Die Gartenlaube (1882)/Heft 52
[853]
No. 52. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
An unserer Leser.
Mit dieser Nummer schließt der dreißigste Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten ihre Bestellungen auf das erste Quartal 1883 schleunigst aufgeben zu wollen und bringen denselben zugleich zur Kenntniß, daß wir den neuen Jahrgang mit der allseitig interessevoll erwarteten und ebenso inhaltreichen wie fesselnden Erzählung:
eröffnen werden. Derselben wird sich eine Reihe von novellistischen Beiträgen aus den Geisteswerkstätten unserer bedeutendsten Autoren anschließen, und zwar in erster Linie:
„Die Braut in Trauer“,
Roman aus der Gegenwart von |
„Brausejahre“,
Erzählung aus der classischen Periode Weimars von |
„Der Chaldäische Zauberer“,
Abenteuer aus der römischen Kaiserzeit von |
Außerdem sind in Vorbereitung Novellen und Erzählungen von E. Marlitt, Wilhelm Jensen, Hans Hopfen, Robert Schweichel, Victor Blüthgen etc.
Auch auf den übrigen Gebieten der Unterhaltung und Belehrung werden wir im neuen Jahrgange unsere alten Ziele treu im Auge behalten und stets bestrebt sein, den Lesern in geschmackvoller Form einen gediegenen Inhalt zu bieten, vor Allem aber für den deutschen Vaterlandsgedanken und die Kräftigung gesunder Freiheitsbestrebungen, sowie für die gemeinnützige Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und die vernunftgemäße Pflege des öffentlichen Wohlfahrtssinnes energisch eintreten. Auch werden wir dem illustrativen Theile unseres Blattes, wie immer, unsere besondere Sorgfalt widmen.
Aus der Zahl demnächst erscheinender, besonders interessanter Artikel heben wir nur hervor: „Franz Defregger“ von Fr. Pecht, „Julius Wolff“ von Albert Traeger, „Aus dem orientalischen Religionsleben“ von L. von Hirschfeld, „Bilder aus dem stillen Ocean“ von O. Finsch, „Das Heidelberger Schloß“ und die Idee seiner Renovirung als nationale Aufgabe“ von einem hervorragenden Fachmann, „Zweitausendfünfhundert Meilen durch den Westen der Union“, eine Artikelserie von Udo Brachvogel mit Illustrationen von Rudolf Cronau.
Schließlich lenken wir die Aufmerksamkeit unserer Abonnenten noch auf unser neugegründetes Beiblatt
welches wir ach wie vor gratis der „Gartenlaube“ beilegen werden und dessen jüngst erschienene erste Nummern überall die freundlichste Aufnahme fanden. Dieselben werden fortfahren einzelne Abschnitte des gesammten Culturlebens, so weit sie für die deutsche Familie von Interesse sind, in anschaulicher und gewissenhafter Weise in den Bereich der Besprechung zu ziehen.
Im Banne der Musen.
„Und es war eine Zeit, schier so süß wie der Lenz da draußen.
Von meines Vaters Stirn verzog sich allgemach die Sorgenfalte,
und ein weicher Schimmer legte sich darauf, so er von Conradus
sprach, meine Mutter aber folgete ihm mit glänzenden Augen; ihre
Blicke, die wanderten wohl von ihm zu mir, und ein fast schalkhaft
Lächeln zitterte ihr um den ernsten Mund.
Droben saß Conradus ob seinen Büchern; eine Predigt that er ersinnen auf Pfingsten, ließ sich gar selten sehen und hatt' sein Stüblein nach dem Garten hinaus verleget, auf daß er ungestöret könne studiren. Zuweilen, wenn ich den Gartenweg hinaufschritt, stund er am Fenster und blickte in gar tiefen Gedanken in das grüne schwankende Geäst der Linden, oft auch hörete ich ihn auf- und abwandeln dort oben, schier ruhelos, stundenlang.
Eines Tages aber kam er herunter, da er mich erblickte.
,Du siehst bleich aus, Conrade, studirst schier allzu viel.‘
Er aber schüttelte das Haupt.
[854] ‚Nimmer genung!‘ antwortete er, und, gleich wie unter schwerer Last erseufzend, setzte er fragend hinzu: ‚Sag’ an, bin ich nicht zu jung, Christiane, zu solch ernstem Beruf?‘
,Nein, nein, Conrade; thut es doch nimmer die Jugend, sondern blos die Fähigkeit, so dem Amte vorzustehen vermag, und dieses weißt Du und kennest Du gar wohl.‘
‚Also meinet der Vater auch,‘ antwortete er, ‚und mir banget dennoch.‘
Da lachte ich ihm hell in’s jungschöne Antlitz, aber still heimlich sorgte ich mich doch um ihn, dieweil er oftmalen gereizt und zornig war, wo ihm doch ein Leide nimmer geschehen war. So ging er Hedwigen schier unfreundlich aus dem Wege und achtete ihrer nicht mehr, denn der grauen Katze, so auf der Treppen an ihm vorüber strich; sie war ihm deß nicht böse, schauete ihm höchstens nach mit sonderbarlichem Lächeln. Am Himmelfahrtstage aber, da wir unter der Linden im Garten saßen und Hedwige zu unserer Arbeit ein fein Liedlein sang, da warf er unwirsch sein Fensterlein zu, also daß ein Glas klirrend in Stücke ging; nur Hedwige that, als habe sie nichts bemerket, und sang weiter, nicht lauter, noch leiser, und dennoch meinete ich, es klinge weicher annoch und berückender, denn zuvor.
,Deines Singens sei nun genung, Hedwige!‘ bat ich; ‚denn wisse, es störet den Conradus.‘
Da lachte sie trutziglich; das scholl silberhell und süße, und oben wurde hastiglich ein Stuhl gerückt; nun kamen Schritte auf der Stiegen herunter, und Conradus ging nicht gar weit von uns vorüber, ohn’ aufzusehen, hastiglich, als könne er nimmer früh genung aus unserer Nähe kommen; dann klang die Gartenpforte, und es ward gar stille.
‚Es ist nimmer recht,‘ sagte ich, ‚Du alterirst ihn in seiner Arbeit, Hedwige. Wie doch soll er Etwas schaffen, so die Herzen der Hörer packet und zu Gott führet, wenn Du solch weltlich Narrethei hier unten treibest!‘
Sie aber antwortete nicht, sondern stund auf und ging in den Garten hinein, und da nach einer Weile die Mutter ihrer begehrete, war sie nirgendwo zu finden.
In der Dämmerung aber kam Conradus zurücke, und ich hörte, wie er stracks in meines Vaters Stube trat. Dorten blieb er lange, und die Abendsuppe, so die Base unter der Linden aufgetragen, die ward kalt und mußte wieder hinweg genommen werden. Da es aber mehr und mehr dunkelte, beschied mich die Mutter in des Vaters Gemach. Es war annoch kein Licht angezündet; nur der Mond blinkte als schmale Sichel durch das Fensterlein und zeigte mir des Vaters bleich Antlitz, so in den Kissen des Krankenstuhles ruhete.
,Christiane!‘ rief er, und seine Stimme klang milder, denn ich sie jemalen gehört, ‚komme näher! Ich habe Dir Etliches zu vermelden.‘
Und ich that, wie er mich geheißen, und wartete; aber es war, als fände er nimmer die richtigen Worte.
‚Ich meine den Conradus, Kind,‘ hub er endlich an, ‚ich denke, Du habest ihn allzeit herzlich geliebet, gleichwie einen Bruder?‘
‚Ja, Vater,‘ sagte ich stockend.
‚Nun aber ist es an der Zeit, Dir kund zu thun, daß er so wenig zu unserer Sippe gehöret, wie der Fremdling, der da an des Hauses Thür vorüber gehet – – Er ist nimmer mein Sohn, wie er nimmer Dein leiblicher Bruder ist –‘
Er schwieg, und seine klugen Augen, die sahen durch die Dämmerung gar bedeutsam herüber zu mir. Dieweil ich nun nicht antwortete, fragte er wiederum:
,Wußtest Du Solches, Christiane?‘
‚Ja,‘ erwiderte ich gar bang und gepreßt.
‚So ist Dir auch kund worden, wer seine Eltern sind?‘
Ich senkete stumm das Haupt, unsicher, wie ich ihm sollte Antwort thun.
‚Woher möchte Dir auch solche Kunde kommen,‘ fuhr er fort, ‚da es ein fein difficil Geheimniß ist? Thuet auch hoffentlich keinen Schaden Deiner Gesinnung zu ihm. Ist ein treuer Gesell, der Conradus, wohl würdig eines guten Weibes. – Weiß nimmer, ob es wahr, was da die Mutter mir verstohlen hat zugetragen, daß Ihr Euch mit andern Augen anschauet, denn mit Bruder- und Schwesteraugen?‘
,Vater!‘ rief ich.
Er aber faßte meine Hand und zog mich näher, und ich knieete vor ihm in gar großer Herzensverwirrung.
,War von je ein traumhaft zerfahrener Knabe der Conradus,‘ fuhr er fort, ‚aber anitzo ist er ein ernster Mann worden, der binnen Kurzem sein Amt zu Gottes Ehre wird wohl verwalten. Hat mir vorhin gestanden, daß sein Herze sich zu Dir neige, und gemeinet, Du taugest wohl vor andern Jungfrauen zur jungen Pastorsfrau. Will sich Bescheid von Dir erholen am Pfingsttage nach seiner Predigt; Du aber mögest Dir reiflich überlegen, ob Du bei ihm ausharren willt für und für in Noth und Fährlichkeiten bis zu des Lebens Ende. Was saget Dein Herze dazu, Christiane? Willt Du in Lieb’ und Treue sein Ehegemahl sein?‘
Mir war es, als habe der Himmel sich jach hernieder gelassen in das finstere Gemach und ein überirdisch Glänzen blende meine Augen.
,Ja, Vater, ja zu tausendmalen!‘ stammelte ich.
‚Und ist Dir sein dunkel Herkommen kein Stein des Anstoßes, vielliebe Tochter?‘
,Nein, o nein! Nur lieber will ich ihn drob halten – für Alles, so ihm fehlet, will ich ihm noch mehr der Liebe geben.‘
‚So werde ich es ihm vermelden, Du aber gehe stracks hinauf in Dein Stüblein und besprich Dich mit dem, der unseres Herzens Gedanken erforschet!‘
Da wankte ich hinaus aus dem Gemach und stieg hastiglich treppauf, und in meinem stillen Kämmerlein, da sank ich auf die Kniee vor dem Bette nieder, barg den Kopf in die Kissen und wußte schier nimmer, was beginnen in meines Glückes Ueberschwang. Schwer dünkete es mich, allein zu tragen die gar so süße Seligkeit, und Conradus weilete doch ganz nahe bei mir in seinem Stübchen; thät er denn nimmer ahnen, daß ich mich nach ihm sehnete? Unstät strich ich das Haar zurücke, so mir über die Stirn gefallen, und öffnete das Fensterlein; kühle Nachtluft aber wehete mich an; tiefschweigend und dunkel lag der Garten; nur aus Conradus’ Fenster fiel ein gar heller Schein auf die Blätter des Buschwerkes, darinnen aber wanderte schier ruhelos ein Schatten auf und ab. Ob er an mich dachte und an die Antwort, so ich geben würde? Ach, mußte er denn nicht allbereits wissen, daß sie nicht anders lauten konnte als ‚Ja‘ und ‚Ja‘ in alle Ewigkeit?
Da hub leise eine Nachtigall an zu schlagen in der Linden, süß und schwermüthiglich klang es; ich aber bog mich weit hinaus; ‚Conrade! Conrade!‘ kam es leise über die Lippen mein, und erschrocken bis in’s Herze hinein hielt ich inne. Aber Niemand antwortete; nur die Nachtigall, die sang fürder und fürder, und ich mußte weinen und wußte schier nimmer warum. –
Langsam vergingen die Tage, und ich frug mich oftmalen, wie der traute Mann nur vermöge an mir vorüberzugehen ohn’ einen Blick, da er mich doch liebete? Sei gelehrter Herren Art, tröstete die Base, da ich ihn auf der Stiegen getroffen mit blasserem Antlitz denn sonsten, und also tief in Gedanken, daß er mich nimmer bemerkte, ob mein Gewand ihn gleich streifete. Sei gelehrter Herren Art, daß sie nicht sonderlich Acht haben auf das, so um sie vorgehet. ,Wirst Dich darein finden müssen, Lammelein,‘ sagte die Alte, ‚ihn nimmer zu stören und fein duldsam zu warten, bis daß es ihn gelüstet, mit Dir zu reden. Ein anderer Mann hat alleweg Zeit zu necken und zu kosen, ist aber nicht paßlich für einen geistlichen Herrn – war Dein Vater doch auch nimmer anders. Hab’s all mein Lebtag gesagt, ist kein leicht Ding eines gelehrten Herrn Weib zu sein.‘
‚Ja,‘ dachte ich derweil bei mir, ‚wird schon recht sein, was die Base da redet‘; denn ob ich mich auch sehnete, sein lieb Antlitz zu schauen, Conradus saß fürder wie hingebannet über seinen Büchern, also daß ich mich schier darob wunderte, wie die Ausarbeitung eines Sermons mocht so gar lange Zeit erfordern. Unterweilen hörete ich ihn laut sprechen; allgewaltig klang zu solchen Stunden seine tiefe Stimme und gar wohllautend, just wie geschaffen für eines Predigers Vortrag, allso daß ich oftmalen auf der Treppe horchte, konnte ich gleich die Worte nimmer verstehen. Und heimlich saß ich und nähete mir ein blau Gewand; das hatte ein rothbraun Sammetstreiflein am Rande, und da die Mutter mich dabei ertappte, da geschah es, daß sie mir zwo silberne Spangen brachte; die waren mit Kettlein an einander gefüget, auf daß das Mieder über der Brust sich fein züchtiglich schlösse. Und lächelnd sagte sie: ‚Die prangeten auf meinem Hochzeitskleide.‘
Hedwige aber, die war still und gar blaß worden seit [855] jenem Nachmittage, da sie unter der Linden gesungen. So oft sie jedoch Conradus sahe, da war es allsogleich, als erbleiche ihr Antlitz noch mehr denn sonsten, und als blitzeten die braunen Augen ihn finster an. Zuweilen dünkete es mich, ihre Blicke ruheten groß und gar böse auf mir, also daß mir sehr bange ward um’s Herze, gleichsam als drückete mich ein Alp.
‚Weiß nimmer, was ihr fehlet,‘ sagte die Base, ‚meine mit unter, sie sei krank worden im Kopfe: so närrisch Zeug schwätzet sie im Schlafe.‘
Schier stundenlang konnt sie am Fenster lehnen und müßiglich dem Treiben auf dem Schloßplatze zuschauen oder die sehnsuchtbrennenden Augen ohn Unterlaß auf das Komödienhaus richten.
Eines Abends aber, da ich hastiglich die Thür ihres Kämmerleins öffnete, o, da stund sie, verwunderlich anzusehen, vor ihrem Spiegelein, wandte sich stracks und streckte mir herrisch den Arm entgegen, daß ich verschüchtert die Thür weit offen ließ und auf der Schwelle verharrete. Hatte sich ein weiß Laken, gleichsam als sei es ein faltig Gewand, sorgfältiglich umgehangen und ein fein Nesseltuch wie einen Schleier am Hinterkopfe aufgestecket, und so stund sie da, und die Sonnenstrahlen spieleten um ihr braun Haar und den feinen Arm, und jach einen Schritt zu mir thuend, begunnete sie schier feierlich zu reden:
,Was willt Du allhier? Ist in Deiner Rede doch nichts mir erfreulich, noch wird es mir je zur Freude sein, und auch meine Rede ist gar anders, denn solche, so Dir wohlgefällt.‘
‚Hedwige!‘ schrie ich entsetzt, ‚Du redest im Fieber.‘ Und ich faßte ihre Hand. Sie aber machte sich kräftiglich los und stieß mich zurücke.
‚So geh’ doch!‘ sprach sie bitter, ‚sage es, so Du willt, dem Vater – ist mir recht, so er mich hinaus weiset; dann bin ich frei wie ein Vögelein und brauch’ mich nimmer eingemauert zu härmen in diesem Hause, so schlimmer ist denn ein Kloster.‘
‚Sei nicht undankbar!‘ rief ich gekränkt, ‚was begehrest Du für Freiheit? Was wehret man Dir allhier?‘
‚So ich es Dir sagte, ach Du würdest es dennoch nimmer verstehen,‘ gegenredete sie, und ein spöttisch Lächeln flog um ihren Mund. ‚Hast Du ein Ahnen, daß es auch Höheres giebt im Menschenleben, denn ein engkleines Glück? Kannst Du es fassen, daß auch ein Frauenherze sich nach Anderem kann sehnen, als nach eitel Spinnrad, Kochtopf und Kinderstüblein? O gehe doch! Wie kannst Du Solches wissen? Zeiget doch Dein sanft Antlitz allzeit ein zufrieden Lächeln, daß man schier neidisch werden möcht’, wenn es sich lohnete um den faden Mehlbrei, so Deines Lebens geistige Nahrung ausmachet.‘
Da ward ich stumm und vermocht nimmermehr zu antworten; als ich mich aber ganz rathlos wandte, stund Conradus in der Thür und schauete an mir vorüber auf das schönschlanke Weib in der fremdartigen Gewandung, um das die Sonnenstrahlen just einen güldenen Schleier woben.
‚Conrade,‘ fragte ich bang, ‚was ist worden mit ihr? Sie redet irr’; sprich Du doch ein Wörtlein zu ihr! –‘
Da wanderte sein Blick langsam von ihr zu mir, von mir zu ihr, und seine lieben Augen die starreten mich an aus dem bleichen Antlitze, als schaueten sie ängstiglich in leere Luft, so kalt und so todt.
,Conrade!‘ wollt ich rufen; denn das Herze that mir jählings wehe, aber das Wort erstarb auf meinen Lippen, und er wendete sich wieder zu Hedwige.
,Was sagtest Du alleweile, als die Schwester zu Dir trat?‘ fragte er sie sanft, ‚und wo hörtest Du Solches?‘
Sie war purpurn erglühet, aber als fühle sie tiefinnen, daß ihr nimmer ein strenger Richter gegenüberstünde, trat sie trutziglich einen Schritt näher zu ihm heran, faßte seine Hand und zog ihn an’s offene Fenster.
‚Dorten!‘ rief sie und deutete auf das Komödienhaus, ‚und so es eine Sünde war, möge mir Gott verzeihen – ich kann es nimmer glauben, daß so Edles und Schönes verdammlich sei.‘
Er aber erwiderte kein Wörtlein, blickte nur gleich wie träumend nach dem weißen Hause hinüber.
