem dazu bestimmten Holzgestell Scenerien von mehreren Quadratfuß Größe herstellen. Der bergige, felsige Boden wird mit kleinen Häusern und Hütten, mit Buschwerk und Bäumen, mit beweglichen Figuren von Engeln, Hirten, Vieh aller Art besetzt und mit lebenden Blumen und grünen Zweigen verziert. Diese Figuren und alle anderen Requisiten für solche Darstellungen der Scenerie Bethlehems und der Krippe sind neben manchen Spielsachen ebenfalls in den Marktbuden zu kaufen. Große Nachfrage ist ferner immer für das Fest nach Trommeln und andern Lärminstrumenten.

Die größten Anziehungspunke für alle Marktbesucher sind aber die Verkaufsstellen von Süßigkeiten, und zwar sind es ganz besondere, dieser Festzeit eigene, die man begehrt, nämlich die sogenannten Torones von Alicante, Jigona und anderen Orten der Provinzen Alicante und Murcia. Diese überaus süßen, nur aus Mandeln, Zucker, Citronat, Rosinen bestehenden Kuchen, die in Form von großen dicken Fladen angefertigt werden, von denen der Verkäufer jede gewünschte Quantität abschneidet, werden echt nur in jenen Provinzen angefertigt und von den Fabrikanten selbst zu Weihnachten in alle Theile Spaniens überführt und verkauft. Freilich werden diese in ihrer Zusammensetzung sehr einfachen Kuchen auch nachgemacht, und man liest daher an den meisten bezüglichen Verkaufsstellen neben der Firma die Versicherung, daß die Fabrikate wirklich echt sind. Die Verkäufer tragen ferner die bei den Bauern jener Gegenden gebräuchliche Kleidung, den niedrigen, konisch zulaufenden, mit breiter, senkrecht stehender Krempe versehenen schwarzen Sammethut, schwarze, offene Sammetjacke über einem mehr oder weniger sauberen Hemde, einen rothen Shawl um den Leib, dunkle, meist sammetne, bis zum Knie reichende Beinkleider, weiße Strümpfe und sandalenartige Schuhe.

Die dem Marzspan entsprechenden und die Stelle der Pfefferkuchen vertretenden Torones sind also zunächst für die Weihnachtsfeier unentbehrlich. Es gehört jedoch noch etwas Substantielleres dazu, nämlich Truthühner. Zu Tausenden werden denn auch diese Thiere nach Madrid – wie nach den anderen Städten – gebracht. Auf jedem Platze sieht man sie in großen Massen und daneben Käufer aller Bevölkerungsclassen. Ein „pavo“, womit man den Truthahn bezeichnet, ist so nothwendig zur Feier der Weihnacht, daß die Armen um jene Zeit um das Geld für einen Pavo betteln! Wer die Summe für einen solchen nicht erschwingen kann, sucht wenigstens ein Huhn oder eine Gans zu kaufen.

Andererseits feiert man auch das Fest im Verzehren eines Hasen, und in Ermangelung eines solchen greift man zu Kaninchen. Auch sollen die Katzen gegen den 24. December in großer Zahl auf unerklärliche Weise verschwinden! Daß zu dem Fleische auch die gehörige Quantität Wein gehört, versteht sich von selbst. Neben den Torones sind auch noch Obst und Nüsse und Mandeln und andere Näschereien beliebt. Damit kommen wir denn aber zu dem eigentlichen Charakter, den die spanischen und im Besonderen die Madrider Weihnachten besitzen. Das Fest ist nämlich zu einem Familienfeste geworden, das in Gastmählern gefeiert wird. Die Glieder der Familien vereinigen sich während der Festtage zu gemeinsamem Verzehren ihrer respectiven Pavos, Torones, die durch Valdepeñas, Manzanilla, Tarragona und andere Weine noch schmackhafter gemacht werden.

Wenn unser Künstler auf beistehendem Bilde also einen Theil der Plaza Mayor dargestellt hat, jenes von breiten Arcaden umgebenen mächtigen Platzes, auf dem einst unter dem Vorsitz der kirchlichen und weltlichen obersten Behörden die Autos da fé „gefeiert“ wurden, und wo sich das Marktleben gerade zu Weihnachten am meisten concentrirt, so hat er damit die Weihnachtsfeier sehr trefflich charakterisirt; sie ist ein kulinarisches Fest, zu dem man alle Erfordernisse auf der Plaza Mayor kaufen kann. Nur noch ein „Pavo“ ist von den vielen vorhanden, die mit ihm zur Stadt getrieben wurden, und das Gedränge unter den Käufern entspricht vollkommen der Bewegung, die bis zum Abend des 24. auf allen Markplätzen besteht. Am 25. verkünden Tausende von Vogelfedern, die auf den Straßen liegen, vom Winde durch die Luft entführt werden, das tragische Geschick der zahllosen Vögel, die in den vorhergehenden Tagen die Plätze und Straßen belebten.

Ob aus Nächstenliebe oder aus Eigennutz – das dürfte schwer zu entscheiden sein – wird Toron und Pavo begehrenden armen Leuten die Erwerbung dieser Hochgenüsse, dieser Erfordernisse zur würdigen Feier der Geburt des Heilandes erleichtert durch Lotterien. Auf manchen Plätzen sind neben den Marktbuden auch Tombolas, Glücksräder aufgestellt, deren Inhaber gegen einen Einsatz, der je nach den Gegenständen verschieden ist, einen Pavo, einen Kapaun, ein Huhn, ein Kaninchen etc., oder einen Toron, Datteln, Feigen, Orangen etc. als Gewinn aussetzen. Diese Spielbuden sind stets von Gewinnsüchtigen belagert und ergeben gewiß ein sehr günstiges Resultat für ihre Besitzer. Die Spielwuth ist aber überhaupt vielleicht bei keinem Volke so ausgebildet wie bei den Spaniern, und das ist sehr natürlich, denn von Natur nicht arbeitsam, ziehen sie es vor, durch Glücksspiele statt durch tüchtige Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dieser Charakterzug ist allen Ständen gemein und kleidet sich nur in andere Hüllen. So ist es denn nicht erstaunlich, daß diese „Rifas“, diese eben geschilderten Lotterien um die Weihnachtszeit auch in allen Cafés, nicht allein in denen des Volkes, sondern in den vornehmsten an der „Puerta del Sol“ stattfinden, wo durch die Kellner gegen verhältnißmäßig hohe Einsätze Billets dazu ausgegeben werden. Vor aller Augen werden in einem eigens dazu gefertigten Apparat die Kugeln und Loose vermischt und die Glücksnummern gezogen. Die Betheiligung an diesen Lotterien ist daher auch eine allgemeine und sehr lebhafte.

Der ungeheuren Spielwuth der Spanier entsprechend ist auch die Zahl der großen Geldlotterien sehr beträchtlich, und aus Rücksicht auf das Weihnachtsfest, aus kluger Berechnung vielleicht auch, ist die Hauptziehung der Nationallotterie auf den 24. December angesetzt. Ist das Treiben auf der Puerta del Sol und in den großen Hauptstraßen immer sehr lebhaft, und besonders an Ziehungstagen, so vollends am 24. December, wo die nach vielen Millionen zählenden Summen zur Verloosung gelangen und wo Tausende und Abertausende auf das Erscheinen der Ziehungslisten warten.

Nun aber müssen wir zu unseren kleinen Musikanten übergehen, denn sie vertreten mit ihrem Lärm einen Gebrauch, der vielleicht heidnischen Ursprungs und Madrid eigen ist. Am Abend des Weihnachtsfestes versehen sich nämlich alle Kinder, ja auch Erwachsene mit Trommel-Instrumenten, gelegentlich auch mit Trompeten, um auf ihnen „Musik zu machen“. Das geschieht nicht etwa auf den Straßen allein, sondern auch an allen Zusammenkunftsorten, also hauptsächlich in den Cafés, die bis auf den letzten Platz gefüllt sind. Selbst in den großen, viele Hunderte von Besuchern fassenden Cafés der Puerta del Sol hört man auf diesen Instrumenten einen Höllenlärm ausführen, der als Feier der Weihnacht bezeichnet wird! Soll er die Freude über die Geburt des Heilandes bekunden oder die Schaaren der Hölle verscheuchen? Weist er zurück auf die Gebräuche des Sonnencultus und will er die winterlichen nächtigen bösen Geister veranlassen, das Sonnenkind herauszugeben, das sie der Welt vorenthalten? Doch lassen wir die Versuche der Deutung dieser sonderbaren Einweihung des Weihnachtsfestes; die wenigsten Madrider werden sich darüber klar sein oder ahnen, daß dieser Lärm vielleicht irgend eine symbolische Bedeutung haben kann; es genügt ihnen, daß dieser Brauch besteht, und sie belustigen sich daran, ihrer stark ausgebildeten Vergnügungssucht einmal im Jahre in dieser etwas unharmonischen, lauten Weise Ausdruck zu verleihen.

So feiert man in Madrid Weihnachten!

[813]

Die letzte große Ritterschlacht auf deutschem Boden.

