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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[57]

No. 4.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Wie war es eigentlich gekommen, daß Hilda nie an eine Aenderung der bestehenden Verhältnisse gedacht, selbst damals nicht, als sie den Ausschlag in den zögernden Entschlüssen ihres Bruders gab? Seit Jahren hatte sie immer wieder, Franz gegenüber, ihrem Mitleide mit der Einsamkeit Ausdruck gegeben, in welcher er durch’s Leben ging. Was für sie selbst nicht in Betracht kam, schien ihr in ihrer hingebenden schwesterlichen Liebe und Sorge eine Entbehrung für den frühverwittweten Bruder. Er war noch zu jung, um allein zu bleiben; sein Gemüth bedurfte der sonnigen Liebe an der Seite eines anmuthigen Weibes. Aber ihr fürsorgliches Zureden fand immer wieder einen ablehnenden Widerstand in seiner tiefen Trauer um die dahingegangene geliebte Gattin. Er hing an der Todten mit einer Liebe, die weit über das Grab hinaus ging – ein Gefühl, wie es sich bei so ernsten, abgeschlossen lebenden Männern häufiger findet, als bei den von dem leichten Wellenspiel des Gesellschaftsverkehrs stetig geschaukelten Kindern der Welt.

Diese Abneigung des Gutsherrn gegen einen zweiten Ehebund wollte lange Zeit hindurch selbst materiellen Nöthigungen nicht weichen. Der auf allen Gebieten, namentlich aber im Bereiche der Technik, rastlos fortschreitende, moderne Geist, der rast- und ruhelose Sturmschritt unserer Tage, läßt rücksichtslos diejenigen hinter sich zurück, welche mit ihm nicht Schritt halten, wohl aber am schwersten ringt der Besitzer von Grund und Boden um den Erfolg, wenn er aus mangelnder Einsicht in die Forderungen der Zeit sich selbst die Hände bindet. Schon anfänglich mußte Franz alle Kräfte anspannen, als er das Erbe seines jüngeren Bruders aus der Masse zu lösen hatte; als aber dann Ereignisse eintraten, welche die Geschwister moralisch zwangen, für eben diesen Bruder einzustehen und die Lücke zu decken, die sein unverantwortlicher Leichtsinn in das eigene Ehrenkleid wie in den fleckenlos bewahrten Ruf seiner Familie gerissen, da wollten alle Anstrengungen nicht mehr genügen. Das war nun schon mehrere Jahre her – endlich aber ließen sich die zwingenden praktischen Erwägungen, welche eine zweite Heirath für den Herrn des bedrängten Gutes Waltershofen nothwendig erscheinen ließen, nicht mehr zurückdrängen, und daß die Heirath schließlich doch nicht den Charakter einer finanziellen Speculation trug, erklärte sich nur aus dem Widerwillen des stolz denkenden Mannes gegen eine solche und aus dem glücklichen Zufalle, der ihm im rechten Momente ein Wesen wie Albertine begegnen ließ, an dem sein für Frauenreize längst unempfindlich scheinender Blick sich wieder entzünden konnte.

Niemand war nach jener ersten Rückkehr aus dem Bade ein eifrigerer Fürsprecher der zweiten Heirath Franzens gewesen, als Hilda, aber an eine Aenderung ihrer Verhältnisse hatte sie dabei gar nicht gedacht. Ihre Gewalt in Haus und Hof schien so fest begründet, daß ihr die Abtretung derselben gar nicht in den Sinn kam.

Und jetzt stand sie vor dem Factum, das sich so plötzlich und ganz sachte vollzogen hatte: diese Gewalt über Haus und Hof war ihr abgenommen worden. Einen Moment lang hatte sich Alles in ihr dagegen aufgebäumt, doch nur Secunden waren verstrichen von dem Schrecke der Ueberraschung bis zum Verständnisse ihrer Lage, bis zur Ergebung in dieselbe. Hilda dachte zu klar, um die logische Entwickelung der Dinge nicht sofort zu würdigen. Selbst der Verdruß trübte ihren Gerechtigkeitssinn nicht. Wie hätte die junge Frau denn auch anders handeln sollen? Aber diese gerechten Erwägungen milderten kaum die schmerzlichen Empfindungen, die keinem Menschenherzen, wenn es sich loslösen soll von der Gewohnheit eines halben Lebens, erspart bleiben, und in Hilda’s Seele sammelten sich diese schmerzlichen Empfindungen in dem Bewußtsein:

„Ich bin abgesetzt.“

Es war Hilda, als verlasse man sie. Am meisten aber schmerzte es sie, daß auch Mimi sich frohgemuth in die neue Ordnung der Dinge fand, ohne das geringste Zeichen von Mitgefühl für das, was in der Seele der Verletzten vorging. Das war eine harte Enttäuschung.