,Wen sahest Du alldort die Antigone spielen?‘ fragte er dann. Da kam wieder Leben in das Mägdelein, und wie schier verzückt hub sie die gefalteten Hände empor.
,Wen? rief sie. ‚Ei, Conrade, das rathet Ihr nimmer! Aber schön war sie – meiner Treu! – erhaben schön und hoheitsvoll, wie sie so daher trat in ihrer weißen Gewandung, viel herben Schmerz und gar große Trauer in dem Angesicht. Ihr wißt, der Hof spielete gestern zur höchsteignen Belustigung, und die alte Silberschließerin, welcher ich mannigmal ein einsam Stündlein vertreiben helfe, die hat mich fein heimlich mit hineingenommen in den Kunsttempel; vom dunkelsten Winkel aus habe ich sie geschauet, Prinzessin Liselotte, als Antigone –‘
‚Prinzessin Liselotte?‘ fragte er, und das Herze klopfte mir hoch bis zum Zerspringen.
‚Ja, Conrade! O, wäret Ihr dabei gewesen!‘ Und lieblich bittend setzte sie hinzu: ‚Zürnet Ihr mir darob? Saget auch Ihr, daß das Agiren in der Komödie ein sündhaft Ding sei?‘
Da wandte er sich jählings um: sein blaß Gesicht war nunmehro plötzlich entfachet zu eitel Feuer und Flammen; stracks verließ er das Gemach, ohn’ mich anzuschauen – Hedwige aber riß sich den Narrentand vom Kopfe, warf ihn zur Erde und hub also bitterlich zu weinen an, daß ich meinete, sie wolle schier verzagen. In mir war eine Stimme laut worden, so da predigte: Christel, Christel, mußt eilig zum Vater gehen und ihm sagen all das, so Du geschauet hast.
Als ich aber fürbaß schritt, stund Conradus vor der Thür an der Treppen.
,Christiane,‘ fragte er, ‚willt Du zu dem Vater gehen?‘
Das war nun das erste Wörtlein, so er an mich richtete seit jenem Tage, da er um mich geworben.
‚Ja!‘ erwiderte ich, ‚denn Hedwige ist mir ein Aergerniß, dieweil sie meines Vaters Gebot also mißachtet. Ach, ob sie gleich in unserem Hause wohnet, so hat sie doch allbereits Schaden genommen an ihrer Seele.‘
Er sagte nichts, sah mich nur an – ich weiß nimmer was Alles in seinen Augen spielte: Mitleid, Vorwurf und Bitten, stummes trauriges Bitten.
‚So gehe denn!‘ sprach er endlich und war alsogleich in sein Studirstüblein verschwunden, daß es mich dünkete, er sei zürnend von mir gangen. Da ich aber bei meinem Vater eintrat, schalt dieser:
,Wo bleibest Du gar so lange? Hast Du denn ganz vergessen, daß ich Dir das Ordinations-Sermönlein wollt dictiren für Conradus Verordnung?‘
Ich setzte mich flugs zum Schreiben, und da ich sahe, er wär ungeduldig, hütete ich mich fein, ihn zu erzürnen und verschwieg all das, so ich gehöret, und schrieb, wie er dictirete. Er aber hub also an:
,Jeremias, 1. Cap. Vers 6 und 7. Ach Herr, Herr, ich taug nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Da sprach der Herr zu ihm, sage nicht: Ich bin zu jung, sondern Du solt gehen, wohin ich Dich sende, und predigen, was ich Dich heiße.‘
Und dann schrieb ich weiter, wie es der Vater fein auslegete, daß Conradus durch sonderbare Schickung Gottes, jung an Jahren zu hoher Ehre berufen, wie er solle streben nach einem unbefleckten Wandel und unsträflicher Arbeit; denn Klugheit sei das rechte graue Haar und gottselig Leben das rechte Alter. Und also schloß es:
,Gegenwärtiger Conradus, genannt Ehrentraut, tritt itzo an seines alten Pflegevaters, des Hofpredigers Sebastianus Ehrentraut Stelle, da er ordentlicher Weis’ zu Helmstädt Gottes Wort und reine Kirchenlehre wohl studiret und gefasset hat, auch versprochen und gelobet, nicht allein bei solcher Lehre beständig zu verharren, sondern auch sein Ambt mit gebührender Treu und Fleiß zu verrichten, und wird itzo auf vorgehendes Examen apostolischer Weis’ ordiniret.‘
Ich mußte nunmehro laut vorlesen, was ich geschrieben, und da just meines Vaters Stellvertreter kam, ein alter Mann, gar ruhig und milde, hörete er zu, da ich las, und sagte alsdann:
‚Also wolle die Jungfer noch hinzuschreiben: „So möge Gott seinen reichen Segen geben, auf daß er möge treten in seines alten lieben Vaters Fußstapfen und gleichen Nutzen schaffen in seiner Kirche!“‘
Und da ich es geschrieben, gebot mein Vater:
‚Nun gehe und trage es Conradus hinauf, auf daß er es lese, und frage ihn, ob er zufrieden mit der Rede, so gehalten werden soll bei seiner Ordination; er möge mir selbsten Bescheid geben.‘
Beklommen trat ich in des liebwerthen Jünglings Gemach; er hatte mein Pochen wohl nimmer vernommen, saß er doch vor dem [856] Schreibpult über einer Menge Bücher und Schriften, schrieb aber nimmer; sein dunkellockig Haar, das war schier in die Stirn gefallen vor eitel Feuer des Lesens. Ich trat leise zu ihm hinan, und wie ich ihm über die Schulter schaute, da fielen meine Augen auf ein Büchlein, so auf der geöffneten Bibel lag; ich las: ,Antigone, ein griechisch Schauspiel; verdeutschet von – –‘ Den Namen vermocht ich nimmer zu entziffern, sintemal ich heftiglich erschrak. Ich legete still den Verordnungssermon auf das Tischlein und hub mich leise hinweg: Conradus aber rührte sich nicht, und da ich die Thür fürsichtiglich schloß, da saß er annoch immer und starrete auf das Büchlein.
Ging Alles gleichwohl seinen ruhigen Gang im Hause weiter, dieweil ich nicht den Muth hatt, Hedwige anzuklagen ob ihres Ungehorsams, noch Unruhe stiften mocht in meiner Eltern Herzen. Konnte aber nicht hindern, daß mir gar traurig zu Muthe ward und ich das heilige Pfingstfest herbeiwünschte, meinend, so ich erst Conradus verlobte Braut, müsse Alles anders werden; glaubte ich doch, er ängstige sich mehr denn nöthig ob seiner ersten Predigt und des ernsten Berufes, so seiner warte.
Da aber die letzte Woche vor Pfingsten anhub, zog ein groß Wirthschaften ein und Rumoren in unserem Hause, und der Base Schlüsselbund klirrete ungleich lauter denn zuvor. Alles war blinksauber im Hause, und Gänge und Treppen halleten wieder von eitel fröhlichem Thun; Speisekammer und Keller waren wohl gefüllet, wie sonsten nur zur heiligen Weihnachtszeit, und immer noch mehr schaffte die Mutter herzu, sintemal viel Besuch zu erwarten stund von unserer Sippe.
Manch Etwas, das ich erlebet, ist undeutlich worden und verstaubet in meiner Seele, dieses Eine aber stehet noch anitzt vor mir in vieltrauriger Deutlichkeit, also daß auch nicht das Kleinste fehlet in meinem Gedächtnisse von jener Stunde, so mich elend gemacht für gar lange Zeit. Wie oft träume ich noch itzo den schweren Traum, wie oft nehmen die Tage, so vergangen sind, mich also in ihren Bann, daß ich sie wieder durchlebe mit dem nämlichen Weh wie dazumal. Dann wird es schier lebendig um mich in dem einsamen Gemach; dann tickt die Uhr, die alte, wieder laut und gar vernehmlich durch die Stille; dann rauschet es in der Linden wie eh’, und es klingen die Worte in meinen Ohren, die Worte, so mir das Herze gebrochen, und die Pfingstglocken, welche den bittersten Tag meines Lebens begrüßeten. Es packet mich das alte Herzeleid, und es jagt mich unstät hinaus aus dem Stüblein, hinunter in den Garten und fort, fort, nur fort – auf den Waldweg hinaus; gar lange dauert es, eh ich ruhig heimzukehren vermag in die Einsamkeit des altlieben Hauses.
Zween Tage vor Pfingsten, da schon die Maienbäume an der Hausthür und im Flur prangten und ihren lieblichen Duft verspendeten, da saß ich mit der Hedwige im Garten; wir wanden Kränze, so die Kanzel schmücken sollten, allwo Conradus zum ersten Male stehen würde im Kleide des Herrn. Hedwigens Hände zitterten, wenn immer sie Röslein und blühend Geisblatt in das grüne Laub banden; sie war gar hastiglich dabei, und endlich fragte sie:
‚Dünket es Dich nicht schwer, Christiane, einem Menschen zu vergeben, so er Dir bitter Leid zugefüget?‘
Sie sah mich so seltsam an, und ihre Brust hob sich schwer unter dem Leibchen von braunem Kartteck. Da ich sie aber verwundert anschauete, wandte sie scheu ihre Augen von mir ab und wühlte unter den Blumen und nahm dennoch nicht eine herfür.
‚Ich weiß es nimmer, Hedwige,‘ erwiderte ich, ‚denn bis annoch hat Niemand mir kein Leid zugefüget; aber so es geschähe, ich würde mich allzeit mühen, seiner in Milde zu gedenken.‘
Sie schwieg, und hub wieder an zu suchen unter dem Laube. Ich meinte, ihre Augen seien schier feucht worden, und rückete dichter zu ihr hinan.
‚Warum thust Du solch Fragen, Hedwige, und was macht Dich gar so traurig?‘ forschete ich, und ein tief Mitleid um sie überkam mich, dieweil sie ein arm verlassen Kind war, zu tausendmalen ärmer denn ich, die ich Eltern und Vaterhaus hatte und einem vielsüßen Glücke entgegenschritt. Und ich legte die Arme um ihren Hals: ‚Hedwige, mögest Du doch glücklich sein dereinst, gleichwie ich es zu werden gedenke in Bälde, mögest Dich allzeit erinnern, daß Du ein treu Herze an mir habest, so Du jemals solltest in Aengsten sein – an mir und an Conradus.‘
Da sprang sie empor, und ihre Hand stieß mich zurücke, also daß es mich schier schmerzte.
,Laß mich!‘ rief sie.
Ihre Lippen aber bebten, und dennoch verstummte sie. Nunmehro hub sie wieder hastig an, Blumen zu den Kränzen zu lesen, und band sie doch ungleich und riß sie wieder auseinander, und endlich warf sie das Gewind auf die Steinbank, da sie gesessen, und eilte aus der Lauben.
Wußte mir nicht zu deuten, was all das war; hatte noch kein leis Ahnen, daß ihr Gewissen allbereits kämpfte mit der allgewaltigsten Leidenschaft, so ein Menschenherze zu packen vermag und so man nur besieget, um selber daran zu verbluten; hatte kein Ahnen, daß der Dolch nunmehro gezücket, mir den Todesstoß zu geben, und daß nur noch ein feig Zittern, sich mit übergroßer Schuld zu beladen, sie solch Fragen thun ließ. Vollendete allein das Kränzeweben, bis daß mein fertig Werk anmuthig vor mir lag in seiner vollen Farbenpracht, und die Base es lobete, da sie just durch den Garten schritt.
Und so brach der heilige Abend an vor Pfingsten, und gar stille und feierlich ward es in Haus und Garten; der Nachtwind flüsterte leise in den Bäumen; sonst regte sich nichts umher. – Zur Abendsuppen fehlete Conradus. Ward wenig gesprochen, und ich rührte die Speise nimmer an; auch Hedwige vermocht nicht zu essen und sah sehr krank aus, also daß die Base ihr ein Tränklein zusagte für die Nacht. Schier geräuschlos ward die Mahlzeit beendet, und danach ging Jedes still für sich hinaus.
In des Vaters Stuben spielete noch leis der Abendschein, und ließ des alten Mannes ernst Gesicht rosiglich erglühen.
‚So werd ich denn morgen meines Lebens Wunsch erfüllet sehen,‘ sprach er, da ich ihn zur ‚gute Nacht‘ geküßt, ‚hat Gott es nicht allzeit gnädig mit uns gefüget?‘ – Und da ich hinaus ging, mahnete er: ‚Seid fein still, auf daß Conradus nimmer gestöret werde heut Abend!‘
So ging ich hinauf in mein still Kämmerlein, und nahm das Gewand fürsichtlich aus der Truhe, das ich morgen zu tragen gedachte, und räumte Alles herfür in herzklopfender Seligkeit; schnitt auch von dem Myrtestöcklein ein paar Zweige und eins vom Rosmarin, auf daß ich es zierlich auf das Gesangbuch legen thät. Und da Alles festlich bereitet war, löschete ich das Licht und setzte mich an das offne Fensterlein und hub an zu träumen von des morgenden Tages Glück.
War ein schwüler, dunkler Abend, ein Abend des Junymonds; erstickend dünkte es mich in dem engen Raum – oder war es nur mein eigen Blut, so heiß zum Herzen stieß? Durch das Lindengeäst zuckte ferner Wetterschein, und betäubend zog das Duften des Hollunders in mein einsam Gemach.
Weiß nimmer, wie es kam, daß ich eingeschlummert, und nun in jähem Schrecken emporfuhr. Meinete, ich habe schwer geträumet; denn also konnt es doch nimmer Wahrheit sein. War mir, als habe es mein Ohr getroffen wie flüsternd Liebeswort. Ha, und was vernahm ich itzo? Träumte ich denn annoch? Deutlich, deutlich, daß mein Herze sich wild emporbäumete in Weh und Zorn, scholl es jetzo herauf zu mir:
‚Hedwige! Hedwige, ich kann nimmer anders. Soll Gott mir gnädig sein in ewiger Barmherzigkeit, – ist nimmer so große Sünde, als da ich sein Haus entweihe mit falschem Eid.‘
Dann tiefes Schweigen – und wieder sein Sprechen, so süße. daß es mich durchschauerte in Wonne und Schmerz und mich dennoch zorniglich die Hände ballen ließ und mich rüttelte in schier ohnmächtigem Grimm.
‚Was ist alles Leid, was ist Fremde und Verachtung anitzt noch, Hedwige? Ein Herze, so mich verstehet, – gilt es nicht mehr denn Alles?‘
Und ich hörte ein unterdrückt Jauchzen von Hedwige’s Lippen: wie ein Jubelruf scholl es – und dann hub ein Flüstern an, ein Raunen, so ich nicht verstund, und nun hallten Schritte auf der Stiegen, und die Thür ging. Schwer sank mein Haupt auf die Fensterbank, und die Hände mein fasseten in einander, und ich wußte nimmer, ob es Wachen gewesen, ob Traum? Nur ein kurz Weilchen – wie Schuppen fiel es von meinen Augen; war ich denn blind bis itzo? Er hatt mich nimmer geliebet, halt nur gegriffen nach mir wie Einer in Wassersnoth nach dem Strohhalm greifet, der daher schwimmet; meinete seiner Leidenschaft Herr zu werden, so er an Amt und Weib gebunden, und noch in letzter Stunde
[857][858] übermannete es ihn also, daß er unterlag. – Was mußte nunmehro kommen?
In Wirrniß und Angst schoß Solches durch mein arm Hirn, bis daß ich mich aufraffte und wankend durch das Gemach schritt. Was ich gewollt, ich weiß es nimmer – ich stund auf dem Flur. Wohl dacht’ ich, zu ihm zu gehen, ihm zu sagen, daß sein Glücke höher sei für mich, denn mein eigen, daß ich ihn seines Wortes ledig spräche, daß ich Hedwige segnen wollt, so er sie lieber habe, denn mich. Da ich aber das Thürschloß berührte, sank meine Hand zurücke und hatt nimmer die Kraft, sich wiederum zu heben, und wie im Fieberfrost hockte ich mich nieder auf die Schwelle seiner Thür und starrete in das Dunkel; – wie lange, weiß ich nimmer.
Nichts rührete sich im Hause: nur die alte Dielenuhr, die schwenkte ihren Pendel emsiglich, unbekümmert darob, was ihr Gang bringe, ob süße Lust, ab finstere Schmerzensstunden. Und mählich lichtete sich das Dunkel, und der erste Morgenschein graute durch das Fensterlein über der Stiegen. Da taumelte ich plötzlich empor – mir war, als rege es sich sacht, ganz sachte in Conradus Gemach; dicht an die Wand drückte ich mich; denn itzo öffnete sich seine Thür, und wahrhaftiglich! nun trat er über die Schwelle herfür. Nah an mir vorüber that er gehn nach der Treppen, und dort blieb er stehen und stützte sich auf des Geländers Knauf. In der Dämmerniß aber sah ich sein blaß Gesicht und erkannte Ränzlein und Wanderstab, und langsam und schwer, gleichwie ein übermüder Mann, that er nun den ersten Schritt hinab, und müde und schwer hallten die Tritte sein vom Hausflur herauf; itzo hielt er den Fuß an; dann ging er wiederum fürder; leise klinkte die Gartenthür, und nun nun ward Alles gar still, grauenhaft still allum.
,Conrade! Conrade!‘ wollt ich rufen und vermocht es nimmer. So mag der Bann auf Einem liegen, der da scheintodt zur Gruft getragen wird, fühlend, wie der Tag um ihn schwinde, aber schier ohnmächtig, kund zu thun, daß er annoch lebe. ‚Conrade, Conrade!‘ schrie ich endlich auf, also daß ich mich entsetzete vor dem Klang meiner Stimme, und stürzte in den Garten nunter und eilete die feuchten Wege entlang zur Gartenpforten; die stund halb offen, als habe Jemand in Eil und Hast sie zu schließen vergessen. Einsam lag nun der Weg vor mir, so um die Waldecke führet; in dem grauen Morgenlicht aber gewahreten meine Augen ein weiß Spitzentüchlein; das hing thaufeucht und schwer am Hagedorn neben der Pfordten, und ich kannte das Tüchlein gar wohl, sintemal Hedwige es um den Hals getragen am Tage zuvor.
