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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[73]

No. 5.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


„Widersprechen? Wozu? Du glaubst mir ja doch nicht,“ antwortete ihr Wilhelm.

Der vergiftete Humor spielte nun wieder um die zusammengepreßten, müden Lippen des abgezehrten Mannes und furchte die grauen, scharf eingegrabenen Linien an den Mundwinkeln bis zur Nase hinauf noch tiefer aus. Es war ein seltsamer Widerstreit zwischen Verwilderung und Gram, der an diesen einst so schönen, nunmehr aber verlebten und krankhaft zugespitzten Zügen gearbeitet und seine unverwischbaren Spuren hinterlassen hatte. Jetzt, wo der Kopf des Kranken wieder wie der einer Leiche in die Kissen zurücksank, hatte sein Anblick etwas wirklich Schreckhaftes.

Hilda kämpfte eine tiefe Bewegung in sich nieder.

„Ich muß meine Frage wiederholen,“ sagte sie mit erzwungener Ruhe. „Was soll nun werden – –?“ Sie stockte.

„Sprich nur aus, Hilda,“ sagte er tonlos, „sprich aus, was Dir auf den Lippen schwebt! Sag’ nur gerade heraus: ‚Gesehen haben wir uns nun, Bruderherz – fahr weiter!‘ Bin just mit Zärtlichkeiten nicht verwöhnt. Ich sehe schon, das Beste ist, ich hebe mich hinweg. Es ist ja auch alles eins, wo es ausläuft. Ich meinte nur, es müsse gerade hier sein; man ist so sehr Gewohnheitsmensch, siehst Du. Wie ein Wink war’s mir: ,bis hierher hat dich dein Fuß getragen‘. Es ist Aberglaube: weiß wohl, man spottet darüber, aber man kann das Zeug doch nie ganz los werden – die dummen Ammenmärchen! Ja, Du mußt Dich freilich überzeugen, ob es nicht ebenfalls erlogen oder anempfunden ist, was ich Dir da von den Ammenmärchen sage – ja, freilich: ich könnte auch das simuliren; – ist mir alles zuzutrauen. Sonderbar ist’s aber doch, daß meine Kraft nicht früher versagte und mich bis hierher trug, als die Baarschaft für die Bahn nicht mehr weiter reichen wollte. Ja, hätt’ ich nur nicht die dumme falsche Scham gehabt, so wäre ich nicht bei Nacht und Nebel hier eingezogen, und bei Tage hätte ich den Fall nicht gethan. So hängt eins mit dem andern zusammen, Hilda.“

Während er so matt dahinplauderte, wie wenn er, von einem kurzen Ausflug zurückgekehrt, seine kleinen Abenteuer, und diese auch nur in Ermangelung von etwas Interessanterem, beiläufig mittheile, war Hilda stumm geblieben, aber, durch seine Worte an den Bericht des Jägers erinnert, daran gegangen, den auf der Bank ruhenden Fuß seiner Umhüllung zu entkleiden; sie erschrak über den Anblick, der sich ihr bot.

„Ich habe gleich heißen Camillenthee aufgelegt,“ erklärte die Alte hinzutretend und nicht ohne Selbstgefühl; sie hatte bei dem Zwiegespräch zwischen Bruder und Schwester immerfort den Kopf geschüttelt und dann und wann die Hände wie betend erhoben.

„Aber, Trine,“ sagte Hilda jetzt, „das ist ja keine Gichtgeschwulst. Es gehörten kalte Umschläge darauf, damit die Hitze der Entzündung ausgezogen werde. Schaffen Sie doch schnell frisches Wasser, wenigstens eine Schüssel voll!“

„Ich will auf der Stelle zum Brunnen gehen,“ antwortete Trine. „Gleich bin ich wieder da.“

„Ja ja, sorgt nur, daß ich rasch wieder hergestellt bin!“ nahm Wilhelm wieder das Wort. „Mit solchem Bein marschirt sich’s etwas unbequem.“

„In diesem Zustande kannst Du nicht fort, Wilhelm. Und wohin willst Du überhaupt? Was willst Du beginnen? Harrst Du denn bei etwas aus? Hast Du Willenskraft genug, um etwas anzufassen?“

Er schwieg. Nicht ein einziges Wort hatte er auf den gerechten, aber harten Vorwurf zu erwidern, der in dieser Frage lag, aber ein Strahl schmerzlicher Demüthigung in seinen sich langsam schließenden Augen begegnete Hilda’s verächtlichem Blicke.

Plötzlich fuhr Hilda betroffen aus ihren Gedanken auf. War das nicht ein Schatten, der da am Fenster vorüberstreifte? Eine fremde Stimme ließ sich neben ihr vernehmen.

„So! Klapp! Falle zu! Der Vogel ist gefangen.“

Ein Gesicht lachte höhnisch über Hilda’s Schulter herüber – dasselbe breite, verschlemmte Gesicht, das sich schon zweimal an die kleinen Fensterscheiben gelegt hatte, ohne daß die im Zimmer Befindlichen etwas davon geahnt. Der außen Lauernde mußte die Gelegenheit wahrgenommen haben und durch die von Trine, welche noch am Brunnen schöpfte, diesmal offen gelassene Thür hereingeschlüpft sein. Hilda hatte den Sinn der Worte gar nicht gefaßt und gab nur ihre Entrüstung kund über die Unverschämtheit des Mannes, sich auch hier einzudrängen.

„Was wollen Sie schon wieder?“ fragte sie. „Sie wählen Ihre Zeit schlecht.“

„Im Gegentheil, gnädiges Fräulein! Noch nie hat mich ein Stern günstiger geführt als eben jetzt. Ich komme ja gerade recht, um meinen theueren Bill auf Europas Boden willkommen zu heißen. Sei mir gegrüßt, Du Gatte meines Kindes!“

Und unvermittelt aus dem Pathos in einen natürlicheren Ton übergehend, fuhr der alte Bauchredner und Taschenspieler mit der Verbeugung eines Bühnenbonvivants fort:

„Ich habe Versäumtes nachzuholen, ein grobes Versehen gut [74] zu machen, mein Fräulein, indem ich mir die Ehre nehme, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Ihnen vielleicht nicht unbekannt; ich heiße: Louis Schöpf. Dieser Name sagt alles: Louis Schöpf, Theaterdirector außer Dienst, durch die Tücke des Schicksals arg reducirt im Personale, in Garderobe und sonstigen Requisiten. Aber wie ist’s, Wilhelm“, wandte er sich an den schweigend aufhorchenden Kranken, „magst Du Deinem zärtlichen Schwiegerpapa nicht die Hand reichen? Du hast wohl nicht erwartet, mich so bald zu sehen?“

Schöpf lachte spöttisch, was ihm das Aussehen eines kollernden Truthahns gab.

„Und auch nicht gehofft,“ sagte Wilhelm in müdem Tone.

„Glaub’s wohl, glaub’s wohl, mein Junge,“ höhnte Herr Louis Schöpf, Theaterdirector außer Dienst, auf dieses nicht sehr schmeichelhaft klingende Bekenntniß unbekümmert weiter. „Aber man muß gute Lebensart zeigen und seinen Freunden in der Höflichkeit zuvorkommen. Du ahnst nicht, mein Sohn, wie sehr ich nach diesem Wiedersehen schmachtete.“

„Ich meinerseits hätte gern darauf verzichtet.“

„Nicht möglich! Du verkennst Dein eigenes besseres Selbst. ‚Ich kann’s, ich kann’s nicht glauben,‘“ parodirte er den „Wallenstein“, „‚daß mich der Max verläßt‘.“

Bisher hatte Hilda wortlos und mit wachsendem Erstaunen zugehört.

„Sie sehen, mein Herr,“ sagte sie jetzt mit selbstbewußtem Stolz, „daß man Ihre Anwesenheit hier nicht begehrt.“

„Das ist allerdings sehr kränkend für mich, keineswegs aber maßgebend,“ erklärte er. Sein Ton hatte wieder gewechselt; er war jetzt scharf und boshaft geworden. „Ich habe nicht umsonst mein ganzes Talent und den feinsten Spürsinn aufgeboten, um diese Zusammenkunft herbeizuführen, mein Fräulein. Seit ich Nachricht von der Abreise meines hochwohlgeborenen Herrn Schwiegersohnes erhalten, machte ich es mir zur Aufgabe, vor ihm hier einzutreffen; denn endlich, sagte ich mir, muß das Schiff hier einlaufen; es hat keinen andern Hafen. Wozu sollte ich auch auf’s Ungewisse auf den Landungsplätzen und Bahnhöfen liegen? Hier galt es zu sondiren, zu recognosciren und – zu warten. Geduld, weiter nichts, und sie hat sich gelohnt. Ich brauchte ja nur das gnädige Fräulein im Auge zu behalten. Empfangen Sie meinen Dank, schöne Dame! Sie waren es selbst, die mich hierher geführt. – Ich arbeite ganz ohne Apparat. Ein Bischen Geschicklichkeit, ein Bischen Verstand, ein Bischen Combination. Un, deux, trois! Allez, passez! Et me voilà!“

„Aber dennoch muß ich bitten –“

„Laß’ ihn!“ unterbrach Wilhelm die Weisung seiner Schwester.

Jetzt trat auch Trine wieder ein, und Hilda, die es in Gegenwart der Alten zu keiner Scene kommen lassen wollte, nahm ihr ohne ein weiteres Wort die große Schüssel ab und machte sich an ihren Dienst als Krankenpflegerin. Sie holte ihre Fläschchen hervor, goß aus dem einen gelbliche Tropfen in das Wasser und tauchte mit ihren zarten, sich rasch röthenden Fingern die gefalteten Drelltücher ein, welche die Alte in Eile aus der Kommode herbeischaffte, während sie fortwährend verwunderte und nichts weniger als freundliche Blicke auf den neuen Gast, den Taschenspieler, warf, der ohne ihr Wissen Eingang in ihre Wohnung gefunden und sich dort nun schon ganz wie eingebürgert benahm.

Er hatte sich an der äußersten Tischecke, dem Kranken gegenüber, niedergelassen, seinen Hut abgelegt und es sich bequem gemacht.

„Ein Glas Wein würde ich jetzt nicht verschmähen,“ bemerkte er mit unverblüffter Sicherheit. „Ist wohl keins vorräthig für den Moment. Na, wird schon anders werden. Werden uns wohl für ein paar Tage häuslich hier einrichten müssen, denk’ ich. Der Fuß sieht verflucht gepolstert aus. Hm, so ein Bischen Ausruhen in guter Gesellschaft schadet nichts. Man erzählt seine Erlebnisse – muß ein sehr interessantes Land sein, Amerika; man macht Pläne; dann wieder ein Spielchen; so vergeht die Zeit. – Rouge ou noir? Ehrlich ohne Kunstgriff, auf Parole! Was ist der Einsatz?“

Er hatte dabei ein schmutziges Spiel Karten aus der Tasche oder vielleicht auch aus dem Aermel gezogen, mit einem geschickten Aufblättern durch die Finger laufen lassen, abgehoben und mit einem Schlage auf den Tisch gelegt. Aber Niemand als die Alte, welche jetzt ganz zornig blickte, schien davon Notiz nehmen zu wollen.

„Gehen Sie, Trine,“ sagte jetzt Hilda, welcher die Gegenwart der Haushälterin inmitten dieser bedenklichen Situation höchst peinlich war, „gehen Sie in die Schloßküche und besorgen Sie uns zur Stärkung des Kranken etwas alten Wein! Ich werde unterdessen selbst das Wechseln der Tücher besorgen.“

Trine ging eilfertigen Fußes, aber nicht ohne dem unliebsamen Gaste dort am Tische noch einige Blicke des Mißfallens zuzuwerfen.

Hilda sah sich aber kaum mit den beiden Männern allein, als sie auch schon mit unverhohlenem Widerwillen an ihren Bruder die Frage stellte, ob sie nicht vielleicht selber das Zimmer hätte räumen sollen, damit der vertraute Verkehr zwischen ihm und dem Manne da sich ungestört entwickeln könne.

„Ich bin neugierig,“ sagte der Kranke, ohne auf ihre Frage einzugehen, „wohinaus die Spionage führen wird. Ohne Zweck nimmt man sich nicht die Mühe, irgend Jemand auszukundschaften. Das geschieht nur Leuten, an denen etwas gelegen ist. Ich habe also noch Werth? Das giebt mir wirklich ein Gefühl des Gehobenseins.“

„Du solltest daran doch nicht zweifeln,“ nahm Schöpf mit einem gewissen Pathos das Wort, indem er die Karten mischte, „daß es Herzen giebt, für welche Dein Verschwinden nicht ohne Wichtigkeit ist. Solche Zweifel sind tief kränkend.“

„Hm! Ich muß doch fortfahren, Dich zu kränken.“

„Und gedenkst Du nicht Deiner Frau, die Du allein und hülflos in fremdem Lande zurückgelassen, gleich einer Ariadne im Labyrinth des Lebens?“

„Ich habe in der That jetzt sehr viel Aehnlichkeit mit Bacchus.“

Aetzender Spott durchtränkte diese Worte, so müde sie Wilhelm auch vor sich hin sprach.

„Sie war es, die mir schrieb,“ fuhr der Taschenspieler fort, „sie forderte mich auf, Deiner Spur nachzugehen. Ihre Sehnsucht ließ den Brief gleich einer Taube ausflattern –“

„O, wirklich? Wo sie nur die Taube hergenommen hat? Ich vermuthe, sie stammt noch aus dem väterlichen Requisitenschatz. Also Alma? Ich hätte ihr wirklich nicht so viel Zärtlichkeit zugetraut, daß sie mich zurückhaben will. Es ist rührend. Wann soll ich abreisen?“

„Abreisen, mein Sohn? Ja, siehst Du, einer Wiedervereinigung setzen sich für’s Erste allerdings noch einige Hindernisse entgegen,“ sagte er einigermaßen verlegen. „Meine Tochter hätte sogar Anlaß zu einer Scheidungsklage –“

„Zugestanden.“

„Und in diesem Falle Ansprüche zu erheben –“

„Natürlich, natürlich; das ist mir ganz entgangen. Genau betrachtet, wog ich doch nicht gar zu leicht. Ab und zu konnte eine geschickte Scheere noch einen Coupon von mir abschneiden, der am Verfallstermin immer noch von einer gutmüthigen Seele eingelöst wurde, nämlich zur Anschaffung von Nähmaschinen und dergleichen nothwendigem Hausrath einer Coupletsängerin.“

„Wilhelm,“ sagte der Alte mit dem sentimentalen Bühnenpathos des „edlen Vaters“, „Du solltest mit mehr Achtung von meiner guten Tochter, von Deiner Dich innig liebenden Frau sprechen, von diesem edlen, aufopferungsvollen Wesen, das Dir in’s Exil folgte, und zwar mit bewundernswerther Hintansetzung ihrer tief verletzten besseren Gefühle, von ihr, die sogar der Mißdeutung einer vorurtheilsvollen Welt Trotz bot, um die Noth von den Häuptern ihrer Lieben abzuwenden. Wilhelm, willst Du es ihr zum Vorwurf machen, daß sie zur göttlichen Kunst zurückkehrte, als ihre ach! um Euretwillen wundgearbeiteten Hände das Brod für ihr darbendes Kind nicht mehr herbeizuschaffen vermochten?“

„Singst auch Du das Lied?“ erwiderte ihm Wilhelm, wie aus seinem Hindämmern plötzlich erwachend, mit Heftigkeit. „Wer von uns Beiden ist der Narr? Streut Eure Lügen auf alles, nur nicht auf dieses kleine Grab.“ Er richtete sich mit aller Anstrengung seiner erschöpften Kraft über dem Tische auf, und über die hageren Wangen flammte eine heißlodernde Röthe empor. „Wenn unser Kind nicht darben sollte, warum verschwendete die Mutter das Vermögen, das der kleinen Anny dereinst zugefallen wäre? Längst, längst wollte ich das arme Ding mit mir nehmen und fortgehen, weit, weit weg. Hätt’ ich es doch gethan! Aber schwach war ich all mein Lebelang, erbärmlich schwach. Es hing so sehr an der Mutter, und ich war zu feig, dem kleinen Herzen ein Weh anzuthun. Jenes Weib aber wußte das und hielt mich an dem Faden, hielt mich fest, bis – er riß.“ Er schwieg einen Augenblick und seufzte laut. „Was soll ich jetzt bei Alma?“ fragte [75] er dann. „Die Tasten schlagen zu den frivolen Liedern, die sie singt, wie mir dies zugemuthet worden? Der Mann muß seiner Frau zur Seite stehen und für sie sorgen, so heißt ja Euer Sprüchlein, aber wendet doch einmal das Blatt! Lehrt die Frau doch lieber, mit dem kärglichen Schreiberlohn des Mannes sich begnügen. Freilich, für Alma reichte ein ganzes Vermögen nicht aus; mit vollen Händen streute sie das Geld aus, unbekümmert, woher es kam; sie erschmeichelte, erlistete, erzwang es und fragte, wenn sie es verpraßte, nicht, welchen Preis es galt, war es auch das Leben ihres Kindes. Wie ein Licht ohne Oel verging die holde Kleine an meiner Seite, und ich sah zu und konnte nichts thun, den armen in Durst verdorrten Lippen nicht einmal einen Schluck Wasser reichen, denn ich lag selber gelähmt und einsam auf dem Stroh – kein Ohr da, das meine Stimme erreichen konnte – ach –“

Wie ein tiefes Schluchzen kam es aus seiner Brust.