Die Kunde von dem plötzlichen Tode, welcher Kaiser Heinrich VII. am 24. August 1313 ereilt hatte, flößte den besiegten Welfen neuen Muth ein. Friedrich der Schöne, der Sohn des von Johann von Schwaben ermordeten Kaisers Albrecht, trat zur Kaiserwahl hervor. Ein günstiger Stern schien ihm zu leuchten, denn der Papst stand auf seiner Seite, treffliche Heerführer glänzten in den Reihen seiner Getreuen, und selbst der von den Waiblingen auf ihren Schild gehobene Ludwig von Baiern, ein Jugendfreund Friedrich’s, hatte ihm seinen Beistand bei der Kaiserwahl zugesagt.

Gefangennahme Friedrich des Schönen von Oesterreich in der Schlacht bei Mühldorf am 28. September 1322.
Nach dem Oelgemälde von W. Trübner.

Aber das Schicksal entschied gegen ihn. Am Wahltag fiel auf Ludwig die Stimme der mächtigen Luxemburgischen Partei, der, von seinen Freunden gedrängt und vom Glanz der Krone geblendet, sich in Aachen krönen ließ. Hierauf antworteten die Habsburger mit der Krönung Friedrich’s, die in Bonn erfolgte, und nun standen sich zwei Kaiser feindlich gegenüber, die Jugendfreunde zogen das Schwert gegen einander, und neun Jahre wüthete der Bruderkrieg in den deutschen Landen, bis auf der „bunten Wiese“ bei Mühldorf die Würfel der blutigen Entscheidung zu Gunsten des Baiern fielen.

Zum dritten Male zogen im Herbst 1322 die Habsburger gegen ihren Feind in’s Feld und beschlossen wiederum, getrennt zu marschiren und vereint zu schlagen. Friedrich rüstete in den [814] österreichischen Landen, und sein Bruder, Herzog Leopold von Oesterreich, sammelte den schwäbischen Anhang. Zu ihnen stießen 4000 bis 5000 Ungarn und Kumanen, die König Karl von Ungarn als Hülfstruppen sandte. Plündernd und verwüstend rückten die Oesterreicher in das feindliche Land ein, und die Gräuel ihrer heidnischen Bundesgenossen bestimmten den Abt Engelbert von Admunt, daß er Friedrich’s sicheren Untergang prophezeite.

So drang Friedrich bis zur Stadt Mühldorf vor, wo er sich mit dem Heerhaufen Leopold’s vereinigen sollte, um dann gemeinsam die Streitkräfte Ludwig’s anzugreifen. Während aber dieser noch bei Alling, drei starke Tagemärsche von Mühldorf entfernt, sein Lager bezog, drängte sich Ludwig von Baiern zwischen die feindlichen Heere und suchte Friedrich zur Annahme der Schlacht zu zwingen. Wohl sandten die österreichischen Feldherren Eilboten hin und her, um ihre Vereinigung zu beschleunigen, aber dieselben wurden von den Fürstenfeldt’schen Klosterleuten aufgefangen. Die erfahrensten Kriegsleute riethen daher Friedrich dem Schönen, die Schlacht nicht zu wagen, sondern den Rückzug anzutreten. Aber „zu voll Muth“, erwiderte er ihnen: er habe so viele Wittwen und Waisen gemacht und so viel Unbilde an der Christenheit begangen, daß er nicht länger den Streit aufschieben wolle, wie es auch ergehe.

Als nun der Morgen des 28. September graute, vollzog Ludwig den Uebergang über die Isen, und auf der weiten Flur zwischen Neufahrn, Mettenheim, Lochheim und dem Mühldorfer Hart stellten sich die feindlichen Heere in regelrechter Kampfordnung auf. Diese Flur hieß die Feh- oder Gickelfehwiese, das heißt bunte Wiese, und spätere Geschichtsschreiber, welche die Bedeutung dieses Namens nicht verstanden, haben dieses Schlachtfeld in „Fechtwiese“ umgetauft.

Es war noch eine echte und rechte Ritterschlacht, die hier geschlagen werden sollte, und so hörte man in beiden Lagern, der Kriegssitte gemäß, vor ihrem Beginn die Messe, nahm das Abendmahl und ertheilte Ritterschläge. Auf beiden Seiten wurde das Reichsbanner entfaltet.

Friedrich führte die Seinigen selbst an und erschien in glänzender königlicher Rüstung, Ludwig dagegen, durch frühere Erfahrungen belehrt, mochte eingesehen haben, „daß es dem König nicht zieme, Schwertschläge zu ertheilen und zu empfangen“, und benutzte eine kluge Vorsicht, die sein Gegner zu seinen Ungunsten verschmähte. In einfachem blauem Waffenrock, der durch weiße Kreuze geziert war, ohne Abzeichen der königlichen Würde hielt er auf leichtem Pferde abseits mit elf gleichgekleideten Rittern und leitete von hier aus die Schlacht.

Lautes Kriegsgeschrei und Trompetengeschmetter verkündeten den Beginn des Kampfes. König Johannes von Böhmen warf sich mit Ungestüm auf das Vordertreffen der Oesterreicher. Es erfolgte ein heftiges, lange andauerndes Ringen, bis auf der Wiese von Mühldorf der Kampf allgemein wurde. Es war die letzte große Ritterschlacht ohne Anwendung von Feuerwaffen, in der noch Mann gegen Mann mit Schwert und Lanze focht.

Nur in dem Uebergewicht des Fußvolkes waren die ersten Vorboten einer neuen Kriegsepoche zu merken. So erhielt das niederbaierische Fußvolk den Befehl, die Rosse der feindlichen Reiter niederzustechen, und die Baiern verstärkten außerdem ihre Infanterie, indem sie einen Theil ihrer Reiter absitzen ließen. „Schon dauerte der Kampf“ – erzählt J. E. Kopp in seinem trefflichen Werke „Die Gegenkönige Friedrich und Ludwig“ – „vom frühen Morgen bis gegen Abend. Elfhundert Gefallene aus beiden Heeren und dreitauseud Rosse bedeckten das Schlachtfeld; der Baiern Banner war gesunken, ihre Schlachtenreihen wichen, und der Sieg König Friedrich’s war entschieden. Nur König Johannes hatte mit den Seinigen eine Anhöhe gewonnen und erhob von neuem die böhmische Fahne; von der andern Seite waren böhmische Reiter bemüht, ihr weichendes Fußvolk zu sammeln und wiederum in den Streit zurückzuführen.“

Plötzlich hörte man über das Wasser her lautes Geschrei eines nahenden Heerhaufens. Es war Burggraf Friedrich von Nürnberg, der auf den Höhen jenseit der Isen im Hinterhalte gelegen und nun zur rechten Zeit mit der frischen Kraft seiner Reiter eingriff.[1] Hielten die Oesterreicher anfangs die Reiter für die ersehnten Truppen Leopold’s, so wurden sie sogleich bitter enttäuscht, denn mit einem Male änderte sich jetzt die Lage der beiden Heere: die geschlagenen Baiern und Böhmen, durch die willkommene Hülfe ermuthigt, erneuerten mit Nachdruck den Kampf, in die Reihen der siegenden Oesterreicher warf die Nachricht Schrecken und Verwirrung.

Die Ungarn und die Kumanen ergriffen die Flucht, und nach achtstündigem Ringen ergaben sich sämmtliche lebende österreichische Ritter, dreizehn- bis vierzehnhundert an der Zahl. Unter den Tapferen, welche mit unermüdetem Arme einen vergeblichen Kampf fortsetzten, befand sich auch König Friedrich selbst. „Mit glänzendem Muthe hatte er gefochten, sodaß man von ihm rühmte, nie sei ein besserer Ritter, ein kühnerer Mann in dem Kampfe gewesen.“ Da ward ihm sein Roß durchbohrt, er stürzte zur Erde, und ein Edelknecht wollte ihn gefangen nehmen. Als derselbe dem Könige erklärte, daß er dem Burggrafen diene, ließ Friedrich diesen rufen, reichte sein Schwert und ergab sich ihm.

Am späten Abend ward der Gefangene vor Ludwig gebracht, der, unter einem Baume stehend, in der guten Laune des Siegers ihn mit den Worten empfing: „Vetter, wir sehen Euch gern!“

Um diese letzte große Ritterschlacht hat auch die Sage ihren Märchenkranz gewoben. Sie ließ den alten Recken Schweppermann an ihr theilnehmen, und erzählt von dem bejahrten Feldherrn, wie ihm beim Kundschaftsritt die Füße in den Steigbügeln zitterten, daß seine Sporen erklangen und das junge Volk darob lachte. Sie erzählt, wie er die Schlacht gewonnen und wie König Ludwig bei dem spärlichen Mahle auf dem Schlachtfelde die geflügelten Worte sprach: „Jedem Mann ein Ei, dem frommen Schweppermann zwei.“

Die späteren Geschicke des besiegten Friedrich sind schon früher in der „Gartenlaube“ ausführlich beschrieben worden (1868, Seite 572), dort ist seine traurige Gefangenschaft in der Burg Trausnitz geschildert und auch der lichte Zug dargestellt, der diesen Bruderkrieg in der Geschichte versöhnend abschloß: sein Ausgleich mit Ludwig und das hehre Beispiel der von ihm bewahrten Treue.