Wie ihr eigenstes Eigenthum, wie ihr Kind hatte Hilda sie betrachtet. So innig hatte sie sich mit ihr verbunden gefühlt, daß ihr in der Entwickelung der künftigen Familienbeziehungen nur eine einzige Schwierigkeit vorgeschwebt, nämlich die, welche ihr als Vermittlerin zwischen dem eifersüchtigen Mädchen, das alle Liebe allein für sich haben wollte, und den gerechten Anforderungen, die an dasselbe herantreten mußten, zufiel. Was für eine Scene war das noch jüngst, kurz vor der Ankunft der Stiefmutter, gewesen! Und jetzt – –?

Wie im Handumdrehen hatte sich die Wendung in Mimi’s Gemüth vollzogen – und nun war es da und ließ sich nicht mehr bannen, das sentimentale Empfinden für das sich Hilda in lebenskräftiger Zuversicht immer unzugänglich geglaubt hatte.

Alle hatten ihre eigenen Interessen; Alle fanden sich auch in denselben zusammen; sie nur blieb ausgeschlossen aus dem Kreise. Wie einem Kinde war ihr zumuthe, das abseits steht und keinen Platz mehr findet in dem Ringe, zu dem sich die Andern im Spiele die Hand gereicht, wie einem Kinde, das nun zusehen muß, wie sich die Andern heiter drehen. Ihr fehlte die Hand, die sie fassen konnte, das Auge, das ihren Blick verstand, die Seele, bei der sie Theilnahme zu finden sicher war. Sie fühlte sich allein. [58] Hatte Frau Rohrwek Recht gehabt mit ihrer Bemerkung? Wendet man sich in solcher Vereinsamung wirklich an eine unvernünftige Creatur, an ein Thier, dem man seine sonst nirgends verstandene Liebe schenkt? „Bußbuß, ist es wirklich so? Bist Du meine ‚Altjungfern-Liebhaberei‘?“

Ein Lächeln umspielte Hilda’s Lippen. Nein, so weit war es noch nicht gekommen; die Menschen standen ihr doch noch näher, als ein Thier, und würde sich die ganze Welt von ihr wenden – Einer thäte es gewiß nicht; der Eine würde ihr treu bleiben – dessen war sie sicher.

Aber wo blieb er denn, der alte Freund, der wohlmeinende Vertraute und Rathgeber, an dessen Gegenwart sie fast wie an die eines Familiengliedes gewöhnt war? Einmal hatte sie ihm wohl weh thun müssen, aber das war lange her und seitdem vergeben und vergessen worden. „Die Freundschaft,“ dachte sie, „ist doch das Beste und Dauerhafteste auf Erden.“ Aber wo blieb er denn? Es hieß doch allzu weit gehen in der Rücksicht auf den Hausbesuch, daß er sich in den letzten Tagen seltener gemacht. Fürchtete er das junge Ehepaar zu stören, so war doch noch sie da. Er hätte gerade in diesem Augenblicke ihr erwachendes Mittheilungsbedürfniß ahnen sollen.

Indem sie, das Landschaftsbild vor Augen, weiter schritt, wendete sie sehnsüchtig den Blick der Stadt zu. Von dem Punkte, wohin Hilda im achtlosen Aufwärtswandeln über die sanft geneigte Fläche gelangt war, konnte man zwischen dem Schlosse und der kleinen Dorfansiedelung hindurch in das breite Flußthal sehen, wo die Straßen der Stadt sich ausdehnten. Lange, gerade Dunstbänke zogen sich über die Niederung; nur ein paar Kirchthürme stiegen darüber sonnenbeglänzt auf in den fahlblauen Himmel. Zarte Dunststreifen, die sich abgelöst hatten und weitergeflattert waren, hingen wie Schleier an der niederen Berglehne. Dort stand der Wald; er prangte nur noch im dunklen Grün der Fichte. Die Buche röthete sich schon, und gelblich färbte sich das dünne Laub der Birke.

Da fiel ein welkes Blatt vor Hilda’s Füße, langsam und leise wie ein müdes, sanftes Abschiedswort. Ein Seufzer hob ihre Brust.

Es ist Herbst.

Sie mußte es ohne zu wissen halblaut vor sich hingesagt haben; denn das Wort weckte ein Echo.