„Entsetzlich!“ flüsterte Hilda, und ihre Finger schlangen sich bis zum schmerzhaften Drucke in einander.

„Es ist gewiß nicht Alma’s Schuld gewesen,“ meinte der alte Schauspieler. „Wir Künstler wissen, mit wie schwerem Herzen wir oft unserem Berufe folgen müssen.“

„Ja, ihrem Berufe!“ stieß Wilhelm mit unsäglicher Verachtung hervor.

„Und es war auch ein allzu schweres Loos,“ fuhr der Taschenspieler fort, „das ihr aufgebürdet worden. Wie konnte sie ahnen, als sie den Umwerbungen eines eleganten reichen Officiers nachgab, daß sie einst als das Weib eines Flüchtlings – eines Wechselfäl–“

„Schweig!“ unterbrach ihn Wilhelm. „Ich denke, Du weißt am besten, wie ich dazu kam, jene unseligen Papiere zu unterschreiben. Von jener Zeit an –“

Mühsam nur hatte der Kranke die letzten Worte gesprochen. Seine Zunge rang mit einem unsichtbaren Hemmniß – jetzt versagte sie ihm ganz. Leise aufstöhnend sank er zurück; er war furchtbar bleich geworden und preßte die Hand krampfhaft auf die Brust.

Bestürzt neigte sich Hilda über ihn.

„Was ist Dir? Wilhelm, was ist Dir? Er wird ohnmächtig – schnell das Wasser!“

Und ohne zu beachten, aus wessen Händen, nahm sie das von Schöpf dargereichte Glas, netzte Stirn und Schläfen ihres Bruders und suchte ihm einige Tropfen einzuflößen. Er nickte ihr leise zu.

„Es ist nichts, nichts,“ sagte er mit schwacher Stimme, „nur wieder ein bischen Herzklopfen!“

Er versuchte sogar zu lächeln.

Da sank Hilda in dem schmalen Raume zwischen Tisch und Bank auf die Kniee und legte ihre Stirn auf seine Hand, die sie mit ihren beiden Händen krampfhaft drückte.

„Mein Bruder, mein armer Bruder!“ weinte sie, und nach einer kleinen Weile erst fügte sie flehend hinzu:

„Vergieb mir!“

„Ich Dir?“ fragte er, dann aber wehrte er ihr leise:

„Ich soll mich nicht aufregen, weißt Du – das dumme Herzklopfen –“

„Soll ich den Arzt rufen?“

„Nein, nein – ich bin es schon gewohnt,“ beschwichtigte er ihre Angst. „Und es ist auch schon vorüber – nur eben keine Aufregung!“

Sie hatte sich erhoben und wendete sich streng zu Schöpf.

„Sie hören es. Gehen Sie!“

„Mit dem größten Vergnügen, sobald wir uns nur erst geeinigt haben. Als Vertreter meiner Tochter darf ich nicht früher weichen. Unsere Ansprüche sind bescheiden und –“

„Unverschämt!“ unterbrach ihn Hilda.

„Sie haben ja noch nicht gehört, wie hoch sie sich belaufen.“

„Machen Sie dieselben vor Gericht geltend, wenn Sie wollen, aber befreien Sie uns endlich von Ihrer Gegenwart! – O, daß doch Meinhard hier wäre!“

Ihr Seufzer rief bei Schöpf nur ein breites, widerliches Lachen über das ganze Gesicht hervor, daß eine häßliche Reihe geschwärzter und mangelhafter Zähne zum Vorschein kam.

„Soll ich ihn etwa herbeiholen?“ spottete er. „Damit wäre Ihnen wohl selbst der schlimmste Dienst erwiesen. Sie haben doch den Herrn Bezirkshauptmann gemeint? Scharmanter Mann, habe ja schon die Ehre seiner Bekanntschaft. Aber für steckbrieflich verfolgte – Auswanderer ist eine nähere Berührung mit der hohen Obrigkeit eben nicht sehr wünschenswerth, vermuthe ich.“

„Höre nicht auf ihn, die Strafverfolgung ist verjährt,“ sagte Wilhelm zu der ihn bestürzt anblickenden Schwester. „Ich habe mich genau darnach erkundigt. Nach dem österreichischen Gesetze genügen schon fünf Jahre dazu.“

„Sehr zutreffend, sehr präcis! Der Gewährsmann hat nur eine Kleinigkeit übersehen, eine winzige Klausel. Er ist wohl ein Rechtsgelehrter, der mit dem deutschen Gesetzbuche, in welchem sie nicht enthalten ist, vertrauter war, als mit dem österreichischen?“

„Was soll das für eine Klausel sein?“

„Die Bestimmung – es müssen recht umsichtige Leute gewesen sein, die sie aufgenommen – die Bestimmung – eine kleinliche Einschränkung, nicht zu leugnen, welche die ganze Rechtswohlthat eigentlich illusorisch macht – oder doch in der Regel bis zur Unbrauchbarkeit verkümmert – die Bestimmung,“ und nochmals hielt Schöpf mit einem grausamen Behagen an der Folter seiner Zuhörer inne, ehe er seine Rede vollendete, „die Bestimmung, daß die Verjährung nur Jenen zu Gute kommt, welche sich nicht aus den österreichischen Staaten geflüchtet haben. – Diese Rückkehr, mein Herr Schwiegersohn, war doch ein wenig unvorsichtig.“

„Ist das auch gewiß?“ fragte Hilda betroffen.

„Sie brauchen die Frage nur Herrn Statthaltereirath Meinhard vorzulegen und abzuwarten, ob die Verhaftung erfolgt.“

„O nimmermehr – er würde nicht – –!“ rief sie mit dem Ausdrucke voller Ueberzeugung.

Schöpf zuckte die Achseln.

„Aber die ihm untergebene Polizei! Es ist der Staat, in dessen Amt und Pflicht er steht. Meinen Sie nicht, daß es vielleicht doch besser wäre, den Ausgang dieses Conflictes nicht erst abzuwarten?“

„Hat er Recht, Wilhelm?“ fragte sie angstvoll, ihrem Bruder die Antwort von den geschlossenen Augen abzulesen bemüht, als aber keine andere erfolgte, als ein leises Erheben und Fallenlassen der Hand, eine stumme Bestätigung, es werde wohl so sein, da rang sich ein banger Klagelaut aus ihrer zitternd athmenden Brust … „Was thun?“

„Die gefährliche Position räumen,“ rieth Schöpf. „Ueber diese unangenehme Grenze wieder zurückgehen! Es muß ja nicht gerade nach Amerika sein. Mit einem kleinen Capital läßt sich irgendwo in der Schweiz, in einem Winkel Deutschlands oder Italiens eine neue Existenz gründen. Ich glaube nicht, daß noch sehr emsig nach einem gewissen Wilhelm von Reinach gesucht wird; die Polizei erfreut sich zu unausgesetzt neuer, interessanter Aufgaben für ihren Scharfsinn, als daß sie Lust verspüren sollte, ohne besondere Nöthigung sich mit der Ausräumung alter, vergessener Fälle, an denen Niemand mehr ein Interesse hat, zu befassen. Materiellen Schaden hat Niemand gelitten, und der moralische der Gesellschaft – bah! Man muß sich nur nicht geradezu in des Löwen Rachen setzen. Schon von Altersher gilt das Sprüchwort: Wer sich in die Gefahr begiebt –“

„So thun Sie denn, wozu Sie sich erbieten – bringen Sie ihn in Sicherheit!“ flehte ihn Hilda an.

„Mit Vergnügen – unter gewissen Bedingungen.“

„Nennen Sie Ihre Forderungen!“

„Ich hatte schon die Ehre, mein Fräulein, davon zu sprechen. Sobald die Abfindungssumme in meinen Händen ist – ich bin ein Freund klarer Geschäfte.“

„O!“ meinte Wilhelm, wieder in der müden, ironischen Gelassenheit, die seine Schwester zuerst so sehr gereizt hatte. „Das ist mir neu.“

Schöpf gab sich die Miene, als habe er die Bemerkung nicht gehört. Dem Sieger geziemt ja Großmuth.

„Sie werden finden, daß wir die Lage nicht mißbrauchen und wirklich bescheiden sind. Wir begnügen uns mit – zehntausend Gulden.“

„Zehntausend?“ wiederholte Hilda erschreckt. „Mein Gott, ich kann über soviel nicht verfügen.“

„Du sollst auch nicht,“ erklärte ihr Bruder matt, aber fest. „Keinen Heller mehr diesem Unersättlichen!“

Schöpf faßte seinen Hut und setzte ihn mit trotzig frecher Miene auf. Seine Augen schossen einen tückischen Blitz.

[76] „Ah, Herr von Reinach glaubt immer noch auf die Verjährung pochen zu können,“ sagte er. „Nun, es kommt ja nur auf die Probe an. Der Weg zum nächsten Gensd’armerieposten ist nicht so weit.“

„Keinen Schritt!“ rief Hilda außer sich vor Angst. Sie warf sich vor die Thür, gegen die er eine Bewegung gemacht, und die Energie in ihrer Geberde, der lodernde Blick gaben ihren Worten den Nachdruck einer zum Aeußersten bereiten Entschlossenheit. „Sie verlassen dieses Zimmer nicht, und müßte ich –“

„Nur über Ihre Leiche –“ sagte Schöpf, sich mit spöttischem Lächeln geschmeidig verbeugend, „ich verstehe. Ich verlange es ja gar nicht besser, als hier zu bleiben, selbstverständlich auf Grundlage eines festen Uebereinkommens. Es drängt mein eigenes Herz, mich der Pflege meines geliebten Sohnes – o, ich habe ihn immer als solchen betrachtet – mich seiner Zukunft zu widmen, die ja wieder eine hoffnungsvolle werden kann.“

„Laß ihn gehn – laß ihn!“ forderte Wilhelm mit allen Zeichen des Ekels. „Er weiß mich hier in sicherem Gewahrsam und denkt nicht daran, mich in einen noch sichereren zu liefern, wohin seine Ränke nicht mehr reichen.“

„Sehr wahr, sehr wahr, mein Lieber! Ich sehe, Du erfassest die Sachlage richtig. Nun, das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen; alles will seine Bedenkzeit. Ich bin nicht unbillig, und mit Kranken muß man Nachsicht haben – ihren Launen sich fügen. Ich will nicht schuld sein an neuen Aufregungen, geliebter Sohn. Also rasche Besserung! Wir werden uns ja unterdessen nicht aus den Augen verlieren. Auf Wiedersehen, mein Herzensjunge! Empfehle mich, mein gnädiges Fräulein!“

Diesmal verwehrte ihm Hilda das Gehen nicht. Im natürlichen Rückschlage ihrer in so unvermittelter Folge auf’s Höchste gespannten Gefühle stand sie wie gelähmt, und Thränen flossen ihr die Wangen hinab.

„Hilda!“ rief da des Bruders Stimme, so weich, so matt und zitternd, daß sie erst ein heftiges Schluchzen niederringen mußte, ehe sie dem Rufe Folge leisten konnte; dann trat sie zu dem Kranken und ließ sich wieder langsam an seiner Seite auf die Kniee nieder.

„Sei ruhig!“ glaubte sie ihn trösten zu müssen. „In einigen Tagen ist Dir wohler, Wilhelm; dann helfen wir Dir fort! Du beginnst noch einmal von Neuem. Alles wird noch gut.“

„Du mißverstehst mich, Hilda“ sagte er. „Ihr dürft keine neuen Opfer mehr bringen.“

„Sie müssen gebracht werden. Dieser Mensch – –!“

„Ich erwarte geduldig meine Strafe – einmal will ich doch auch das Rechte thun.“

„Du überstehst sie nicht, diese Strafe.“

Er lächelte traurig.

„So oder so – es hat ein Ende.“

„O sprich nicht so!“ wollte sie ihn bitten, aber von neuem überkam sie das krampfhafte Weinen. Sie umschlang ihn mit beiden Armen und legte ihre nasse Wange an die seine.

Aus dem gepreßten Schluchzen drang nur die Klage:

„Mein armer, armer Bruder! Was haben sie aus Dir gemacht!“

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.

Nr. 47.0 Die Csikos der Pußta.

Als in den Revolutionsjahren 1848 bis 1849 alle Welt erstaunt sich fragte, woher in dem schwach bevölkerten Magyarenlande all die Reiterschaaren erständen, die sich immer und immer wieder den erprobtesten Schwadronen der besten Reiterei der Welt entgegenstellten, um, zehnmal geschlagen, schließlich doch das Feld zu behaupten, da war es zumeist die wehrhafte leicht bewegliche Sippe der Hirten in den weiten Pußten, und an deren Spitze das Centaurenvolk der Csikos, welches solches Wunder bewirkte, ein Wunder allerdings nur für den Fremden, der Eigenart dieser Steppenmenschen Unkundigen.

Mußte es doch wahrhaftig schon ein schlechter Csikos sein, der nicht eine Lammfellmütze nebst einem verschnürten Dolman, Stiefel und Sporen als Sonntagsstaat sein eigen nannte: was bedurfte es weiter, als dem handfesten Burschen irgend einen alten Säbel in die kräftige Faust zu drücken und der Husar war fertig. Hei, und was für ein Husar!

Roß und Reiter gehärtet wie Stahl, unempfindlich für Wind und Wetter, längst vertraut mit des Soldaten schlimmsten Feinden, dem Hunger und dem Durst! Das Roß wußte sich aus tiefem Schnee noch die spärliche Kost hervorzuholen; dem Reiter genügte ein wenig Speck zum harten Brode; gab es obendrein noch Tabak für die kürze Pfeife, dann ging es stets munter und unverdrossen vorwärts, und stieß man auf den Feind, so schwangen die allzeit rauflustigen Gesellen ihre alten Säbel frohmuthig und unverzagt.