Dem deutschen Volke bleibt in dem Schiller’schen Gedichte „Deutsche Treue“ dieses erhebende Geschichts- und Charakterbild ewig erhalten und sein Wortlaut möge auch diese Zeilen schließen:

Um den Scepter Germaniens stritt mit Ludwig dem Baier
     Friedrich aus Habsburgs Stamm, Beide gerufen zum Thron;
Aber den Austrier führt, den Jüngling, das neidische Kriegsglück
     In die Fesseln des Feinds, der ihn im Kampfe bezwingt.
Mit dem Throne kauft er sich los, sein Wort muß er geben,
     Für den Sieger das Schwert gegen die Freunde zu ziehn;
Aber was er in Banden gelobt, kann er frei nicht erfüllen;
     Siehe, da stellt er auf’s Neu’ willig den Banden sich dar.
Tief gerührt umhalst ihn der Feind, sie wechseln von nun an,
     Wie der Freund mit dem Freund, traulich die Becher des Mahls,
Arm in Arme schlummern auf einem Lager die Fürsten,
     Da noch blutiger Haß grimmig die Völker zerfleischt.
Gegen Friedrich’s Heer muß Ludwig ziehen. Zum Wächter
     Baierns läßt er den Feind, den er bestreitet, zurück.
„Wahrlich! So ist’s! Es ist wirklich so! Man hat mir’s geschrieben,“
     Rief der Pontifex aus, als er die Kunde vernahm.




Die Braut in Trauer.

Erzählung von Ernst Wichert.
(Schluß.)
12.

Walter und Helene Grün sind nun schon fünf Jahre verheirathet. Sie leben, wie sich wohl von selbst verstehen kann, sehr glücklich mit einander.

Er ist seit Kurzem zum Professor ernannt worden, vorläufig zwar nur zum außerordentlichen, aber es ist schon eine kleine feste Einnahme dabei. Man kann im Nothfall davon existiren.

Darauf ängstlich gewartet haben sie nicht. Papa Grün [815] sprach gleich nach der Verlobung mit seinem Sohne ein ernstes Wort und brachte diese Angelegenheit „ein für alle Mal“ in Ordnung. Er sagte ihm einfach: „So und so viel habe ich erspart. Die Hälfte davon gehört Dir als Erbe Deiner Mutter, also von Rechtswegen. Ueber die andere Hälfte kannst Du im Voraus verfügen, wenn’s nöthig werden sollte. Wenn nicht, um so besser – für Dich. Es wäre Thorheit, um ein paar tausend Thaler zu sparen, seinen ganzen Lebensplan zu ändern. Also zehre rubig von dem Deinigen, bis Dir die Wissenschaft auch eine milchende Kuh wird, und wenn Du es das meinige nennen willst, wird mich’s wohl auch nicht beschweren dürfen. Das Schulmeistern laß mir hübsch bleiben.“

Sie bewohnen nun in einer stillen Straße die obere Etage eines kleinen Hauses, zu dem auch ein Gärtchen gehört, und sind überzeugt, daß sie allerliebst eingerichtet sind, da in keinem Raume Bücher oder Kunstsachen fehlen. Sie haben einen reizenden Jungen, der nun drei Jahre alt ist. Zu ihrem Glücke fehlt ihnen nichts. Allenfalls noch ein kleines Mädchen. Aber das kann ja noch kommen.

Aus dieser langen Zeit ist sonst nichts zu berichten, und diese Nachschrift wäre überhaupt überflüssig gewesen, wenn sich nicht ganz kürzlich etwas ereignet hätte, das nicht unterschlagen werden darf.

Als nämlich Willy, wie seine Gewohnheit war, wenn er einen Wagen auf dem Steinpflaster heranrollen hörte, auf den Stuhl kletterte, um aus dem Fenster zu gucken, und Frau Helene, wie ebenfalls ihre Gewohnheit war, eiligst zulief, um sich zum zwanzigsten Mal die Ueberzeugung zu verschaffen, daß auch die Fensterhaken geschlossen seien, erkannte sie vor der Kutsche die beiden Braunen der Frau Consul Berghen.

In dieser oberen Stadtgegend sah man sie sonst nicht leicht, außer etwa spät Abends im Winter, wenn Gesellschaften zu besuchen waren. Was aber besonders merkwürdig war: der Wagen hielt vor der Thür des Hauses und der Diener half gleich darauf der Frau Consul beim Aussteigen.

Kein Zweifel weiter: der Frau Professor war ein Besuch zugedacht. Sie eilte vor Freude hinaus und die halbe Treppe hinab der alten Dame entgegen, die langsam und schwer athmend die Stufen aufwärts stieg.

„Gilt der Besuch wirklich mir?“ fragte Helene, ihr die Hände küssend. „O, das ist freundlich, das ist gütig. – Willy, Du bleibst oben, verstehst Du –? Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten? Die Treppen sind nicht bequem wie in Ihrem Hause. Junge, Du rührst Dich nicht von der Stelle! Auch nicht eine Stufe mehr. Willst Du fallen und Dir den Kopf zerschlagen? Da hätte Papa schön zu schelten. – Ach, er ist noch so klein und gehorcht schon gar nicht mehr, und wild ist er –!“ Sie haschte sein Röckchen. „Da hab’ ich ihn. Nun marsch hinauf, und an der Thür einen tiefen Diener für die Frau Consul gemacht. So – das war recht.“

„Ihr Söhnchen, liebe Helene –“ bemerkte die alte Dame, Willy die Hand bietend. „Mit der Mama hat der Kleine wenig Aehnlichkeit.“

„Ganz des Vaters Ebenbild,“ versicherte die Frau Professor „Nicht wahr, Willy, Du bist Papas Sohn?“

„Aber bei Mama ist’s am besten,“ meinte der Junge, sich an sie schmiegend.

Erst als die Frau Consul auf dem Sopha Platz genommen hatte, fiel es Helene auf, wie sehr sie in diesen Jahren gealtert war. Das dünne weiße Haar zog sich straff unter die Haube, nur knapp die Schläfen deckend, die Stirn zeigte sich tief gefurcht und die Unterlippe hing schlaff von den Mundwinkeln ab. Den Augen fehlte jeder Glanz, und das Kleid saß lose wie bei einer Reconvalescentin, die noch nicht Zeit gehabt hat, ihre Garderobe passend verändern zu lassen.

Es entging ihr nicht, daß Helene sie mit mitleidigen Blicken betrachtete. „Nicht wahr,“ sagte sie, den welken Mund zu einem Lächeln zwingend, „an mir haben die Jahre eine tiefe Spur gelassen? Und doch tragen sie die geringste Schuld. Aber Kummer schwerster Art.… Von dem nahe bevorstehenden traurigen Ereignisse haben Sie wohl schon sprechen gehört?“

„Mein Gott, nein,“ versicherte die junge Frau, „ich weiß von nichts.“

„Die ganze Stadt ist voll davon. Man muß wahrlich in so glücklicher Zurückgezogenheit leben wie Sie, um von diesen widerwärtigen Dingen unberührt zu bleiben. An der Börse ist die Parole ausgegeben: das Haus Berghen wird fallen! Und damit scheint sein Fall in der That unvermeidlich geworden zu sein.“

Helene begriff nicht sogleich, um was es sich handelte. „Das Haus Berghen –“ wiederholte sie halb fragend. „Das ist kaufmännisch gesprochen … ich verstehe wohl. Aber wie kann ein Gerücht –“

„Osterfeld hat sich überall Feinde gemacht. Sie lauern schon lange auf die Gelegenheit, sich für allerhand Unbill zu rächen, und glauben sie nun gefunden zu haben. Man ergreift begierig den nächsten Anlaß, das drückende Joch abzuwerfen, unter das Osterfeld alle die kleineren Concurrenten zu beugen gewußt hat. Er hielt sich in seinen kaufmännischen Speculationen für unfehlbar. Nun folgen Rückschläge, die er mit dem Aufgebote aller Kräfte kaum noch zu pariren im Stande ist. Der Credit des Hauses war schon auf’s Aeußerste angespannt. Da nun von allen Seiten Kündigungen erfolgen, scheint eine Insolvenzerklärung nicht mehr aufgehalten werden zu können. Sie bedeutet den vollständigen Ruin des Geschäfts.“

Die junge Frau war in großer Verlegenheit, was sie antworten sollte. Sie dachte an das Unglück ihres Vaters, meinte aber seiner am wenigsten erwähnen zu dürfen. Die Frau Consul flößte ihr das tiefste Mitleid ein. „Wie sehr bedaure ich Sie!“ sagte sie mit dem Ausdrucke wärmster Theilnahme, indem sie ihr leise die Hand drückte.

Die alte Dame tupfte mit dem Taschentuche über ihr Gesicht hin. „Zu Osterfeld’s Entschuldigung läßt sich nur sagen,“ fuhr sie fort, „daß er auf so gefahrvolle Wege gelenkt ist, weil er es für seine Pflicht hielt, Verluste auszugleichen, die nicht auf Rechnung seiner Geschäftsführung kommen. Der bodenlose Leichtsinn Gräwenstein’s …“

Diese offene Anklage schien sie selbst zu erschrecken. Sie war einen Moment unschlüssig, ob sie dieselbe fortsetzen sollte. „Er verdient keine Schonung,“ sagte sie dann. „Ich will nicht davon sprechen, daß er mich hintergangen hat, indem er mir’s rechtzeitig mitzutheilen unterließ, wie schwere Verbindlichkeiten auf ihm lasteten, und dann nur zum kleinsten Theile aufrichtig war. Gräwenstein ist ein Verschwender – ein Spieler. Immer wieder sind wir für ihn eingetreten – seiner Frau und Kinder wegen. Alle seine Versprechungen erweisen sich schon nach kürzester Zeit werthlos. Er wußte, daß wir ihn nicht fallen lassen konnten, ohne dem Renommée des Hauses zu schaden, und verpfändete unbedenklich sein Ehrenwort, um uns desto dreister die Wahl zu stellen, Schmach und Schande über die Familie zu bringen oder uns zu neuen Opfern bereit zu erklären.“

„Und Vera –?“ fragte Helene schüchtern.