‚Mitsammen – mit ihr!‘ stammelte ich; es war, als sollten auf’s Neu meine Sinne vergehen, und ich faßte mit meinen zwo Händen in des Strauches Gezweig, nimmer achtend der Dornen, so mich verwundeten: mit todten Augen starrete ich in die Ferne hinaus; das Gefühl erschreckender Leere stieg mählich in mir empor, kalt und gar unheimlich; hinter mir lag meiner Jugend Garten, darinnen die Rosen geblühet bis itzo – vor mir in grauen Dämmernissen gähnete ein endlos weites Nichts –
Und derweilen ward es hell und heller; Purpurgluth lagerte sich im Osten, und eine Lerche, die stieg jubilirend in den Aether empor.
So stund ich, bis die Base mich aufrüttelte und ihr alt treu Antlitz mich entsetzet anschauete.
‚Daß Gott, daß Gott erbarm, Christiane!‘ stammelte ihr Mund schier zitternd. Und da ich aufsah, lag der Garten allum im güldenen Morgenlicht: die Vöglein sungen in den Bäumen, und vom Schloßthurm huben die Glocken zu läuten an –.
‚Pfingsten?‘ fragte ich.
Das alte Weiblein aber ergriff herzinniglich meine Hand.
‚Träumest Du annoch Christel? Weißt Du gar nimmer, was geschehen? Dein Liebster, der ist fort, und mitsammen mit ihm die saubere Dirn, und in der Stuben, da kämpfet Dein Vater alleweil den letzten Kampf. – Besinne Dich, Mädel, und komm, so Du ihn noch lebend willt sehen!‘
Da ich noch immer stund und es nimmer zu fassen vermocht, da zog sie mich schier gewaltsam durch den Garten; denn schon kamen fein festlich geputzte Leut‘ an dem Zaun vorbei, und sie schob mich fürsichtiglich über die Schwelle, da heute früh sein Fuß gegangen, und zerrete mich in des Vaters Gemach, und alldort lag mein Mütterlein vor dem Stuhle, darinnen er ruhete; sein Gesicht war weiß, gleichwie die Tücher, so man ihm unter das Haupt geschoben, und seine Hand hielt ein offen Brieflein krampfhaft zusammengeknittert. – Seitwärts aber harreten mit schier betrübten Mienen des Vaters Stellvertreter im Amtsornate und der Küster mit den heiligen Gefäßen, und der Medicus hielt des Kranken Hand und zählete ängstiglich seine Pulsschläge. Es war ein grauenhaft Schweigen im Gemach.
Da der Vater mich aber gewahrete, hub er an:
‚Mein armes Kindelein, Dir geschah am wehesten.‘
Und wieder ward es gar still. Dann rasselte die Schelle an der Hausthür, und der Sterbende richtete sich mühsamlich empor:
‚Er kommt anitzt – er kommt reuig zurücke! Schaffet Platz für ihn!‘
Da sich aber ungestüm die Thür aufthat, war es Walther, welcher sich weinend neben mich warf und des Vaters Knie umfaßte – und wiederum nach einer Weile, da schlug unseres Vaters Herze nicht mehr.
Draußen aber läuteten die Glocken zum drittenmale, und gar mächtiglich strömete das Volk zur Kirchen, um den Conradus alldort zu hören. Da stund die Base fein leise auf von ihrem Sesselein im Sterbezimmer und ging und verhängete die Fenster und that den Nachtriegel vorschieben an der Hauspfordten, dahinein Schande und Unehre geschlüpfet waren und mit ihnen im gar schweren Geleit der Tod. Und als der Vater war aufgebahret, saß ich in meinem Kämmerlein, davor sich die Linde wieget im Sonnenlicht; beten wollt’ ich – beten. Aber so oft ich auch anhub zu sprechen, stetiglich kam mir das Liedlein auf die Lippen, das Liedlein von Schuld und Sünde: ‚Es stund eine Lind in der Maiennacht –‘
Lange Jahre sind nunmehro dahin geflossen, als wie ein schwerer Traum. Ich war ganz still worden, that allzeit meine Schuldigkeit mit Spinnen und Nähen am Siechbette der Mutter – denn die war krank blieben seit jenem Tag der Schreckniß.
In des Vaters Stuben aber wohnete sein Nachfolger. Der war unbeweibt und duldete gern die Mutter und mich sammt der Base im viellieben Hause meiner Kindheit, also daß wir nimmer hinauszuziehen brauchten in das Wittwenhaus, so klein und unfreundlich unten im Städtlein liegt und annoch von einer hoch betagten Pastorswittib bewohnet ward. War mir Alles schier gleichgültig worden, und wann ein frischer Morgen anbrach und ich erwachte, so lag es gar schwer auf meiner Seelen gleichwie ein Alp: ‚Schon wieder ein Tag!‘ Und Abends freuete ich mich, daß er abermals vorübergegangen.
Walther hatte längsten Weib und Kind und stund als Förster droben in Wolferode; war ein tüchtiger Mann worden, der noch immer mit alter Liebe an uns hing. Nur so er des armen Conradus gedachte, da konnt er’s nimmer lassen, gar zorniglich zu reden und arg dareinzufahren. Dann aber, so sein Zorn verrauchet war, sah er mich an schier wehmüthiglich; ich aber, ich ging fein still hinaus; denn solch Reden that mir wehe.
Conradus! Es war bis annoch kein Tag vergangen, so ich nicht an ihn gedacht. Hatt nimmer Kunde erhalten von ihm und wußt nicht, wohin ihn das Schicksal verschlagen – die Welt ist gar weit und groß. Wollt aber auch keine Botschaft von ihm; thät nur sein Andenken pflegen tief, tief im Herzen als wie das eines Todten, um den zu trauern man nimmer kann aufhören; meinete auch bisweilen, er wäre allbereits todt – und traun! süß und versöhnend war solch Gedanke. –
Stellete ich mir aber für, daß er noch lebe und neben ihr lebe, neben Hedwige, o, dann fraß ein dumpfer Schmerz an meinem Herzen, und heißroth stieg der Zorn und die Eifersucht in mir empor, und in eitel Qual und vielarger Scham rang sich das Geständniß los von meiner Seelen, daß es viel süßer sei, mit ihm in bitter Elend und groß Schanden all Tage zu leben, denn fern von ihm zu sein, ob auch in sicherer Geborgenheit. Dann malete ich mir aus, wie er sie inniglich in seinen Armen wiege und mit ihr fein zärtlich kose, und wie sie ihm die Lieder vorsang, die nämlichen Lieder, so ihn bethöret – wie er für sie sorgete und mit ihr theilete, sei es auch nur ein Stücklein Brod, in Elend und Jammer demüthiglich erbettelt.
Ich war ein herbfinster Weib worden. Konnt es denn anders sein? Blühen denn Rosen in einem Garten, so ein Hagelschlag getroffen?
Im Schlosse war Alles wie eh’. Nach wie vor trieb man [859] alldort viel weltlich Lust und Kurzweil, und noch itzo fuhr Prinzessin Liselotte mit dem holdseligen Lächeln an unserer Pforten vorbei, als seien die Jahre schier spurlos an ihrer stolzen Schönheit vorbeigangen; aber sie blickte nicht mehr herüber – was focht es sie an, wo er weilete, der einstens dieses Hauses Schutz genossen?
Da ich dreißig Jahr worden, stund ich wohl eines Herbstabends im Garten und schauete gar nachdenklich über den Zaun in das weitweite Land hinaus. Es tobte ein arger Wind: der jagte dustere Wolken am Himmel einher, feiner Regen aber sprühete mir in’s Angesicht und legte sich schier feucht auf mein Haar, in das sich allbereits manch Silberfädlein wob. Und da also der Sturm an meinen Kleidern zerrete und die letzten Blätter trutziglich von den Bäumen fegte, da geschah es, daß ich wiederum Conradus mußte gedenken, just wie es im Volksliede heißet vom armen Maidelein:
‚Wann ich gedenk’, wie es ihm geht,
Mein Herze in groß Trauern steht –
Ich kann nit fröhlich werden –‘
ich mußte gedenken, daß er niemalen würde den Pfad wieder daher kommen, so er oft gegangen. War auch heut wunderlich an ihn gemahnet worden; denn in dem Komödienhause agireten sie zur Nacht ‚Romeo und Julietta‘, so uns Conradus einstens an einem so trüben Herbstesabend wie heut hatt vorgelesen. Da hub ich an in düsteren Erinnerungen umherzuwandern im Gärtlein, lange Zeit, bis daß es dunkelte, und mein Gewand mir gar schwer und naß nachschleppte.
Da ich mich wieder der Pforten näherte, sah ich eine hohhehre Mannesgestalt darinnen stehen, vermocht aber im Zwielicht nimmer zu erkennen, weß Standes sie war, meinete auch, es sei wohl ein Bettler; denn viel fahrend Gesindel trieb sich annoch in unseren Bergen umher.
Und da ich gewöhnet, allzeit den Armen zu geben im Gedenken an Conradus, langete ich in die Gürteltasche und holete ein braunschweiger Mariengröschlein herfür und trat sonder Furcht näher, auf daß ich fragen könne, was er heische, und ob ihm vielleicht ein warm Suppen oder trocken Fußzeug noth thue?
Aber der, so dorten stund, rührete sich nimmer und nahm die dargebotene Gabe mit nichten an, sondern lehnte sich, gleich als ob er wanke, todtmüde an den Pfosten der Pforten. Da flog ein zitternd Ahnen jach durch meine Seele.
‚Christiane!‘ scholl es an mein arm Ohr, mit dem alten, viellieben Ton.
‚Conrade!‘ wollte ich itzo jauchzend erwidern; aber das that ich nimmer – nimmer. Ich hielt den Odem an, und mein Fuß, der wurzelte feste an der Erden: gewaltiglich und gar heiß bäumete sich der Stolz in mir auf tiefinnen – der Stolz verschmäheter Liebe.
‚Ich gehe stracks wieder, Christiane, nur einmal laß mich noch eintreten in den Garten, so meiner Kindheit Paradies gewesen! Nur einmal noch gieb mir die Hand, auf daß ich ruhig möge sterben! Schier tagelang, nächtelang bin ich gewandert einzig um das – so Du es aber nimmer willt, gehe ich fürbaß – nur sage, daß Du mir liebreich hast vergeben!‘
Er stund dicht vor mir und bot mir die Hand; wie hinweggetilget aus meinem Gedächtnisse war schier mit einem Schlage, was immer ich erduldet, und mit dem Ton von seiner Stimme that die Linde wieder rauschen und die Nachtigall wieder singen in süßem Schall, wie vor langen bangen Jahren.
,Conrade!‘ sagte ich, ‚komm hinein! Es ist ungastlich Wetter.‘
Er aber folgete mir, und es war, als schmerze ihn jedweder Schritt, so er vorwärts that, und sein Odem, der keuchte gar schwer und laut. Die Mutter schlummerte allbereits und die Base; so führete ich ihn in mein Kämmerlein, darinnen die Lampe brannte und das Feuer im Ofen spielete. Lange schauten wir einander an, ohn’ ein Wörtlein zu sagen; brennend rannen mir die Thränen aus den müden Augen.
Ein gebrochener Mann stund er vor mir, verfolgt von viel Elend und groß Noth. Hunger und Kummer, Krankheit und Jammer, die blickten mich an so wehmüthiglich aus des Mannes todtbleichem Antlitz und aus der armsäligen Gewandung, so er trug.
‚Das ist Alles, was ich erreichte, Christiane,‘ sagte er, und purpurn thäten zwo Flecken auf seinen Wangen glühen. ‚Apollo und die Musen, wahrlich! sie haben mir schlecht gelohnet.‘
Er lächelte trübsälig, und dann zuckte es bitter um seinen Mund, und wankend ließ er sich auf das Faulbette sinken, so ihm zunächst war.
‚Wer hieß Dich also von dannen ziehen?‘ wollt ich weinend rufen. Doch wozu itzo noch Vorwürfe? Stracks hub ich mich hinweg, auf daß ich ihm Speis und Trank brächte und trockene Kleidung: aber er weigerte sich dessen sonder Wank, ob ich ihm gleich manch gut Wörtlein gab.
,Kommet nunmehro allzu spät, Christiane – laß doch! Ist mir ganz wohl anitzt, so ich Dich noch einmal geschauet: vergönne mir zu rasten, ach! noch einen Augenblick! Dann biete ich Dir Ade! auf nimmer Wiedersehen.‘
‚Du bleibst, Conrade; ich laß Dich nimmer in diesen Wettergraus. Schlaf und erwärme Dich!‘
‚Ich vermag es nimmer,‘ erwiderte er, und es schüttelte ihn wie ein schwer Fieber.
Aber er rückte dennoch ein Stühllein zum Ofen und trank gar gierig den glühheißen Wein, so ich ihm gebracht.
,Der Vater, der ist alleweil todt, aus Kummer über mich,‘ hub er seufzend an, ,Deine vielsüße Jugend ist bitter worden durch mich, und ich bin das, was Du siehest.‘
‚Hattest weder Glück noch Stern, Conrade!‘
Er schüttelte das Haupt.
‚Es lässet sich balde sagen, was ich litt: die Kunst verstieß mich; das Weib, so ich geliebet, verrieth mich –‘
‚,Verrieth Dich?‘ rief ich schier außer mir – ,Hedwige?‘
‚So Du in Dresden nach dem Grafen Promnitz fragest, dann wird man Dir auch ihren Namen nennen,‘ flüsterte mit Zorn und Scham seine arme, halberstickte Stimme. ‚Und ich,‘ setzte er tonlos hinzu, ‚– meine Brust, o meine kranke Brust!‘ Und stöhnend sank er zurücke.
‚Conrade! herzlieber Conrade mein!‘ rief ich, ,ruh’ aus von Fremde und Leide – ruh’ nunmehro aus bei mir!‘
Da leuchteten sie auf noch einmal im alten Glanze, die schwarz-dunklen Augen, und der Tag strich vorüber, und der Abend brach schier purpurglühend an – da ist kommen ein herb Weh über mein geduldig Herze: der meines Lebens Glücke und Leid gewesen – nun kam er zu sterben. Noch ein freundlich Scheidelächeln – dann ist er hinüber gangen, leis, ganz leise. Ich aber saß und weinete.
Die Base hat ihn aufgebahret mit vielen Thränen; daß sie auch dieses noch mußt erleben! Das feine wappengestickte Tüchlein, so sie für ihn aufgehoben Jahre hindurch, deckte nun sein still Antlitz; in dem Gemach, das er einstens bewohnet, lag er; die Fenster stunden offen; ein scharfer Zugwind, der wehete die Vorhänge weit hinein und bewegete die weißen Tücher schier unheimlich an der Bahre.
Vom Schlosse droben aber schimmerten die Fenster in rothglühem Lichtglanz, und vom Berge herab, da kam im Fackelschein ein bunter Zug mit eitel Fröhlichkeit und viel musica; die Herrschaft begab sich just zur Komödie. Ich stund im Todtengemach am Fenster. Gleißnerisch blitzete die güldene Inschrift zu mir herüber: ‚Apollini et Musis.‘
Prinzeß Liselotte saß nun wohl alldort in Kurzweil und Scherzen, und er, dem sie das flammenheiße Geblüte vererbet, der lag allhier in der Stuben kalt und todt. Giebt es denn nimmermehr Treu auf der Erden?
Horch nun! Knarrete es nicht leise auf der Stiegen, und rauschte es nicht auf dem Estrich gleichwie sammten Frauengewand? Eine Hand tastete nach der Klinken, und über die Schwelle trat eine hohe Frauengestalt. In dem blassen Mondenschein blitzte ihr am Kleide viel gülden Spangenwerk unter dem Regentuch herfür, so sie übergeworfen, und mit gar raschen Schritten trat sie zu dem Schrein, darinnen er ruhete, und sie beugete sich über ihn, hob das Bahrtuch – – ich drückte mich mit schier heißem Herzweh tief in die Fensternische und lauschete ihrem Thun. Sie sprach kein Wörtlein; sie herzete ihn nur, so heiß, als wollte sie all das gut machen im Tode, so sie im Leben versäumet. Aber sie weinete nimmer; sie klagete nimmer, und leis, gleichwie sie kommen, war sie verschwunden, als sei’s ein Spuk. Wie sie hineingelanget unbemerkt, ich weiß es nicht, noch wer ihr die Todeskunde thät bringen. Auf Conradus’ Brust aber lag ein Lorbeerzweiglein, das einzige, so ihm das Leben getragen. – –
Neben der Linden haben wir ihn eingesenket; kein Kreuzlein schmücket das Grab. Auf der Steinbank daneben aber, da sitze ich [860] manch lieb Stündlein und hör die Nachtigall singen im Maimond und sehe die Blätter fallen von der Linden, und – – –“
Hier schloß das Manuscript.
Wie aus tiefem, lebensvollem Traume erwachte ich; die Flammen waren längst im Ofen erloschen, und das erste Morgendämmern füllte das Gemach.
Sagte ich es nicht, diese Wände können reden?
Noch ganz unter dem Banne des Gelesenen erhob ich mich und schritt aus dem Zimmer. In den Winkeln des weiten Flurs lag noch das Dunkel der Herbstnacht; nur durch das Fenster über der Treppe fiel ein matter Schein und zeigte mir die noch immer festen eichenen Stufen und das reichgeschnitzte altersbraune Geländer. Leicht fand ich die Thür, die an der gewölbten Küche vorüber zum Garten führte. Das war ein einfaches Gärtchen, wohl gänzlich verändert seit Christianens Zeit – im Laufe zweier Jahrhunderte; verwildert lag es vor mir im Morgengrauen. Aber mitten hindurch schritt noch immer ein Weg und führte zu der kleinen Pforte im Zaun, und rechts von mir, nahe dem Hause, stand sie, die Zeugin vergangener Lust und vergangenen Leids, die alte prächtige Linde, und ihre Zweige schmiegten sich nahe an die Butzenscheiben des kleinen Fensters im oberen Gestock – da lag Christianens Kämmerlein.
Ich ging hinüber und betrachtete die alte Steinbank; einfach, ohne Lehne, ruhte sie auf zwei feingemeißelten aufrecht sitzenden Greifen. Welkes Laub lag dicht am Boden umher und verdeckte wohl die Stelle, wo er eingesenkt worden war, der arme Conrad. Ich suchte mit dem Fuß, und richtig: unter den feuchten Blättern lag ein verwitterter Grabstein:
A. Domini 1680 –“
nichts weiter stand darauf zu lesen, und auch das Wenige war schon recht undeutlich, abgetreten, kaum noch erkennbar.
Allmählich ward es hell und heller; die Sperlinge begannen in den Bäumen zu lärmen, und plötzlich stand Garten und Haus im blendenden Morgensonnenschein; leise bewegten sich die Wipfel der Linde im Frühwind, und in den gewölbten Bogen der Eingangsthür trat Dorchen, so innig, wie der Morgen selbst.