So thaten sie, und so würden sie wieder thun, erschallte heute wieder der altbewährte Ruf, der diese rauhen, ehrlichen Herzen stets höher pochen läßt, der Ruf:

„Für Vaterland, Volk und König!“

Ob dieser Ruf auch immer ehrlich gemeint ist, ob nicht bisweilen ein wenig Rebellion und Hochverrath dahinter steckt, darum kümmert sich der schlichte Sohn der Pußta nicht allzu sehr; das Denken und Grübeln überläßt er ruhig Jenen, die den Ruf erheben, und glaubt vollauf seine Schuldigkeit gethan zu haben, wenn er dafür sein Bestes, sein Blut, eingesetzt hat; denn was sein Gut betrifft, so war und ist es ohnehin nicht der Rede werth.

Diese stete Kampfbereitschaft, diese trotzige Entschlossenheit zu kriegerischem Hazardspiele eines so namhaften Theiles der magyarischen Bevölkerung erklärt nicht nur so manche Culturseltsamkeit jenseits der Leitha, sondern auch manchen sonst räthselhaften politischen Vorgang in Oesterreich überhaupt; es sind dies eben die Pfeiler des magyarischen Uebergewichtes, auf welche gestützt der in jeder anderen Beziehung weitaus schwächere Theil dennoch bei allen bisherigen Verhandlungen zwischen den beiden Reichshälften den Sieg errungen.

Allein auch die magyarische Medaille zeigt eine minder glänzende Kehrseite.

Dieselben Gesellen, welche bei drohender Gefahr oder auch im prickelnden Ueberkraftgefühl, unbekümmert um Noth und Tod, die Steppe durcheilen, sind ebenso virtuos und unermüdlich im – Ausruhen; zwölf Stunden auf einem und demselben Flecke auf dem Rücken oder zur Abwechslung auf dem Bauche zu liegen, dabei in die Wolken des Himmels oder der immer glimmenden Tabakspfeife zu schauen, ist das eigentliche Tagewerk des Csikos oder Pferdehirten, wie all seiner minder edeln Gewerbegenossen, des Rinder-, Schaf- und Schweinehirten.

Eine andere Schattenseite unserer kühnen Reiter bestätigt die Richtigkeit des deutschen Sprüchwortes: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ auch auf magyarischem Boden.

Man denke sich diese kraftstrotzenden Naturen tagelang brütend über – ja, worüber? Das ist’s, kein Sterblicher weiß es, sie selbst am wenigsten.

„Was ich gedacht, Herr?“ erwiderte einst Pista, ein Csikos, wie ihn malerischer, wilder und ehrlicher die Steppe nie geboren, auf meine Frage, die gewaltigen Glieder reckend, „ei nun, eben dachte ich, Herr, daß ich seit gestern nichts gegessen.“

„Und vordem?“

„Ich weiß es nicht, Herr – ich rauchte.“

Und Pista sprach die Wahrheit. Naturmenschen denken wie die Kinder, nicht mit dem Kopfe, sondern mit den Sinnen, diesem Denken aber folgt das Verlangen auf dem Fuße.

Lenau zwar meint, wie er in einem seiner schönsten Steppenbilder sagt, er habe von den Zigeunern, diesen anderen Virtuosen des Müßigganges, gelernt, wie man das Leben vergeige, verrauche oder verträume, doch wußte er als Landeskind wohl am besten, wie selten das Leben auf der Pußta so harmlos verläuft, wußte am besten daß auch die europäische Steppe ihre fata morgana hat, nicht minder schön und verlockend, wie jene der Wüste, nicht minder verderblich dem, welcher ihren Lockungen folgt.

Ja, um gerecht zu sein, muß man zugestehen, daß es wenige Menschenrassen geben dürfte, welchen die Aufgabe, den Kampf um’s Dasein mit fleckenlosem Schilde zu bestehen, so schwer gemacht würde, wie unseren Csikos. Niemand verargt es z. B.

[77]

Csikos auf der Wolfsjagd.0 Originalzeichnung von W. Heine.

[78] dem wackeren Rossetummler, wenn er die lechzende Zunge an dem süßen Traubensafte des nächsten Weingartens labt, oder den knurrenden Magen mit dem Ueberflusse der Mais- oder Erdäpfelfelder befriedigt; nicht mit Unrecht bemerkte mein Hauswirth zu Kisberenyi meiner diesbezüglichen Kritik gegenüber:

„Belieben zu bedenken, bester Herr, wovon sollen die armen Kerle leben bei zwölf Gulden Jahreslohn nebst einer Remuneration von einem Paar Stiefeln für tadellose Dienstleistung?“

Die Grenzlinie solchen privilegirten Eingreifens in fremde Rechte ist aber feiner, als des Schwertes Schärfe. Und die Versuchung nahet den Steppenbewohnern nicht in dieser Gestalt allein.

Eines Tages wird dem noch jungen, unerfahrenen Csikos ein Stück von der Heerde weggestohlen.

„Gut, gut,“ sagt der Herr, dem er es gemeldet, mit mißtrauischem, finsterem Blicke; „doch merke: der Hirte, welcher sich Pferde stehlen läßt, verdient keinen Lohn.“

Zähneknirschend geht der Bursche von dannen; man hält ihn für einen Gelegenheitsmacher, einen Gehülfen der Roßdiebe. Von dieser Zeit ab ist kein verlaufenes Pferd mehr zu finden auf der Pußta, und von dieser Zeit ab trägt des jungen Csikos Mädel prächtig bunte Röcke, seidene Halstücher und sogar Geldmünzen in den Ohren. Da fällt beim Tanze ein schiefes Wort über solchen Luxus; es giebt Streit, ein gewaltiger Schlag mit dem Fokos schließt dem Gegner die Lippen – der Roßdieb ward zum Mörder. Noch in derselben Nacht verschwindet er, und mit ihm das beste Pferd seines Brodherrn, die anderen Tages erscheinenden Wächter des Gesetzes aber haben das Nachsehen. Zwar wissen Alle, wohin der Schuldige geflohen, auch die Diener der Gerechtigkeit; Jedermann kennt die verfallene, rauchgeschwärzte, scheinbar unbewohnte und unbewohnbare Csarda, aus welcher gleichwohl oft von Mitternacht bis zum Morgen Citherklang und wildes Jauchzen erschallt – doch, wer sticht gern ohne Noth in ein Wespennest? – Nach jener Csarda nahm der Mörder seinen Weg, gefoltert von Todesangst und Reue, doch feuriger Wein und feurige Mädchen thun ihre Schuldigkeit, und die aufgehende Sonne des nächsten Tages bescheint einen Räuber mehr im Ungarlande.

Ein anderer Fall führt zu gleichem Resultate. Ein so guter Soldat nämlich der Csikos vor dem Feinde ist, so schwer entschließt er sich, die weite Pußta mit der engen Caserne, das ungebundene Leben des Hirten mit der strengen Disciplin des Militärdienstes zu vertauschen. Bei solcher Unlust bedarf es nur noch eines Wortes aus dem Munde einer thörichten braunen Steppendirne, um die Wagschale zu Gunsten der Freiheit sinken zu lassen, einer Freiheit, die meist wieder über die Schwelle einer „einsamen Schenke“ und oft genug zum Hochgerichte führt.

Bedenkt man nun weiter, daß gerade die schärfste und scheinbar wirksamste Maßregel gegen das Ueberhandnehmen des Räuberunwesens, welche jeden den Verfehmten erwiesenen Dienst, jede Verheimlichung ihres Aufenthaltes, oder unterlassene Anzeige mit dem Tode bedroht, den Csikos gleichsam zwischen zwei Feuer bringt, so wird man zugeben, daß das Dasein dieser armen Burschen in der That einer Fahrt zwischen Scylla und Charybdis gleicht, und mit ziemlicher Sicherheit den Schluß ziehen, daß so lange es in Ungarn Pußten und Hirten giebt, auch die interessante Species der Räuber nicht aussterben dürfte.

Damit sei jedoch der vielfach verbreiteten extremen Ansicht, als stecke hinter jedem Csikos ein Bösewicht, keineswegs das Wort geredet, und ebenso wenig in Abrede gestellt, daß der Zauber der Steppenpoesie selbst über die düsteren Gestalten der vom Gesetze Geächteten den Schleier einer gewissen Romantik breitet.

Nein, es giebt noch der ehrlichen Leute genug in der Pußta, und der in die Nachtseite des Steppenlebens geworfene Blick soll uns die Freude an den kecken Reitern, wie das dieser Skizze beigegebene Bild sie uns zeigt, nicht verderben. Nur wer da weiß, was es sagen will, ein feuriges, sattel- und bügelloses Pferd mittelst eines oft nur nothdürftig aus einem Halfterstrick improvisirten Zaumes zu regieren, nur der wird die Gewandtheit dieser Reiter zu würdigen wissen; doppelt bewunderungswürdig aber erscheint dieselbe, weil der Reiter gleichzeitig ein so behendes Thier, wie es der Rohrwolf ist, mit der Wurfschlinge erfolgreich zu bekämpfen versteht.

In der That muß man, um die Möglichkeit solchen Reiterkunststückes überhaupt zu begreifen, vor allem die Art und Weise kennen, wie der Csikos mit seinem Pferde „einig“ wird, das heißt, wie er es anfängt, ein wildes, unbändiges Steppenroß in einen treuen, gehorsamen Gefährten umzuwandeln; diese Procedur ist allerdings wieder so „steppenmäßig“, daß der bloße Bericht für den Fernstehenden immer etwas wunderbar klingt.

Das Beste, was ich selbst von beiderlei Leistungen zu sagen weiß, verdanke ich dem schon erwähnten Pista, weshalb ich hier möglichst treu wiedergeben will, was ich an der Seite meines Gewährsmannes vernommen und erlebt.

Pista diente zur Zeit, als ich seine Bekanntschaft machte, auf der Pußta eines der reichsten Magnaten Ungarns und war mir vom Gutsdirector, dessen Gastfreundschaft ich genoß, für alle Fälle, in welchen mein Dienst die Begleitung verläßlicher Führer oder Pferde bedurfte, zugewiesen worden.

Eines Abends stand ich eben im Begriffe, nach vollbrachtem Tagewerke auf einem mir von Pista bereit gehaltenen Pferde von der Pußta heimzureiten, als zwei Männer auf flinken Rößlein dahergesprengt kamen, und Pista als ihrem Vorgesetzten die Meldung erstatteten, daß eben ein Füllen unweit der weidenden Heerde „angerissen“ worden sei.

Der Csikos strich sich fluchend den gleich Fühlhörnern emporstrebenden Schnurrbart.

„Kutya teremtete“, erwiderte er dann, „es ist bereits das zweite Füllen in dieser Woche; der gnädige Herr Graf wird uns für Betschwestern halten, die hinter jedem Wolf den Teufel wittern und für ihre arme Seele zittern ... und jetzt, nachdem die wilden Bestien einmal Blut geleckt, holen sie sich so sicher ihr Frühstück wie der Jude am Verfallstage sein Geld, aber drei Monate will ich die Spindel drehen und Wassersuppe essen, wenn ich den verdammten Leckermäulern diesmal nicht den Braten gründlich versalze.“ Und sich zu den beiden Männern wendend, fuhr er im Tone eines commandirenden Officiers fort: „Hurtig, Kinderchen, nehmt frische Pferde und reitet hinüber zum alten Farkas Iofi (Wolf Josef). Er darf nicht fehlen, wo es seinen Namensvettern an den Pelz geht; im Vorübergehen aber sagt dem Janos, dem Mihaly, und den beiden Fekete, sie mögen sich mit den Heerden beim Zigeunerbrunnen einfinden!“

Ich hatte längst den Wunsch gehegt, den Rohrwolf, den liebenswürdigen Vetter des mir schon bekannten Gebirgswolfes, zu Gesicht zu bekommen, daher ich Pista’s Einladung, zu diesem Ende die Nacht mit ihm unter freiem Himmel zuzubringen, mit Freuden annahm.

Während die Untergebenen des Letzteren sich beeilten, dem erhaltenen Befehle nachzukommen, legte dieser zwei Finger an den Mund und entlockte dem so construirten Naturinstrumente einen schrillen, weithin tönenden Pfiff, welchem alsbald ein lustiges Gewieher antwortete; zugleich näherte sich uns ein von dem dunkelgrauen, abendlichen Horizonte hell sich abhebender weißlicher Gegenstand, um sich in rascher Entwickelung als ein herrlicher Schimmelhengst zu entpuppen, welcher schnaubend vor dem Csikos anhielt und denselben mit den klugen großen Augen wie fragend anblickte. Obschon ein Feind jener übertriebenen Abgötterei, welche mit Pferden so häufig auf Kosten der Menschheit getrieben wird, war ich von der seltenen Schönheit dieses Thieres, dessen breite Brust, schlanker, langmähniger Hals und zierlicher Kopf die Bewunderung jedes Sportsmannes erregt hätten, wirklich entzückt.

Pista, welcher sich sofort auf den glatten Rücken des Hengstes geschwungen, hatte an meinen Lobeserhebungen so viel Freude, wie ein junges Mädchen an dem Lobe, das ihrer Balltoilette zu Theil geworden.

„Wahrlich, Herr,“ sagte er, „der Beifall, welchen Ihr dem Sandor spendet, ist für mich um so werthvoller, als mein gnädiger Graf ihn schon ausmustern und an den nächstbesten Pferdejuden losschlagen wollte. Der vierbeinige Schelm nämlich,“ erklärte Pista über mein Erstaunen, indem er die Richtung nach dem Zigeunerbrunnen einschlug, „zeigte noch vor Kurzem nicht die geringste Neigung, seinen Rücken von irgend Jemandem, wäre es auch ein Prinz gewesen, warm sitzen zu lassen, was einem vernünftigen Thiere zwar im Grunde nicht zu verargen, bei einem Reitpferde aber immerhin eine unangenehme Eigenschaft ist. Es hatten auch schon drei unserer besten Reiter sich vergeblich bemüht, dem störrigen Burschen das Unpassende seines Benehmens klar zu machen, und trug Einer derselben zum Lohne für seine guten Absichten sogar ein paar gebrochene Rippen davon, was übrigens – ich verwette meinen Kopf darauf – nicht die Absicht Sandors, sondern [79] nur die Folge eines muthwilligen Scherzes war, der eben schlimm ausfiel.“

Bei diesen Worten streichelte der Csikos den Hals Sandors, welcher die Entschuldigung mit einem für seinen Reiter wahrscheinlich vollkommen verständlichen Schnauben zu bestätigen schien.