„Sie ist unglaublich schwach gegen ihren Mann gewesen. Es gefiel ihr, in der Gesellschaft eine Rolle spielen zu können – und sie spielte sie mit viel Geschick. Um geschäftliche Angelegenheiten bekümmerte sie sich nicht. Es war nicht möglich, ihr klar zu machen, daß die Quelle, aus welcher ihr Mann schöpfte, auch einmal versiegen könnte. Erst als sie durch einen Zufall dahinter kam, daß er auch … doch das geht nur die Eheleute selbst an. Kürzlich hat sie sich von ihrem Manne getrennt, ist mit ihren Kindern zu mir gezogen. Der Scheidungsproceß ist im Gange. Wie bald wird sie die letzte Stütze verlieren!“

„Arme Frau!“

Die alte Dame schwieg eine Minute lang, traurig vor sich hinstarrend. „Ich weihe Sie in diese trostlosen Verhältnisse ein, liebe Helene,“ nahm sie dann wieder das Wort, „um Ihnen zu zeigen, daß es auch für Sie die höchste Zeit ist, sich zu sichern.“

„Für mich –?“

„Ich habe es vor fünf Jahren schon – bei Osterfeld durchgesetzt, daß Robert’s väterliches Erbtheil –“

„Aber, Frau Consul …“

„Lassen Sie mich ausreden. Ich habe dafür gesorgt, daß Robert’s väterliches Erbtheil aus dem Geschäftsvermögen ausgesondert und selbstständig verwaltet wurde. Ich habe auch später nicht zugelassen, daß diese Masse sich bei den gewagten Geschäften Osterfeld’s betheiligte, oder auch nur theilweise zur Deckung von Verlusten ihre Mittel hergab. Sie ist auch gegenwärtig noch intact. Das Capital nebst den angewachsenen Zinsen …“ Sie öffnete ein Täschchen und zog ein zusammengefaltetes [816] Papier hervor, das da bei anderen Papieren lag – „hier die specielle Nachweisung.“

Helene schob das Blatt zurück, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. „Es ist gewiß Alles in bester Ordnung,“ sagte sie; „aber was habe ich –?“

„Es ist Zeit, dieses Capital aus der Handlung zu nehmen, liebes Kind. Osterfeld kann ich unter jetzigen Umständen nicht mehr für einen zuverlässigen Verwalter halten. Und wenn auch … Sollte das Unglück uns treffen und die Falliterklärung unvermeidlich werden, so würden die Gläubiger auch auf diese Masse Beschlag legen, und man würde vielleicht meiner Versicherung keinen Glauben schenken, daß ich Ihre Abtretung nie angenommen habe.“

„Aber ich habe doch nach meiner Großjährigkeit –“

„Hier sind die Entsagungsurkunden. Ich habe sie für Robert’s Erbin aufbewahrt. Jetzt sind sie bei Ihnen besser aufgehoben; am besten werden sie von der Ausstellerin vernichtet, dann ist’s, als ob sie nie dagewesen. Nehmen Sie! Es wäre baare Thorheit, das Vermögen in unserem Gewahrsam zu gefährden.“

Ansicht von Valencia.
Nach einer Photographie aus dem Verlage von B. Schlesinger in Stuttgart (J. Laurent, Madrid).


Helene wehrte ihre Hand ab. „Aber ich habe keinen Anspruch daran,“ sagte sie mit aller Entschiedenheit. „Was ich that, habe ich wohlüberlegt gethan, und es hat mich nicht einen Augenblick gereut. Fühlen Sie’s denn nicht, wie ich, daß ich als die Frau eines Anderen Robert’s Erbin nicht sein kann? Daß mein Mann … ich bitte, ich beschwöre Sie, Frau Consul – wenn Sie mir noch einen Rest mütterlicher Zuneigung bewahrt haben, stören Sie mein Glück – unser Glück nicht.“

Die alte Frau wiegte den Kopf. „Ich hoffte es im Gegentheil zu fördern,“ äußerte sie. „Glauben Sie mir: ich freue mich aufrichtig Ihres Glückes. Als wir uns trennten, konnte ich diesen Verlauf der Dinge nicht ahnen. Aber auch ohnedies hätte mein Mißmuth nicht lange Bestand gehabt. Ich sah ein, daß ich Unbilliges von Ihnen gefordert hatte, daß Jugend und Alter verschieden empfinden müßten – ich schämte mich der selbstsüchtigen Regungen meines Herzens. Wie oft habe ich Ihrer mit den wärmsten Wünschen für Ihr Wohlergehen gedacht! Wie oft bin ich schon auf dem Wege zu Ihnen gewesen! Nur die Besorgniß, daß mein Entgegenkommen unrichtig ausgelegt werden könnte, hat mich immer wieder zurückgehalten. Und selbst jetzt in dieser traurigen Stunde – wie freue ich mich, Sie wiederzusehen, wie thut es meinem wunden Herzen wohl, bestätigt zu hören, daß Sie glücklich sind!“

Helene ergriff ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen; sie legte den Arm um ihre Schulter und lehnte den Kopf an ihre Brust. „Meine liebe, gute Mama!“ sagte sie.

Die Frau Consul streichelte ihre Wange. „Ich hatte mir vorgenommen,“ fuhr sie fort, „meines Sohnes Nachlaß bis an mein Lebensende für Sie zu verwalten und in meinem Testament Anordnung zu treffen, daß Ihnen dieses Vermögen ausgehändigt würde. Sie hätten dann gleichsam von mir empfangen, was Sie von Robert nicht meinten annehmen zu dürfen, und wären zugleich jedes Dankes entledigt gewesen. Die Verhältnisse nöthigen jetzt zu einer schnelleren Verfügung, aber die Sache bleibt dieselbe. Unterschätzen Sie nicht in jugendlichem Uebermuth den Werth eines namhaften Vermögens, liebe Helene. Sehen Sie da auf Ihren Sohn –“

„Sein Vater wird, so Gott will, für ihn sorgen, bis er sich selbst in der Welt forthelfen kann,“ rief die Professorin. Sie mochte fürchten, mit diesem stolzen Wort zu verletzen. „Wenn ich mich auch überreden ließe,“ setzte sie milde hinzu, „mein Mann, wie ich ihn kenne, würde nie einwilligen. Ich kenne im Voraus [817] seine Meinung so gut, daß er es mit Recht als eine Kränkung ansehen müßte, wenn ich ihn auch nur fragte.“

Frau Berghen stand auf. „Dann kann ich zu meinem tiefsten Bedauern nichts weiter für Sie thun,“ sagte sie. „Mag das Gericht seine Entscheidung treffen.“

„Aber wozu das?“ fragte Helene mit sanftem Vorwurf. „Die Mutter hat ihren Sohn beerbt, ist das nicht die natürlichste Lösung? Was konnte Robert denn hinterlassen, als was seine Eltern für ihn erworben hatten? Sagen Sie mir aufrichtig: wenn dieses Capital, das Ihre Großmuth mir bestimmt hatte, für die Handlung frei würde, wenn eine geschickte Hand, wie die Osterfeld’s, es klug verwendete – könnte das Haus Berghen auch dann unter keinen Umständen gehalten werden?“

Die alte Dame preßte die schmalen Lippen fest auf einander und schloß eine Secunde lang die Augen. „Und wenn ich nun antwortete: vielleicht –“ antwortete sie dann mit stockender Stimme, „was könnte das ändern?“

„Es muß hier allein entscheidend sein,“ rief Helene. „Ich flehe Sie an, theuerste Mama, bedenken Sie, was auf dem Spiel steht. Wie können wir Robert Berghen’s Andenken besser ehren, als indem wir thun, was er selbst unbedingt gethan hätte: sein ganzes Hab und Gut einwerfen, um das alte Handelshaus zu retten?“

Das königliche Palais in Madrid.
Nach einer Photographie aus dem Verlage von B. Schlesinger in Stuttgart (J. Laurent, Madrid).