„Ja, Herbst! Und die melancholischste Jahreszeit ist es bei Gott, wenn man sie in dieser matten, charakterlosen Weise vor sich hat. Dort der Flußnebel und hier der Obstmost, beide im ersten Stadium ihrer Entwickelung und beide ungesund! Aber für uns Maler hat sie ihren besonderen Werth. Man muß nur die richtige Perspective wählen. Wenden Sie sich gefälligst um! Der Wein und der Wald! Da ist Kraft und Farbe. Weil aber die Kraft sich zu ihrer Entwickelung noch etwas Zeit läßt, so wollen wir uns an die Farbe halten. Malen wir vorerst! Ein guter Schluck folgt nach. Ich lobe mir den Herbst.“

Es war Edwin, der sich in einer seiner Rhapsodien erging. Hilda gab sich Mühe, in seinen oberflächlichen Ton einzustimmen und heiter zu erscheinen; denn sie schämte sich ihrer schwermüthigen Anwandlung. Es brauchte ja auch Niemand zu wissen, daß die kleinen Besorgnisse für sie eigentlich große waren.

Plaudernd und scherzend kamen sie allmählich an die Grenze des Baumgartens. Edwin war auf seinen Plan, eine malerische Stelle im Walde zu suchen, zurückgekommen, und Hilda – noch unter der Nachwirkung der bitteren Stimmung – meinte auch einmal ihren Aufsichtsposten beim Obstpflücken verlassen zu dürfen. So hatten sich Beide der Hecke genähert, welche Wiese und Wald schied, als ihre Aufmerksamkeit plötzlich durch ein wüthendes Gebell von ihrem Gespräche abgelenkt wurde.

Diana, die sich ihnen, als sie eine Excursion in den Wald witterte, ganz still angeschlossen, war plötzlich in mächtigen Sätzen gegen das Drehkreuz in der Heckenöffnung losgefahren und gab nun mit voller Stimme Laut. Aber im Nu und ehe Hilda den Hund nur zurückrufen konnte, hatte sich der lärmende Angriff in einen kläglichen Rückzug verwandelt: mit eingezogenem Schweif und allen Zeichen des Entsetzens kroch der Hund winselnd rückwärts, stand dann still und retirirte endlich wieder.

„Es muß ein Igel sein,“ meinte Edwin, „und Diana wird sich an ihm die Schnauze verletzt haben. Wir wollen doch einmal nachsehen.“

„Wünsch’ recht guten Morgen,“ ließ sich da eine tiefe, glucksende Stimme vernehmen.

„Teufel, ist das der Igel?“ rief Edwin erschrocken.

„Mein Gott, was thut der Mensch nicht alles für sein tägliches Brod! Ein Igel hat’s vielleicht gar nicht so schlecht und ist jedenfalls sicher, nicht von einem solchen Galgenvieh gefressen zu werden.“

Hilda stieß einen leisen Laut der Verwunderung aus; denn der Sprecher war kein Anderer als der geheimnißvolle Taschenspieler und Bauchredner, den sie in der Geschäftigkeit und unter den neuen Eindrücken der letzten Tage beinahe vergessen hatte.

Auch diesmal war es wieder eine ungewöhnliche Situation, in welcher er sich hier zeigte. Niedergebeugt und mit den Händen gestützt, knieete er auf der Erde, mehr einem vierfüßigen Thiere als einem Menschen ähnlich. Da Diana, während er sprach, wieder Muth gefaßt hatte und nun mit erneutem Bellen auf ihn zufuhr, ergriff der seltsame Mann rasch den zu Boden gefallenen Hut mit den Zähnen an der Krempe und bewegte ihn dann nach rechts und links, in einer Weise, daß dabei die innere Höhlung gegen den Hund gekehrt war. Dieser zog sich, wie gebannt vor den starr auf ihn gerichteten Augen, abermals winselnd zurück.

Hilda gedachte unwillkürlich der Worte Meinhard’s von den kleinen Mitteln dieser Gattung Leute, machte aber der peinlichen Scene schnell ein Ende, indem sie den Hund scharf abrief und zugleich in sein Halsband griff.

„Schade!“ meinte ihr Begleiter. „Sie sollten das amüsante Duett nicht unterbrechen. Diana scheint gute Gründe zu haben, auf solche Landstreicher nicht gut zu sprechen zu sein. Es schadet gar nichts, wenn der Hund ihnen dieses verdächtige Herumlungern abgewöhnt. – Darf ich fragen, was Sie hier zu suchen haben?“ wendete er sich barsch an den sich langsam von den Knieen Erhebenden, dem solche Anstrengung seiner alten Glieder alles Blut in das ernste Gesicht getrieben hatte. Der Mann verbeugte sich indessen nichtsdestoweniger mit dem Aplomb eines Granden von Spanien vor Hilda.