„Vor dem Juden hatte ich den lustigen Patron durch meine Fürbitte zwar gerettet,“ fuhr Letzterer fort, „dagegen meinem Herrn für eine baldige Bekehrung desselben gut stehen müssen, ein Wort, Herr, das leichter gegeben als einzulösen war, da Sandor sich mittlerweile ganz zum Menschenfeind ausgewachsen hatte und Jedermann schon von Weitem mit den Hinterhufen begrüßte. Na, um es kurz zu machen, eines Abends gelang es mir doch, dem geriebenen Burschen den Lasso über den Kopf zu werfen und, ehe er sich’s versah, seinen Rücken zu gewinnen, wo es mir allerdings nicht zu bequem wurde; denn im nächsten Augenblicke schon flog der überrumpelte Wildling gleich einer losgelassenen Rakete in die Luft, um sich dann ebenso blitzschnell auf die Erde zu werfen und mir mit allen Vieren seine Entrüstung kund zu thun. Nun, das Stücklein ist unser Einem nicht neu, probirt es doch jedes reiterscheue Füllen, doch wurde es allmählich unangenehm, als Sandor es so rasch und oft wiederholte, daß es mir endlich fast schien, als hätte ich nicht ein Pferd, sondern eine Schlange unter mir, welche sich mit der einen Leibeshälfte in der Luft, mit der andern auf der Erde ringelt. Mein Sporn, mit dem ich jeden solchen Wechsel auf’s Gewissenhafteste markirte, verleidete endlich dem Widerspenstigen das Spiel, nun versuchte er aber ein anderes, indem er den Kopf zwischen die Vorderbeine, die Hinterfüße aber gegen den Himmel warf, gerade als wollte er kunstgerechte Purzelbäume schlagen; als ihm indessen auch dies nichts fruchtete, da wurde der arme Schelm schließlich ernstlich böse; die Mähnen sträubten sich ihm, als wären sie vom Sturme aufgewirbelt; Augen und Nüstern schienen Feuer zu speien, und der Schaum flog wie Schneeflocken um ihn her, und dann ein Sprung, Herr, wie ihn noch kein Roß unter mir gethan, und ein Rennen drauf, daß mir der Athem stockte, das Blut in den Adern hämmerte und es finstere Nacht wurde vor meinen Augen. Ehrlicher Sandor! Jetzt ein Seitensprung, und er wäre seines Reiters ledig gewesen. Aber er dachte nicht daran und jagte, wahnsinnig vor Zorn und Angst, fort, immer fort – ich sage Euch, Herr – nicht wie ein vierfüßiges Thier, nein, wie ein Vogel fliegt, den der Falke verfolgt – hoch in den Wolken.“

Der Csikos hatte sich warm gesprochen und liebkosete das edle Thier abermals mit der stolzen Zärtlichkeit eines glücklichen Vaters, ehe er seine Erzählung mit den Worten schloß, welche zugleich meine Frage nach der Dauer des tollen Rittes beantwortete:

„Genau weiß ich’s nicht zu sagen, Herr; denn als Sandor endlich unter mir zusammenbrach, blieben wir Beide auf demselben Platze halbtodt liegen, daß wir aber eine hübsche Strecke zurückgelegt, merkten wir am Heimwege, welchen wir mit dem grauenden Morgen antraten, dessen Ziel wir aber – allerdings als vortreffliche Freunde – erst erreichten, als die Sonne zu Bette ging.“

Der Zigeunerbrunnen, wo wir uns nach Pista’s Anweisung zur lustigen Jagd versammeln sollten, lag etwa zweitausend Schritte von dem Ende eines todten Donau-Arms entfernt, welcher, theilweise versumpft und mit Schilf bedeckt, mit seinen vielfachen, bis an den Hauptstrom reichenden Verzweigungen den Wölfen jene zahlreichen Schlupfwinkel bietet, wo diese Raubthiere am liebsten hausen. Der Brunnen selbst unterschied sich nicht von den bekannten, auf allen Steppen gebräuchlichen Cisternen mit den hochaufstrebenden Hebebäumen und daran baumelnden Wassereimern, bot aber bei unserer Ankunft durch die Staffage ein Nachtbild interessantester Art.

Vom schwarzblauen Himmel leuchtete der Mond, welcher seine stille nächtliche Bahn zwischen zahllosen Sternen verfolgte, hell und klar herab und beschien mit seinen milden Silberstrahlen ungefähr dreihundert Rosse, die in Gruppen lagen und standen, oder ihren Durst aus dem gemauerten Wasserbehälter löschten. Im weiten Kreise umritten zwei Wachen die leichtfüßige Gesellschaft, damit nicht ein vorwitziges oder unerfahrenes Mitglied derselben auf Abwege gerathe, die übrigen Männer aber lagerten, ihre Mahlzeit verzehrend, um ein absichtlich spärlich erhaltenes Feuer, in dessen röthlichem Gluthschein die martialischen bärtigen Gestalten – was sie etwa an Schärfe der Umrisse verloren – sicherlich an malerisch romantischem Reiz gewannen.

Abseits von diesem Feuer in Pista’s Bunda (Schafpelz) gewickelt, lag ich bald so warm und behaglich, als wäre ich auf Eiderdaunen in fürstlichem Schlafgemache gebettet, und beobachtete mit Vergnügen, wie während der nun folgenden Vorbereitungen und Berathungen für den Empfang der ungebetenen Gäste die für gewöhnlich etwas lässig träge Haltung Pista’s allgemach elastischer und energischer wurde, wie in seinen intelligenten, doch meist verschlafenen Zügen das Feuer der Kampfbegierde erwachte, und denselben eine nahezu ideale männliche Schönheit verlieh.

Es war inzwischen Mitternacht geworden, und der Einfluß der Ermüdung machte sich geltend.

„Ist Gefahr bei der Sache?“ fragte ich noch mit halbgeschlossenen Lidern den mir zur Seite lagernden Csikos.

„Bah, Herr, nicht der Rede werth!“ meinte dieser. „Zwar gerieth einer meiner Schwäger bei solcher Gelegenheit mit seinem Pferde zu tief in den Sumpf und wurde von den sonst feigen Bestien derart zugerichtet, daß ihn die eigene Mutter nicht erkannte, aber es giebt eben Leute, denen selbst beim warmen Ofen die Nase erfriert.“

Etwas später vernahm ich noch im Halbschlummer ein sehr fernes, lang gedehntes Geheul und als Antwort Pista’s Brummbaß, die Worte murmelnd: „Ah, die rothen Teufel haben die Witterung; wir werden nicht umsonst warten,“ worauf ich in tiefen Schlaf versank.

Als ich, durch Pferdegewieher erweckt, die Augen aufschlug, zeigte das Lager ein ganz verändertes Bild. Die Heerde war verschwunden, und in der Dämmerung des eben anbrechenden Morgens sah ich nur etwa ein Dutzend Männer, den Lasso in der Hand, neben ihren Pferden stehen. In demselben Moment führte Pista auch mein Thier herbei. Die dunklen Augen des Csikos blitzten jetzt wie Karfunkel unter den buschigen Augenbrauen hervor, und jeder seiner Muskeln schien bis zum Zerreißen gespannt.

„Es ist Zeit, Herr,“ sagte er mit gedämpfter Stimme und auf das Schilf deutend; „die Bestien vergnügen sich an unserer Lockspeise; nun gilt es, ihnen gute Mahlzeit zu wünschen, ehe sie fertig sind.“

Aufhorchend vernahm ich in der That ein zorniges Knurren, ähnlich dem bissiger Hunde, plötzlich aber ging dasselbe in jenes gedehnte Geheul über, das ich schon in der Nacht vernommen. Nun ertönte es aber viel näher und wurde daher von den Pferden mit wildem Schnauben und Scharren beantwortet.

Im nächsten Augenblicke schoß Pista auf seinen Schimmel, und von einige Csikos gefolgt, flog er pfeilschnell davon, einen weiten Bogen um die Stelle im Schilfe beschreibend, wo die Reste des jüngst zerrissenen Füllens zur Anlockung der Raubthiere gedient hatte. Gleichzeitig, doch in entgegengesetzter Richtung, wurde dasselbe Manöver ausgeführt, sodaß nur der alte Farkas Josi mit zwei Begleitern zurückgeblieben war.

Da ich außer einem kleinen Sackpuffer keine Waffe bei mir führte, so folgte ich Pista in einer Entfernung, welche mir den ganzen Kampfplatz zu überschauen gestattete; von dort aus sah ich deutlich, wie sowohl Pista als die von der andern Seite her operirende Abtheilung eine Verengung des Donau-Armes zu gewinnen trachteten, wo das Rohr, minder dicht, den Wölfen weniger Schutz gewährte.

Fünf Minuten etwa mochte der scharfe Ritt gewährt haben, als vom Lagerplatze lautes Jauchzen und Hussageschrei erscholl, mit welchem Farkas Josi und seine Leute auf das ihnen zunächst liegende vorspringende Sumpfterrain losstürmten, jedenfalls nach Pista’s Disposition, die sich trefflich bewährte. Bestürzt durch den plötzliche Ueberfall, flohen die Wölfe, für diesmal auf jeden weiteren Raub verzichtend, ihren tiefer gelegenen Schlupfwinkeln zu, ohne den Hinterhalt zu bemerken, auf welchen sie nun ganz unvorbereitet stießen.

Die Scene, die nun folgte, als die unheimlichen Isegrimme, von allen Seiten eingeschlossen, unter furchtbarem Geheule bald feige zurückwichen, bald in verzweifelter Wuth den Kreis zu durchbrechen suchten, während die Reiter, ihre Lassos schwingend, sich gegenseitig durch lauten Zuruf verständigten und die scheuenden Rosse ermuthigten, – diese Scene mit allen ihren aufregenden, wechselvollen Einzelheiten zu beschreiben, wäre ein vergebliches Bemühen.

Genug – vier erdrosselte Wölfe waren das Resultat des Kampfes, der Tag desselben aber wurde durch die Großmuth des Directors, der über solche Verminderung der so gefährlich gewordenen [80] Räuberfamilie hocherfreut war, zu einem Festtage für die glücklichen Sieger.

Es soll an jenem Tage hoch hergegangen sein in der nahe gelegenen Hirtencsarda. Leider war ich nicht dabei und kann daher der wackern Reiter Kunst und Gewandtheit beim sporenklirrenden Tanze nicht als Augenzeuge schildern, als ich aber Pista, vergnügt schmunzelnd, seinen „Freund“ Sandor besteigen und Beide über die Steppe der Csarda zueilen sah, fielen mir unwillkürlich die nachfolgenden Strophen eines einst viel gesungenen, heute fast vergessenen Liedes bei:

„Ohne Sattel, ohne Bügel,
Ha, wie hin der Csikos braust!
Rößlein, Rößlein, hast du Flügel,
Daß du so von hinnen saust?

Und es geht dem Wind zur Wette –
Haar und Hemd im Fluge weht,
Doch das Rößlein kennt die Stätte,
Wo es schnaubend stille steht.

Tief im Wald ist eine Schenke,
Rauch und Citherspiel darin,
Und an die mit Lust ich denke,
Schaffet dort mit regem Sinn.

Springt hinauf und springt hinunter
Mit dem Krüglein in der Hand,
Und wie sie ist keine munter
In dem ganzen Ungarland.

Rißa, Rißa, muntre Dirne,
Hörst du nicht den Peitschenknall?
Streich das Haar dir von der Stirne,
Laß’ die durst’gen Gäste all!

Denn dein Janos kommt geflogen –
Horch, schon braust’s zum Wald herein.
Auf, Zigeuner, rührt den Bogen!
Heissa! Tanz und Ungarwein!“

 F. Schifkorn.




Die Krankheiten des Bieres.

Eine mikroskopische Brauerstudie.
Von Valerius.

Vor etwa zehn Jahren erschien in einer der bekanntesten Brauereien Londons ein Gelehrter und bat um Erlaubniß, die in dem Etablissement zur Biererzeugung benutzte Hefe untersuchen zu dürfen. Man kam diesem damals sonderbar erscheinenden Wunsche gern entgegen, und der aus Paris zugereiste Chemiker stellte in Gegenwart des Directors der Brauerei sein Mikroskop auf, um die Untersuchung an Ort und Stelle auszuführen. Zunächst wurde ihm ein wenig von der Hefe überreicht, welche zur Bereitung von Porter diente, und nach kurzem Blick in das Mikroskop erklärte der Fremde unumwunden, daß der mit dieser Hefe fabricirte Porter schon seit längerer Zeit viel zu wünschen übrig lasse. Die Leiter der Brauerei waren über dieses abfällige Urtheil nicht wenig erstaunt, gaben aber schließlich zu, daß der Vorwurf der Wahrheit entspreche und daß man erst am vorhergehenden Tage beschlossen habe, die fragliche Hefe nicht mehr zu benutzen. Hierauf wurden andere Hefesorten und verschiedene Biere mikroskopisch geprüft, und der Gelehrte, welcher dieselben gar nicht gekostet hatte und von jeder Biersorte nur einen Tropfen zur Untersuchung nahm, gab über die Beschaffenheit der fraglichen Getränke das treffendste Urtheil ab. Er sagte den erstaunten Brauern, dieses Bier sei gut, jenes aber so schlecht, daß es weggeschüttet werden müsse, dieses wiederum zeichne sich durch säuerlichen Geschmack aus, und jenes halte sich gar nicht auf Flaschen. Nachdem der Fremde die nöthigen Erklärungen über die Merkmale, an welchen man kranke Hefe und verdorbenes Bier unter dem Mikroskop zu erkennen vermöge, abgegeben hatte, wurde das Vertrauen der praktischen Fabrikanten immer stärker und die Unterhaltung freier und offener.

I. Hefe-Arten in ihrer Entwickelung.       II. Krankheitsfermente des Bieres.

Als er aber am nächsten Tage in der Brauerei wieder erschien, fand er die Herren bereits mit mikroskopischer Prüfung ihrer Rohstoffe etc. beschäftigt und erfuhr, daß man nunmehr beschlossen habe, zu allen Bieren frische Hefe zu verwenden.

Dieser Vorfall ereignete sich fast unmittelbar nach dem letzten deutsch-französischen Kriege, und L. Pasteur – dies ist der Name des Pariser Chemikers – war damals auf einem Rachezuge gegen Deutschland begriffen, da er sich vorgenommen hatte, in dem Brauereiwesen, dem unbestreitbar echt deutschen Gewerbe, eine neue Aera zu eröffnen. Die hohen Hoffnungen des genialen Mannes sind bis jetzt nicht in Erfüllung gegangen, und auf ihre vollständige Befriedigung wird er wohl umsonst bis an das Ende seines für die Wissenschaft und Menschheit sehr verdienstvollen Lebens warten müssen, aber ohne praktischen Erfolg sind seine Bemühungen keineswegs geblieben; denn nicht durch seinen Deutschenhaß, wohl aber durch seine früheren meisterhaften Arbeiten über die Natur der Gährungserscheinungen war Pasteur, wie kein Anderer, dazu berufen, auf diesem Gebiete der Brauerkunst Licht und Klarheit zu verbreiten.

[81]

„Ick lebe vor mir und koche mich selbst.“
Nach dem Oelgemälde von E. Hofmeister.



Durch seine „Studien über das Bier“ hat er auch in Verbindung mit der Thätigkeit deutscher Gelehrter viel dazu beigetragen, daß heute das Mikroskop in mustergültigen Brauereien heimisch geworden ist und die Anwendung dieses nützlichen Instrumentes den Brauer oft vor empfindlichen Verlusten bewahrt.

Aber die wissenschaftlichen Aufschlüsse über die Ursachen der „Krankheiten des Bieres“ dürften nicht nur für das große Publicum, welches im deutschen Reiche jährlich gegen 38 Millionen Liter edlen Gerstensaftes zu trinken beliebt, interessant, sondern auch von praktischem Werthe für die Behandlung dieses Getränkes sein, sodaß wir unserm Leserkreise einen guten Dienst zu erweisen glauben, wenn wir das Thema hier ausführlicher besprechen.