„Wir – wir …“ sprach die Frau Consul leise und doch mit scharfer Betonung vor sich hin. „Sie wollen ja keinen Theil an diesem Besitz haben. Ich bin nicht weniger stolz als Sie.“

„Aber Sie sind unglücklich und in Noth – und es kann Ihnen und den Ihrigen geholfen werden, wenn Sie nachgeben.“

Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Robert hat’s gewollt.“

Helene sah halb abgewandt zur Erde. Plötzlich war’s, als ob ihre Augen, die von unten her nach dem traurigen Gesicht der alten Mama ausspähten, heller zu leuchten anfingen. „Ich hab’s,“ sagte sie. „Theilen wir! Aber nicht so, daß Jeder die Hälfte nimmt – das wäre mir soviel als das Ganze und Ihnen nichts. Nein! Sie verfügen jetzt über Robert’s Nachlaß zu Gunsten des Hauses Berghen. Geht das Capital verloren, so hat damit jeder Streit von selbst ein Ende. Gelingt es ihm, wie zu hoffen, das alte Haus neu zu stützen und in seinem Ansehen zu erhalten, dann …“ Sie neigte sich ganz dicht zum Ohr der Frau Consul – „der Junge horcht auf, als ob er dem Papa von jedem Wort, das wir gesprochen, Rapport erstatten müßte“ – flüsterte sie. „Dann – will ich’s vor meinem Mann verantworten, wenn ich in Ihrem Testament bedacht werde. Schlagen Sie ein, ich bitte Sie.“

Das fahle Gesicht der alten Frau röthete sich merklich. Sie stützte sich auf den Schirm, den sie in der Hand hielt, wie auf einen Stock; der ganze Körper schwankte, die Lippen bewegten sich zitternd und die Brust athmete ängstlich schnell. „Schlag’ ein,“ bat Helene nochmals, jetzt aber zu dem alten vertraulichen Du zurückkehrend. „Sei wieder meine gute, liebe Mama –!“

Da fühlte sie ihre Hand ergriffen, ihren Hals umfaßt. Die alte Frau schluchzte an ihrer Brust wie ein Kind. „Sei es denn so,“ rief sie, „und Gott segne Dich und gebe Dir Freude an Deinen Kindern!“

Sie hob Willy auf und küßte ihn.

Der Junge ließ sich’s gefallen. Aber noch als die Professorin, die den Gast zur Treppe begleitet hatte, zurückkehrte, stand er da mit ganz verwunderten Augen. Das Leben hatte ihm zum ersten Mal ein Räthsel aufgegeben. „Aber warum hat die fremde Frau geweint und mich geküßt?“ wollte er durchaus wissen.



[818]

Die Kunst, Geld zu machen.

Erschrick nicht, ehrlicher Leser, und freue Dich nicht, Falschmünzer in spe! Ich beabsichtige nicht zu lehren, auf welche Weise man es anstellen soll, um sich die auf die Nachahmung von Staatsgeldern und Banknoten gesetzte Kerkerstrafe zu verdienen. Ich will blos lehren, wie man „Geld macht“, das heißt zu Geld kommt oder vielmehr unter Umständen kommen kann. Sollte mich Jemand fragen: „Von wannen kommt dir diese Wissenschaft?“, so sei ihm gleich hier geantwortet: aus einem soeben bei Ward, Lock u. Comp. in London und New-York erschienenen Buche, das sich „The art of money-getting, or, Hints and helps to make a fortune“ (Die Kunst des Geldmachens, oder Winke und Weisungen, Vermögen zu erwerben) betitelt und den berühmten Schaubudenbesitzer, Riesen- und Zwerg-Aussteller, Menageriedirector, Raritätensammler und Primadonnen-Impresario P. T. Barnum zum Verfasser hat. Das große Aufsehen, das Barnum’s vor fünfzehn Jahren erschienene hochinteressante und unterhaltend belehrende Selbstbiographie erregte, und der fabelhafte Absatz, den dieselbe in allen civilisirten Ländern fand, machten uns auf diese neue Schrift dieses classischen Menschen im Voraus gespannt, und wir müssen bekennen, daß diese Lectüre der „Winke, wie man sich ein Vermögen erwirbt“, unsere Erwartungen nicht getäuscht hat.

Da Barnum es selber zu einem gewaltigen Reichthum gebracht hat, muß es schon an und für sich von Interesse sein, die Grundsätze kennen zu lernen, die ihn in seinem Geschäftsleben geleitet haben und die er nun aller Welt zur Beachtung empfiehlt. Dieselben sind ausgezeichnet; nur leiden sie – wie alle guten Grundsätze – an der Schattenseite, nicht immer durchführbar zu sein; nur in wenigen Fällen dürfte ihre genaue Befolgung Jemandem leicht fallen. Immerhin aber kann es nicht schaden, sich dieselben stets vor Augen zu halten.

Die erste und wichtigste Regel lautet: Sei sparsam. Hast du noch kein Vermögen, so spare, um dir eins zu erwerben; bist du aber schon bemittelt, so spare, um dir dein Vermögen zu erhalten. Geld zu erwerben ist nicht immer schwierig, sehr schwierig aber ist die Kunst, im Besitze des Errungenen zu bleiben. In beiden Fällen besteht die Hauptsache darin, daß man weniger ausgebe, als man einnimmt; nur so kann Reichthum erworben werden, es sei denn, es tritt ein Glücksfall – eine Erbschaft, ein Lotteriegewinn etc. – ein, und selbst in diesem Falle hört der Reichthum über kurz oder lang wieder auf, wenn man nicht entsprechend zu wirthschaften versteht.

Aber das Sparen allein genügt nicht. Man muß auch in der richtigen Art zu sparen wissen. Gar Mancher glaubt zu sparen, während er in Wirklichkeit nur einseitige Knickerei treibt oder selbst einfach gemein ist. Viele halten sich für „ökonomisch“, wenn sie ein Kerzenende sparen, die Käserinden essen, bei ungenügendem Lichte lesen oder der Waschfrau fünf Pfennig von der Rechnung abziehen. Solch einseitige Schmutzerei taugt nichts, am allerwenigsten, wenn solche Leute nach anderen Richtungen hin verschwenderisch sind. Manche Frau, die hier und da zehn Pfennig erspart, wo sie übrigens ganz gut hätte dreißig ersparen können, hält sich für so wunderbar ökonomisch, daß sie sich berechtigt glaubt, häufig zehn oder zwanzig Mark für Putzsachen auszugeben, wo vier oder fünf Mark genügt hätten. Es giebt Geschäftsleute, die aus Wirthschaftlichkeit jedes alte Couvert, jeden Briefbogen aufbewahren; sie ersparen dadurch jährlich fünfzehn oder zwanzig Mark, scheuen sich aber nicht, kostspielige Soiréen zu geben und eine Equipage zu halten. Ein so planlos „sparender“ Mensch kann es zu nichts bringen. Barnum erinnert an den Ausspruch des Londoner „Punch“, daß solche Leute dem Manne gleichen, der aus Sparsamkeit zum Mittagsbrod für seine ganze Familie einen Häring kaufte, dann aber eine vierspännige Kutsche miethete, um den Häring nach Hause zu bringen.

Die wahre Sparsamkeit besteht auch nicht darin, gute Waare umsonst oder halb geschenkt haben zu wollen und so den Erzeuger oder Verkäufer um seine Zeit und Arbeit zu bringen, sondern darin, die Ausgabe in vernünftiger Weise niedriger zu stellen, als die Einnahmen im äußersten Falle gestatten würden. Nöthigenfalls trage man einen Anzug etwas länger, schiebe den Ankauf neuer Handschuhe auf, richte ein altes Kleid möglichst anständig her, ehe man sich zu seiner Beseitigung entschließt, und nähre sich mit einfacher Kost. Ein Groschen hier, ein Thaler dort – Alles trägt Zinsen, und schließlich besitzt man ein Sümmchen. Es fällt Vielen sicherlich schwer, sich in ihren unnützen Ausgaben einzuschränken, nachdem sie sich die gedankenlose Befriedigung jeder Laune angewöhnt; wer es aber energisch versucht, wird bald großes Vergnügen darin finden, seine Ersparnisse anwachsen und sich in einen mäßigen, überlegenden Menschen verwandelt zu sehen. Barnum unterläßt nicht, die etwas ältliche Lehre zu ertheilen, daß man mit tausend Thalern Einkommen oft glücklicher sein und mehr Genüsse haben kann, als mit dem Zehn- und Zwanzigfachen, je nachdem man sich sein Geld eintheilt.

Es giebt Personen – und die Zahl dieser Parvenüs ist Legion – die, sobald sie zu viel Geld kommen, ihren Bedürfnißkreis absonderlich erweitern und Luxus zu treiben beginnen, sodaß sie ihren neugebackenen Reichthum bald loswerden. Sie fallen der Sucht, den „Schein zu wahren“ und es Anderen gleichzuthun, zum Opfer. Schon Franklin sagte: „Nicht unsere eigenen Augen, sondern die der Anderen ruiniren uns; wäre alle Welt außer mir blind, ich würde wenig nach eleganten Kleidern und feinen Möbeln fragen.“ Es ist jedenfalls viel vernünftiger, sich nach seinen Mitteln zu richten und es nicht der „Welt“ zuliebe zu unterlassen, für die Zukunft zu sorgen. Unser Gewährsmann führt gegen „Verschwendungssucht und falsche Sparsamkeit“ ein Mittel an, das er als vortrefflich empfiehlt, und wir sind von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt: „Wer ein anständiges Einkommen hat und am Ende des Jahres dennoch keinen Ueberschuß erzielt, schreibe alle seine Ausgaben nieder, theile jede Woche ein Stück Papier in zwei Rubriken ein, betitele die eine ‚Nothwendiges‘, die andere ‚Ueberflüssiges‘ und vertheile die Ausgaben in diese zwei Rubriken. Er wird finden, daß die zweite weit umfangreicher ist als die erste.“