„Ich darf mich wohl auf Sie berufen, mein schönes, gnädiges Fräulein?“ sagte er, den Fragesteller geringschätzig übersehend. „Ich genoß bei einem Morgenspaziergange auf diesem äußerst günstig gelegenen Punkte die herrliche Aussicht und mein sehr frugales Frühstück. Zweifelsohne hat dasselbe die Gier des Hundes erweckt. Du lieber Gott – es ist hart für einen Mann meiner Jahre, sein Leben gegen solchen Gegner vertheidigen zu müssen. Ein starkes Thier übrigens und von edler Rasse! Also Diana heißt Du? Komm’ her, Diana! Wir wollen Freundschaft schließen.“

Aber das Stückchen Speck und Brod, welches er dem Hunde hinhielt, versagte vollkommen seine Wirkung, und damit war auch am unzweideutigsten die Behauptung von der Verlockung, die es auf den noch zitternden und knurrenden Hund ausgeübt haben sollte, widerlegt.

„Mir scheint vielmehr, daß Sie sich hier in den Hinterhalt gelegt hatten, um etwas auszuspioniren,“ beharrte Edwin auf seiner ungünstigen Meinung. „Verlassen Sie gefälligst – –“

„Ich bin noch Ihre Schuldnerin von neulich,“ unterbrach ihn Hilda, indem sie sich an den unheimlichen Mann wandte. „Aber Sie machten sich so schnell unsichtbar –“

Sie holte mit einer gewissen ängstlichen Hast ihr Geldtäschchen hervor und entnahm demselben, ohne jedoch den Hund loszulassen, schnell und mit einer gewissen Befangenheit ein kleines Geschenk, das der Tausendkünstler unter den Gesten einer verschämten Weigerung mit einem geschickten Taschenspielergriff in seiner Weste verschwinden ließ.

„O, es ist nicht meine Absicht, gnädiges Fräulein –,“ sagte er in gut gespielter Verlegenheit und mit schlauer Miene, „in der That, ich bin es nicht gewohnt – es ist sehr drückend für einen Mann in meiner Lage.“ Er schwieg einen Augenblick; dann stammelte er, scheinbar gerührt: „Aber ich darf nicht stolz sein. Ich glaubte schon am Tage nach meinem unterthänigsten Besuche meine Einladung wiederholen zu können, aber der Termin meiner Vorstellung ist immer noch nicht fixirt. – Allerlei Schwierigkeiten bei der Ertheilung des magistratlichen Consenses verzögerten sie wider mein Erwarten. Ueberall Chicanen, gnädiges Fräulein! In dieser unfreiwilligen Muße sehe ich mich Verlegenheiten ausgesetzt – und da verwende ich die Zeit, so gut ich kann, zu Promenaden in dieser reizenden Gegend, aber ich habe mir nun einmal in den [59] Kopf gesetzt, die Stadt nicht zu verlassen, bevor ich meinen hohen Gönnern eine Probe meiner Kunst geliefert habe. Ich will zeigen, was ich kann.“

Grüßend schwenkte er den Hut.

„Sie werden jedenfalls noch von mir hören,“ sagte er mit einer Art von herausforderndem Nachdruck und schritt in den Wald.

„Oho! Das klang ja zuletzt fast wie eine Drohung,“ meinte Edwin, der schon begonnen hatte, sich an dem komisch pathetischen Wesen des sonderbaren Gesellen zu belustigen.

Hilda hatte für den Spaziergang alle Lust verloren; sie hieß den Knecht deshalb willkommen, der sich in einer wichtigen Angelegenheit von ihr Raths erholte, was ihr den Vorwand bot, ihren Begleiter zu verabschieden und sich nach dem Hofe zu begeben.




4.

Herbst! Herbst! – Dem Herbste hatte Hilda’s Seufzer gegolten, und doch war dieser, als der Seufzer erklang, noch ein munterer alter Bursche gewesen, der in seiner bunten Narrentracht gar malerisch aussah und statt der lustig klingelnden Schellen reife Früchte schüttelte. Damals war er noch bei Laune – nun aber, nachdem rauhe Tage in’s Land gezogen, hatte er seinen grauen Mantel umgeworfen und fegte mit ihm über die Fluren, daß sich die Falten des Mantels im Winde blähten, und wo er zwischen die Bäume des Waldes gerieth, da troff aus dem zerfetzten schmutzigen Saume das Wasser.