Wie das Bier erzeugt wird, darüber brauchen wir vor einem biertrinkenden Publicum uns nicht des Weiteren zu verbreiten. Jedermann weiß, wie die Würze aus Gerstenmalz bereitet wird und daß es die Hefe ist, welche die Gährung dieser zuckerhaltigen Flüssigkeit bewirkt. Jedermann weiß, daß die zu Millionen und Milliarden in einem Braugefäß vorhandenen Hefezellen die chemische Arbeit für uns verrichten, indem sie den Traubenzucker der Würze in Alkohol, den berauschenden Bestandtheil des Bieres, und in [82] Kohlensäure, das farblose, säuerlich schmeckende und durch das „kohlensaure Wasser“ populär gewordene Gas, zersetzen. Unsere Abbildung[1] (Nr. I) veranschaulicht uns in vierhundertfacher Vergrößerung reine Hefe-Arten, wie sie sich auf dem Wege der Knospung mit wunderbarer Schnelligkeit und in großen Mengen vermehren. Jedes dieser winzigen runden Gebilde ist ein Individuum, ein selbstständiges Wesen, welchem die Gelehrten den Namen Torula beigelegt und welches sie in die große Classe der Pilze eingereiht haben.

Dieses einzellige Wesen kann nun, entweder in Massen aufbewahrt oder einzeln mit anderen Staubtheilchen auf den Blättern und Früchten der Pflanzen liegend, lange Zeit hindurch in scheintodtem Ruhezustande verharren, erwacht aber zu einem schnell dahinfliegenden Leben, sobald es in zuckerhaltige Lösung gelangt, sobald wir es in den Most des Weines, in die Würze des Bieres oder in den Teig des Brodes hineinthun. Dann bewirkt es die Gährungserscheinungen in den genannten Flüssigkeiten sowie das Aufgehen des Teiges, und wenn der Most und die Würze gut sind und nur reine Hefe in ihnen als gewandter Chemiker schaltet und waltet, dann ist auch das Ergebniß ihrer Thätigkeit ein für den Menschen befriedigendes, ein reiner und gesunder Wein oder ein klares und wohlschmeckendes Bier.

Aber die winzige Bierhefe weiß auch von einer in der Natur gemeingültigen Thatsache zu erzählen, von dem schweren „Kampfe um’s Dasein“, der ja auch die mühevollen Werke der Völker und der einzelnen Menschen entweder verschlingt oder veredelt. Wie die um die Weltherrschaft streitenden Nationen, wie die großen Besitzer rauchender Fabrikschlote und die um ihr tägliches Brod schwer ringenden Tagelöhner, so hat auch die Hefe in ihrer dem gewöhnlichen Menschenauge unsichtbaren Welt gefährliche Concurrenten, welche sie manchmal erbarmungslos zu Grunde richten oder ihr sehr oft in’s Handwerk pfuschen. Es sind dies andere, gleichfalls mikroskopische Wesen, die auch in der Zuckerlösung ihr Fortkommen finden, bei ihrer Entwickelung aber aus dem Moste und der Bierwürze eine Flüssigkeit erzeugen, welche den Menschen im höchsten Grade anwidert; es sind dies die berüchtigten Fäulnißerreger und andere mikroskopische Pilzarten. Im gemeinen Staube ruhen ihre Verderben bringenden Keime, und durch den Wind aufgewirbelt, werden sie auf Geräthe, Rohstoffe u. dergl. der Brauereien übertragen, von denen sie in die Bierwürze gelangen, um in derselben ihre zerstörende Thätigkeit zu entfalten.

In diesem auf der untersten Stufe des organisirten Lebens tobenden Kampfe kann von der Macht der Intelligenz selbstverständlich keine Rede sein. Die Naturgeschichte weiß aus jenen Gebieten nichts von etwaigen Siegen zu berichten, welche kleine, gut geführte Heere gegen an Zahl überlegene Gegner errungen hätten. Nur die zur Entfaltung gelangende rohe Kraft giebt hier den Ausschlag.

Dieses Naturgesetz wußte der Bierbrauer schon seit undenklichen Zeiten, bevor die Wissenschaft es geahnt hatte, für sich auszunutzen. Nach vielen mißlungenen Versuchen fand er ein Verfahren, dessen Begründung er nicht zu geben verstand, dessen Ergebnisse aber ihn vollständig befriedigten.

Der Bierbrauer kochte die Würze und tödtete durch die Hitze, freilich ohne es zu wissen, die in derselben etwa vorhandenen Keime schädlicher, fäulnißerzeugender Wesen; instinctiv, könnte man fast sagen, kühlte er diese Würze hierauf möglichst rasch ab und beschleunigte die alkoholische Gährung, indem er in die abgekochte Flüssigkeit eine bedeutende Menge Hefe hineinthat und also das Eindringen schädlicher Organismen in größeren Mengen verhütete. Der winzigen Schaar der Fäulnißerreger, welche ihm die Würze verderben würden, setzte er eine Armee gesunder Hefezellen entgegen. Wenn aber nach längerem Gebrauche seine Hefe verunreinigt wurde und ihm schlechtes Bier lieferte, dann griff er zu dem bei seinem Stande geheiligten Brauche des Hefenwechsels; er warf seine untaugliche Hefe fort und entnahm frische und bessere von seinen Nachbarn.

Der Weinbauer, welcher ein der Brauerei verwandtes Gewerbe betreibt, indem er aus dem Safte der Rebe den feurigen Wein, ein gleichfalls durch Gährung entstandenes alkoholhaltiges Getränk, bereitet, braucht nicht zu allen diesen Vorsichtsmaßregeln seine Zuflucht zu nehmen. Zwar arbeitet auch für ihn die Hefe, aber der Most ist, dank seinem Gehalte an Weinsteinsäure, ein für die Entwickelung der Fäulnißerreger durchaus ungeeignetes Mittel und wie geschaffen für das beste Gedeihen der Hefe. Hier hat die Natur selbst die schützenden Grenzen gewissermaßen gezogen, und darum braucht der Weinfabrikant keine Hefe in seinen Most zu thun; denn schon die winzigen Mengen derselben, welche auf den Schalen der Weinbeeren vorhanden sind, genügen zur Hervorbringung der nöthigen Gährung.

Wohl würde auch die Bierwürze, sich selbst überlassen, nach einiger Zeit, ohne besonderes Hinzuthun von Hefe, in Gährung übergehen. Aber da ihre Zusammensetzung, verschieden von derjenigen des Weinmostes, auch die Entwickelung anderer Gährungserreger begünstigt, so würde aus dieser, sagen wir, freiwilligen Gährung im hundertsten Falle das hervorgehen, was wir Bier nennen; in der Regel würde aus der besten Würze eine saure oder faulige, ungenießbare Flüssigkeit entstehen.

Ohne seinen Feind von Angesicht zu kennen, schob ihm endlich der Bierbrauer noch in unserem Jahrhundert einen ferneren schwer zu durchbrechenden Riegel vor. Unsere Leser wissen, daß vor wenigen Jahrzehnten in dem biergesegneten Baiern eine bis dahin unbekannte Art von Bierbrauen erfunden wurde, die Herstellung der untergährigen oder sogenannten Lagerbiere. Früher bereitete man das Bier überall in der Weise, daß die Würze nach dem erfolgten Sieden auf etwa +20° C. abgekühlt und dann mit Hefe versetzt wurde. Unter der Einwirkung dieser nicht unbedeutenden Wärme geht die Gährung stürmisch vor sich; rasch vermehren sich die knospenden Zellen und entwickeln auf einmal bedeutende Mengen Kohlensäure, welche aus der Würze in kleinen Blasen in die Höhe steigt und die Hefe an die Oberfläche des Gefäßes mit sich fortreißt. Man nennt das also bereitete Bier obergähriges, und bekanntlich kann diese Sorte, ohne zu verderben, nicht lange aufbewahrt bleiben, sondern muß sofort dem Consum übergeben werden.[2]

Bei der neuen Bereitungsart wird dagegen die Würze mit Hülfe besonderer Eiskühler rasch bis auf +5° C. abgekühlt und erst dann die Hefe hineingethan. Die Kälte gestattet den Hefezellen nur ein verhältnißmäßig dürftiges Leben. Langsam geht die Gährung von Statten; spärlicher ist die Entwickelung der Kohlensäure, die in diesen geringen Mengen die Hefe nicht in die Höhe zu heben vermag und dieselbe sich auf dem Boden des Gefäßes ansammeln läßt.

Man nennt daher das auf diese Weise erzeugte Bier untergähriges, und dieses kann in kühler Temperatur als Lagerbier monatelang aufbewahrt bleiben und auf Eisenbahnen in Fässern und in Flaschen meilenweit verschickt werden, ohne besonderen Schaden zu erleiden.

Vergeblich hätte man den Erfinder dieser Braumethode darnach gefragt, warum sein untergähriges Bier sich widerstandsfähiger erweise, als das obergährige. Heute antwortet hierauf die Wissenschaft: In der kühlen oder gar kalten Temperatur von +5° C. sterben die Keime der Fäulnißerreger in der Regel ab, während die Hefe ihre Lebensfähigkeit noch beibehält. Das untergährige Bier ist daher freier von den gefährlichen Keimen, welche bei der Nachgährung das Bier sonst zu verändern und ungenießbar zu machen pflegen.

Auf diese Weise war es dem Bierbrauer gelungen, sich im Großen und Ganzen seiner unsichtbaren Feinde zu erwehren und vor ihren verwüstenden Einfällen sein Gebiet zu schützen. Aber er kannte nicht alle ihre Schliche und Wege, auf welchen sie in die Kufen, Fässer und Flaschen einzudringen wissen. Gelehrte waren es, die diese Feinde demaskirten und noch viele andere ihrer verborgenen Schandthaten an’s Tageslicht brachten. Aber die Wissenschaft mit ihrer Erklärung spielte hier nicht die Rolle eines hinkenden Boten, der dem praktischen Brauer mit seiner Nachricht nichts nutzte, sondern die eines guten Rathgebers, der ihn noch vor manchem Schaden zu bewahren im Stande ist.

Seitdem es nämlich festgestellt worden, daß jene mikroskopischen Wesen in der Mehrzahl der Fälle die nachtheiligen Veränderungen des Bieres während seiner Zubereitung und während seiner Aufbewahrung [83] in Fässern oder Flaschen hervorrufen, ist der Bierbrauer in die Lage versetzt, das Vorhandensein dieser Pilze zu entdecken, bevor sie ihm schaden können.

Er braucht heutzutage nicht mehr zu warten, bis seine Kunden über den Geschmack des von ihm gelieferten Bieres gerechte Klagen erheben, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß seine Hefe zur Bierbereitung nicht mehr tauglich sei. Er braucht nicht mehr zum Wechseln der Hefe durch die bittere Erfahrung genöthigt zu werden, daß das von ihm gebraute Getränk noch in den Kufen sauer oder wohl gar faulig geworden ist und sich nur zum Wegschütten eigne. Er braucht heutzutage nur die Hefe vor ihrer Benutzung einer genauen mikroskopischen Prüfung zu unterwerfen, um sich zu vergewissern, ob sie rein oder mit Krankheitsfermenten vermengt ist, ob sie gutes oder schlechtes Bier liefern wird. Das ist aber sogar dann, wenn wir annehmen, daß auch die mikroskopische Untersuchung den Brauer manchmal täuscht, ein bedeutender Vortheil; denn praktische Bierbrauer haben uns erklärt, daß sie unter den gewöhnlichen Umständen, ohne vorhergehende Prüfung der Hefe, manchmal etwa den fünften Theil des von ihnen fabricirten Bieres nicht absetzen konnten, sondern ihn als mißlungenes Gebräu einfach vernichten mußten.

Die Kenntniß der Ursachen dieser Krankheiten des Bieres wird aber auch denjenigen, der gewerbsmäßig Bier auf Flaschen abzieht, und denjenigen, der es zu seinem eigenen täglichen Gebrauche thut, wohl veranlassen, in seinen Hantirungen mit peinlicher Sorgfalt vorzugehen. Da die Krankheitserzeuger überall vorhanden sind und in Bierresten der entleerten Flaschen in großen Mengen gefunden werden, so ergiebt sich zunächst die Nothwendigkeit, diese Flaschen auf das Sorgfältigste auszuspülen, sie womöglich zunächst mit siedendem Wasser zu reinigen, bevor sie von Neuem mit Bier gefüllt werden. Dieselben Vorsichtsmaßregeln sind selbstverständlich auch beim Korkverschluß zu beobachten; denn das beste Bier kann durch einen unreinen Stöpsel mit den Krankheitserregern angesteckt und dadurch verdorben werden. Wer diese Reinlichkeitsmaßregel unterläßt, der schädigt sich selbst; der Flaschenbierhändler läuft alsdann die Gefahr, wenn er auch sein Bier von der solidesten und renommirtesten Brauerei in vorzüglichster Qualität bezieht, seinen Kunden ein Getränk in’s Haus zu liefern, welches nach längerer Zeit auf Flaschen schlecht wird; er läuft hierdurch Gefahr, seine Kundschaft und mit ihr auch sein Geld einzubüßen.

Doch genug dieser praktischen Winke! Es kann nicht unseres Amtes sein, die sich aus der Kenntniß der Ursachen der Biererkrankung ergebenden Schlüsse in ihrer ganzen Vielseitigkeit zu ziehen. Der Brauer und Bierhändler, welche sich in erster Linie für dieselben zu interessiren haben, finden sie in den neuesten Handbüchern und Fachzeitschriften in genügender Weise erörtert. Uns sei es nur noch gestattet, die wichtigsten dieser berüchtigten Bierverderber, über welche die Trinker sich schon, ohne sie zu kennen, so oft bei einem Glase Bieres geärgert haben, hier flüchtig den Lesern der „Gartenlaube“ vorzustellen. Auf unserer Abbildung (Nr. II) finden wir sie in geschmackvoller Weise zu einem interessanten Tableau zusammengestellt.

In der mit Nr. 1 bezeichneten Abtheilung begegnen wir zunächst denjenigen Gährungserzeugern, welche das bekannte „Umschlagen“ des Bieres hervorrufen. Es sind dies kleine Stäbchen, die bald einzeln, bald in Gliederketten auftreten und deren Durchmesser ein Tausendstel eines Millimeters beträgt.

Neben diesen Gebilden erblicken wir unter Nr. 2 eine Probe sauer gewordenen Bieres. Mitten unter den Hefezellen ruhen hier die sogenannten Milchsäurefermente, stäbchenartige Organismen, die an ihren Rändern leicht eingeschnürt erscheinen, sich selten zu Ketten von zwei bis drei Gliedern zusammenreihen und nur wenig größer sind als ihre vorher erwähnten Geschwister. Weiter unten ist (Nr. 3) eine Probe fauligen Bieres abgebildet. In ihr wimmeln kleine Organismen, die Vibrionen, welche je nach den Schwankungen der Temperatur sich rascher oder langsamer bewegen. Sie sind in der Regel lebende Zeugen einer bei der Bierfabrikation oder Flaschenfüllung begangenen unverzeihlichen Nachlässigkeit. Wo man derartiges faules Bier findet, dort kann man auch mit Recht sagen: Herr „Biermann“, Ihre Arbeit war faul. Die unter Nr. 4 vorgeführten Organismen, die wie Perlenschnuren aussehen, sind für das zähe Bier charakteristisch, während neben ihnen (Nr. 5) die Erzeuger der Essigsäure, welche dem Biere einen nach Essig riechenden, säuerlichen Geschmack verleihen, sich breit machen.