Nächst der Sparsamkeit ist die Gesundheit die wichtigste Vorbedingung des materiellen Erfolges. Nur wenige Leidende werden im Stande sein, sich ein Vermögen zu erwerben. Der Kranke ist gewöhnlich[WS 1] apathisch und energielos. Und wie Viele tragen selber die Schuld an ihrer schlechten Gesundheit! Sie verletzen die Gebote der Natur, Mode- und anderen Thorheiten zuliebe, gegen ihr besseres Wissen absichtlich. Es ist also von großem Nutzen, die Gesundheitslehre zu studiren und sich an ihre Vorschriften zu halten, denn ihre Uebertretung zieht immer die Bestrafung nach sich. Unter Anderem wendet sich der „König der Schausteller“ in bitteren Worten gegen den übermäßigen Genuß des Tabaks und gegen den häufigen Gebrauch von geistigen Getränken. „Zum Gelderwerb,“ sagt er in Bezug auf den letzteren, „gehört ein klarer Kopf. Man muß seine Pläne mit reiflicher Ueberlegung machen und alle Einzelnheiten einer Geschäftsangelegenheit genau prüfen. Man mag noch so intelligent sein, so kann man seinen Geschäften nicht erfolgreich vorstehen, wenn man sich durch geistige Getränke das Hirn verwirren und die Urtheilskraft trüben läßt. Wie manche günstige Gelegenheit geht unwiederbringlich verloren, während man mit einem Freund ein ‚geselliges Glas‘ schlürft! Wie manches thörichte Geschäft wird unter dem Einflusse des ‚Nervenstärkers‘ abgeschlossen! Wie manche gute Aussicht wird auf morgen und dadurch auf immer hinausgeschoben, weil das Weinglas den Leib träge macht und somit die im Geschäftsleben erforderliche Energie neutralisirt!“

Die dritte Hauptregel lautet: „Verfehle deinen Beruf nicht.“ Man wähle einen den eigenen Neigungen und der eigenen Beanlagung entsprechenden Beruf. Nicht selten begehen gedankenlose Eltern arge Irrthümer, wenn sie ihre Söhne für diesen oder jenen Stand bestimmen. Der Bäcker von Thurso, der sich als vorzüglicher Naturforscher entpuppte, der Genfer Bauernphilosoph, der amerikanische Grobschmied, der sich durch hervorragende Sprachkenntnisse auszeichnete, vielleicht auch unser Hans Sachs etc. sind Beispiele, die die Richtigkeit der Barnum’schen Mahnung darthun. Wer nicht die ihm von der Natur zugedachte Rolle spielt, kann keine großen Erfolge erzielen. Wie mancher schlechte Handwerker wäre ein guter Professor oder Arzt, und wie mancher Advocat oder Pfarrer würde besser zum Kaufmann oder Gewerbetreibenden passen!

Hat man einmal in dieser Hinsicht das Richtige getroffen, so wähle man den richtigen Ort. Geht man mit dem geeignetsten [819] Beruf an einen entweder ungeeigneten oder in derselben Beziehung bereits überfüllten Ort, so kann man keinen Erfolg erreichen. Ebenso wichtig ist es, daß man keine Schulden mache. Man borge weder, was man zum Essen, Trinken und Bekleiden braucht, noch auch Geld gegen Zinsen; sonst läuft man Gefahr, sich zeitlebens in Armut zu erhalten und die Selbstachtung zu verlieren. Unser Autor sagt: „Der Gläubiger, der zu Bette geht, erwacht des Morgens reicher, denn seine Zinsen sind über Nacht angewachsen, während der Schuldner im Schlafe ärmer wird, weil sich die Interessen gegen ihn anhäufen.“ Das unnütze Creditnehmen verleitet oft zu unnützen Ausgaben, die nicht gemacht würden, wenn man keinen Credit hätte.

Absolut nothwendig ist ferner die Ausdauer. Man darf sich nicht leicht abschrecken lassen. Befürchtungen können die im Kampfe um die Unabhängigkeit so nothwendige Energie lähmen. Oft ist die Ausdauer gleichbedeutend mit Selbstvertrauen. Wer dieses nicht hat, kann auf Erfolge nicht rechnen. Man darf nicht zu pessimistisch sein; man muß stets der Hoffnung Raum geben. Aber es ist auch verfehlt, übermäßig rosig zu sehen. Dieser Fehler läßt Viele zeitlebens auf keinen grünen Zweig kommen. Solche Leute halten jeden Plan im vornherein für gelungen und wenden sich daher jeden Augenblick einem andern Gegenstand zu; das ist in hohem Grade verderblich, denn sie sind dann in nichts tüchtig. Es ist am besten bei Einer Sache zu bleiben und derselben so lange obzuliegen, bis sie glückt oder bis man zur Ueberzeugung gelangt, daß es angezeigt wäre, sie aufzugeben. Wer seine Aufmerksamkeit ungetheilt auf einen Gegenstand lenkt, wird in demselben Uebung erlangen und gewisse Einzelheiten wahrnehmen, die ihm entgehen würden, wenn er seine Kräfte zersplitterte.

Mit der Ausdauer steht im Zusammenhang der Fleiß, die Energie. Man widme sich seinem Berufe mit Ernst und Feuer. Man lasse nichts ungeschehen, man verschiebe nichts auf später. Was überhaupt werth ist, gethan zu werden, soll voll und ganz geschehen. Es taugt nichts, immer zu warten, bis Einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.

„Hilf dir erst selbst,“ sagt der Franzose, „dann wird Gott dir helfen“, oder das Glück oder wie man es sonst nach Belieben nennen mag, fügt Barnum hinzu. Eines Abends hörte Mohammed einen seiner Jünger sagen:

„Ich werde mein Kamel losbinden und es der Obhut Gottes anvertrauen.“

Der Prophet fiel ein:

„Nein, lieber binde es fest und dann vertraue es der Obhut der Vorsehung an.“

Der Streber nach Erfolg muß das Sprüchwort „Selbst ist der Mann“ ganz besonders beherzigen. Das Auge des Principals taugt für sein Geschäft oft mehr als die Hände eines Dutzend Angestellter. Zuweilen übersehen die besten Untergebenen wichtige Dinge, die dem Chef nie entgangen wären. Wer sein eigenes Geschäft nicht versteht, und sich daher ganz auf Andere verlassen muß, darf sich nicht wundern, wenn seine Hoffnungen unerfüllt bleiben. Niemand kann sich genügende Geschäftskenntnisse aneignen, ohne zur Sache Erfahrung und persönlichen Fleiß mitzubringen. Wer des Erfolges ganz sicher sein will, muß in seinem Berufe durchaus tüchtig sein. Ist man es, so kann man Andere anstellen; aber man sei in ihrer Wahl vorsichtig. Die besten Untergebenen sind nicht zu gut. Hat man einen brauchbaren, so trachte man, ihn so lange wie möglich zu behalten; das ist besser als das häufige Wechseln, denn er lernt täglich etwas zu und der Chef profitirt dadurch; dieses Jahr ist der Mann brauchbarer als im vorigen, und im nächsten wird er noch brauchbarer sein. Erweist er sich als treuer Diener, so erhöhe man ihm das Gehalt von Zeit zu Zeit, um ihn einerseits zu entlohnen, andererseits an sich zu fesseln. Eine solche Freigebigkeit pflegt Zinsen zu tragen. Am besten angewendet ist dieselbe, wenn der Untergebene außer seinem Eifer auch einen offenen Kopf hat.

(Schluß folgt.) 




Blätter und Blüthen.

Zwei spanische Städte. (Mit Illustrationen S. 816 und 817) Am 19. November schiffte sich der deutsche Kronprinz am Bord des deutschen Kriegsschiffes „Prinz Adalbert“ in Genua ein, um sich nach Spanien zu begeben und König Alfons XII. den vor einigen Monaten abgestatteten Besuch zu erwidern. Nach stürmischer Fahrt langte der mit ungewöhnlichem Interesse erwartete Gast Spaniens bei Sonnenschein am 22. in Grao, dem Hafen von Valencia, an. Der Grao ist ein kleiner schmutziger Schifferort an der Ostküste der iberischen Halbinsel, und die Stadt Valencia liegt ein gutes Stück von ihm entfernt, man fährt mit der Pferdebahn mehr als eine halbe Stunde dorthin. Grao gilt als einer der besten Häfen Spaniens. Im Sommer ist es ein beliebter Bade-Ort, und dann rollt nicht allein die Pferdebahn dorthin, sondern auch Hunderte der landesüblichen zweirädrigen Karren vermitteln die Verbindung zwischen der See und der Stadt. Denn außer den wenigen Hôtelomnibus giebt es nur diese eigenthümlichen, mit Maulthieren bespannten Gefährte in Valencia, zu denen der Fremde anfangs wenig Vertrauen hat. Bei aller Abneigung, den Karren zu besteigen, wird ihn aber die malerische Tracht seines Kutschers erfreuen, die „Manta“ (ein vielfarbiges Plaid), die Sammetjacke oder gestickte Blouse, die bunte „Faga“ (Leibgurt) und die classischen Sandalen. Doch nicht allein die Sandalen legen ein Zeugniß von der classischen Herkunft des Valencianers ab, auch seine Gesichtszüge und besonders der Typus seiner Frauen. Die Valencianerin ist eine der schönsten Frauen Spaniens, stolz und kräftig ist ihre Gestalt wie die der Römerin, regelmäßig ihr fein geschnittenes Antlitz.

Es giebt ein Sprüchwort, welches neckend von Valencia behauptet: „das Fleisch ist Kraut, das Kraut Wasser, der Mann Weib und das Weib nichts“. Die Valencianerin hört solche Neckerei lächelnd an, denn sie weiß, daß ihre Schönheit in ganz Iberien berühmt ist.