So düster war heute der stürmische Mittag, daß er fast dem grauenden Morgen glich, und was ihm einen noch unfreundlicheren Charakter lieh, das war der dichte Sprühregen, welcher leise niederging und den Lehmgrund des schmalen Waldsträßchens schier aufweichte. Hilda, die des Weges daherkam, dachte diesmal nicht an den Herbst; sie hüllte sich fester in das über den Regenmantel geworfene Tuch und strebte tapfer vorwärts. Es galt ja ein gutes Werk, und der Streit mit der erregten Natur war das beste Mittel gegen jede melancholische Anwandlung; denn er gab ihr das stolze Vollgefühl siegreichen Wollens und ungeminderter jugendlicher Kraft.

„Hier ist’s gewesen,“ sagte der junge Waldhüter, der sich dicht hinter ihr hielt, als sie ungefähr in der Mitte des Hohlweges an eine Stelle gekommen waren, wo an der ausgewaschenen wohl drei Meter hohen Wand ein frischer Riß sichtbar war. „Er muß in der Dunkelheit da oben am Rande gegangen und sammt demselben abgerutscht sein.“

Oertlichkeit und Thatbestand schienen aber für Hilda weniger Wichtigkeit zu haben, als ihr Begleiter ihnen beizulegen bestrebt war. Sie nickte nur und schritt, möglichst von Stein zu Stein tretend, auf dem schlüpfrigen Wege weiter. Nicht die Art, wie Jemand ihrer Hülfe bedürftig geworden, war ihr die Hauptsache, sondern daß diese Hülfe ihm möglichst rasch zu Theil werde.

Vor einer Viertelstunde saß sie noch in ihrem behaglichen Zimmer, ihren Gedanken überlassen, wie ihr das in den letzten Tagen geradezu zum Bedürfniß geworden. Da hatte sich nach mehrmaligem schüchternem Klopfen die Thür aufgethan, und der Waldhüter war verlegen und ehrerbietig eingetreten. Es war noch nicht lange her, daß er auf die durch den Tod seines Vorgängers erledigte Stelle versetzt worden war, und so hatte er sich noch nicht auf dem Gute eingelebt. Was er vorzubringen hatte, kam daher einigermaßen unbeholfen von seinen Lippen.

Er habe – so berichtete er – gestern Nacht beim Nachhausegehen einen Menschen im Hohlwege liegen gefunden und anfänglich für todt oder schwer betrunken gehalten; dem sei aber, wie sich bald herausgestellt, nicht so gewesen. Der Mann müsse sich bei einem Falle weh gethan haben und ohnmächtig geworden sein. Er habe ihn darum, als er zu sich gekommen, mit in das nahe Jägerhaus genommen, und weil es doch schon spät gewesen sei und der blessirte Mensch seinen Weg unmöglich fortsetzen konnte, ihm allda auch ein Nachtlager gegeben. Wie ein echter Handwerksbursche habe er allerdings nicht ausgesehen, doch auch nicht wie ein Strolch; nach der Kleidung könne man ja heutzutage nicht mehr schließen, da die Arbeiter jetzt oft elegantere Anzüge trügen als die Herren. Um ein Wanderbuch habe er auch nicht fragen wollen; der arme Teufel habe doch gar zu müde und elend ausgesehen; einer Nacht wegen wär’s ja am Ende auch gleichgültig, wem man ein christliches Erbarmen angedeihen ließe.

Mit dem Weiterwandern am Morgen sei es aber, wie sich bald herausgestellt habe, nichts gewesen, und als er, der Waldhüter, von seinem vormittägigen Gange zurückgekehrt, da sei der Fremde noch immer im Jägerhause gelegen. Er hätte lange und wie ein Todter geschlafen; als er endlich erwacht wäre, da hätte er absolut nicht auftreten, ja nicht einmal in die Stiefel kommen können.

„Ja, sehen Sie, gnädiges Fräulein, der Fuß ist am Knöchel ganz verschwollen; er muß ihn sich verstaucht haben,“ schloß der Waldhüter seinen Bericht, „und da schickt mich die Trine her, ob das gnädige Fräulein nicht vielleicht noch etwas von der kräftigen Salbe hätten, die ihr im letzten Winter so gut gethan.“

Hilda war sogleich bereit, dem Wunsche zu entsprechen; es kam nicht selten vor, daß die Leute im Dorfe, um den weiten Weg in die Stadt und die Kosten bei Arzt und Apotheker zu sparen, an ihre Hülfe appellirten, und sie wäre ja keine echte Gutsherrin gewesen, hätten sich bei ihr nicht allerlei einfache Medicamente und erprobte Recepte gefunden. Es nahm sie nur Wunder, daß der Jägersmann sich mit dem ihm eingehändigten Büchschen nicht zufrieden gab. Er verweilte noch.

„Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“ fragte Hilda.

Endlich faßte er Muth.

„Ja,“ sagte er zaudernd, „ich weiß nicht, ob ich so etwas ausrichten darf: Die Trine meinte nämlich, es sei sonst wohl auch noch etwas an dem armen Kranken zu heilen, das würden aber das gnädige Fräulein besser verstehen – ein innerlicher Schaden, für den es vielleicht hier im Schloß ein Mittel gebe. Da wäre aber das Beste, das gnädige Fräulein kämen selber nachsehen, was sich schicke, meinte die Trine – ich weiß nicht, denkt sie an Tropfen oder an einen Trank? Bei dem schlechten Wetter hätte ich’s gar nicht gewagt, ein solches Ansinnen zu stellen, aber die Trine sagte, ich kenne das gnädige Fräulein noch nicht, und die mache sich gar nichts aus einem bischen Naßwerden, wenn es sich um ein armes Menschenleben handle, und das Reden könne mir nicht den Kopf kosten, wohl aber das Schweigen meine Stelle, meinte die Trine.“

„Nun, so arg wird es in keinem Falle sein,“ tröstete ihn Hilda freundlich.

„Das habe ich wohl gedacht,“ erwiderte er aufathmend, „aber am Ende hatte ich doch Angst. Du großer Gott, man weiß ja nie, wie’s die Alte meint. Gleich darauf hat sie mir wieder angedroht, es könne mir meine Stelle kosten, wenn ich nicht schweige. Keinem Menschen sollte ich nämlich etwas davon sagen, als nur dem gnädigen Fräulein selbst. Sie wird alle Tage wunderlicher, die Trine. Da hat sie dem fremden Menschen gestern sogar in ihrer eigenen Kammer gebettet und sich selbst auf die Streu gelegt. Das geht mich eigentlich nichts an, aber verkehrt ist’s doch, und wahrhaftig – ich weiß nicht – ich habe sie bisher behalten, weil ich allein steh’ und sie als eine Art Inventarstück mit dem Jägerhause übernommen – aber –“

Hilda sprach ihm Geduld zu. Die an sie ergangene Aufforderung kam ihr zwar auch etwas verwunderlich vor, aber so genau konnte man es bei der Alten mit der guten und feinen Lebensart nicht nehmen. Genau genommen hatte sie ja auch Recht. Die nächstbeste Medicin that es nicht; wenn der fremde Mensch krank war, mußte vielleicht der Arzt in Anspruch genommen werden, und darüber traf Hilda unbedingt am besten die Entscheidung, wenn sie sich selber überzeugte, wie es mit dem Kranken im Jägerhause stand; es kostete ja auch nur einen Gang durch ein bischen Regen und Wind, und dagegen war sie abgehärtet.

Sie hatte nicht lange überlegt, sondern sich rasch gerüstet, und nachdem sie ein paar Fläschchen zu sich gesteckt, war sie mit ihrem Begleiter direct durch den Blumen- und Baumgarten nach dem Jägerhause aufgebrochen. Jetzt war sie am Ziele.

„Da hat die Alte gar die Thür verschlossen – bei helllichtem Tage, als ob es bei uns etwas zu stehlen gäbe! Trine! Trine!“ rief der Waldhüter unmuthig anpochend. Dann wendete er sich wieder, den Hut langsam ziehend, an Hilda: „Brauchen mich das gnädige Fräulein noch – vielleicht für den Rückweg?“

„Nein, Halder, den finde ich schon allein.“

„Es ist nur, weil ich drüben in Großdorf zu thun hätte. Eine Holzversteigerung, gnädiges Fräulein!“

Hilda beruhigte den dienstfertigen Mann und hieß ihn, sich nicht aufhalten. Er pfiff dem Dachshunde, der lustig wedelnd über die Schwelle gehumpelt kam, und schlug, nochmals grüßend, [60] die dem Schlosse entgegengesetzte Richtung ein. Mittlerweile war das gelbe, verrunzelte Gesicht der Haushälterin in der Thürspalte zum Vorschein gekommen.

„Nun, Trine, wollen Sie mich nicht ein wenig unter Dach lassen? Das Wetter heute ist nicht sehr einladend für einen Aufenthalt im Freien.“

Die Alte antwortete mit einem lebhaften Nicken und Grinsen.