„Ei, Sie sind hier, Herr Baumeister? Ich bringe den Kaffee. Großmutter hat Ihre Lampe die ganze Nacht über durch die Laden schimmern sehen; schliefen Sie denn gar nicht?“ fügte sie, mich betrachtend, hinzu.
„Nein, Dorchen, ich habe gelesen,“ erwiderte ich.
„Die alten Papiere von der Christiane?“ forschte sie. „Gelt, es ist traurig? Großmutter sagt, ihre Großmutter hätte sie noch gekannt; ein steinaltes Weiblein sei sie damals gewesen und eine große Schrulle habe sie gehabt –“
„So, Dorchen? Und welche?“
„Sie hat das Schauspielhaus da drüben nicht leiden können; wenn sie ausging, hat sie immer einen weiten Umweg gemacht, immer durch den Garten; aber armem hungrigem Gesindel, Gaunervolk, Komödianten und solchem Gelichter, dem hat sie gegeben mit vollen Händen, was sie nur gehabt. Verstehen Sie das, Herr Baumeister?“
„Ja, Dorchen! Aber nun, wo ist mein Kaffee? Und dann rüstig an die Arbeit! Seit Jahren habe ich mich nicht so auf etwas gefreut, wie auf die Renovirung dieses alten Hauses. Begreifen Sie das?“
„Nein,“ lachte das Mädchen; „es ist ein altes, spukhaftes Nest; ich möchte nicht darin wohnen. Denken Sie nur, da unter der Linde liegt ja auch die Christiane begraben.“
„Wirklich?“ fragte ich mit warmem Ton.
„Die Großmutter sagt es; ich glaube, ihr Schatz lag da drunten schon lange Jahre, als sie starb.“
Ein Liedchen singend, lief Dorchen in das Haus zurück und war schon oben, als ich noch in fast andächtiger Stimmung die Treppe hinauf schritt.
Auf meinem Arbeitstische, zwischen all den Plänen, Entwürfen und Anschlägen, lagen fortan jene vergilbten Blätter, und wollte es mir zu viel werden des hundertjährigen Staubes, so vertiefte ich mich in die alte Liebesgeschichte, die mir aus Schutt und Moder entgegenblühte in duftiger Poesie, wie eine immer frische Hagedornrose an sturmverwehtem Gestrüpp.
Ich lobe mir die alten Häuser.
Das Elephantenhaus im Berliner zoologischen Garten.
Man mag über die Gründerzeit denken, wie man will, so viel steht fest: sie hat auch manches vortreffliche Unternehmen hervorgerufen, wodurch namentlich die Architektur, die Hauptrepräsentantin des äußeren Glanzes großer Städte, gewonnen hat. Wesentlich dieser vielverrufenen Zeitperiode, welche kurz nach Beendigung des letzten großen Krieges wie ein Taumel über Deutschland hereinbrach, verdankt auch die Hauptstadt Berlin manche stattliche Anlage, auf die wir heute mit Stolz und Freude blicken, heute nachdem die Kopfschmerzen, welche diese Kinder der Architektur ihren Vätern bereitet haben, längst vergangen sind. In gewissem Sinne gehört zu diesen Schmerzenskindern auch das Elephantenhaus des Berliner zoologischen Gartens, nicht als ob es etwa zu der Kategorie der zweifelhaften Gründungen gehörte, sondern deshalb, weil es in seiner Pracht und großartigen Einrichtung für weit bessere Verhältnisse paßt, als jene sieben mageren Jahre des Krachs, welche auf die blendende Entwickelung des Gründerthums gefolgt sind.
Zu welcher anderen Zeit, als in der des Milliardensegens, hätte auch wohl der Gedanke entstehen können, ein Elephantenhaus zu bauen, das die Kleinigkeit von etwa 340,000 Mark kostet und das von außen und von innen einem indischen Tempel gleicht, in dem Buddha selbst zu wohnen sich nicht zu geniren brauchte? Unter Schwierigkeiten ward der Bau vollendet; nun freut es uns doch, daß das Werk vor uns steht, und wohl kein Besucher des Gartens wird es versäumen, nach diesem beliebten Anziehungspunkte seine Schritte zu lenken. Der Anblick des Gebäudes entzückt auch den Kaltblütigsten. Hat doch sogar einmal ein phlegmatischer Holländer die Behauptung aufgestellt, daß das Elephantenhaus ganz allein eine Reise nach Berlin werth wäre. Ich sehe den Director Bodinus, den großen Reorganisator des Berliner zoologischen Gartens und Schöpfer des Elephantenhauses, lächeln, wenn er diese Worte liest; dabei wird er auch mit Genugthuung der beiden anderen Magnete des Gartens gedenken, die er gleichfalls geschaffen hat: des großen Raubthierhauses und des prächtigen Antilopenhauses.
Wir führen heute das Elephantenhaus in der schönen Illustration unseres Meister Mützel den Lesern der „Gartenlaube“ vor. Mit seinen spitzen indischen Thürmen, mit seiner orientalischen Pracht und Ausschmückung steht dieses durch die Herren Ende und Böckmann ausgeführte Bauwerk wohl einzig in seiner Art da; es beherbergt eine Schaar dickhäutiger Bewohner, wie sie in gleicher Vollzähligkeit und Mannigfaltigkeit kein zoologischer Garten aufzuweisen hat. Hier vereinigen sich die drei mächtigsten Continente der Erde: Asien, Afrika und Südamerika haben dem Elephantenhause ihre interessantesten Thierexemplare geliefert. Es ist eine wunderbare Gesellschaft, jene Pachydermen, deren plumper, ungeschickter Körperbau so recht eigentlich zu der behaglichen philosophischen Ruhe und zu dem Stillleben paßt, dem sie sich während der gewöhnlich langen Dauer ihrer Existenz hingegeben. Vielleicht Hunderttausende von Jahren müssen wir in der Entwickelungsgeschichte unserer Erde zurückgehen, wenn wir den Ursprung dieser Dickhäuter und ihrer unmittelbaren Vorfahren, der vorweltlichen Mammuths, Rhinocerosse und anderer Thierarten, uns vergegenwärtigen wollen. Damals, als die Erdoberfläche sich mit einem neuen und ungeahnten Reichthume von Baumformen und anderen Pflanzen bedeckte, bildeten ganze Welttheile den Weidegrund für die unermeßlichen Schaaren solcher Pflanzenfresser. Heutzutage, bei dem großen Formenreichthum der uns umgebenden Thierwelt, kommen uns die Dickhäuter wie altehrwürdige Ueberreste längst vergangener Zeiten, wie primitive, ungeschickte Versuche der bildenden Natur vor, und man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß alle diese Thiere auf dem Aussterbeetat der Schöpfung stehen. In der That wird es auch wohl in nicht zu langer Zeit dem großen Räuber „Mensch“ gelingen, die Pachydermen ebenso
[861][862] vom Erdboden verschwinden zu lassen, wie er den großen Säugethieren des Meeres gegenwärtig mit besserer Aussicht auf Erfolg den endgültigen Untergang zu bereiten im Begriff steht.
Lassen wir einmal die Insassen des Elephantenhauses die Revue passiren!
Da ist zunächst, wenn wir das mächtige Gebäude betreten, mitten in dem großen Saal, dessen Wände ringsum von den geräumigen Thierständen besetzt sind – Käfige kann man diese nur durch ein starkes Gitter vom Publicum getrennten Abtheilungen nicht nennen – da ist zunächst ein mächtiges Skelet ausgestellt. Es bildet die Ueberreste des großen Elephanten „Boy“, der dreißig Jahre lang im Garten lebte und bis zu seinem vor einigen Jahren erfolgten Tode der allgemeine Liebling der Berliner war.
An der linken Seitenwand hat die Afrikanerin „Jenny“ ihren Stand. Sie ist bereits seit vierzehn Jahren im Garten und gehörte einst dem König Theodor von Abessinien, nach dessen tragischem Untergange im Jahre 1868 sie als ein Theil der Beute nach Europa kam. Damals war sie drei Jahr alt; seitdem ist das Thier mächtig gewachsen und zur Elephantenjungfrau herangereift. Auf unserer Illustration links oben abgebildet und an den mächtigen Ohren erkenntlich, zeigt sie jene Haltung, welche sie öfter annimmt, wenn ihr Wärter ihre Dressur vorführt und sie die verschiedensten Fußstellungen durchprobiren läßt. Jenny weiß dann recht geschickt sich mit dem Rüssel ihre Belohnung, eine Schnitte Brod, aus dem Brustlatze des Wärters hervorzuholen und apportirt ihm gewissenhaft die Geldspenden, welche das Publicum ihr zuwirft. Dieses Gebahren spricht durchaus dafür, daß die afrikanischen Elephanten intelligent sind, wie ihre indischen Namensvettern. Es ist eigentlich zu verwundern, daß man die afrikanischen Elephanten nicht auch schon längst als Reitthiere und Lastträger benutzt, wie die indischen, ja, daß man sogar die letzteren nach dem dunklen Erdtheil transportirt hat, um sie dort in angegebener Weise zu verwenden. Es sei mir gestattet, hier eine kleine, auf diese Frage bezügliche Episode einzuschalten.
Als vor einigen Jahren die Nubier mit ihrer Thierkarawane die zoologischen Gärten Europas besuchten, brachten sie auch einige junge Elephanten mit, welche im Zuge frei mitfolgten. Ich suchte die besten Reiter unter diesen braunen Wüstensöhnen zu veranlassen, auf den Thieren das Gehege im Berliner Garten entlang zu reiten. Der Versuch gelang über Erwarten. Rüssel und Ohren erhebend und laut trompetend, stürmten die jungen Elephanten unter der ungewohnten Last ihrer Reiter dahin, suchten Letztere auch wohl an Bäumen und am Zaune abzustreifen, aber als dies nicht gelang, fügten sie sich in’s Unvermeidliche. Der Versuch wurde öfter wiederholt und mit wachsendem Erfolge, aber schließlich ließ man ihn fallen, da er nicht zum Programm gehörte. Seit jener Zeit aber glaube ich fest daran, daß sich afrikanische Elephanten ebenso zähmen lassen, wie die indischen. Mit der siebenzehnjährigen „Jenny“ würde es aber zu spät sein, derartige Culturzwecke jetzt noch zu verfolgen. Aber die drei anderen Elephanten, welche das Haus besitzt, tragen allwöchentlich im Garten eine Anzahl Kinder spazieren und zeigen sich sehr gelehrig.
Es sind dies zunächst zwei ziemlich große indische Elephanten, „Omar“ und „Rostom“, welche den früheren Stand des seligen „Boy“, die rechte Querseite des Hauses, gemeinschaftlich bewohnen. Diese beiden Thiere sind ein Geschenk des Prinzen von Wales an den Garten und befinden sich seit Ostern 1881 im Hause.
Ihre Ueberführung von London nach Berlin war mit nicht geringen Schwierigkeiten verknüpft. Nachdem Dr. Bodinus sie in der englischen Hauptstadt in großen Käfigen an Bord eines Schiffes gebracht und sie auf demselben die Reise bis Hamburg glücklich zurückgelegt hatten, zerbrachen sie in letzterer Stadt auf dem Transport nach der Eisenbahn ihre Kasten und gaben erstaunenswerthe Proben ihrer riesigen Kraft. Die Käfige wurden nunmehr mit mächtigen eisernen Ketten umwunden, aber die Thiere machten Anstalt, auch diese zu zertrümmern. Da blieb nichts Anderes übrig, als zwei unerschrockene Männer, den vielerprobten Oberwärter des Berliner zoologischen Gartens, Pechler, der schon von „Boy“ manche schwere Verletzung davon getragen, und den Wärter Brauer, der die Thiere jetzt unter Specialaufsicht hat, mit spitzen Elephanteneisen vor dieselben zu stellen und sie in dieser wenig beneidenswerthen Position die Eisenbahnfahrt von Hamburg nach Berlin machen zu lassen. In Berlin war es dann wieder nöthig, die Transportwagen bis an die Achsen in die Erde eingraben zu lassen, damit die Thiere in ihre jetzigen Stände hinein gelangen konnten. Dann erst, als sie festen Boden unter den Füßen fühlten, wurden die beiden Indier wieder ruhiger.
Sie erhalten seitdem täglich Dressur und haben es inzwischen erstaunlich weit gebracht, sodaß sie schon beinahe im Circus „arbeiten“ könnten. Auf Commando rückwärts zu geheb, Verbeugungen zu machen, Fußstellungen auszuführen, sich hinzulegen, ein Taschentuch aufzuheben, eine Münze, die halb so groß ist wie ein Zwanzigpfennigstück, zu apportiren – das Alles ist ihnen ein Leichtes.
Der dritte im Bunde ist ein weiblicher Elephant, ein Baby, das seinen Namen nach der durch reiche Indigopflanzungen ausgezeichneten indischen Landschaft „Maldah“ führt. Dieses jetzt fünfjährige Thier ist ein Geschenk des um den zoologischen Garten hochverdienten Berliner Großhändlers William Schönlank, der die „Maldah“, welche ursprünglich im afghanischen Kriege zum Dienst bestimmt war, durch seine Agenten aufkaufen und in aller Stille nach Berlin transportiren ließ. Ich sehe es noch, wie er am 8. October 1880 diese „Ueberraschung“ dem hocherfreuten Dr. Bodinus überlieferte; ich sehe noch, wie Letzterer in der überströmenden Freude seines Herzens den Wohlthäter umarmte und ihm zurief: „Nehmen Sie es mir nicht übel! Ich muß Ihnen dafür einen Kuß geben.“
Wenn sich „Maldah“ so rüstig weiter entwickelt, wie seitdem, dürfte diese junge Dame dereinst zu freudigen Erwartungen berechtigen. Unsere Illustration führt sie uns in vollem Schmuck als Reitthier vor, und sie erfüllt als solches, unseren kleinen Damen gegenüber, höchst gewissenhaft ihre Pflicht. Als ich kürzlich das Elephantenhaus besuchte, mußte ich herzlich über das Thier lachen. Es war Vormittags, wo wenig Besucher anwesend waren, und sie stand draußen in ihrem Gehege, vor sich eine kleine Quantität Grünfutter, halb damit spielend, halb davon fressend. Sie war ganz in ihren Gegenstand vertieft; da mochte ihr plötzlich die Erinnerung an ihre Dressur gekommen sein und so machte sie mit den Füßen ihre ganze Lection durch, hob die Beine abwechselnd, kreuzte sie vorn und hinten über einander etc., etwa wie ein Kind, das beim Kaffeetrinken seine Vocabeln noch einmal repetirt.
Die unzertrennlichen Begleiter der Elephanten sind von jeher die Rhinocerosse gewesen; wie wir ihre beiderseitigen Ueberreste in den diluvialen Erdschichten zusammen finden, so stehen die Thiere auch im Elephantenhause neben einander. Das Gebäude beherbergt vier höchst stattliche Exemplare, von denen die beiden interessantesten auf dem Bilde wiedergegeben sind. Das links abgebildete ist das doppelhörnige afrikanische Weibchen „Molly“, welches sich seit 1870 im Garten befindet. Dieses Thier hat eigenthümliche individuelle Eigenschaften: es ist im höchsten Grade scheu und mißtrauisch und verläßt nur höchst ungern den Ort, an den es sich einmal gewöhnt hat. Während andere Thiere ihre Winterquartiere gern verlassen, wiederholt sich bei „Molly“ in jedem Frühjahr das Schauspiel, daß sie nur durch Hunger gezwungen werden kann, die Thür zum Außengehege zu passiren. Als das Thier in das Haus unter dem Beisein fast der halben hauptstädtischen Bevölkerung überfuhrt wurde, wollte es absolut seinen Käfig nicht verlassen und stieß zuletzt aus lauter Furcht wüthend um sich. Dann nahm es jene charakteristische Stellung an, die es auf der Illustration zeigt. Mit dem neben ihm befindlichen weiblichen indischen Rhinoceros hat es niemals gekämpft; denn beide Thiere werden nicht zusammen gelassen.
Die Stellung des letzterwähnten Thieres ist aber dennoch in einem Kampfe mit dem männlichen indischen Rhinoceros beobachtet worden. Es fand dieses „Ereigniß“ im vorigen Jahre statt. Das Männchen wurde plötzlich böse, überfiel das Weibchen und setzte ihm derart zu, daß es nur mit genauer Noth seiner Wuth entzogen werden konnte.
Dieses Weibchen bietet in zoologischer Beziehung höchst interessante Merkmale dar. Die Beschreibung des gewöhnlichen indischen einhörnigen Rhinoceros paßt auf dasselbe nicht genau; es darf vielleicht als eine Varietät des letzteren betrachtet werden; denn es hat auf der Haut viel mehr Knoten als jenes; auch besitzt es auf der Schulter eine Faltenbildung, welche einen Sattel darstellt; im Uebrigen hat es auch einen kürzeren und etwas dickeren Schädel. Das Thier ist im Jahre 1874 von dem Thier-Importeur William Jamrach in London als besondere Species nach Berlin verkauft worden. – Das bereits erwähnte kampflustige männliche indische Rhinoceros befindet sich mit einem ebenfalls sehr [863] stattlichen weiblichen Thiere gleicher Art seit September 1871 im Garten.
Viel friedlicherer Natur als diese Thiere sind die beiden Nilpferde des Hauses, ein junges, noch nicht ausgewachsenes Pärchen. Das Weibchen ist im Jahre 1876 auf Veranlassung des deutschen Consuls in Kairo gekauft und durch einen Griechen nach Berlin gebracht worden, das Männchen aber stammt aus dem Thierpark des ehemaligen Vicekönigs von Aegypten und wurde im Jahre 1879 vom jardin d’acclimatation in Paris erworben und nach Berlin verkauft. Es war ein höchst beschwerliches Unternehmen für Dr. Bodinus, das junge Thier in der strengen Märzkälte jenes Jahres von Marseille aus bis in seinen Garten zu schaffen; aber es gelang, und das vortreffliche Gedeihen beider Thiere unter der gegenwärtigen sorgsamen Pflege lohnt alle Mühen reichlich, sodaß wir es getrost wagen dürfen, falls beide am Leben bleiben, Zukunftsträume von Nilpferdezucht an der Spree auszuspinnen.