Die Provinz Valencia ist eine der kleinsten Spaniens und dennoch von hoher Bedeutung, da ihr an Fruchtbarkeit und landschaftlichen Reizen nur Andalusien den Rang streitig zu machen vermag. Den Mauren war hier das Paradies auf Erden, die Juden vergaßen hier ihr Heimathland. Sie verdient in der That den Namen „Garten“ (Huerta), den ihr die Mauren beigelegt haben. Kunstvoll und wirksam ward von dem betriebsamen Volke der Boden befruchtet durch das von den Bergen herabquellende Wasser. In tausendfachen Fäden von kleinen Canälen, Rinnen, Furchen vertheilt dieses Wasser sich über das Gefilde. Wir sehen künstliche Becken, in denen es sich sammelt und aufgespart wird für die Zeit der Dürre; sehen kleine Schleußen und Wehre, die seine Vertheilung regeln; sehen gemauerte Leitungen, niedrig, schmucklos, nur dem Bedürfnisse dienend, welche die erquickende Fluth von einem Acker zum andern tragen. Das ist von den Arabern geschaffen worden, hat sich aber erhalten bis heute. Das System ist damit aber noch keineswegs abgeschlossen. Neben der alten Kathedrale der Königsstadt Valencia erhebt sich einzelstehend der Migualete, der alte Michel, ein klotziger Thurm, der ebenfalls aus arabischer Zeit stammen soll, vielleicht das Minaret einer Moschee. Von diesem Thurme aus wird seit der Maurenherrschaft die Wasservertheilung geregelt: verschiedene Glockenzeichen bestimmen, wann und wo die Schleußen geöffnet, welche Bezirke überrieselt, getränkt werden sollen. Ist es warm, trocken, fürchtet man Dürre, so giebt man mehr von den bewahrten Vorräthen; in kühlerer, feuchter Jahreszeit halten die Glocken des alten Michelthurms die Schleußen geschlossen. Besser, uneigennütziger sind aber die Menschen in Valencia auch nicht, als anderswo. Mancher kümmert sich um den Befehl der Glocken nicht, läßt seinen Orangenhain länger das erquickende Naß schlürfen, öffnet zu Ungebühr die Schleußen. Dann tritt das Wassergericht zusammen. Vor einem Portale der alten Kirche versammeln sich die Schöffen desselben, der Fall wird vorgetragen, nach strenger Prüfung abgeurtheilt, der Schuldige bestraft. Dieses Wassergericht ward schon von den Arabern eingesetzt, es hat alle Staats- und Rechtsumwälzungen überdauert, bildet heute noch die einzige Spruchbehörde für jeden Wasserfrevel. Es sichert der Oase von Valencia ihr üppiges Gedeihen.

So weckt hier menschliche Vorsorge tausendfältiges Leben, und nimmermüde werden Erdreich und Sonne zu zeugen und zu reifen. Orangenwälder ziehen sich am Meere hin, ihren berauschenden Duft in die Eisenbahnwaggons hineinsendend, die den üppigen Küstenstrich durchfliegen. Palmen heben ihre gefiederten Wipfel über die Orangen empor, und was man daheim nur in Glashäusern zu sehen gewohnt ist, wuchert hier ungepflegt. Die Seidenindustrie blüht in Valencia, seine Mantillas sind weltbekannt, außerdem fabricirt man Rosinen von Trauben und bunte glasirte Fliesen, azulejos. Letztere Kunst stammt vermuthlich von der Insel Majorca und hat der Majolica den Namen gegeben.

Die Stadt Valencia ist von den Römern gegründet, wie auch ihre Bezeichnung valentia (Stärke, Kraft) lateinischen Ursprungs ist. Nach den römischen Colonisten herrschten hier die Gothen, nach ihnen die Mauren und diese wurden 1095 von dem spanischen Nationalhelden, dem Cid Campeador, nach langwieriger Belagerung vertrieben. Doch Valencia bewahrt noch seinen arabischen, halb orientalischen Charakter; es hat enge gewundene Schlangengassen, hohe Häuser mit flachen Dächern, auf denen man Tauben für den beliebten Taubensport züchtet. Wenige vergitterte Fenster mit Balcons sehen auf die Straße, dicke Mauern schützen die Bewohner vor der Hitze. Vielfach sind die Häuser ganz schmal, nur mit zwei Fenstern Front, ein winziges wie für Puppen berechnetes Treppchen führt in die oberen Stockwerke.

Die heutige Stadt, welche gegen 150,000 Seelen zählt, bietet an Kunstbauten weniger, als mancher kleinere spanische Ort. Ihre Kathedrale war ursprünglich gothisch, in der Renaissancezeit hat man sie antikisiren wollen und damit einen seltsamen Mischmasch geschaffen. Sie befindet sich auf der Stelle, wo einst ein römischer Diana-Tempel stand. Die Gothen beteten später hier zum Erlöser, die Araber zu Allah und jetzt ruft man die Santisima Virgen (Jungfrau Maria) an. Ein schöner, spätgothischer Bau ist die Lonja, Börse, deren hohe Pfeilerhallen wie ein steingewordener Palmenwald erscheinen.

Vor der Lonja befindet sich die Plaza del Mercado (Markt), welche [820] den Fremden wegen der dort sich abspielenden Volksscenen lebhaft anzieht. Die Calle de los Caballeros ist, wie schon ihr Name besagt, eine der vornehmsten Valencias, sie ist breiter als die übrigen, und hier sieht man stolze, stille Paläste der Edlen, die von einem reich galonnirten Thürhüter bewacht werden. Pferdebahnlinien durchziehen die Stadt und führen zu der am Turia gelegenen Promenade la Glorieta, wo Abends Militärmusik spielt. Die Palmen der hübschen Gartenanlagen waren in diesem Jahre von dem abnormen Froste ganz braun. Valencia ist fast in Kreisform gebaut; im Süden befindet sich der Bahnhof und die Arena für die Stiergefechte, im Norden schließt der Turia es von den Vororten ab. Das Bett des Flusses ist im Sommer stets versandet, dann sickert nur noch das gelbliche Wasser durch den Felsengrund. Fünf steinerne Brücken spannen sich stolz darüber, aber wenn man unwillkürlich über so viel Fürsorge lächelt, wird man belehrt, daß der Turia nicht immer so zahm und oft zu Ueberschwemmmungen geneigt ist.

So sieht das Stück Erde aus, welches der deutsche Kronprinz von spanischem Boden zuerst sah, so die Stadt, welche ihn am 22. November unter Jubel der Bevölkerung feierlich begrüßte!

Die zweite spanische Stadt, die den Thronfolger des deutschen Kaiserreiches beherbergen durfte, ist Madrid. Es ist kein althistorischer Ort, sondern erst von Karl V. zur Landescapitale erhoben worden. Obwohl eine hübsche Stadt mit breiten glänzenden Straßen, grünen Plätzen, schönen Promenaden, besitzt sie nichts Typisches für Spanien überhaupt, da sich hier zu sehr nationales Wesen mit internationalen Elementen mischt. Von hoher Bedeutung sind aber in Madrid die Kunstschätze, vor Allem die Gemäldegallerie, welche wohl einzig in der Welt dasteht. Velasquez lernt man in seiner ganzen Genialität und Vielseitigkeit nur hier kennen, das Museum zählt 62 seiner Originalwerke. Sodann 46 Murillo’s, 58 Ribera’s, 21 Vandyke’s, 10 Raphael’s, 62 Rubens etc.

Die Armeria real ist eine der interessantesten Waffensammlungen Europas. Das Gebäude, welches an das königliche Schloß stößt, wurde an Stelle des alten maurischen Alcazar unter Philipp II. errichtet. Das Schloß selbst, in dem jetzt der deutsche Kronprinz residirt, liegt an der Plaza del Oriente – einem großen baum-, und statuenbestandenen Platze. An die Rückseite des Palastes schließt sich der Jardin del Campo del Moro. Von ihm sieht man zum Manzanares hinunter, auf die grüne Ebene hinaus und bis zu den Bergen, an deren Abhange der Escurial ragt. Der Palacio real ist ein mächtiger Bau, der, von außen betrachtet, mehr durch Größe als durch Schönheit imponirt. Er ist 470 Fuß lang und ebenso viele breit und 100 Fuß hoch; das untere Geschoß im Rusticageschmacke besteht aus Granit, weiße Steinsäulen trennen die Fenster der oberen Stockwerke und reichen bis zum Simse des flachen Daches. Philipp V. wünschte mit diesem Schlosse einen Nebenbuhler von Versailles zu errichten, der Bau wurde 1737 nach den Plänen eines Turiner Architekten begonnen.

Doch das Heim des königlichen Gastgebers unseres Kronprinzen ist erst vor Kurzem (vergl. Nr. 49) in der „Gartenlaube“ geschildert worden. Wir haben dieser Schilderung nichts weiter hinzuzufügen, als nur den aufrichtigsten Wunsch, daß die Freundschaft der beiden Monarchen auch ihren Völkern Segen bringen möge.




Ludwig Erk, † 25. November 1883.

 „Hie kann nicht sein ein böser Muth,
 Wo da singen Gesellen gut.“
  Martin Luther, „Frau Musika“.