Die vielgestaltigen Gebilde, die wir unter Nr. 6 antreffen, sind gottlob! keine Krankheitserzeuger; es sind dies feste Niederschläge verschiedener Farbstoffe etc., die fast in jedem Biere zu finden sind und als unschuldige Substanzen kaum unsere Beachtung verdienen. Dafür beschießt die Reihe (Nr. 7) ein Bierverderber ersten Ranges, ein kleiner unbenamster Pilz, aus runden Kügelchen bestehend. Er verleiht dem Gerstensafte nicht nur einen sauren Geschmack, der an den der grünen Aepfel ganz deutlich erinnert, sondern auch noch einen Geruch, der in seiner Widerlichkeit unbeschreibbar ist.

Wir wollen jedoch gegen diese saubere Schmarotzergesellschaft, über welche wir soeben eine Rundschau abgehalten haben, nicht ungerecht sein. An schlechtem Biere, das da oft in der Welt gebraut und leider – auch getrunken wird, haben sie wohl den Löwenantheil, aber noch lange nicht lastet die gesammte Schuld auf ihnen. Sie erzeugen nur krankes, widerlich schmeckendes Naß, welches die Menschen nicht trinken wollen.

Leider aber haben sich hier und dort in das angesehene und für die Volkswohlfahrt wichtige Brauergewerbe viel schlimmere Feinde des Bieres eingeschlichen, jene Nahrungsmittelverfälscher, die unter dem wohlklingenden Namen Surrogate alles mögliche und oft giftiges Zeug zum Bierbrauen verwenden. Gefährlicher sind sie, als jene Myriaden von Pilzen; denn die von gewissenlosen Menschen verwendeten gesundheitsschädlichen Stoffe widern unsere Sinne nicht an, sondern kitzeln vielmehr durch tückischen Wohlgeschmack unsern Gaumen und laden zum Genusse des Giftes ein. Dem ehrlichen deutschen Braugewerbe wünschen wir von Herzen, daß es bald und gründlich auch von diesem Schmarotzerthum befreit werden möge.

Es ist aber wohl zu beachten, daß einige dieser schädlichen Surrogate die Eigenschaft besitzen, die Entwickelung der Krankheitserzeuger in der Bierwürze zu hemmen. Daher griff auch mancher Brauer, der die Tragweite ihrer Gesundheitsschädlichkeit nicht kannte, durch den guten Erfolg der Fabrikation verleitet, zu diesen verwerflichen Mitteln. Er braucht sie heute nicht mehr, da der ganze Vorgang der Gährung klar vor seinen Augen liegt und er die Ursachen seines Mißlingens und die Mittel, dasselbe zu verhüten, genauer kennt.

Es offenbart sich also auch hierin, wiewohl in geringem Maßstabe, die im Großen veredelnd wirkende Macht der Aufklärung, welche durch wissenschaftliche Eroberungen nicht nur materiell den Menschen bereichert und seinen geistigen Gesichtskreis erweitert, sondern ihn auch unaufhaltsam, fast ohne daß er sich dessen bewußt wird, auf die gerade Bahn der Moral hinüberleitet.




Aus dem Volsker-Gebirge.

Eine Reise-Erinnerung.

Zu den wenigen Winkeln in der Umgebung von Rom, die noch nicht von dem alles überfluthenden Touristenstrom überschwemmt werden, gehört das Volskerland. Das benachbarte Albaner- und Sabinergebirge weist ja kaum mehr einen Punkt auf, der nicht in jedem Frühjahr und Herbst von einem wahren Schwarm von Engländern und anderen Fremden besucht würde. Manch’ classisches Landschaftsbild wird durch diese moderne Staffage täglich und stündlich profanirt; neben mancher altehrwürdiger Ruine steht in schamloser Neuheit ein speculatives Hôtel, und fast unter jedem Olivenbaum in der Umgebung von Tivoli sitzt auf fashionablem Malstühlchen eine hochgeschürzte Dame, einen möglichst ungewaschenen Hirtenknaben mit möglichst zerrissenem Hemd und in möglichst träumerischer Schäferstellung in ihr segeltuch-gebundenes Album skizzirend.

Solche „scenische Schnitzer“ bleiben dem Auge Dessen erspart, der sich – etwaigen besorgten Warnungen zum Trotz – in das Volskergebirge wagt.

[84] Von Velletri aus, wohin die römische Südbahn den Reisenden nach kurzer Fahrt über die grüne Campagna-Ebene bringt, fuhren wir zu Zweien in einer etwas schwunghaft construirten Vettura dem blauen Gebirge zu, das in scharfen Umrissen, trotz der mehr als fünfstündigen Entfernung scheinbar ganz nahe gerückt, hinter den nächsten Hügeln sich erhob. Aber es war eine lange Fahrt; auf stets primitiver werdender Straße, in einer fortwährenden Staubwolke und einem ebenso beharrlichen Schwarm von Stechmücken, ging’s stundenlang bergauf und bergab zwischen früchtestrotzenden Weinbergen und Feldern dahin, durch eine anfangs freundliche, später aber mehr und mehr vereinsamte, melancholische Landschaft, welche gegen das Ende der Fahrt sogar einen fast düsteren Eindruck machte. Nicht ohne volskischen Localstolz wies der junge sonnverbrannte Rosselenker, der unseren einsamen Einspänner regierte, je und je nach einem dunklen Kastanienhain abseits der Straße, auch wohl nach einer tiefen Schlucht oder grauen, halbzerfallenen Castellruine neben dem Wege hin und trug uns dabei mit Wohlgefallen die scheinbar rein statistische Notiz vor, daß hier die Briganten mit Vorliebe ihren Unterschlupf suchen und sich häuslich einrichten, wenn sie sonst überall vor den Carabinieri nicht mehr sicher sind.

Wir hielten diese Andeutungen zunächst für bloße Speculationen auf unsere Geldbeutel, da wir meinten, der hoffnungsvolle Bursch erwarte darauf hin eine Aufforderung zu schnellerem Fahren, das ihm ein Trinkgeld einbringen werde. Später wurden uns aber von „unterrichteter Seite“ jene Behauptungen bestätigt.

Nach mehrstündiger schwüler Fahrt, nachdem unsere Vettura noch um eine letzte Waldesecke gebogen und an einem letzten Bergvorsprung hinaufgeschlichen war, befanden wir uns am Eingange von Cori, der alten, einsamen Volskerstadt. Wir stiegen aus, entließen unseren Einspänner und traten in das Städtchen ein. Einen sonderbaren Eindruck macht Cori auf den Fremdling. Auf halber Höhe des steil ansteigenden Felsbergs über und neben einer tiefen Thalschlucht steht oder vielmehr hängt die Stadt wie ein Schwalbennest, so raumgeizig als möglich zusammengedrängt. Terrassenförmig erheben sich die Reihen von grauen Häusern, die wie bloße massive Steinwürfel erscheinen, übereinander. Wie ein bienenstockartiges Conglomerat sieht das Ganze aus; grau in grau scheint alles gearbeitet, einem jener „Felsenmeere“ nicht unähnlich, wie sie als Resultate einer fortdauernden Auswaschung und Abschwemmung an kalkreichen Gebirgen vorkommen, wo dann der Fels in zahllosen gehäuften Brocken bloß gelegt ist.

Die Häuserreihen, die sich wie Würfelschichten dicht gedrängt übereinanderschieben, zeigen nur seltene Lücken zwischen den platten, flachen Dächern, so daß man fast meint, „außen“, wie über eine schlechte Treppe, von Dach zu Dach hinaufklettern zu können bis zur höchsten Spitze der Bergstadt, wo auf vorspringendem Fels einige moderne Kirchen und andere Monumentalbauten sowie antike Tempelruinen das Ganze krönen.

Cori macht den Eindruck hochgradiger und trutzlicher Abschließung gegen fremden Einfluß und Angriff.

In der That ist es ein exclusives Volk, das hier haust; sein Wesen hebt sich deutlich ab gegen die mildere Natur der Albaner und Sabiner. Wo jene den Fremden geschäftig empfangen und eifrig, ja trinkgeldlüstern bedienen, da würdigt der Bewohner von Cori den Eindringling keines freundlichen Blickes; man findet nicht jenes oft widerliche, immer aber heitere Entgegenkommen wie sonst in und um Rom, sondern schroffes, trotziges Benehmen, das darauf schließen laßt, daß dem Volsker jeder Fremde mindestens als unbequem, ja sogar als verdächtig und gelegentlich auch als Spion der sehr unpopulären Carabinieri erscheint, mit welchen der Bewohner von Cori viel weniger gern liebäugelt als mit den Briganten.

Diese Letzteren gelten ja in manchen Gebirgsgegenden Italiens noch recht eigentlich für eine Art von gerechter Vehme, deren Mitglieder mit lobenswerthem nationalökonomischem Scharfblick da und dort einzelne allzu reiche Gutsbesitzer oder auch Fremde aufspüren, um ihnen zu gleichmäßigerer Vertheilung des Gesammtvolksvermögens etwas von ihrem strafbaren Ueberfluß abzunehmen. An einer solchen zwangsweisen Ausgleichung des Nationalwohlstandes findet insbesondere der Volsker nichts Ungerechtes, und selbst der von Aengstlichkeit sonst ganz freie Reisende fühlt manchmal nicht ohne jene „Wärme-Anwandlung“ , welche die Voraussicht kritischer Momente mit sich zu bringen pflegt, prüfende „taxirende“ Blicke von Seiten einiger struppiger Männer auf sich gerichtet, deren lange eisenbeschlagene Knüttel auch zu eventuellem anderem Gebrauch verwendbar erscheinen, als nur zum Spazierengehen auf der Campagnastraße.

Auch im Innern zeigt sich die Stadt so eng und winklig zusammengebaut wie nur möglich. Schlechte, schmale Gassen mit holprigem, stets schlüpfrigem Pflaster ziehen sich zwischen kunstlos gemauerten Häuserwänden am steilen Berg hinauf. Die ungefügen grauen Steinhütten rechts und links starren den Wanderer so ungastlich an, daß er keinerlei Lust zum Eintreten verspürte, auch wenn der penetrante Maulthier- und Eselstallgeruch nicht wäre, der aus allen Lücken hervordringt.

Nur durch eines der da und dort ihm begegnenden Lastthiere genöthigt, tritt der Wanderer geschwind unter eine dunkle Hausthür, um nicht von dem Maulthier oder seiner die ganze Breite der Gasse einnehmenden Last an die Wand gedrückt zu werden. Wo man an den Gruppen schwatzender Männer oder Weiber vorbeikommt, erwartet man umsonst einen Gruß; höchstens ein paar schlechte Witze werden über den unberufenen Gast gemacht, der als civilisirter Mensch einen Gruß bieten zu sollen meint. Mehrmals erhielten wir, als wir nach dem Wege fragten, die äußerst unwahrscheinliche Antwort: „non so!“ (weiß nicht!)

Nur einige halbnackte Jungen, denen der trotzige Volskerstolz noch nicht so ganz in Fleisch und Blut übergegangen ist, vergessen sich so weit, uns des Anbettelns zu würdigen, aber auch sie vermeiden das sonst überall gehörte flehende: „o Signore!“ und befehlen kurzweg im strammen Unterofficierston: „eh forestiero! un’ soldo!“ („Heda, Fremder, einen Soldo!“)

Eigenthümlich fremd ist das Gesammtbild. Alles macht den Eindruck des Harten, Abgeschlossenen – Steinernen. Steinern und kahl ist der Berg, an dem die Stadt hängt; steinern sind die Häuser und Hütten, die Gassen und Steige; steinern ist das Wesen der Bewohner. Aber eben dieses Fremde – die harte Abgeschlossenheit der Natur, der ernste Charakter der Landschaft, die trotzigen Formen der Felsberge, die spärlichen Haine von uralten Oliven und knorrigen Stechpalmen-Eichen, die sich jäh zwischen dem Felsengeröll hervorzwängen, die tief eingerissenen Schluchten mit ihrem meist trockenen, doch glattgewaschenen Bachbett – dann wieder die Stadt mit den grotesken Resten urältester Baukunst mitten unter den primitiven Häusern der jetzigen Bewohner – das alles hat für den Empfänglichen einen Reiz, der weit tieferen Eindruck hinterläßt, als selbst der wundervolle Anblick von Tivolis Schönheiten.

Mühsam und nicht ganz unbedenklich ist ein Besuch in der weiteren Umgebung von Cori, aber interessant wie kaum eine zweite Tour in der römischen Campagna.

Nach kurzem Aufenthalt in der einzigen, nicht allzu gastlichen Locanda von Cori wanderten wir auf steilem Bergpfad in mehrstündigem Marsch über unzählige Bergvorsprünge und ebenso viele Einschnitte am Hang des Gebirges hinauf. Auf dem Plateau oben gingen wir über öde Weiden und durch die Ausläufer des großen Waldes, der sich von hier in viele Stunden langer Ausdehnung gegen den östlichen Theil des Gebirges hin erstreckt.

Antike Mauerreste und mittelalterliche Castellruinen finden sich auf der hügeligen Haide und zeigen Spuren von nothdürftiger Einrichtung als Unterschlupf und Feuerstätten für die Hirten, die hier ihre Schaf- und Ziegenheerden weiden – wohl auch für andere, weniger harmlose Gewerbetreibende, die sich in dieser Einsamkeit behaglicher fühlen, als in der Nähe menschenreicher Orte.

Einige Stunden südwestlich von Cori – von diesem getrennt durch den mächtigen Gebirgsvorsprung, den wir überschritten – liegen am Westrande des Hochplateaus die hochthronenden Städte Norma und Norba. Steil fällt der Rand des Gebirgs dort ab in die Ebene der pontinischen Sümpfe, hinter der das Meer herüberglänzt; tief, tief unten, dicht am Fuße der fast senkrechten Bergwand liegt Ninfa, jene alte geheimnißvolle, epheuumsponnene Stadtruine, das „mittelalterliche Pompeji“. In modellartiger Verkleinerung liegen die Häuser und Gassen unter uns, und in den See, der zwischen den dunkeln Ruinen heraufleuchtet, glauben wir leicht mit einem Steine werfen zu können – so jäh ist der Felsabsturz, der das Plateau hier abschneidet.

Es war unvorsichtig von uns, daß wir nicht an dieser Aussicht genug hatten und nicht einfach wieder oben über das Gebirge hin sogleich nach Cori zurückkehrten.

Während die Sonne sich schon zum Untergange neigte, glaubten

[85]

Hauptstraße in Cori.
Nach einer Skizze von R. Eifert auf Holz gezeichnet von A. Langhammer.

[86] wir noch auf sehr beschwerlichem, geröllreichem Fußpfade in die Ebene hinuntersteigen zu müssen, kamen zwar todtmüde an, traten aber trotzdem noch in die schon dunkelnden, öden[WS 1] Gassen der menschenleeren Ruinenstadt ein. Angesichts der melancholischen, alles umrankenden Epheuhaine und der düstern Mauern wurden wir folgerichtig sentimental und ließen uns demgemäß von der schnell hereinbrechenden Nacht unliebsam überraschen. Aus der endlosen Ebene stiegen kalte Nebel auf; der Mond, auf dessen Beleuchtung wir uns naiver Weise verlassen hatten, vermochte die Umgegend nur ungenügend zu erhellen; unser Führer (ein junger Kerl von elf Jahren) erklärte jetzt erst unter Thränen, er wisse den Weg von hier nach Cori zurück nicht zu finden; die Nacht wurde immer unbehaglicher, und wir glaubten bereits nicht ohne Grund gewisse Symptome des gefürchteten Malariafiebers an uns zu verspüren, von dessen Wirkung wir soeben in der Entvölkerung der Stadt Ninfa die wünschenswerth klarsten Beweise vor Augen gehabt.