Den Beschluß des Thierbestandes am Elephantenhause bilden zwei amerikanische Tapire, ein 1875 gekauftes Männchen und ein 1877 von einem anderen Wohlthäter des Gartens, Herrn Ernst Schotte in Berlin, dem Besitzer einer geographisch-artistischen Anstalt, geschenktes Weibchen. Zeitweilig beherbergt das Elephantenhaus auch einzelne Gäste; beispielsweise überwinterte daselbst letzthin einer der Lieblinge der Besucher des Gartens, die Seelöwin „Mary“. So viel für heute über das Berliner Elephantenhaus! Die deutsche Reichsmetropole darf stolz sein auf den Besitz dieses Dickhäuter-Asyls. A. Woldt.
Im Söller der alten Reichsstadt Augsburg sitzt ein dunkeläugiges Mädchen. Die Maiensonne streift ihr die Stirn; sie hat das kleine silberbeschlagene Buch bei Seite gelegt, in welchem sie bedächtig gelesen, und wie eine leise Melodie klingt ihr das Lied noch im Herzen nach:
„Sanges ist der Wald so voll,
Daz thut den kleinen Vogelin wohl.“
Da erschallt plötzlich Lärm im Hofe des gewaltigen Welserhauses; man hört Hufschlag und Rüdenlaut, und neugierig lugt die Kleine hinunter. Ein langer Waarenzug war aus Wälschland gekommen, auf der alten Bergstraße, die über Innsbruck und Mittenwald gen Augsburg führt, und nun drängten sich die müden Saumthiere im Hofe, bis man ihnen die schwere Bürde vom Rücken nahm; die Führer aber, welche sie durch’s Gebirg geleitet, trugen die Spielhahnfeder am Hut und jauchzten übermüthig dem Hausvogt zu, der ihnen einen frischen Labetrunk entgegenbrachte. Wie glänzten ihre braunen wetterfesten Züge, wie manche Mär ward da berichtet von der steilen Fahrt! Hier klang ein Gruß und dort ein Fluch – und überall Fröhlichkeit.
Das dunkeläugige Mägdlein aber sah ihnen zu, und ein erster Zug von Wandersehnsucht hob ihr das junge Herz. Wie muß es herrlich sein in der geheimnißvollen großen Welt der Berge! O, wenn sie nur einmal die blauen Gipfel sähe, wo die Karawanen ihres Vaters vorüberziehen! Da ist freier Weg und freies Leben; da starrt meilenweit das trotzige Gestein in den Felsenkahren, und wie eng sind hier die steinernen Mauern! Der alte Perlachthurm, die grauen Wälle, das finstere Hallthor!
„Philippine!“ rief es von drinnen, und die liebliche Gestalt verschwand vom Fenster. –
Jahrzehnte sind seitdem vergangen; in dem herrlichsten Schlosse von Tirol, auf das blaue Bergesgipfel herniederschauen, sitzt eine zauberschöne Frau am Söller, und lachende Kindlein legen ihr die Hand auf’s Knie. Das ist Philippine Welser, Erzherzog Ferdinand’s Ehegemahl; der Bergestraum von ehedem ist zur Wahrheit geworden, und mehr noch wurde wahr als jener Traum.
Nun sind seitdem abermals Jahrhunderte vergangen, aber der alte Zauber des Namens Ambras (auch Amras) blieb bestehen. Es ist noch jetzt ein Juwel der Natur, eine Schatzkammer kunstvoller Schönheit und eine Heimath holder Erinnerung; den Grundton dieser Erinnerungen aber bildet der Name der lieblichen Welserin.
Die Lage des Schlosses ist entzückend schön, weithin herrschend, wie es ja im Zwecke jener alten Castelle liegt; allein noch mächtiger als diese Quadern und Zinnen schaut uns die Landschaft selber an. Langgezogen dehnt sich die riesige Bergeskette hin, zu deren Füßen die Stadt liegt, und bis in den Sommer hinein glänzt der Schnee noch auf ihren Höhen; drunten rauscht der Inn durch die Brücken; nicht weit davon liegt der kampfberühmte Berg Isel, und von da geht es auf dem uralten Brennerpfade nach dem Süden. Oft kommt sein lockender Hauch mit dem Föhn herüber; wir stehen gleichsam vor dem Thore, das die Wege zwischen Deutschland und Wälschland scheidet. Und das alles ist jetzt vom ersten vollen Grün durchwoben; aus den dunklen Wäldermassen glänzen die lichtfrischen Buchen, auf den hohen Wiesen wogen die Glockenblumen – alles summt und webt und flimmert. Darüber aber liegt jenes Himmelsblau, das die Seele dehnt – so bin ich in Junitagen durch die Pforten von Ambras gezogen, so steht es noch heute vor meiner Seele.
Wohl reicht es in graue Zeit zurück, daß die ersten Mauern an dieser Stelle erstanden; schon die eiserne Hand der Cäsaren hat hier gebaut, und jetzt noch künden die römischen Meilensteine im Schloßhofe von jenen Tagen. Dann kamen die deutschen Dynastengeschlechter (unter ihnen die Grafen von Andechs), bis die Burg allmählich an das Erzhaus Oesterreich gelangte. Nun erst begannen die Tage ihres Glanzes; räumlich und künstlerisch wurde bald das Schloß erweitert, um dem Statthalter von Tirol und seiner schönen Gemahlin Obdach zu bieten. Das aber war Ferdinand und Philippine Welser.
Die Sammlungen, welche der Erzherzog besaß, gewannen schon unter den Zeitgenossen einen hohen Ruhm; denn es war ja noch jene Glanzepoche, wo jeder Fürst auf seine „Kunstkammer“ hielt und wo das kleinste Geräth im Hause einen Anhauch künstlerischer Form besaß.
Um für solche Schätze Raum zu schaffen, wurden mannigfache Neubauten nöthig, aber auch für den stattlichen Hofhalt und die zahlreichen Gäste, die er aus allen Landen versammelte, ward es manchmal zu enge, und so wuchs das Schloß allmählich in jene gewaltigen Formen aus, welche wir heute an demselben gewahren. Durch die Verbindung mit den großen italienischen Fürstengeschlechtern, den Gonzagas, den Medicis und Anderen, kam so manches neue Juwel zu den alten Beständen, und die Kenner aller Länder bewunderten und beschrieben die Sammlung, wenn sie durch Innsbruck den Weg nahmen.
Es ist bekannt, daß in den napoleonischen Kriegen, als Tirol an Baiern kam, die Hauptmasse der Ambraser Sammlung nach Wien gebracht wurde, wo sie noch jetzt unter diesem Namen das Belvedere schmückt, aber selbst die Reste, die erst kürzlich systematisch geordnet und ergänzt wurden, bieten noch ein prächtiges Bild. Um die Eintheilung und Verzeichnung derselben haben sich die Herren Ilg und Böheim großes Verdienst erworben, auf deren treffliches Büchlein wir alle Jene verweisen, die sich für das Einzelne interessiren.
Zwei Hauptmassen sind es, in die der imposante Bau sich gliedert, und die ihm schon vor Jahrhunderten sein Gepräge gaben: das ist das Unterschloß und das Hochschloß. In dem ersteren befindet sich die Waffensammlung, während in den oberen Räumen die Gemälde und die kunstgewerblichen Schätze verwahrt sind, aber wo wir auch weilen mögen, überall ruhen unsere Blicke wie gefesselt auf diesen Lebensspuren vergangener Kraft.
Frühlingsstille liegt das Schloß jetzt da, doch welch schallendes Treiben herrschte damals in den weiten Sälen, in dem steinernen Hofe, in Park und Garten! Da ragten gewaltige Basteien in’s Land hinaus, und schlanke Edelknaben eilten über die Stufen oder lehnten lauschend am Pfeiler; sie hatten ihr eigenes „Losament“, wie auch ein eigenes „Ballhaus“ bestand; im Thiergarten tummelte sich das Wild, und neckendes Spielwerk war überall in den quelldurchrauschten Anlagen verborgen.
Mitten im Felsen aber befand sich eine gewaltige Höhle, wo die zechenden Ritter saßen und schwere Humpen schwangen; denn das Ungestüm der Zeit war auch mit dem Becher nicht schonsam. Da gab es harte Proben, die der „Novize“ hier zu [864] bestehen hatte, bis man ihn als Meister betrachtete und seinen Namen in das „Trinkbuch“ aufnahm, das in Ambras sonderlichen Ruhm genoß. Und war man der Gelage müde, dann ging’s hinaus zur Jagd; hoch zu Roß zog man empor an den blauen Achensee, der einsam zwischen den Bergen lag und wo den Herren von Tirol Gejaid und Fischfang zu eigen war. Dort hatte noch die Meute schrankenloses Spiel; da stiegen die Falken noch lustiger zur Höhe, und auf den Wogen schaukelten die schlanken Gondeln, welche Ferdinand nach venetianischem Muster hatte bauen lassen. Lebensarbeit und Lebensgenuß griffen damals noch näher in einander, und Freude zu bekunden, war auch eine That.
So führt uns unser Rundgang in den Waffensaal – wie glänzt da an allen Wänden Harnisch und Schwert! Aber es ist nicht blos Stahl und Eisen: es ist die Kampflust vergangener Zeiten, die uns entgegenblitzt und die noch haftet an den verwitterten Standarten. Da ist das ganze Rüstzeug jauchzender Turniere, wie es Mann und Roß ehedem getragen, Tartsche, hohe Sättel, Brechschild und Dilgen; da steht die ganze lärmende Landsknechtzeit vor unseren Blicken. Das sind die alten Zweihänder mit ihren geflammten Klingen; daneben hängt die geschwärzte Eisenbrust, und dazwischen klingen unsichtbar die Erinnerungen an Pavia, an die Schanzen von Straßburg und Metz.
Damals, als Schloß Ambras am höchsten blühte, waren jene Tage noch eine Wirklichkeit; da gab es in der That noch jenes Leben, das jede Stunde zwischen dem Taumelkelche und dem Todesstoße stand. Da war auch noch der Frundsberg lebendig, der kühne Führer der Landsknechte, die großen Städte des Reiches blühten, und manchen, der von hinnen zog, sahen lichte Augen auf Nimmerwiederkehr scheiden. Er aber wandte sich wohl sehnend nach dem Erker um; es ging gen Wälschland hin, an Ambras vorüber, und wenn man Abends Rast hielt vor den Lagerfeuern auf der breiten Brennerstraße in Matrei oder Gossensaß, dann konnte wohl mancher denken und singen:
„Es mißt schier gute zwei Ellen,
Mein altes flämisches Schwert;
Hab’ manchen schlimmen Gesellen
Damit zum Himmel bekehrt.
Ich mag ihm mein Leben schulden
Wohl zehenmal und mehr –
Doch wider deine Hulden
Hilft keine Waffe noch Wehr.
Da ist jeder Harnisch offen –
Da schützt kein eisernes Kleid,
Wen du in’s Herz getroffen,
Ist wund für alle Zeit.“
So weht uns eine gewaltige Geschichtsperiode hier an; aus aller Herren Ländern sind diese Prachtstücke zusammengetragen, wie ja auch das Leben jener Zeit einen starken internationalen Zug hatte, wenn wir das moderne Wort für vergangene Verhältnisse gebrauchen dürfen. Waren es doch die Tage, wo die Sonne in den Reichen Karl des Fünften nicht unterging; aus Spanien, Frankreich und Italien stammen diese Waffen, die der Neffe Karl’s, Philippinens Gatte, hier aufgehäuft; auch Wien und Nürnberg weisen ihre Beschauzeichen hin, aber nicht nur des Meisters Hand hat sie geschmiedet, sondern auch des Kriegers Hand hat sie geschwungen, und dieser Odem der Wirklichkeit ist gewissermaßen der letzte und geheime Reiz, den solches alterthümliche Geräthe übt. Und doch wie naiv war jene Zeit bei all ihrer stürmischen Kraft! Auf der Decke des Saales, wo die Sternbilder gemalt sind, finden wir auch den „Fuhrmann“, und der ist dargestellt als fröhlicher Tiroler, im echtesten Nationalcostüm mit der Hahnenfeder auf dem Hut und der langen Peitsche in der Hand. So steht er mitten unter den mythologischen Gestalten, als ob er jeden Augenblick beginnen wollte, das lustige Lied vom „Fuhrmannsbua“ zu pfeifen.
Nicht minder glänzend und kostbar ist die Sammlung der Schießwaffen, die uns in alle Gebiete der Kriegsgeschichte führen, in die Zeiten der „Türkennoth“ und des Prinzen Eugen bis auf die napoleonischen Schlachten und die Sturmzeit von 1848. Von der Gallerie aber winken die Schützenfahnen der verschiedenen Kronländer herab, ein Bild gewaltiger Wehrhaftigkeit – während draußen im Grün die Finken schlagen und die Bienen um den duftenden Flieder summen.
Diejenige Räumlichkeit indessen, welche eigentlich den Festen, den größeren Zusammenkünften, kurzum der Repräsentation in Ambras gewidmet war, befand sich nicht im Schlosse selbst, sondern es ist dies ein langgestrecktes Parterregebäude, welches den großen „Spanischen Saal“ enthält. Er galt als ein Meisterwerk der Renaissance, doch haben leider die Jahrhunderte und die ungünstige Lage dicht am Felsen manches von der alten Herrlichkeit zerstört. Am meisten litt der Saal in jenen Tagen, wo er zeitweilig als Caserne diente; da malten die Soldaten unbekümmert ihre Namen und andere Spuren ihres Daseins an die Wände, welche einst die Hand der Niederländer und der Italiener geschmückt hatte. Es sind die Bildnisse der fürstlichen Herren von Tirol und Motive aus der römischen Geschichte; auch ihnen kam die Sorgfalt zu statten, mit der die Restauration des Gebäudes in den jüngsten Jahren vollzogen ward.
Dann gehen wir in die eigentlichen Wohnräume, in’s „Hochschloß“. Da stehen noch jene großen geschnitzten Truhen, die einst mit lieben Habseligkeiten gefüllt waren; überall sind prächtige Schränke in die Wand gelassen; dort lugt man aus einem traulichen Erker in’s Blaue; hier steht das breite kunstvolle Bett und daneben die kleine Wiege. In der Schnitzarbeit gewahren wir die Zirbelnuß, das alte Wahrzeichen von Augsburg – die Erinnerung an die Heimath. Schreibpult und Laute aber erzählen uns auch von manchem schweren einsamen Tage. Und noch stimmungsvoller und geweihter sieht sich das Oratorium und die kleine Capelle an, die unter dem Schutze des heiligen Nicolaus steht; da mag wohl mancher stille Seufzer aus gepreßter Brust erklungen sein; denn auch hier galt die alte Wahrheit, daß jedes Glück seinen Schatten hat, wie hell es auch nach außen strahle.
Eine tiefe, unwandelbare Liebe verband wohl das junge Paar, aber welche Stürme hatte es gekostet, bis diese Liebe an’s Licht treten durfte! In tiefster Stille hatte im Frühlinge 1548 die Vermählung des Erzherzogs mit Philippine stattgefunden: neun Jahre weilte sie getrennt von ihrem Gatten in Böhmen, und die Kinder der Beiden wurden als Findlinge im Schloßhofe niedergelegt, wo die junge Mutter wohnte. Obwohl die Trauung des Paares im Jahre 1557 durch den Beichtvater Ferdinand’s wiederholt ward, flammte der Kaiser doch im wildesten Zorne auf, als er endlich das Geschehene erfuhr; kniefällig überreichte ihm die junge Frau, als Pilgerin verkleidet, eine Bittschrift, in der sie um Erbarmen für ihre Liebe bat.
Aber selbst dann noch, als ihnen der Kaiser verzieh, forderte er die strengste Geheimhaltung ihrer Ehe, und das Volk wußte nicht, daß die Gute, deren Walten überall gesegnet wurde, wirklich die Frau des Fürsten war, an dessen Seite sie stand. Wie viel Herzeleid mochte das der keuschen, stolzen Patriciertochter gekostet haben!
Erst spät kam auch für sie die Erlösung, als im Jahr 1576 der Papst die Gültigkeit der Ehe erklärte; nun war ihr Ehre und Friede wieder gegeben, doch nur kurze Zeit währte dieses Glück. Am 14. April 1580 schloß sie zu Ambras die Augen: „Diva Philippina“ stand auf den Denkmünzen, welche der Erzherzog zu ihrer Erinnerung prägen ließ, das Volk aber, das in ihrem Namen noch immer einen geheimnißvollen Zauber sah, munkelte wohl, die schöne Fürstin sei eines gewaltsamen Todes verstorben; man habe ihr im Bade die Adern geöffnet.
Obgleich dieser Mythus jeder Begründung entbehrt, gehen wir doch mit einem leisen Gefühl der Wehmuth von hinnen aus diesen Mauern, wo soviel Herzensglück und Herzeleid in einander webt. Tief und frei athmen wir auf in der Sonne, wenn wir über den steilen Wall hinunterlugen in’s Thal und dann die Fußsteige betreten, welche rings das Schloß umgeben. Am herrlichsten aber von all den lauschigen Winkeln ist die Stätte, die den seltsamen Namen trägt „der Tummelplatz“ (vergl. Jahrg. 1877. S. 479 u. 481). Das ist ein zauberhaftes Idyll in grüner Einsamkeit.
Ein schmaler Hohlweg führt hinauf; doch plötzlich öffnet sich im Walde eine Lichtung. Der Boden ist mit kurzem Grase bewachsen; in den zerstreuten Tannen säuselt der Wind, und regellos neben einander stehen kleine verwitterte Kreuze. Sie sind mit Blumen umwunden; an den alten Stämmen hängt hier und dort ein Gottesbild; auf den morschen Bänken kniet ein murmelndes Mütterlein – wohin sind wir gerathen?
Es sicht aus wie ein Friedhof im Walde, und doch schmettert die Drossel im Wipfel so froh; die Zweige blühen, und die Abendsonne funkelt, daß uns heiße Lebenswonne durch die Brust wogt.
Wir stehen in einem jener Erdenwinkel, wo sich das ewige Geheimniß von Werden und Vergehen in Waldesrauschen löst,
[865][866] wo der Gegensatz des kurzen Seins und des langen Nichtseins leise austönt, wo das Herz sich selber findet im Gefühle einer unermeßlichen Gemeinschaft. Unbewußt nehmen wir den Hut vom Haupte, obwohl der freie Himmel über uns liegt – eine geheime Andacht erfaßt uns. Nicht Einer von all den Menschen, deren Erinnerung hier bewahrt wird, ist uns jemals begegnet, und dennoch theilen wir die tausend Träume, Hoffnungen und Schmerzen, die niedergelegt sind in dieser Waldeinsamkeit.