„Gelobt sei Jesus Christus! So hat er’s doch recht ausgerichtet – ist sonst ein braver Mann, aber wie’s die Jungen alle haben – will alles besser wissen,“ murmelte der zahnlose Mund der Alten.

„Und wie geht’s Ihnen, Trine? Immer noch frisch auf den Füßen.“

„Ja, du mein Gott, zu Kirchweih tanz’ ich freilich nimmer. Und die Augen sind auch schlecht, aber soweit sehen sie doch noch, ob Einer ein schlechtes Gewissen hat oder nicht, wenn auch die Anderen nichts von ihm wissen wollen. Hat Manchem schon das Elend das Herz abgefressen, der’s besser hätte haben können. Müßt’ Einer hart sein, wie ein Stein, der mit solchem Jammer kein Erbarmen hätt’, und ich sag’ Jedem die Wahrheit gerade in’s Gesicht, mag er auch noch so ein großer Herr sein. Ich fürchte mich nicht. Sollen mich nur fortjagen!“

„Es denkt ja Niemand daran,“ suchte Hilda die Eifernde zu trösten, deren verwirrte Reden sie nur mit Mühe zu verstehen vermochte; sie legte die Hand auf die Klinke zum Wohnzimmer, das auf der rechten Seite des schmalen Flurs, der Küche gegenüber, lag. Als jedoch die Alte sich nicht beschwichtigen ließ, sondern in ihrem vorwurfsvollen Gemurmel fortfuhr und dann sogar von einem Recht sprach, das Einer habe dort aufgenommen zu werden, wohin er nun einmal gehöre, da wurde Hilda doch aufmerksamer und fragte verwundert: „Wer?“

Ueber das kurze Wörtchen kam sie aber nicht hinaus; denn mittlerweile hatte die Thür dem Drucke nachgegeben, und Hilda’s Blick fiel auf ein Bild, das ihre Zunge, wie ihren Fuß lähmte.

In der Ecke hinter dem schwerbeinigen Tische saß eine bleiche abgezehrte Gestalt, ein rothgewürfeltes Kissen unter den an die Wand zurückgelegten Kopf geschoben, mit geschlossenen Augen wie ein Todter.

„Eine wunderbare Aehnlichkeit!“ dachte Hilda, und eine dunkle Ahnung, die ihr Herz schneller klopfen ließ, stieg in ihr auf. Das dünne verwirrte Haar auf der bleichen Stirn des Kranken, die halb geöffneten, farblosen Lippen zwischen dem vernachlässigten Bart und dazu die hagere abgezehrte Gestalt – dies alles gab in dem matten Lichte, das durch die kleinen Fenster in die Stube fiel, ein erschreckendes Bild, das diese unheimliche Aehnlichkeit nur noch vermehrte.

„Er ist wieder eingeschlafen,“ erläuterte Trine mit gedämpfter Stimme. „Wenn man so matt wie eine Fliege ist, sollte man im Bette bleiben. Eigensinnig wie alles Mannsvolk!“

Noch immer blickte Hilda, die selber so bleich wie eine Sterbende geworden war, auf den Regungslosen, aber ihr war nicht, als ob sie eine Leiche, nein, als ob sie ein Gespenst schaute. Langsam wendete sich ihr Blick der Alten zu, und als ob sie noch in Zweifel sein könnte, fragte sie tonlos.

„Er?“

„Ja, ja,“ nickte Trine, und es war etwas wie eine unverhohlene, selbstzufriedene Genugthuung in ihrem herben Lächeln. „So hat’s ihn zugerichtet. Aber zu kennen ist er schon noch; man muß nur recht hinsehen.“

Hilda mußte sich an den Thürpfosten lehnen, aber die Schwäche-Anwandlung, die sie überkam, dauerte nicht eine Secunde. Der Schlummernde war aufgewacht; er wendete den Kopf, öffnete die Lider und richtete die dunkeln tief eingesunkenen Augen auf Hilda. Noch eine ganz kurze Weile schwieg er; dann bewegten sich auch seine Lippen.

„So, so,“ sagte er müde und fast gleichgültig, „bist Du da?“

Er machte dazu keine Bewegung, um sich von der Bank zu erheben; nur seine Hand hob sich ein wenig und fiel dann kraftlos wieder auf die Tischplatte zurück.

„Und gegessen hat er fast gar nichts und brauchte es doch so sehr,“ klagte die Alte.