Ohne jeden näheren geographischen Anhaltspunkt schlugen wir in einiger Resignation eine Wegrichtung ein, die uns nach unserer Berechnung in weitem Bogen um den Fuß des Gebirgsvorsprunges herum durch die Ebene endlich einmal nach Cori bringen mußte. Zwar war diese Berechnung, wie es sich ergab, ganz richtig; nur bezüglich der räumlichen Ausdehnung unseres Weges hatten wir uns zu unserem Nachtheile um die Kleinigkeit von drei Stunden verrechnet. Es war ein ungemüthlicher Marsch, den wir auszuführen hatten in der neblig-feuchten Campagna; ohne einen wirklichen Weg unter uns zu spüren, marschirten wir in der Dunkelheit dahin, mechanisch die Füße vorwärts bewegend; in angemessenen Zwischenräumen mußte manch’ unvorhergesehenes Hinderniß umgangen, mancher Graben übersprungen werden; mehrmals entdeckten wir in der Ferne ein Licht, das auf eine menschliche Wohnung schließen ließ, sich aber jedesmal nach erfolgter Annäherung als ein Lagerfeuer erwies, an welchem ohne Zweifel Campagnahirten unter freiem Himmel schliefen, von welchem wir aber durch eine wüthende Attacke einer Meute von bösartigen Hunden jedesmal schon von Weitem wieder abgewiesen wurden.

Nach mehrstündigem Marsche, während dessen unser armer Führer sämmtliche ihm bekannte Heilige unter reichlichem Thränenflusse angerufen hatte, erklärte er plötzlich: jetzt sei ihm der Weg wieder bekannt. In der That übernahm er auch alsbald wieder die Führerschaft, und als wir endlich am Fuße eines mit Oliven spärlich bewachsenen felsigen Hanges anlangten, lootste er uns mit Behendigkeit durch allerlei Hecken und über viel Felsengeröll auf eine Art von Weg, der endlich, endlich zu den ersten Häusern von Cori führte. Als wir so – lange nach Mitternacht – wieder in die Locanda eintraten, empfing uns der Wirth, der Morgens keinen allzu ehrenwerthen Eindruck gemacht hatte, mit auffallend herzlichen Glückwünschen darüber, „daß uns kein Unglück zugestoßen sei“, Glückwünsche, die übrigens in unseren Augen an Selbstlosigkeit bedeutend verloren, als er mit Eifer hinzu setzte: „Ihr Wein von heute Morgen ist ja noch nicht bezahlt.“

Wohlbehalten kamen wir nach einigen Tagen, während welcher wir das Volskergebirge auf zum Theil recht abenteuerlichen Touren durchstreift hatten, nach Rom zurück, wo wir – etwas selbstloser, als vom Wirth in Cori – mit Freuden begrüßt wurden, nachdem unsere Bekannten nicht ohne Besorgnisse einen Tag länger, als verabredet war, auf uns gewartet hatten.

R. E.


Zum Abbruch verurtheilt!

Ein letzter Besuch im Kerker von Newgate.
Londoner Skizze von Leopold Katscher.

In nächster Nähe der berühmten Londoner St. Pauls-Kirche, an der Ecke von Newgatestreet und Old Bailey, fesseln zwei imposante Häuserkolosse aus massiven Riesenquadern unsern Blick. Mit ihrem grimmigen, düstern Aussehen und ihrer Thor- und Fensterlosigkeit nehmen sie sich in dieser modernen, geschäftigen Welt, unter Wagengerassel, Menschengedränge, Schreibstuben und glänzenden Läden befremdend genug aus. Eine Art Terrasse, die zwischen den beiden Gebäuden liegt, ist von außen her nicht zugänglich und dient nur als innere Verbindung zwischen ihnen. Das eine ist das „Sessions House of Old Bailey“ oder das Central-Criminalgericht von London, das andere der traurig berühmte Kerker von Newgate, das älteste und düsterste aller bestehenden Gefängnisse dieser gewaltigen Stadt. Hier wollen wir uns nur mit diesem letzteren Gebäude beschäftigen.

Die Einförmigkeit der Architektur des Gefängnisses wird auf der Südfront durch die in Nischen stehenden allegorischen Statuen der Eintracht, der Barmherzigkeit, der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, des Friedens und des Reichthums unterbrochen. Diese jetzt die äußeren Mauern des Kerkers von Newgate zierenden Standbilder schmückten einst das New Gate („Neue Thor“), welches dort lag, wo gegenwärtig Giltspurstreet und Newgatestreet einander kreuzen. New Gate war eines der fünf Hauptthore der alten City und enthielt ein Gefängniß, dessen nächtliche Gräuel der Quäker Ellwood eingehend beschrieben hat; sämmtliche Insassen mußten in einem einzigen Saale, zusammengepfercht, schlafen und „die Ausdünstungen so vieler Menschen genügten zur Erzeugung von mancherlei Krankheiten“; in der That starben während der großen Pest am Neuthor allein zweiundfünfzig Personen.

Aus diesem Gefängnisse ging später der jetzige Newgatekerker hervor, den George Dance, der berühmte Erbauer des Mansion House – des Amtssitzes der Lordmayors von London – von 1770 bis 1780 aufführte. Er richtete in Plan und Ausführung dieses Bauwerkes sein Hauptaugenmerk auf die Verhinderung des Entweichens von Gefangenen, und es gelang ihm denn auch, in dieser Beziehung das Möglichste zu leisten. Newgate ist nicht nur eines der größten Gefängnißhäuser – seine Hauptfaçade ist neunzig Meter lang – sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch das stärkste der Welt.

Das neue Gebäude war kaum vollendet, als ein Theil desselben im Jahre 1780 von den „Gordon Rioters“ wieder zerstört wurde. Lord George Gordon – der später in diesem Gefängnisse, wo er wegen einer Beleidigung der Königin von Frankreich eingesperrt war, sterben sollte – fuhr damals in einem vierspännigen Wagen umher und ermunterte einen aus fanatischen Quäkern, Negern, Matrosen, Wirthshauskellnern und allerlei Gesindel zusammengesetzten Pöbelhaufen bei dem Zerstörungswerke; Einige brannten die Wohnung des Gefängnißdirectors nieder; Andere plünderten das Gefängniß, befreiten die Sträflinge und trugen sie im Triumphe auf die Straße. Aber das war verlorene Liebesmüh’; denn der Schaden wurde bald gutgemacht, und im Jahre 1782 war das Gebäude vollends wieder hergestellt. Newgate, welches im Jahre 1858 zum Zweck der Einführung des Einzelzellensystems einem Umbau unterzogen wurde, war früher Straf- und Schuldengefängniß, und erst seit einigen Jahrzehnten wird es ausschließlich als Untersuchungskerker verwendet. Die Gefangenen werden über die erwähnte Terrasse oder durch einen anderen tüchtig vergitterten Hof zu den Verhandlungen in das anstoßende Criminalgericht gebracht.

Wer könnte all die Gräuel herzählen, deren Zeugen die Mauern von Newgate waren! Früher wurden dort Menschen dutzendweise gehenkt, die kein größeres Verbrechen b[e]g[a]ngen hatten, als Kaninchenfallen gelegt zu haben. Die Verurtheilten wurden auf offenen Karren nach dem Tyburn-Tree gefahren, wo im vorigen Jahrhundert die Hinrichtungen stattfanden und wo das niedrige Volk sich bei Gin und Pfefferkuchen den ärgsten Gemeinheiten und Ausgelassenheiten hingab. In dem bereits mehrfach erwähnten Raume zwischen Newgate und Old Bailey wurde die Folter des Zutodedrückens vollzogen; der Hof erhielt hiervon den Namen „Preß-Yard“. Wollte ein eines schweren Verbrechens Angeklagter seine Schuld nicht gestehen, so wurde er in einem auf diesen Hof mündenden Zimmer nackt auf den Boden gestreckt und während der ganzen Dauer der Tortur nur mit einem zur Erhaltung des Lebens gerade ausreichenden Minimum von Brod und Wasser genährt. Auf die Brust legte man ihm schwere eiserne Gewichte, welche vermehrt wurden, bis der Unglückliche entweder gestand oder starb. Manche Angeklagten erlitten diesen qualvollen Tod mit [87] großer Selbstverleugnung, um ihren Kindern ihr Vermögen zu erhalten, das im Fall eines Geständnisses und einer dann natürlich nicht ausbleibenden Verurtheilung confiscirt worden wäre. Diese grausame Marter wurde erst 1770 abgeschafft.

Die Lage der Gefangenen blieb lange Zeit hindurch die alte erbarmungswürdige, und zwar trotz aller testamentarischen Legate von Menschenfreunden; Newgate war und blieb eine Stätte des Lasters, ein Herd ansteckender Krankheiten. Man sagt, daß die Hälfte aller in London begangenen Verbrechen innerhalb der Mauern von Newgate geplant wurde.

Seit einigen Jahrzehnten sind dort freilich sehr viele Verbesserungen in den sanitären wie in allen übrigen Vorrichtungen eingeführt worden; sie sind zum großen Theil den Bemühungen der Menschenfreundin Mrs. Fry zu verdanken, die im Jahre 1838 schreckliche Mittheilungen über die menschenunwürdige Behandlung der Gefangenen veröffentlichte. Aber beim besten Willen wäre es in diesem alten Gebäude nicht möglich gewesen, den Anforderungen des Zeitgeistes vollkommen zu entsprechen, und so wurde denn der Beschluß gefaßt, den ebenso alten wie berüchtigten Kerker von Newgate aufzuheben und soeben, in den letzten Tagen des Januarmonates, hat sich die Räumung desselben vollzogen; bald wird man mit der Abtragung des Gebäudes beginnen, und damit wird London um ein interessantes, wenn auch grauenerregendes historisches Denkmal ärmer sein.

In der City liegend, stand das berüchtigte Gefängniß zu allen Zeiten unter der Oberhoheit des Lordmayors und der City-Rathsversammlung, und die alljährlich gewählten Sheriffs (eine Art Vicebürgermeister) mußten bis zum Jahre 1877 unter anderen Eiden auch einen leisten, der dahin ging, daß sie sich nie unterfangen würden, das Gefängniß von Newgate zu verpachten. In dem letztgenannten Jahre jedoch schuf das Parlament ein Gesetz, durch welches Newgate dem Ministerium des Innern, das auch das Justizressort verwaltet, unterstellt wurde. Seither war man schlüssig, diesem Kerker den Garaus zu machen.

Als wir Anfangs dieses Monates die Ankündigung von der nahe bevorstehenden Aufhebung des Gefängnisses zu Newgate lasen, beeilten wir uns, den Lordmayor um eine Besichtigungsanweisung zu bitten, denn eine solche konnte man nur von dem Oberhaupte der Cityverwaltung oder von dem Minister des Innern erhalten. Wir erhielten die Erlaubniß sofort und machten uns schleunigst auf den Weg, um von derselben Gebrauch zu machen. An der einzigen und zwar recht kleinen und stark vergitterten Thür des Gebäudes zogen wir eine Glocke; ein blau uniformirter Hausbeamter öffnete uns, hieß uns die drei schmalen Treppen hinansteigen und nahm uns die schriftliche Erlaubniß des Lordmayors und unseren Regenschirm ab. Sodann führte er uns durch das Bureau des Gefängnißdirectors Sydney Smith in ein Vorzimmer, wo uns der Oberaufseher von Newgate, dem die Aufgabe zufiel, uns durch sämmtliche Räumlichkeiten dieses ernsten Hauses zu geleiten, in Empfang nahm.

Das Gebäude ist ein wahres Labyrinth, wie es die moderne Gefängniß-Architektur nicht herstellen würde. Es besteht aus einer Unzahl von Gängen, Höfen, Corridoren, Treppen, Verschlägen etc.; in diesem Gewirre könnte sich kein Verbrecher, der zu entweichen versuchen wollte, zurechtfinden. Ueberdies sind die Mauern sehr hoch, und die Höfe haben eine Bedachung in Form einer starken Obervergitterung. Dazu kommt noch, daß nur eiserne Gitter oder dicke, auf beiden Seiten mit Eisenplatten und Eisenstangen beschlagene eichene Thüren die einzelnen Räumlichkeiten mit einander verbinden.

An ein Entweichen ist hier also nicht zu denken. Die ungeheuer dicken Mauern bestehen aus Quadern, gebrannten Ziegeln und Eisenklammern, während die Fußböden der Höfe aus Asphalt oder Holz mit Eisenplatten hergestellt sind. Kurz, Newgate dürfte, wie schon angedeutet, das ausbruchsicherste Gefängniß der Welt sein. Die Höfe sind zumeist kurz und schmal, doch mangelt es nirgends an Licht und Luft, und die Düsterkeit, die das Gebäude von außen an den Tag legt, ist im Innern weit geringer.

Einer der Höfe ist der Spazierhof; er ist glatt und kahl; seine Mauern sind sehr hoch; sein Fußboden besteht aus abwechslungslosem Asphalt. Zwei andere Höfe sind für den Empfang von Besuchen seitens der Häftlinge eingerichtet, und in jedem dieser beiden Höfe befindet sich ein sechs Schuh tiefes Eisendrahtgeflecht, das in drei Abtheilungen zerfällt; die eine ist für den Besucher, die andere für den Häftling bestimmt, die mittlere für einen Gefängnißbeamten, der den Gefangenen und sein Gespräch zu überwachen hat. Natürlich sind die Häftlinge und ihre Verwandten oder Freunde in Folge dieser Vorrichtung außer Stande, einander die Hände zu reichen, geschweige denn einander etwas zuzustecken, höchstens können sie einander zur Noth sehen. Ein anderer, nur wenige Fuß breiter Hof birgt unter seinen Steinplatten die mit Aetzkalk gefüllten Särge der Hingerichteten von Newgate; an der einen Wand sieht man die Anfangsbuchstaben der Familiennamen der hier begrabenen Verbrecher der Reihenfolge ihrer Eingrabung nach eingehauen.

Aber betrachten wir das Innere des Gefängnisses, und zwar zunächst den eigentlichen Kerkerraum! Wir gelangen in einen Corridor, wo wir zwei neben einander liegende Zimmerchen erblicken. Hierher werden die Gefangenen gebracht, wenn sie sich mit ihren Vertheidigern besprechen wollen; hier kann Niemand sie hören, Niemand sie stören, Niemand auf den Gang der Gerechtigkeit einen ungebührlichen Einfluß üben. Die Möblirung ist sehr einfach: ein Tischchen, an dem der Sachwalter sich Notizen machen kann, und zwei kurze, mit Leder gepolsterte Bänke zum Sitzen. Sodann kommen wir in die Gefängnißküche, wo ein Koch gerade beschäftigt ist, das Mittagessen in drei großen Kesseln zu bereiten. Die Häftlinge dürfen sich, wenn es ihre Mittel erlauben, mit eigener Kost versehen; aber auch diejenigen, die sich nicht selbst verköstigen, werden gut versorgt. Dreimal täglich wird ihnen eine Kost gereicht, die hauptsächlich aus Suppe, Fleisch, Gemüse, Brod und Grütze besteht. Die Messer, die ihnen zum Zerschneiden des Fleisches überlassen werden, sind so stumpf, daß es unmöglich wäre, sich mit denselben eine Verletzung beizubringen.