Schon in uralter Zeit galt bekanntlich in den Bergen die Sitte, das Gedächtniß der Todten durch sogenannte Rê-bretter zu ehren, indem man an den Bäumen jene langen schmalen Bretter befestigte, auf welchen die Leiche zu Grabe getragen worden war. Rê bedeutet nämlich den Leichnam, wie es schon im Parcival heißt: „Gebalsamt ward sein junger Re“; die Inschrift auf solchen Denkmälern aber erbat in der Regel nur ein kurzes Gebet für den Verstorbenen. Noch heute hängt das Volk an diesem Gebrauche; aus ihm ist auch die schöne Sitte der Martertafeln hervorgewachen, und dieser Gedanke ist es, der die Stätte geschaffen hat, an welcher wir weilen.
Es liegen keine Todten hier, aber jedes dieser Kreuze, die ganze Ruhe des Ortes ist dem Gedächtniß der Todten geweiht, und ein Stück Weltgeschichte schläft in diesem Bergesfrieden. Der Eine, dem dieses Kreuz gewidmet ist, fiel in den wilden Tagen von Custozza; von seinen grünen Almen war er hinabgestiegen in die heiße lombardische Ebene; der Andere war gefallen an dem Bluttage von Königsgrätz, und den Dritten hatte ein Stein zerschmettert in dem großen Tirolerkriege von 1809. Wie viel Menschenschicksal, wie viel Sturm ist aufgehäuft in dem stillen Waldeswinkel!
Am grünen Baume hängt ein Weihbrunnkessel; in der Nähe rauscht ein Quell; die kleine Capelle, die am Bergrand steht, ist mit Votivbildern überfüllt.
Ich aber grüßte sie Alle, deren Namen hier standen , mit einem tiefen Herzensgruße, als ich langsamen Schrittes zur Stadt herniederstieg. Die frommen Glocken läuteten; man hörte das Rauschen des Inn, wie er mit jugendlichem Ungestüm und grünen Wellen dahinschoß; von der Schießstatt knatterten die Büchsen, und droben ragten im Abendgolde stumm und groß die Zinnen von Ambras. – Diva Philippina!
Deutsches Vereinsleben in Paris.
Wer jemals auch nur einen Tag in Paris verbracht hat, der kennt den Boulevard Montmartre mit dem schmalen, von zwei Säulen gebildeten Peristil der Façade des Variétéstheaters und dem „Passage des Panoramas“, dessen zahlreiche und etwas labyrinthische Gänge einige der vornehmsten Läden von Paris enthalten. Mehrere dieser Gänge münden in die mit dem Boulevard parallel laufende Rue St. Marc, ein schmales, holperig gepflastertes, nicht gerade sehr vornehmes Gäßchen, das sich besonders durch seinen Reichthum an möblirten Hôtels von zweifelhaftem Rufe auszeichnet.
Diese sonst so stille Rue St. Marc war vor wenigen Wochen der Schauplatz lärmender Auftritte, welche ihrem Namen für einen Augenblick eine gewisse Berühmtheit verliehen. Drei oder vier Abende hinter einander versammelten sich hier mit Geschrei und Getümmel mehrere hundert Individuen, theils Mitglieder eines französischen Vereins, der sich „Patriotenbund“ nennt, theils Janhagel, wie er sich in Großstädten überall da hindrängt, wo Unordnungen zu erwarten sind – in der ausgesprochenen Absicht, das Local des deutschen Turnvereins, von dessen beiden Eingängen der eine in der Rue St. Marc lag, zu erstürmen und den Angehörigen des Vereins die Knochen zu zerschlagen. Dazu kam es nun freilich nicht; die Polizei legte sich in’s Mittel, allerdings nicht etwa in der Weise, daß sie das Straßengesindel aus einander jagte, sondern indem sie dem deutschen Turnverein die Abhaltung seiner Versammlungen verbot.
Dieses Einschreitens einer wohlwollenden Obrigkeit hätte es übrigens gar nicht bedurft; denn auf die erste Kunde von dem gegen ihn geplanten Angriffe that der Verein, was ihm seine Würde und das Bewußtsein seines guten Rechts geboten: er wich einem Zusammenstoß, bei dem keine Ehre zu holen war, vernünftig aus, indem er zuerst freiwillig seine gewohnten Abendzusammenkünfte aufgab und dann ohne Widerstand das Local räumte, aus dem der „Patriotenbund“ ihn mit Anwendung von Gewalt verdrängen wollte.
Diese Vorfälle, welche wieder einmal die in Deutschland nur mit Widerstreben und Vorbehalt zugegebene Thatsache aufdeckten, daß der Deutschenhaß in Frankreich auch heute noch so tief und leidenschaftlich ist, wie vor zwölf Jahren, haben die Aufmerksamkeit des Publicums in der Heimath auf das deutsche Vereinsleben in Paris gelenkt und rechtfertigen wohl einige Mittheilungen über das letztere.
Um von den ungeheueren Verhältnissen des Londoner Lebens ein recht anschauliches Bild zu geben, pflegt man zu sagen, daß die Stadt mehr Schotten enthalte als Edinburg, mehr Irländer als Dublin, mehr Katholiken als Rom und mehr Juden als ganz Palästina. Nach demselben Muster könnte man, um der Vorstellung des Lesers die Bedeutung des deutschen Elements in der Pariser Bevölkerung besonders faßlich zu vergegenwärtigen, behaupten, Paris nehme unter den deutschen Städten den fünfzehnten Rang ein, da es mehr deutsche Einwohner zählt als Chemnitz, Nürnberg, Elberfeld oder Magdeburg. Genau freilich ist die Ziffer nicht bekannt, und sie dürfte selbst amtlich schwer festzustellen sein.
Gelegentlich der letzten Volkszählung, die im December 1881 stattfand, enthielten wohl die Zählblättchen eine besondere Rubrik für die Nationalität, aber viele Deutsche bekannten sich aus beklagenswerther Feigheit nicht als solche, sondern ließen die betreffende Rubrik entweder unausgefüllt oder gaben sich für Oesterreicher, Schweizer oder Amerikaner aus, und die zahlreichen naturalisirten Deutschen schrieben sich natürlich sammt und sonders als Franzosen ein. Die durch die Volkszählung erlangten Resultate sind also nicht durchaus zuverlässig. An Zahlenangaben fehlt es nicht, doch beruhen dieselben meist auf persönlichen Schätzungen und sind durch allerlei Nebenabsichten beeinflußt.
Um ihren Lesern das Gruseln vor einer angeblichen Ueberschwemmung Frankreichs mit Deutschen beizubringen, haben einige Pariser Blätter behauptet, die Zahl der Deutschen in Paris betrage 300,000. Ungeschickte deutsche Beschwichtiger erwiderten darauf, Paris beherberge nicht mehr als 25,000, höchstens 30,000 deutsche Einwohner. Auf Grund der Volkszählungsdaten kann man aber mit Berücksichtigung der angeführten Fehlerquellen die Zahl der deutschen Reichsbürger auf 70,000, die der Oesterreicher, Schweizer, Deutschrussen, Deutschamerikaner und Elsässer, deren Muttersprache Deutsch ist, auf 35,000, die Gesammtzahl der deutschsprechenden Einwohner von Paris auf mindestens 105,000 veranschlagen. Es giebt ganze Viertel – so namentlich die Faubourgs Montmartre, Saint Denis und Saint Martin – wo man auf der Straße und in den öffentlichen Localen mindestens so viel deutsch wie französisch sprechen hört.
Die deutsche Colonie, durch die Austreibung der Deutschen im Kriegsjahre gewaltsam zersprengt, hat sich seit 1871 allmählich wieder zusammengefunden und ist gegenwärtig sogar zahlreicher als vor dem Kriege. Aber ihre Zusammensetzung ist heute eine wesentlich andere als damals. Vor 1870 waren in der Pariser deutschen Colonie alle Classen der Gesellschaft gleichmäßig vertreten. Viele vornehme und reiche Familien nahmen ihren Winteraufenthalt in Paris, gaben Feste und Empfänge und zählten zu den Angelpunkten, um welche sich das Pariser Leben drehte. In der Börsen- und Handelswelt aber war das deutsche Element geradezu tonangebend. Ferner wirkte an den wissenschaftlichen Anstalten ein erstaunlich bedeutendes Contingent deutscher Gelehrten und Schulmänner und selbst in der Journalistik begegnete man einer nicht geringen Anzahl deutscher Namen, wie denn beispielsweise der angesehene „Temps“ bei seiner Gründung reichlich zur Hälfte von deutschen Federn geschrieben wurde.
Für deutsche Maler und Musiker war Paris ein Eldorado, das Gold und Ruhm in Fülle bot. Aber auch der deutsche Handwerksgeselle wanderte gern an’s Ufer der Seine, um Schliff [867] und Feinheit zu erlangen und später mit dem Glorienschein des vornehmen Pariser Chic in die Heimath zurückzukehren, eine Absicht, die freilich oft genug nicht zur Ausführung gelangte, da die Sirene Paris den in der Regel geschickten und strebsamen Fremden mit ihren weißen Armen fest umschlang und nicht wieder losließ. Endlich strömten jahraus jahrein deutsche Tagelöhner in breiten Schaaren nach Paris, wo man sie gern beschäftigte, weil sie williger, fleißiger und anstelliger, namentlich aber in ihren Ansprüchen bescheidener und der Disciplin zugänglicher waren, als ihre einheimischen Wettbewerber.
Die heutige deutsche Colonie zeigt uns ein ganz anderes Bild: Aristokratische Namen sind kaum mehr in ihr vertreten, wenn man von den Diplomaten absieht, welche ihre Amtspflicht an Paris fesselt. Eigentliche deutsche Salons, namentlich solche, welche einen Wechselverkehr zwischen Franzosen und Deutschen vermitteln, giebt es nicht; aber es fehlen selbst solche, wo sich die ganze Elite des Pariser Deutschthums zusammenfinden könnte. Börse und Bank werden wohl noch immer von Deutschen beherrscht, aber die bedeutenden Finanzmänner haben sich entweder naturalisiren lassen oder geben sich für Oesterreicher aus und suchen sich durch Verleugnung ihres Deutschthums bei ihren französischen Standesgenossen ein Bildchen einzulegen. Blos die Kleinen und Unbedeutenden dieser Berufsclasse haben noch den Muth – oder fürchten keinen Nachtheil dabei – sich als Deutsche zu bekennen. Das Commissionsgeschäft, vielleicht der wichtigste Zweig des Pariser Handels, ist mit geringen Ausnahmen nach wie vor ganz in deutschen Händen. Dagegen hat die Zahl der deutschen Gelehrten, Künstler und Musiker ansehnlich abgenommen: Diejenigen, die feste Staatsanstellungen hatten, ließen sich naturalisiren, wenn sie es nicht vorzogen, wie Hillebrand, ihr Amt niederzulegen und das Land zu verlassen: neue Ernennungen aber von Deutschen dürften seit 1870 im französischen Unterrichtswesen nicht stattgefunden haben, wenn man von Lehrern der deutschen Sprache absieht, welche auch mit Vorliebe unter Oesterreichern, Schweizern und Elsässern gesucht wurden.
Die jährlichen Kunstausstellungen im Industriepalaste der Elysäischen Felder sind für Deutsche eine ungastliche Stätte geworden. Man läßt dieselben ungern zu, giebt ihnen schlechte Plätze und übergeht sie bei der Zuerkennung von Auszeichnungen, wie auch auf dem Kunstmarkte ähnliche Vorurtheile gegen unsere Landsleute herrschen. Am stärksten hat die Zahl der deutschen Handwerksgesellen abgenommen. Wenn im jungen Gesellen das Wanderblut unruhig wird, so richtet er Sinn und Schritt nicht mehr, wie sonst, nach Paris, sondern nach London, nach Amerika, nach den Colonien. Die Brücke von Kehl hat für den ernsten Handwerker wie für den Stromer und Fechtbruder ihre alte sprüchwörtliche Bedeutung verloren, und der Wanderbursche muß direct von einem in Paris angesiedelten deutschen Meister dazu aufgefordert werden, um auf den Gedanken zu kommen, dort Arbeit zu nehmen. Früher waren alle Schneider, Schuster und Tischlerwerkstätten, alle Barbierläden, Backstuben und Goldschmiedateliers von Deutschen bevölkert. Heute ist das Verhältniß so, daß vielleicht auf vier Deutsche, die hier vor 1870 arbeiteten, nur noch einer kommt. Blos in gewissen Industriezweigen – so namentlich in der Zuckersiederei und Metallgießerei – ist nicht nur keine Abnahme, sondern sogar eine Vermehrung zu constatiren, und in den Hôtels ist der deutsche Kellner nahezu alleinherrschend. Deutsche Tagelöhner sind vielleicht weniger häufig als früher, obwohl man noch immer ganzen Regimentern von deutschsprechenden Straßenfegern begegnet und in Rougemont und Belleville, entlegenen Pariser Arbeiter- und Armenvierteln, deutsche Elementarschulen für die Kinder dieser Bevölkerung bestehen; doch dürfte die Mehrzahl derselben nicht aus dem Reiche, sondern aus Luxemburg, der Schweiz, vielleicht auch dem Elsaß stammen.
Eine sehr starke Zunahme gegen 1870 zeigt nur eine Classe von Deutschen: die der jungen Kaufleute, welche sich in Paris selbstständig etabliren oder eine Stelle finden wollen. Ihre Zahl beläuft sich auf viele Tausende. Sie füllen die Comptoirs der Banken und Commissionshäuser: sie besorgen die Correspondenz – nicht blos die deutsche – der französischen Fabrikanten und Exporteure; man trifft sie in den großen weltbekannten Bazaren, wie „Magazin du Louvre“ und „Bon Marché“, als Verkäufer an; doch begegnet man ihnen leider auch in den Lesecabineten und auf den Asphalttrottoirs der großen Boulevards, fadenscheinig, hohläugig, muthlos, ohne Stelle, ohne Kraft zum Entschlusse der Rückkehr in die Heimath, ohne Mittel zu weiterem Ausharren, bejammernswerthe Opfer der in Deutschland noch immer herrschendon Illusion, daß Paris für den jungen Deutschen das Eden des Erfolges und Glückes sei.
Man sagt uns Deutschen nach, daß nicht zwei von uns beisammen sein können, ohne einen Verein zu gründen. Etwas Wahres enthält ja dieser Satz in seiner scherzhaften Uebertreibung. Obwohl es ein Deutscher war – nämlich Zimmermann – der das Lob der Einsamkeit schrieb, so sprach er damit dem deutschen Stamme doch nicht aus der Seele. Wir haben kein Talent zum Einsiedlerthum; ein fröhlicher Drang zum Zusammenschluß führt uns unwiderstehlich zu einander, und wir begreifen die rechte Daseinsfreude nicht anders, als wenn eigene Zufriedenheit sich in den Augen von gleichgestimmten Genossen widerspiegelt. Die Deutschen in Paris haben sich auf romanischer Erde der vaterländischen Eigenheiten nicht so völlig entschlagen, daß sie nicht das Bedürfniß des Vereinslebens empfunden hätten.
Vor 1870 mag das weniger lebhaft gewesen sein, als heute. Die Zahl der dauernd in Paris angesiedelten verheiratheten Deutschen, die ihren eigenen Herd hatten, überwog damals die der alleinstehenden jungen Leute. Gastliche Salons boten reichliche Gelegenheit zur edlen Befriedigung des Geselligkeitstriebes, und der einzelne Deutsche hatte keine Schwierigkeit, überall, auch in den entlegensten Stadtvierteln, wo er weit und breit keinen Landsmann um sich hatte, französischen Umgang zu finden. Heute sind in der deutschen Colonie die unverheiratheten jungen Leute weit zahlreicher, als die Männer, welche ihr festbegründetes Heim besitzen. Daß es kein deutsches Salonleben giebt, das haben wir bereits gesehen, und auf französischen Umgang darf kein Deutscher rechnen. Als Reisender, mit ausgezeichneten Empfehlungen versehen, kann er während eines kurzen Aufenthaltes, der eine Saison nicht überdauern darf, allenfalls Einlaß in französische Häuser und dann sogar höfliche Aufnahme finden. Sowie aber die französischen Gastfreunde merken, daß ihr Gast sich in Paris festsetzen, hier einem regelmäßigen Berufe nachgehen will, ziehen sie sich von ihm zurück, und es dürfte ihm wohl sehr schwer werden, seine anfänglichen Beziehungen, und wenn sie sich noch so warm und freundlich anzulassen schienen, über das erste Halbjahr hinaus aufrechtzuerhalten. So bleibt also dem Deutschen, der in der Weltstadt nicht auf Menschenverkehr verzichten will, nichts übrig, als sich an die Landsleute anzuschließen, die in der gleichen Lage sind wie er, und aus dieser Nothwendigkeit heraus ergiebt sich von selbst die Bildung von Vereinen.
Es giebt in Paris sechs deutsche Vereine. Der eine, der „Deutsche Hülfsverein“, verdient diesen Namen insofern nicht ganz, als er außer jährlichen Generalversammlungen seinen Mitgliedern keinerlei Gelegenheit bietet, mit einander in Berührung zu kommen. Sein Zweck ist in seinem Namen ausgedrückt. Er steht unter dem amtlichen Schutze der Botschaft, und sein Liebeswerk ist ein ansehnliches: nach Hunderten zählen die unglücklichen deutschen Mädchen und Jünglinge, die er jährlich unterstützt oder in die Heimath zurücksendet, wenn ihnen in der großen Stadt nur noch Noth und Verderben bevorstehen. Zum ersten Male seit 1870 ist er im vergangenen Winter aus der würdevollen Zurückhaltung, die er sich auferlegt hatte, herausgetreten und hat in einem der glänzendsten Säle von Paris einen Ball veranstaltet, welcher der Unterstützungscasse des Vereins gegen 15,000 Franken zuführte. Diese Feste werden sich alljährlich wiederholen, und vielleicht wird aus ihnen eine neue Familiengeselligkeit hervorblühen, die seit dem Kriege unter den Deutschen in Paris leider nicht existirt.
Der älteste unter den sechs deutschen Vereinen ist der „Protestantische Jünglingsverein“, der bereits Mitte der vierziger Jahre – das genaue Datum konnte ich nicht erfahren – gestiftet wurde. Seine Organisation ist eine etwas enge, weil confessionell eingeschränkte. Er zählt gegen 150 Mitglieder, die fast ohne Ausnahme dem Handwerkerstande angehören. An seiner Spitze steht der ehrwürdige und hochverdiente Pastor der Pariser deutschen Protestantengemeinde, Herr Dr. Frisius; seine Zusammenkünfte werden in der Pastorswohnung oder in der Kirche abgehalten. Er wirkt ohne Zweifel sehr moralisirend auf die Elemente, die er in sich schließt, und verdient kräftige Förderung.