In dem Liederschatze des deutschen Volkes lebt manche „wundersame“ und herzerquickende Melodei, die Tausende schon erfreut, entzückt, erbaut und besser gemacht hat, ohne daß der Sänger oder Hörer große Sorge um den Ursprung und die Herkunft des Liedes an den Tag legte. Hoffentlich ist Mancher daran erinnert worden, als sich die Kunde von dem Tode eines Mannes verbreitete, dessen Name mit dem deutschen Liede auf das Engste verknüpft ist: Ludwig Erk. – Erk gehört zu den ausgezeichneten Männern unserer Nation, welchen die Ruhmeskränze nicht erst von der Nachwelt geflochten zu werden brauchen, die Zeitgenossen haben seine Verdienste voll und ganz gewürdigt – er ist mit dem Bewußtsein in die Gruft hinabgestiegen, dem Volke gedient und den Besten genug gethan zu haben. Das Biographische des Heimgegangenen läßt sich in wenig Worten geben.

Geboren den 6. Januar 1807 zu Wetzlar, erhielt er den ersten Unterricht von seinem Vater, dem Lehrer, Cantor und Organisten am dortigen Dome, Adam Wilhelm Erk; nach dem Tode desselben verließ Ludwig Erk das elterliche Haus und trat in das von Johann Balthasar Spieß, dem bekannten Erzieher und Anhänger Pestalozzi’s, geleitete Erziehungsinstitut zu Offenbach am Main. Durch seinen Vetter, den berühmten Pädagogen Diesterweg, bestimmt, übernahm er 1826 die Musiklehrerstelle am Seminar zu Mörs, um dieselbe 1835 mit der am Seminar für Stadtschüler zu Berlin zu vertauschen. Hier wirkte er in höchst segensreicher Thätigkeit bis 1876, in welchem Jahre er unter herzlichster Theilnahme der Residenz und den Segenswünschen seiner vielen Freunde aus Nah und Fern das fünfzigjährige Amtsjubiläum feierte.

Die Stadt Berlin ehrte Erk durch ein anerkennendes Document, in welchem dem Jubilar zugleich die Zusicherung eines lebenslänglichen Ehrengehalts von jährlich 3000 Mark gemacht war. Zu dem Titel eines königlichen Musikdirectors trat bei Gelegenheit des Jubeltages auch der eines Professors, sodaß Erk, mit Ehren beladen und materiell in jeder Beziehung wohl gesichert, in dem erwähnten Jahre sein Amt niederlegen konnte, um der wohlverdienten Ruhe zu pflegen.

Das Hauptverdienst hat sich Erk um das deutsche Volkslied erworben, dessen Pflege seine Lebensaufgabe war. Auf Grund streng wissenschaftlicher Studien und in lebendiger Wechselwirkung und Beihülfe hervorragender Forscher und Dichter, versenkte sich Erk in die vergrabenen Schätze der deutschen Volkspoesie, um jene Lieder zu heben, die heute in dem Munde von Millionen sind.

Die Bergung mancher uns heute so einfach und leicht erscheinenden Perlen war indeß recht oft mit großen Schwierigkeiten verknüpft, es galt die Urtexte aufzufinden, sie von etwa anhaftenden Schlacken zu befreien, die Melodien und Harmonien hinzuzufügen, um so dem Volke eine gesunde Kost zu bieten, die zu allen Zeiten, namentlich aber in den Perioden politischer und kirchlicher Bewegungen von großem Nutzen gewesen ist. An Stelle überschwänglicher Sentimentalität und naiver Trivialität wußte Erk stets Einfachheit und Natürlichkeit zu setzen; hierdurch schlug er zugleich „Lesarten“ aus dem Felde, deren Ursprung zweifelsohne in die Zeit der wenig scrupulösen Landsknechte zurück reichte. Was er nicht aus Büchern und alten Pergamenten gewinnen konnte, schöpfte er aus dem lebensfrohen Brunnen des Volkes selbst, oft zog er hinaus in den Odenwald, um den Gesang eines Hirtenbuben oder eines alten Mütterchens zu belauschen und – zu Papier zu bringen.

Die Früchte dieser Studien sind in zahlreichen Werken niedergelegt worden – großen Bänden und kleinen Büchlein, von denen sich die letzteren in Millionen Exemplaren in den Händen der deutschen Jugend befinden. Folgende Titel mögen hier genannt werden: „Deutscher Liederhort. Auswahl der vorzüglicheren deutschen Volkslieder aus der Vorzeit und aus der Gegenwart mit ihren eigenthümlichen Melodien“, „Liedergarten“, „Liederkranz“, „Frische Lieder und Gesänge“, „Blätter und Blüthen“, „Sangesblüthen“, „Deutscher Liederschatz“, „Sängerheim“, „Volksklänge“ etc. Um jedem Lebensalter ein Sträußchen zu bieten, bearbeitete Erk die geeigneten Lieder für Kinder-, Männer-, Frauenstimmen, beziehungsweise gemischten Chor. Ein vollständiges Verzeichniß dieser Sammlungen und Bearbeitungen umfaßt weit über hundert Nummern.

Es würde die Grenzen des bemessenen Raumes weit überschreiten, wollten wir noch seiner eigentlichen Lehrerthätigkeit gedenken; er hat tüchtige Schüler herangebildet, die in seinem Geiste weiter arbeiten und in Stadt und Land über ganz Deutschland verbreitet sind. Der von ihm 1845 gegründete und geleitete „Männer-Gesangverein“ gehört heute zu den besten musikalischen Vereinigungen, die Direction eines ebenbürtigen, ebenfalls von ihm gestifteten „Vereins für gemischten Chor“ übergab er seinem Schüler und Freunde Gustav Gäbler – so ist durch Schrift, Wort und Ton hinreichend gesorgt, daß die Resultate seines Fleißes der deutschen Nation erhalten bleiben. Rufen wir dem Heimgegangenen die ihm am 6. Januar 1874 von Hoffmann von Fallersleben gewidmeten Worte nach:

„Du lehrtest, was in Freud’ und Leid
Das Volk zu singen weiß,
Drum Dir gebührt zu aller Zeit
Des Volkes Dank und Preis.“

Gustav Schubert. 




Vom Bücher- und Bildermarkt für den Weihnachtstisch können wir unseren Lesern noch eine Anzahl Bilder- und Spielbücher für die Kinderwelt vorlegen.

„Spiel um’s Leben“ ist der Titel eines Bilderbuchs, für welches Wilh. Claudius 24 Originalzeichnungen und Johannes Trojan die Verschen lieferte und das im Verlag von C. C. Meinhold u. Söhne in Dresden erschienen ist.

„Glückliche Kinderzeit. Ein Bilderbuch für Mädchen und Knaben mit 36 Bildern von Fedor Flinzer und 50 Liedern und Reimen von G. Chr. Dieffenbach. Bremen, M. Heinsius.“ Ein prächtiges Kindergesichtchen grüßt uns am Eingang in die stattliche Gallerie lustiger und ernster Darstellungen aus dem Kinderleben. Dieffenbach überschreitet nie den kindlichen Horizont des Verständnisses und der Anschauungsmöglichkeit und läßt auch die Leitung zum Religiösen an rechter Stelle zur Geltung kommen.

In demselben Verlag erschienen das Bilderbuch „Aus dem Kinderleben“, ebenfalls mit Liedern und Reimen von Dieffenbach und mit 24 Bildern von Ludwig Richter und Hugo Bürkner, 2. Auflage, und „Der kleine Nußknacker“, 600 Kinderräthsel, Scherzfragen, Spielliedchen, Verschen und Gebete, herausgegeben von Ernst Lausch. Dieses äußerlich unscheinbare und bilderlose Büchlein verdient doch besondere Beachtung, indem es seine Gaben mit liebevoller Berücksichtigung der Fassungsfähigkeit des kindlichen Geistes austheilt; es sorgt erstens für die ganz Kleinen, zweitens für die Kleinen, und drittens für die Größeren und Großen mit pädagogisch feiner Unterscheidung.

Von Ebhardt’s Bilderbüchern (Berlin, Druck und Verlag von Franz Ebhardt) erfreuen die „Knabenspiele“ und die „Jahrmarktsfreuden“ mit leichtverständlichen Prosatexten und buntem Bilderschmucke.

Dasselbe gilt von dem bei V. Bück in Luxemburg erschienenen „Kinderfreund“ von Karl Wersch, mit 14 Zeichnungen von O. Pletsch.




Kleiner Briefkasten.

J. M. S. in G. Das Dr. Fürst’sche Universal-Thermometer (vergl. „Gartenlaube“ Nr. 40) ist in vorschriftsmäßiger Herstellung nur durch R. H. Paulcke in Leipzig zu beziehen, und so viel wir wissen, gesetzlich deponirt sowie durch Schutzmarke vor Nachbildung geschützt.



Inhalt: Glockenstimmen. Von Stefanie Keyser (Fortsetzung. S. 805. – Weihnachten in Madrid. Von Gustav Diercks. S. 811. Mit Illustration. S. 809. – Die letzte große Ritterschlacht auf deutschem Boden. S. 813. Mit Illustration S. 813. – Die Braut in Trauer. Von Ernst Wichert (Schluß). S. 814. – Die Kunst, Geld zu machen. S. 818. – Blätter und Blüthen: Zwei spanische Städte. S. 819. Mit Illustrationen. S. 816 und 817. – Ludwig Erk, † 25. November 1883. Von Gustav Schubert. – Vom Bücher- und Bildermarkt für den Weihnachtstisch. – Kleiner Briefkasten. S. 820.


Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. „Geschichte Baierns“ von Siegmund Riezler, II. Band.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gewöhntich