Ein nachdenklich stimmendes Gemach ist die Gefängnißcapelle, in der täglich um 8¾ Uhr Morgens ein Gottesdienst abgehalten wird. Die Männer, die unten sitzen, und die Weiber, die auf den Gallerien Platz nehmen, können einander nicht sehen. Auch giebt es hier, und zwar unmittelbar vor dem Hochaltar, eine „Condemned bench“, das heißt eine Bank, auf der die zum Tode verurtheilten Insassen des Kerkers sitzen. In London leben Leute, die sich noch erinnern, auf dieser Bank zu gleicher Zeit nicht weniger als einundzwanzig Personen sitzen gesehen zu haben; es war dies zu der noch Manchem erinnerlichen Zeit, da der Diebstahl eines Taschentuches mit dem Tode durch den Strang bestraft wurde. Der beliebte Prediger Dr. Dodd, der Erzieher des jungen Lord Chesterfield, für den die berühmten „Briefe an meinen Sohn“ geschrieben wurden, hielt in dieser Capelle im Jahre 1777 seine eigene Grabrede, ehe er wegen einer Fälschung gehenkt wurde.

Jetzt werden wir in ein kleines, schmales Cabinet geführt, das uns in seiner Bestimmung an die wohlbekannte „Schreckenskammer“ in dem weltberühmten Wachsfigurencabinet der Madame Tussaud[WS 2] in der Londoner Bakerstreet erinnert. Wir erblicken auf einem Schranke Wachsnachbildungen von Verbrecherköpfen, deren frühere Träger auf dem Platze vor dem Criminalgericht gehenkt wurden, darunter eine Reihe der berüchtigtesten Mörder, Giftmischer und Raubmörder, von denen in den blätterreichen Annalen der englischen Criminalgeschichte zu lesen ist. Schon früher hatte man solche Wachsköpfe nur anfertigen lassen, wenn der der Hinrichtung in amtlicher Eigenschaft beiwohnende Sheriff es wünschte; seit 1867 hat man davon gänzlich Abstand genommen. Nicht minder unangenehm, als die Gedanken, denen man hier nachhängen muß, sind diejenigen, denen man sich unwillkürlich hingiebt, wenn man das „Fesseln-Museum“ besichtigt. Dieses ist in einem Zimmer untergebracht, das einst eine Küche war, jetzt aber den Beamten als Wärmstube dient. An der den Fenster gegenüberliegenden Wand steht ein großer Kasten, in welchem die Ketten aufbewahrt werden, mit denen man die Gefangenen, wenn diese Disciplinarstrafe über sie verhängt wird, an die Wand schließt; ferner befinden sich dort die Fesseleisen, mit denen den Häftlingen während ihrer Ueberführung in ein Strafgefängniß oder auf der Reise Hände und Füße in Schach gehalten werden, endlich der von dem Vorgänger des jetzigen Gefängnißdirectors erfundene Riemen, der den Delinquenten bei der Hinrichtung Hände, Füße und Leib so fesselt, daß ein Zappeln oder ein Ausschlagen unmöglich wird.

In demselben Zimmer befindet sich die Prügelmaschine, mit deren Hülfe die „Garrotters“ bestraft wurden. Diese waren gefährliche Straßenräuber, welche in den sechsziger Jahren in London ihr Unwesen trieben und sich dadurch auszeichneten, daß sie [88] Passanten in unbelebten Gassen von hinten überfielen und[WS 3] auf geschickte Art würgten, um sie zu berauben. Wurde ein Garrotter erwischt, so steckte man ihn in das soeben erwähnte Instrument, welches ihm Hände und Füße so festhielt, daß er sich nicht rühren konnte, während man ihm eine tüchtige Tracht empfindlicher Prügel verabreichte. Die Anwendung dieser radicalen Strafe genügte, um nach kurzer Zeit das Garrotterthum gänzlich zu beseitigen.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Eine Augencur in der fränkischen Schweiz. Wie glänzend der Unfug, welcher mit den sogenannten Hausmitteln getrieben wird, noch blüht, besonders in jenen düstern Strichen unseres Vaterlandes, wo religiöser Fanatismus das Scepter führt, dafür diene das folgende Geschichtchen als Beispiel!

Ich war eines Sommertages so recht in der Quere herumgelaufen, als ich endlich bemerkte, das auf diesem Wege mein Ziel, das Städtchen G…, unmöglich zu erreichen sei. Außerdem erinnerte mich mein knurrender Magen daran, daß die Mittagsstunde längst geschlagen haben müsse, und richtig, der kleine Zeiger meiner Uhr deutete auf zwei.

Also fünf Stunden bergauf und -ab gelaufen und noch immer kein Dorf, nicht einmal ein Bauernhof oder Forsthaus zu erblicken! Schöne Aussichten! Im Stillen ärgerte es mich schon, daß ich mich durch das herrliche Sonntagswetter hatte verleiten lassen, die kurze Reise per pedes anzutreten. Doch glänzte dort, über der sanft verlaufenden Hügelkette, nicht das goldene Kreuz einer Kirchthurmspitze im Sonnenschein? Bim, bam bam! – Melancholisches Glockengeläute; L–bach lag vor mir.

Munter setzte ich den Fuß in’s Thal, mich schon im Voraus auf das solenne Mittagsessen freuend, welches ich dort unten im Pfarrdorfe zu bekommen hoffte. Ich trat in das erste Wirthshaus; die Stube war vollständig leer; nur ein kleines Mädchen saß vor der Thür.

„Wo ist der Wirth?“ fragte ich.

„Nicht daheim – sind Alle bei der Procession.“

Procession im Dorfe! Die Aussicht auf ein Mittagsessen wurde ziemlich wankend. „Nun, vielleicht bekomme ich in einem andern Wirthshause etwas zu essen,“ tröstete ich mich selbst. Aber so wie es mir in dem ersten ergangen war, erging es mir auch in den beiden andern Wirthshäusern, und mißmuthig lenkte ich meine Schritte weiter.

Am äußersten Ende des Dorfes vor einem großen, wohlhabend aussehenden Gebäude saß ein kleiner Knabe auf der Steinbank. Und seltsam – was er für eine Brille auf den Augen hatte! Zwei Nußschalen durch einen Bindfaden verbunden, welcher auf dem Hinterkopfe fest zusammengeknüpft war! Anfangs glaubte ich, der Kleine dürfe nicht in den hellen Sonnenschein blicken und die Nußschalen sollten die mangelnde dunkle Brille ersetzen; ich mußte lachen über die naive Auffassung, sollte aber bald eines Schrecklichen belehrt werden.

Als ich näher kam, hörte ich den Knaben wimmern und klagen, und was hatte das zu bedeuten? Die Hände waren ihm auf den Rücken gefesselt.

„Thun Dir die Augen weh?“ fragte ich.

„O, die Spinnen – die Spinnen! Macht’s los! Ich halt’ es nicht mehr aus,“ jammerte er.

In den Schalen waren kleine Löcher eingebohrt, und aus dem einen streckte sich eben ein langes dickes Spinnenbein hervor. Rasch zog ich mein Taschenmesser und durchschnitt den Faden. Die Brille fiel, und zwei wahrhaft gemästete Kreuzspinnen suchten zu entkommen.

Die Augen des Kindes fürchterlich entzündet, das Weise dunkelroth unterlaufen, die Ränder und Lider dick mit Spinnenkoth bedeckt – es war ein entsetzlicher Anblick.

Plötzlich erhob sich ein zorniges Geschrei hinter mir. Eine robuste Bäuerin, das silberbeschlagene Gebetbuch unterm Arm, stand da und ließ eine ganze Fluth Schimpfwörter und Verbalinjurien über mich hinrollen, weil ich die Spinnen zertreten, welche sie mühsam in der Kirche hinter dem Altar gefangen hatte. Ich wollte der Frau das Unnatürliche ihrer Handlung vorstellen, aber sie ließ mich gar nicht zu Worte kommen.

Indessen kam der Mann derselben herbei. Diesem suchte ich nun die Sache aus einander zu setzen, stets unterbrochen durch das laute Schelten der Frau, welche das Kind mit Schlägen in’s Haus trieb.

„Ja, lieber Freund, das verstehen Sie nicht,“ meinte der Mann in wichtig jovialem Ton; „das Kind hat ein Gerstenkorn (kleines Geschwür) am Auge, und die Spinnen müssen dieses Korn fressen, natürlich nur solche, welche in der Kirche hinter dem Altar gefangen worden sind. Dann ist es vorbei und kommt nie wieder.“

O sancta simplicitas, o bodenloser Blödsinn!“ konnte ich nur ausrufen.

Der Bauer lachte mich aus. Durch das laute Schimpfen der Frau hatten sich bald viele Männer und Weiber des Dorfes um uns versammelt, und Jeder wollte darauf schwören, die Cur sei unfehlbar.

Der Bader des Ortes, ein sehr vernünftiger Mann, nahm mich bei Seite.

„Lassen Sie es gut sein!“ sagte er leise. „Aendern können Sie es doch nicht; nur Unannehmlichkeiten kann es Ihnen eintragen. Solcher Hausmittel, die einem die Haut schaudern machen, haben die Leute noch mehr in der ganzen Gegend, und alte Weiber spielen die Doctoren dabei. Das Gerstenkorn wäre ohne jedes Mittel längst vergangen – so aber wird das Kind vielleicht blind, wie es schon viele durch diese scheußliche Cur geworden sind.“

Als ich das Dorf verließ, saß vor der Thür des großen Hauses wiederum das Kind, es hatte abermals den gräßlichen Schmuck auf den Augen; die Frau stand dabei und sah mir drohend nach. Ich suchte schleunigst das nächste Dorf zu erreichen, aber der Appetit war mir vergangen.

F. B.

Im Interesse der bedrohten Deutschen in Ungarn-Siebenbürgen wird von Berlin aus und auf Anregung des „Centralvereins für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande“ ein Aufruf veröffentlicht, dem die „Gartenlaube“ im Dienste der nationalen Sache mit Freuden ihre Spalten öffnet. Der Aufruf lautet:

„Der dem ungarischen Reichstage vorliegende Schulgesetzentwurf droht den letzten Rest der in den deutschen Gemeinden Ungarn-Siebenbürgens seit nahezu achthundert Jahren gepflegten deutschen Geistescultur zu zerstören und den Vernichtungskampf des Magyarismus gegen das Deutschthum zu beschleunigen. In letzter Stunde, in höchster Gefahr den bedrohten Stammesgenossen in einem Kampfe beizustehen, welcher gegen das deutsche Cultur- und Volksleben überhaupt geführt wird, ist die Pflicht aller Deutschen. Nicht nur moralischer, sondern auch materieller Hülfe bedürfen die Deutschen Ungarn-Siebenbürgens, um ihren Kampf gegen den Magyarismus erfolgreich zu führen. Noch vor wenigen Jahren sind reiche Mittel aus Deutschland nach Ungarn geflossen, um den schwer heimgesuchten Angehörigen eines fremden Volkes Hülfe und Beistand zu leihen. Mögen die Deutschen eine gleiche Opferwilligkeit auch zu Gunsten der eigenen Volksgenossen bekunden, welche – trotz der ihnen verfassungsmäßig zugesicherten Rechte – in Gefahr stehen, ihrer Stammestreue halber zu Grunde gerichtet zu werden. Die Unterzeichneten bitten daher, Beiträge für die Unterstützung und Erhaltung des Deutschthums in Ungarn-Siebenbürgen an den mitunterzeichneten Cassirer, Herrn Consul Gaertner, Berlin SW, Potsdamerstrase 86a gelangen zu lassen. Ueber dieselben wird in noch näher zu bezeichnenden Zeitungen öffentlich quittirt werden.“

Berlin, den 10. December 1881.

(Folgen die Unterschriften.)


Brennende Berge. Reisende, welche in früheren Zeiten die den Europäern schwer zugängliche Hochebene von Turkestan besuchten, brachten uns die seltsame Kunde, daß es dort Berge gebe, die lichterloh brennen. In Europa war man mit der Erklärung dieser eigenartigen Nachricht schnell fertig und sagte sich, jene Reisenden hätten Vulcane in ihrer Thätigkeit gesehen oder von solchen gehört. Freilich stimmte diese Deutung gar nicht überein mit den später gesammelten Ergebnissen der Naturforschung über den geologischen Bau Centralasiens, die von thätigen Vulcanen in jenen Gegenden nichts zu berichten wußten, bis in jüngster Zeit die Fabel von den brennenden Bergen mit allen Ehren als erwiesene Wahrheit ihren Einzug in die Wissenschaft gehalten.

Erst vor Kurzem sah der bekannte Reisende Kisselew im östlichen Turkestan dieses seltsame Naturschauspiel. Dort lodert nämlich seit längerer Zeit der Berg Bai-fur-chan (türkisch Zemch-dagh), während der benachbarte Kizil-dagh, der Feuerberg, von dem dasselbe früher berichtet wurde, nunmehr vollständig erloschen ist. Wir wissen heute auch, daß die Selbstentzündung der Stein- und Braunkohle, aus welchen jene Berge fast ausschließlich zusammengesetzt sind, die Ursache dieser gigantischen Feuersbrünste bildet.

Zu derselben Zeit, im vorigen Jahre, beobachteten zwei Franzosen, Bonvalot und Capus, dieselbe Erscheinung an der westlichen Grenze Turkestans. Nachdem sie vom Thal des Yagnau-Flusses aus auf steilem Pfade einen gegen 3000 Meter hohen Bergrücken erklommen, bot sich ihnen der überwältigende Anblick des in furchtbarer Majestät flammenden Kou-dagh.

Nur der obere Theil des Berges bildete ein Flammenmeer, aus dem dichte Rauchwolken emporstiegen, während die Luft der Umgegend mit erstickenden schwefligen Dämpfen erfüllt war.

Es liegt wahrhaftig etwas Dämonisches, Großartiges in dieser Naturerscheinung, die noch keinen Künstler gefunden, der sie in düstern Farben oder poetischen Worten verherrlicht hätte.


Ein zweihundertjähriges Jubiläum. „Abenteurer – Goldmacher – Hoftöpfer – Administrator der königlichen Porcellanfabrik“ – das waren die Entwickelungsstationen, welche der Mann nach und nach durchzumachen hatte, dessen Geburtshaus die Stadt Schleiz am 4. Februar dieses Jahres mit einer Gedenktafel schmücken wird. Zwei Könige, der von Preußen und der von Polen (Sachsen), stritten sich in jener goldsüchtigen Zeit um die werthvolle Person des ehemaligen Schleizer Apothekerlehrlings Johann Friedrich Böttcher (auch Böttger), den Sachsen schließlich fest hielt und dem es die Erfindung des Meißner Porcellans verdankt. Unsere Leser kennen das Lebensbild desselben bereits aus dem Artikel „Das erste Meißner Theeservice“ (1868, S. 249 und S. 504), wie des berühmten Erfinders auch im Jahrgang 1869 gedacht worden ist, wo die neue Meißner Porcellanfabrik S. 107 und 109 ihre Darstellung in Wort und Bild fand. Häufig wird der 5. Februar 1685 als Böttcher’s Geburtstag angegeben, da aber seine Vaterstadt an dem oben genannten Tage sein Andenken ehrt, so kann damit der Zweifel hierüber als gehoben angesehen werden.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die beiden diesem Artikel beigegebenen Holzschnitte wurden Pasteur’schen Lithographien nachgebildet. Wir entlehnen dieselben der in fachmännischen Kreisen wohlbekannten Zeitschrift „Der Bierbrauer“ (Halle, Wilhelm Knapp).
  2. Eine Ausnahme bilden hier stark mit Hopfen versetzte obergährige Biere, wie Porter etc., da der Hopfen durch seine antiseptischen (Fäulniß verhütenden) Eigenschaften die Entwickelung krankhafter Fermente zu hemmen pflegt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: oden
  2. Vorlage: Tussand
  3. Vorlage: nnd