Im Gegensatze zu diesem ältesten sei des jüngsten Vereins gedacht: des Pariser „Deutschen Studentenvereins“. Das ist [868] noch ein gar junges und schwaches Pflänzlein, erst einen Winter alt und zart bewurzelt und bestockt. Der Verein hat zehn oder zwölf Mitglieder – es giebt eben nicht viel deutsche Studenten an den Pariser Facultäten – die einmal wöchentlich in einem Bierlocal des lateinischen Viertels zusammenkommen, um sich in der Fremde das Bild deutscher Burschenherrlichkeit vor die Seele zu zaubern. Man singt deutsche Commerslieder – aber leise; trinkt deutschen Gerstensaft – aber mäßig, und raucht aus deutschen Porcellanpfeifen – aber mehr symbolisch als überzeugt. Der sympathische Verein hat einen Obmann, Schrift- und Säckelwart, und kein deutscher Student, der sich eine Weile in Paris aufhält, sollte versäumen, sich ihm anzuschließen.
Die wichtigste Rolle spielt, soweit das eigentliche Vereinsleben in Betracht kommt, der „Deutsche Turnverein“, dem die eingangs erwähnten Angriffe des französischen Patriotenbundes galten. Im September 1863 begründet, hatte er ganz bescheidene Anfänge. Die Aufmerksamkeit der Pariser zog er zum ersten Male auf sich, als er im Frühling 1865 ein öffentliches internationales Schauturnen veranstaltete, dessen Schauplatz der „Pré Catalan“ war. Ein zahlreiches Publicum wohnte dem Feste an, welches den Parisern etwas völlig Neues war, und die turnerischen Leistungen der Vereinsmitglieder machten auf die Zuschauer einen so mächtigen Eindruck, daß viele Franzosen sich zur Aufnahme in den Verein meldeten, sodaß die Befürchtung laut wurde, letzterer werde durch die Ueberhandnahme des französischen Elements seinen deutschen Charakter verlieren. Bis zum Kriege zählte der Verein zahlreiche französische Mitglieder, und hervorragende französische Gelehrte, Politiker und Schriftsteller rechneten es sich zur Ehre an, in demselben gelegentlich Vorträge zu halten; denn von seiner Gründung an hat der Verein in hoher Erfassung seiner Aufgabe nicht blos für die leibliche Entwickelung, nicht blos für die Unterhaltung und Zerstreuung, sondern auch für die geistige Fortbildung und Erhebung seiner Mitglieder gesorgt, indem er während des Winters wöchentliche Vorträge aus allen Gebieten des Wissens veranstaltete; die Geisteselite der Pariser Deutschen und hervorragende Gäste aus der Heimath hielten es für ihre patriotische Pflicht, das Bildungsstreben des Vereins zu unterstützen, und wenn wir die Liste der Redner überblicken, welche an den Vortragsabenden des Vereins gesprochen haben, so finden wir Karl Vogt, Ludwig Bamberger, Ludwig Simon (Trier), Gottfried Kinkel, Julius Oppert, Rudolph Virchow und ähnliche Namen von vornehmstem Klange.
Der Verein war angesehen, wohlhabend, materiell in voller Blüthe, als der Krieg ausbrach und ihn gleich einer Sturmfluth aus der Pariser Gesellschaft wegfegte. Nach wiederhergestelltem Frieden fanden sich wohl einige Mitglieder von Neuem in Paris zusammen, aber für’s Erste konnten sie noch nicht daran denken, die alten, ihnen lieb und theuer gewordenen Vereinstraditionen wieder anzuknüpfen. Es galt zunächst, sich möglichst klein zu machen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dem frischen Haß der Pariser gegen alles Deutsche keine Nahrung zu bieten. Im Jahre 1872 aber schritten die eifrigen und treuen Mitglieder zur Wiederbelebung des Vereins.
In der Wohnung des berühmten Augenarztes Dr. Eduard Meyer versammelte man sich, anfangs blos ein Häuflein von zwölf bis fünfzehn Getreuen; allmählich erweiterte sich der Kreis; neue Elemente schlossen sich dem alten Kern an, und heute zählt der Verein wieder 250 Mitglieder. Dr. Eduard Meyer ist noch immer Präsident desselben; seine Verdienste um den Verein können nicht genug gewürdigt werden. In schwierigsten Zeiten, als ein hoher moralischer Muth dazu gehörte, in Paris den erbitterten Franzosen gegenüber deutsche Bestrebungen zu vertreten, als es sogar mit wirklicher Gefahr verbunden war, an der Spitze einer deutschen Gesellschaft zu stehen, leitete er den Verein mit geradem Sinne und fester Hand, beschwichtigte das Mißtrauen der Behörden, trat den Zeitungsangriffen entgegen, erhielt durch Beispiel und Reden in den Vereinsmitgliedern die Liebe zum Vaterlande, einen hehren deutschen Idealismus und Vertrauen zur Zukunft des Vereins lebendig und war überhaupt der gute Geist des deutschen Turnvereins. Wenn der letztere seine jüngste Krise ohne Schaden überstanden hat und sich anschickt, in einem neuen Local weiter zu blühen, so schuldet er auch dafür seinen Dank in erster Reihe der Unerschrockenheit und festen Treue seines Präsidenten Dr. Eduard Meyer.
Der Turnverein besitzt heute ein Vermögen von über 7000 Franken, eine Bibliothek von 4000 Bänden, die durch Spenden deutscher Schriftsteller und Verleger fortwährend bereichert wird, eine Turnhalle und einen Vereinssaal, den die Büsten Goethe’s, Schiller’s und Vater Jahn’s schmücken. Er veranstaltet wöchentlich gesellige Zusammenkünfte, bei denen Chöre gesungen, Musikstücke und Vocalquartette aufgeführt und Vorträge gehalten werden; er feiert die großen Jahrestage der Literaturgeschichte, den Weihnachts- und Fastnachtsabend durch Feste, die durch die frische Jugend, das Talent und die überschäumende Lebensfreudigkeit der Mitglieder einen poetischen Aufschwung nehmen, und er ersetzt den Letzteren im Allgemeinen Familie und Heimath, soweit diese in der Fremde eben zu ersetzen sind. Im Turnverein steht man auf deutschem Boden. Man fühlt sich da von Lüften der Heimath umweht und verliert auf Stunden vollständig die kalte Empfindung des Fremd- und Vereinzeltseins in der großen Menschenwüste Paris.
Aus dem Turnverein hat sich ein „Deutscher Quartett-Verein“ entwickelt, der, wie sein Name besagt, besonders der Pflege classischer Kammermusik obliegt, während ein anderer Verein, die „Teutonia“, den Männergesang cultivirt. Die „Teutonia“ konnte in diesem Jahre das Fest ihres fünfundzwanzigjährigen Bestandes feiern, zu dem Emil Rittershaus einen schönen poetischen Gruß sandte.
Dies sind die sechs deutschen Vereine, die augenblicklich in Paris wirken und gedeihen. Alle haben sich edle und hohe Ziele gesteckt und streben mit idealen Mitteln darnach, sie zu erreichen. Wenn sie von einem Theile des französischen Publicums scheel angesehen werden, so geschieht dies nur so weit man ihre Thätigkeit nicht kennt. Ein Franzose, der nur ein einziges Mal die Jahresausweise des Hülfsvereins mit ihren imposanten Summen der Unterstützungen überflogen, der nur ein einziges Mal die Musterherberge des protestantischen Jünglingsvereins besucht und dessen Sonntags-Zusammenkünften angewohnt, der nur ein einziges Mal mit dem Studentenverein gekneipt, nur einen einzigen Abend im Turn-, im Quartett-, im Männergesangsverein verbracht hat, der wird, er mag sonst für die Deutschen noch so feindselige Empfindungen haben, vom deutschen Vereinsleben in Paris gewiß nie wieder anders als mit Achtung und Anerkennung, vielleicht mit Bewunderung sprechen.
La Befana.
Schon bei den alten Römern gab es ein Fest der „Erscheinung“, Praesentia Jovis, gleichbedeutend mit dem griechischen Epiphania.
An diesem Feste der „Erscheinung“ pflegte – der Sage nach – Jupiter sich auf die Erde nieder zu lassen. „Und bei dem Erscheinen des Gottes bebten die Gewölbe des Himmels; die Festen der Erde erzitterten; die Thiere flohen erschrocken in ihre verborgensten Höhlen und Gruben, für die Menschen aber war das Fest der ‚Erscheinung‘ ein Fest der Freude und des Jubels und zugleich ein Tag der Furcht und des Schreckens; – des Jubels für diejenigen, welche Gnade vor den Augen des Gottes gefunden; denn sie durften an diesem Tage auf die Erfüllung ihrer sehnlichsten Wünsche rechnen – der Furcht für diejenigen, welche ihn erzürnt; denn über ihnen entlud sich sein Grimm.“
Nachdem das Christenthum sich die Weltherrschaft erobert und an die Stelle des Olymp und seiner Götterschaaren der Hügel von Golgatha mit dem gekreuzigten Weltheiland getreten war, verwandelte sich das ehemalige Fest der „Erscheinung Jupiters“ in das Fest der „Erscheinung Christi“, oder der ersten Manifestation dieser Erscheinung in Form der Anbetung der heiligen drei Könige, die dem neugeborenen Kinde ihre Opfergaben darbrachten.
War das Fest der Praesentia Jovis (der „Erscheinung Jupiters“) im Alterthum ein Fest der Segenspende für diejenigen gewesen, die der Gott begünstigte, so behielt die volksthümliche Bedeutung des christlichen Epiphaniafestes – ebensowohl an die Sagen des Alterthums, wie an die Darbringung der Geschenke der Könige anknüpfend – den durch jene Reminiscenzen bedingten Charakter in jedem Sinne bei.
Die eigentliche Feier bestand nach wie vor in der Spendung unerwarteter Gaben und in Ueberraschungen, die man sich wechselseitig bereitete.
Unter den mancherlei besonderen Sitten und Gebräuchen, die sich von jeher an das Epiphaniafest knüpften, taucht schon im dreizehnten Jahrhundert das noch heutzutage in Deutschland und Frankreich bekannte „Bohnenfest“ [869] auf: Eine in Backwerk verborgene Bohne ertheilte Dem, der sie in seiner Schüssel fand, die Würde und die Vorrechte einer unumschränkten Machtvollkommenheit – die allerdings nur einen Tag dauerte, welcher sich aber die gesammte Umgebung des gekrönten Bohnenkönigs oder der gekrönten Bohnenkönigin an diesem Tage unbedingt zu unterwerfen hatte. Die Devise des Tages war etwa von dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert an die sprüchwörtlich gewordene Redensart: „Der König trinkt!“
Umsonst ereiferten sich die Geistlichen über die in der Christenheit eingerissenen Mißbräuche, „die in einer heidnischen Weise die Physiognomie des Epiphaniafestes besudelt – und aus der Verehrung der heiligen drei Könige eine Verehrung Beelzebub’s und seiner Diener gemacht hätten“; zum Trotz den Bußpredigten der eifernden Priester hat die Welt und mit ihr die Epiphaniafeier ungestört ihren Verlauf genommen und letztere sich überall als unausrottbares Volksfest erhalten.
Nirgends aber ist wohl der Epiphaniatag seinem mittelalterlichen, das heißt seinem tobend ausgelassenen Charakter so treu geblieben, wie in Italien, besonders in Rom. Der uralten italienischen Volkstradition gemäß ist die „Befana“ eine Hexe, mit der man die Kinder wie mit der nordischen Sagengestalt des Knecht Ruprecht und seinen guten und bösen Gaben zu schrecken und einzuschüchtern pflegt. Ihr Aussehen ist von einer solchen Häßlichkeit, daß es z. B. die größte Beleidigung ist, die einer Dame widerfahren kann, wenn man sie mit der Befana vergleicht.
„Um Mitternacht (am 6. Januar),“ so heißt es, „beginnt der Spuk der Befana,“ der sich ebenso wie der des Knechtes Ruprecht am unmittelbarsten – wenn auch nicht in so ausschließlichem Sinne wie dieser – auf die Kinderwelt bezieht. Wenn die Befana gut gelaunt ist, dann pflegt sie, indem sie vor Allem das Volk in seinen Hütten aufsucht, die Wände der ärmlichsten Bauernwohnung in leckern Kuchenteig, die dürftigen Betttücher aber, auf denen die Kinder in der Befana-Nacht schlafen, in mächtige Nudeln und das Wasser in der Cisterne draußen in den süßesten Wein zu verwandeln etc.
Vor Allem ist’s ihr alter Brauch, den Kindern, mit denen sie zufrieden ist, die neuen Strümpfe, die ihnen die Mutter für den folgenden Festtag über den Bettrand hängt, mit allerlei Leckerbissen und anderen Dingen anzufüllen. Wehe aber Denen, die durch Unarten ihren Zorn erregt! Während sie sich darauf beschränkt, die weniger schlimmen zur Strafe gehörig an Haaren und Ohren zu ziehen und sie an Händen und Füßen zu zwicken und zu peinigen, werden Diejenigen, die sich als unverbesserlich gezeigt und sich’s mit der einmaligen Warnung nicht gesagt sein ließen – „zwischen Mitternacht und Morgengrauen“ von der „schwarzen“ Hexe aus ihren Betten geholt und auf der Spitze eines eisernen Spießes durch den Rauchfang – ihren üblichen Aus- und Eingang – auf Nimmerwiederkehr davongetragen.
Wie man leicht ersieht, bewegt sich die moderne Volkssage hier in lauter Reminiscenzen der biblischen Vorgänge des Epiphania-Festes, und bedarf es wohl kaum des Hinweises der Umbildung der Magier aus dem Mohrenlande in das schwarze Befana-Weib und des bethlehemitischen Kindermordes in die Grausamkeiten, welche die Hexe an den ihrer Rache verfallenen Kindern auszuüben pflegt.
Dies ist die Form, in welcher das Befanafest in Florenz, Mailand, Venedig und den meisten anderen Städten Italiens begangen wird. Nur in Rom (ist es etwa zu Ehren der Erinnerung an die ehemalige „Praesentia Jovis“?) trägt die Befana den Charakter eines Volksfestes – und zwar desjenigen Festes, das nächst dem Carneval mit der allgemeinsten Ausgelassenheit gefeiert wird. Ja, es ist in seiner losgebundenen Laune, in seiner an Tollkühnheit grenzenden Lustigkeit eigentlich nichts anderes als die erste Lebensregung des Carnevalteufels, der den Leuten schon in den Gliedern spukt.
Das Centrum der Feier bildet die Piazza Navona (der Navona-Platz) und auf diesem wieder die Fontana Bernini’s, die mit ihrem auf künstlicher Felsenkluft aufragenden Obelisk weithin den ganzen ungeheuren Raum beherrscht.
Sobald die Dunkelheit eintritt, erhellen bengalische Flammen in allen Farben den kolossalen Brunnenaufbau und die umliegenden Palastfaçaden. Rings um die Fontana ziehen sich im Kreise mit allerhand Spielwerk angefüllte Bretterbuden hin, wo der alljährlich sich wiederholende fiera (Markt) stattfindet und wo man den Vorübergehenden in einem unaufhörlichen Tintamarre hier „una secabola“ (einen Säbel) zu einem Soldo, dort una bambola (eine Puppe) zu zwei Soldi – kurz alle erdenklichen Herrlichkeiten zu dem Preise von einem bis zwei und höchstens drei Soldi zum Kauf ausbietet.
Von dem Momente aber, wo die Lampen angezündet werden und das Feuerwerk zu spielen beginnt, hallt – und zwar nicht allmählich, sondern wie auf einen Schlag und wie auf ein gegebenes Commando – der ganze riesige Platz von einem Getöse wieder, das nur den wildesten Momenten des Carnevals zu vergleichen ist, ja, das z. B. durch sein tolles Ungestüm vor wenigen Jahren erst einen in der Nähe der Piazza logirten hohen Staatsbeamten glauben ließ, daß ein Volksaufstand, etwa in der Art der Sicilianischen Vesper, plötzlich draußen auf der Piazza Navona ausgebrochen sei.
Unter dem Ruf: „Es lebe Bacchus! Und der Weinschoppen ist sein Prophet“ folgt ein lärmender Volkshaufe dem andern. Neben dem Bacchus-Ruf aber besteht eine zweite Devise, die sich nicht weniger energisch als die erstere zu bethätigen pflegt, in dem „Fischiare!“ (Pfeifen). Wer sich ohne Fischio (Pfeife) oder sonst ein lärmendes Instrument auf der Piazza zeigt, ist dem allgemeinen Hohn ausgesetzt, der bisweilen zu den groteskesten Ausschreitungen, ja bis zu handgreiflichen Demonstrationen führt. Gar übel aber ist erst der Unerfahrene daran, der etwa, von dem plötzlich ausbrechenden Höllenlärm überwältigt, aus Unkenntniß der Sachlage den Versuch wagt, sich die Ohren zuzuhalten. Alle Pifferi (flötenartige Instrumente mit langem schmalem Rohr) werden sofort gegen den Unvorsichtigen gerichtet, und er riskirt, wenn er sich nicht eiligst entschließt, in den allgemeinen Spectakel mit einzustimmen, statt sich von demselben molestirt zu zeigen, daß man ihn buchstäblich „zu Tode pfeift“. Denn nach uraltem Volksbrauch besteht die ganze Pointe des Festes eben in nichts Anderem als jenem Gepfeife und Gelärme, das nach Gutdünken in allen erdenklichen Formen vorgetragen werden darf.
Sobald das chaotische Monstre-Concert, von dem alsbald die ganze Piazza widerhallt, im Gange ist, ordnet sich, wo irgend der nöthige Raum dazu frei blieb, das Volk zu einer Art eigenthümlichen Volksreigens, dem es nicht an einer gewissen wilden Grazie fehlt. Es ist ein Tanz, der zwischen der mittelalterlichen Contre-danse und dem toscanischen Tresco, zwischen der Lebendigkeit des deutschen Walzers und der Gemessenheit des französischen Menuet die Mitte hält – ja den man wohl als den volksthümlichen Lancier bezeichnen könnte, dem er sich nähert, nur daß er mit allem reizenden Nimbus jenes Tanzes, wie er in der vornehmen Welt getanzt wird, mehr Nonchalance und weniger mysteriöses Mienenspiel verbindet.
In dieser Weise geht der allgemeine Tumult fort, bis etwa gegen elf Uhr Abends. Dann lichtet sich für einen Moment die Piazza. Das Volk zieht sich zu der um diese Stunde beginnenden Mahlzeit in die umliegenden Cafés und Osterien zurück. Es folgt nun unter einem vollständigen Scenenwechsel der zweite und elegantere Act des Schauspiels mit dem Erscheinen der Aristokratie.
Statt der ausgeschlagenen Fässer, der leeren Flaschen, der rohen hölzernen Tromben lassen sich die goldenen, silbernen, perlmutternen Instrumente hören, die in allen Formen und Farben spielen und aus den endlosen Wagenreihen der vornehmen Welt gleichsam das erste Signal zu den bevorstehenden Carnevalsintriguen herüber und hinüber tragen.
Eine Stunde etwa währt die Auffahrt der Aristokratie. Dann, um Mitternacht, verläßt das Volk die Cafés und die Osterien, um wieder auf dem Kampfplatze zu erscheinen, den es bis zum Tagesanbruche nicht mehr räumt.
Paganini’s letzte Augenblicke. (Mit Abbildung Seite 857.) Ueber Paganini’s Leben schwebt noch bis auf den heutigen Tag der Nimbus des Räthselhaften. Dieser Nimbus umgab ihn schon während seines Lebens und lieh ihm hauptsächlich dem schönen Geschlechte gegenüber einen besonderen Zauber. Dem Ausführlichen, das die „Gartenlaube“ bereits früher (vergl. Jahrg. 1872, 9 u. 31) über den großen Geiger mitgetheilt, möchte ich im Folgenden einige Thatsachen aus dessen Leben hinzufügen.
Unser Künstler verdankt seinen Ruf einem Zufalle. Es war in Rom, wo er, noch jung, durch Musikunterricht sein Brod erwarb. Allein er hatte so wenig Stunden zu geben und wurde so schlecht honorirt, daß oft genug der Hunger an seiner Schwelle lauerte. Da gab eine berühmte fremde Sängerin ein Concert. Zu diesem Concert hatten bedeutende Musikkünstler ihre Theilnahme zugesagt, allein als der Abend kam, ließen sie in Folge von Intriguen die Sängerin in Stich. In der größten Verzweiflung erinnert sie sich, in ihrer Nachbarschaft oft ein wundersames Geigenspiel gehört zu haben, und entsendet sofort einige ihrer Freunde, den unbekannten Musiker aufzuspüren und mitzubringen. Diese finden nach langem Suchen den jungen Musiker, der kein Anderer ist als Paganini. Er war soeben von seinen Unterrichtsstunden zurückgekommen und hatte gerade sein ärmliches Zimmer betreten.
Ermattet liegt er auf seinem dürftigen Lager. Er läßt sein Leben, längst vergangene und eben erst entschwundene Tage, an seinem Geiste vorübergehen: als Knabe spielt er im prächtigen Hafen von Genua und klebt in abendlicher Stille mit den kleinen Fingern Düten in dem ärmlichen Kramladen seines Vaters. Nun wieder sieht er sich seinen geliebten Lehrern Servetto und Rolla gegenüber, die ihn die göttliche Kunst des Geigens lehrten. O, beglückender, himmlischer Dienst der Musen! Und doch – sie ist eine Sirene, die herzenbestrickende Kunst. Hat sie ihm denn das Allernöthigste eingetragen – Brod, Brod? Wie er noch so träumt, klopft es an der Thür seines Gemaches – die Fremden treten ein, die ihn suchen; er wird befragt, ob er Musiker sei, ob er jeden Abend Geige spiele, und als er die Fragen bejaht, kann er sich ihrer Bitten nicht erwehren: er muß mit ihnen gehen – er muß dem durch die Tücke der ausgebliebenen Künstler gefährdeten Programm durch sein Einspringen in die entstandene Lücke ein rettender Engel werden.
Schon ist das Publicum unruhig geworden; da wird das Zeichen zum Anfang des Concerts gegeben; der junge Geiger hat die erste Nummer. Eine schwächliche kleine Gestalt in einem abgetragenen Sammetrock tritt schleppenden Ganges heraus – Paganini. Das gelbe blasse Gesicht, von einer Fülle schwarzer Locken umrahmt, wird durch ein paar große geistreiche Augen belebt, welche jetzt müde vor sich hinstarren. Im Publicum giebt sich eine Erregung kund; spöttisches Lächeln sieht man fast auf jedem Gesichte.
Da beginnt der fremde junge Mann sein Spiel; langsam in schmerzlichen Tönen erklingt die Geige; immer tiefer, immer ergreifender wird das Spiel; Klagen und schwere Seufzer strömen aus diesen Melodien hervor, der ganze große Schmerz eines Menschenherzens. Das Lächeln der Zuhörer ist längst verschwunden; tiefer Ernst hat sich Aller bemächtigt; nur Thränen sieht man in den Augen erglänzen.
Da schließt Paganini mit einer schrillen Dissonanz. Augenblickliche Stille, dann aber braust durch die Räume ein donnernder Applaus, der nicht enden will. Immer wieder begehrt man den genialen Künstler zu sehen, [870] ihn spielen zu hören – er erscheint abermals; er verbeugt sich linkisch; er lächelt dankbar, aber wehmüthig und etwas wie ein satirisches Weh zuckt um seinen Mund – da plötzlich wankt er – er sinkt; eine Ohnmacht! Erschrocken springt man hinzu, und bald gelingt es, den Aermsten wieder zu sich zu bringen; er schlägt die Augen auf, und seine ersten Worte sind: „Brod – Brod!“ Schnell wird ihm solches gereicht; man fügt ein Glas kräftigen Weines hinzu. Nun aber bricht der Sturm der Begeisterung auf’s Neue aus: das Publicum will den Künstler hören. Paganini hat sich erholt und tritt wieder auf die Bühne, und als er den Bogen zum Spielen ansetzt, herrscht überall tiefes Schweigen. Jetzt sind es aber keine klagenden, schmerzensreichen Töne mehr, welche er der Geige entlockt, sondern Freude und Lust jubelt in seinem genialen Spiele auf. Wie luftige Frühlingselfen hüpfen die Klänge und bilden einen jauchzenden Reigen. Eine kurze Weile nur – und das Spiel ist beendet; wiederum erntet der Künstler stürmischen Beifall.
Von diesem Augenblick an war Paganini’s Ruf begründet. Bald erwarb er unermeßliche Reichthümer.
Nicht nur über die Saiten der Geige übte unser Künstler eine unbeschränkte Herrschaft – auch über die Herzen der Frauen, wie bereits angedeutet. So erzählt man, er habe mit einer hochgestellten Dame ein heimliches Liebesverhältniß unterhalten, das nicht unentdeckt blieb. Die Verwandten – berichtet die Geschichte – wußten sich des Künstlers zu bemächtigen und warfen ihn in einen unterirdischen Kerker. Man hatte ihm seine Geige gelassen. Aber alle Saiten derselben waren gesprungen bis auf eine einzige, und hier soll er die Kunst, mit so ungenügendem Werkzeuge Großes zu leisten, erlernt haben.
Paganini war ein Sonderling. Oft erschien er ganz plötzlich in irgend einer Stadt und verschwand dann ebenso plötzlich wieder, ohne etwas von sich hören zu lassen. So traf ihn Rossini 1817 in Rom, wo er beinahe drei Jahre krank in Zurückgezogenheit gelebt hatte. Ueberall, wohin er kam, elektrisirte er die Leute nicht nur durch sein dämonisch wirkendes Spiel, sondern auch durch die Originalität und Genialität seiner Erscheinung. Ein Zeitgenosse schildert diese folgendermaßen: „Er war von hagerer Statur, bleicher Gesichtsfarbe, dabei scharf markirten Gesichtszügen; in einem dunklen, späterhin schon etwas erloschenen Feuer glühte sein Auge, von finsteren Augenbrauen beschattet; die Nase war römisch gebogen und seine hohe Stirn umwallte schwarzes, langlockiges Haar. Ein eigenthümliches, bisweilen in’s unheimlich Dämonische übergehendes Lächeln schwebte um seine Lippen; häufig lag darin ein Zug großer Gutmüthigkeit. Bevor er sein Spiel begann, erschien er hinfällig, schlaff und erschöpft, aber ein neuer Mensch ward er, sobald sein Bogen die Saite berührte. Wie von einem elektrischen Funken durchzuckt, spannten sich dann seine Muskeln, und mit energischer Kühnheit und Schnelligkeit führte er ebenso den Bogen, wie er die spielenden Finger der linken Hand mit sicherer Festigkeit auf das Griffbrett setzte. Dem begeisterten Zustande, in welchem er sein bewunderungswürdiges Spiel entwickelte, folgte stets eine zeitweilige Erschöpfung, sodaß er nach dem ersten Allegro eines Concertes gewöhnlich etwas ruhen mußte und zum Schluß eines Concertabends ganz ermattet war. Paganini’s ganzes Wesen ging völlig in seiner Kunst auf.“
Widerlegt muß der Vorwurf werden, Paganini sei geizig gewesen. Berlioz empfing einmal ein Geschenk von 20,000 Franken von Paganini als Ehrengabe, was jenen Vorwurf schlagend widerlegt.
Unser Künstler haßte die Menschen. Mit einem schweren Leiden behaftet, zog er nie einen Arzt zu Rathe, sondern nahm in Massen eine von einem Charlatan herrührende Medicin ein, welche den hochklingenden Namen „Lebenstinctur von Leroy“ führte. Paganini starb am 27. Mai 1840 in seinem sechsundfünfzigsten Lebensjahre zu Nizza. – Er war ein Verächter der Kirche, und da dieses allgemein bekannt war, so versagte der Bischof von Parma ihm nach seinem Tode das Begräbniß in geweihter Erde. In einer Kammer daselbst soll lange Zeit seine Leiche gelegen haben. In Villafranca blieb dieselbe, als sie von Nizza dorthin transportirt worden, volle vier Jahre unbeerdigt. Endlich, nach vielen Mühseligkeiten, Kämpfen und großen Opfern an Geld, gelang es seinem Sohne im Mai des Jahres 1845, dem Todten ein würdiges Begräbniß zu verschaffen. Also volle fünf Jahre stand die Leiche über der Erde. Paganini fand seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhofe eines Dorfes in der Nähe seines Lieblingsaufenthaltes, der ihm zugehörigen Villa Gajona bei Parma.
Ueber sein Ende liest man in einer alten Zeitung von Parma ungefähr Folgendes:
Nachdem er jahrelang mit einer eisernen Energie gegen den seinen Körper verwüstenden Feind gekämpft hatte, verlor er endlich doch die lange, wüthende Schlacht. Am 27. Mai hatte er wieder starke Krampfanfälle gehabt und fiel alsdann in einen ruhigen Schlummer. Erfrischt erwachte er und war heiter gestimmt. Es war eine milde Nacht. Paganini ließ die Fenster öffnen und schlug die Gardinen seines Bettes zurück. Der Mond stand in leuchtender Pracht in d[e]r wolkenlosen Herrlichkeit des italienischen Frühlingshimmels und überfluthete das Krankengemach mit seinem feenhaften Lichte. Leise säuselten die Wipfel der Bäume, vom Nachtwinde gekost, vor seinem Fenster, und das geheimnißvolle Rauschen des vom Mondlichte übergossenen Meeres schlug an sein Ohr. Da gedachte Paganini wohl der Vergangenheit und träumte und schwelgte in der süßen Erinnerung an die Sommernächte am lieblichen Ufer des Arno und am poesiedurchwebten Strande von Genua. Er träumte lange und herrlich.
Von Gefühlen überwältigt streckte er seine Hand aus nach seiner treuen Freundin, der Guarneri-Geige, um ihr noch einmal zauberische Töne zu entlocken, allein sein brechendes Auge war schon dunkel, und als er in ihre Saiten griff, da ertönten sie nicht mehr in den Klängen der gewohnten Magie; sie versagte ihrem Meister den Dienst. Noch ein letzter, kräftiger Griff in das geliebte Instrument – eine Saite riß mit schrillem Klange. Da brach des Künstlers Herz. All das Feuer des
gewaltigen melodienreichen Geistes, das die Welt zur Anbetung gezwungen, es war dahin mit dem einen schnell verhallenden Mißton des zersprungenen Saitenspiels. Paganini’s Auge brach, und indem sein Haupt zurücksank, hauchte er die schönheitgeweihte Seele aus. G. A.
Eine wissenschaftlich interessante Diamantenfälschung, welche ein lehrreiches Beispiel von der Wirkung der sich gegenseitig in Weiß ergänzenden Complementärfarben darstellt, brachten die Herren Chatrian und Jacobs in der Sitzung der Pariser Akademie vom 30. October 1882 zur Erörterung. Zwei Geschäftsleute ihrer Bekanntschaft hatten von einem dortigen Händler zu sehr hohem Preise zwei größere Diamanten vom reinsten Wasser und vollkommener Farblosigkeit erstanden, die sich am andern Morgen in Folge einer kurzen Waschung mit Seifenwasser in gewöhnliche gelbe Cap-Diamanten verwandelten. Da die letzteren nun im Handel nur den fünften bis sechsten Theil des Werthes farbloser Diamanten von derselben Größe und Reinheit besitzen, so brachten die genannten Herren den Betrugsfall zur Kenntniß der Gerichte. Die eingeleitete Untersuchung ergab folgenden überraschenden Aufschluß: der Verkäufer hatte die gelben Diamanten, um sie in farblose zu verwandeln, in eine wässerige Auflösung von Anilin-Violet getaucht, worauf nach dem Trocknen die gelbe Nüance vollständig beseitigt war, während der Stein trotz der dünnen violetten Oberflächenschicht durchaus nichts von seinem Feuer eingebüßt hatte. Es handelt sich dabei also um eine einfache Wirkung der Complententärfarben, die sich bekanntlich stets zu Weiß ergänzen, und man würde ebenso röthliche, grünliche oder bläuliche Diamanten durch ein Bad in der Auflösung eines entsprechenden grünen, rothen oder hellrothen Farbstoffes in farblose Steine verwandeln können. Das Bekanntwerden der neuen Entfärbungs-Methode brachte anfangs eine große Panik auf dem Pariser Diamantenmarkte hervor, wozu indessen kein triftiger Anlaß vorhanden ist, da der Betrug so sehr leicht zu entdecken ist. Der ängstliche Käufer braucht ja nur den fraglichen Diamanten gleich beim Kaufe mit Wasser und Seife zu probiren. Andererseits wird das Verfahren vielleicht den billigen gelben Cap-Diamanten eine größere Nachfrage verschaffen, da man dem Käufer leicht ein Fläschchen mit aufgelöstem Anilin-Violet als Zugabe liefern kann, um den billigen gelben Stein nach Bedarf immer wieder entfärben und ihm das Aussehen des kostbarsten brasilianischen Diamanten geben zu können. C. St.
Das Wilhelm-Augusta-Stift in Gandersheim. Zu Gunsten dieses Feierabendhauses für invalide wie für müde, ruhebedürftige deutsche Lehrerinnen brachten wir an dieser Stelle vor dritthalb Jahren einen Aufruf, der seine Früchte getragen hat. Im Ganzen sind für das Haus 32,000 Mark eingegangen. Der Verein zählt bereits 200 ordentliche Mitglieder – Lehrerinnen, welche ein Beitrittsgeld von 5 Mark und einen Jahresbeitrag von 3 Mark zahlen und dadurch die Anwartschaft auf ein Ruheplätzchen im Feierabendhause haben – und 80 außerordentliche Mitglieder, welche entweder einen einmaligen Beitrag von 60 Mark oder einen beliebigen Beitrag spendeten.
Das Wilhelm-Augusta-Stift ist nun im Laufe des Sommers erbaut worden, hoch und reizvoll am Bergabhange und am Saume eines herrlichen alten Buchenwaldes gelegen, in der Nähe des heilbringenden Herzog-Ludolf-Bades. Es hat Raum für zwanzig Stiftsdamen und für ein Dutzend Lehrerinnen, welche als Sommergäste hier die Ferien verleben oder auch das Ludolf-Bad benutzen wollen. Die Einweihung des Hauses soll nächste Pfingsten gefeiert werden. Nun fehlt aber noch zur inneren Einrichtung des Hauses, zur Anlegung des Gartens und zur Gründung von möglichst vielen ganzen oder halben Freistellen für ganz mittellose Lehrerinnen viel, viel Geld. Wer will weiter helfen?
Freundliche Beiträge nehmen auch ferner dankend an: Vereinscassirer Commerzienrath Gottfried Bansi in Bielefeld, Vereinsschriftführerin Fräulein Schüßler in Witten (von der auch die Statuten zu beziehen sind) und Arnold Wellner in Blankenburg a. H. Als Quittung und Dank erfolgt an die Geber eine Abbildung des Feierabendhauses.
Photographische Aufnahme einer Explosion. Amerikanische Ingenieure ließen vor Kurzem die verschiedenen Phasen der zerstörenden Wirkungen einer unterseeischen Dynamitmine photographiren. Ein Schiff bildete das Zerstörungsobject. Wir geben im Nachstehenden einige interessante Ergebnisse dieser Untersuchung wieder, welche, dank der hohen Vervollkommnung der Augenblicksphotographie, vortrefflich gelang. Eine Photographie, die ein Zehntel Secunde nach der Entzündung der Mine aufgenommen wurde, zeigte das Bild des bereits zerrissenen Schiffes und eine etwa zwanzig Meter hohe Wassersäule. Auf einer anderen einundeinhalb Secunden nach dem Erfolge der Explosion hergestellten Platte wies die Wassersäule eine Höhe von fünfzig Meter auf; sie erreichte auf einer dritten Photographie ihren höchsten Stand, gegen sechszig Meter, nach zwei Secunden, und zu dieser Zeit flogen schon die Trümmer des Schiffes in der Luft umher. Auf der vierten photographischen Aufnahme, die in drei und drei Zehntel Secunden erfolgte, sah man die Wassersäule sinken, und in vier und drei Zehntel Secunden war das Zerstörungswerk gänzlich beendet. Das ist gewiß eine gewaltige Wirkung des Dynamits.
R. in O. Die beiden von Ihnen erwähnten Krankheiten sind allerdings heilbar. Fragen Sie einen erfahrenen Arzt um Rath! Die Annonce beruht auf Schwindel.
Getreuer Abonnent in Iglau. Das Gedicht „Die Strike der Schmiede“ finden Sie im Jahrgang 1870, Seite 361.
Eine Wette in Livland. Der ebenso unglückliche wie hochbegabte Dichter ist nicht nur fast völlig blind, sondern auch gänzlich taub. Das Schicksal schlägt oft die Edelsten am härtesten.