Jetzt hatte Hilda sich ermannt. Sie trat ein paar Schritte vor in das Zimmer, aber mit dem Schreck war auch das Mitleid aus ihrem Blicke gewichen; ihr Antlitz zeigte eher einen grollenden Ausdruck, und ihre Stimme klang gezwungen ruhig und kühl, als sie sagte:

„Wir haben Dich nicht zurückerwartet.“

Wie der Schein eines bitteren Lächelns glitt es um die schmalen Lippen des Kranken.

„Ja, ja, ich wußte schon, daß in Waltershofen kein Kalb geschlachtet wird zu Ehren meiner Heimkehr. Vielleicht lernt der verlorene Sohn sogar noch die Trebern schätzen, die ihm nicht mehr munden wollten.“

„Und doch bist Du wiedergekommen?“

„Was willst Du? Einfältige Sentimentalität! Ich weiß, Du bist ihr nicht zugänglich, aber der Schöpfer hat unsere Naturen ungeschickter Weise vertauscht. Ein fataler Irrthum – wie? Du solltest der Bruder und ich die Schwester sein – so wäre alles anders geworden, besser, viel besser.“

Sie antwortete nicht auf den Spott, sondern fragte statt dessen fast mit Härte:

„Und was willst Du nun hier?“

„Weiß ich’s? Vielleicht sterben,“ antwortete er tonlos.

„Da sei Gott vor! So weit ist’s noch nicht,“ murmelte Trine auf die Spitzen ihrer gefalteten Hände. Hilda schüttelte nur unwillig den Kopf.

„Laß das!“ sagte sie. „Mit Redensarten löst man keine ernste Frage; es hätte Dir sonst nicht fehlen können. Glücklicher Weise ist das Sterben Denen am fernsten, die am meisten davon reden.“

„Es wäre allerdings ein ungeschickt gewählter Moment,“ fuhr der Kranke fort. „Würde Euch Unbequemlichkeiten machen. Sehe das ein; es thut mir auch leid, aber siehst Du – ich bin so müde – todtmüde! – Hätt’ es freilich drüben abthun können – recht weit fort, daß man nicht wüßte, wo, wann, wie … Verschollen, vergessen – aber wozu habt Ihr mich denn hinübergeschickt?“

„Wahrlich nicht zum Verkommen und Sterben!“ entgegnete sie, aus ihrer dumpfen Zurückhaltung aufgerüttelt. „Frei solltest Du Dich regen können, Wilhelm, die Schmach vergessen und Dich über sie erheben; arbeiten solltest Du und ein neues, unbescholtenes Leben beginnen. Dazu wollten wir Dir helfen, und Du weißt es selbst recht gut. Du willst nur mit Verleumdung die eigene Schuld, die eigene Feigheit decken. Feigheit, ja wohl! Denn nur die gefällt sich darin, vom Sterben zu sprechen, wo ihr die Pflicht, zu leben, zu schwer dünkt. Wärst Du ein Mann, dann würdest Du nur daran denken, für diejenigen zu leben, die auf Dich angewiesen sind. Nimm Dir ein Beispiel an Deiner eigenen Frau!“

„Freilich! Meine Frau!“ erwiderte er noch immer in dem apathischen Tone wie früher. „Man hat drüben verschiedene Maßstäbe für Gentlemen und Ladies – ihr kann’s vielleicht gedeihen.“

„Drüben? Ist sie nicht mit Dir gekommen?“

„Ich bin allein. In Waltershofen ist das, mein’ ich, ein Umstand, der für mich sprechen und meine Aussichten auf eine günstige Aufnahme vermehren dürfte.“

„Und weshalb bist Du allein?“ fragte sie. Das Erstaunen war der Empörung gewichen. „Ist es möglich? Wilhelm, Du hast Weib und Kind verlassen, um solcher herzlosen, selbstsüchtigen Berechnung willen verlassen?“

„Verlassen? – Bah! Verlassen haben sie mich. – Liebe, kleine Any, arme Any! – sie hatte so schönes blondes Haar.“ – Die Worte kamen nur langsam aus seiner sich schwer hebenden Brust, und seine fieberhaften Augen glänzten so seltsam feucht, während sie in die Ferne, durch die Wand, weit, weit hinaus zu schauen schienen. „Arme, süße Kleine! – Aber vielleicht war es das Beste für sie. Sie hatte einen so klugen Verstand, so scharfe Auffassung in den großen, braunen Augen, viel zu scharf. – Es wird wohl das Beste gewesen sein. Was hätte sie auch im Leben für eine Zukunft gehabt? Was hätte aus ihr werden können? Es ist schrecklich zu denken, schrecklicher als der Tod, viel schrecklicher. Arme Kleine! Einen Vater haben, der zu schwach ist, sein Kind zu beschützen, es zu versorgen und vor allen bösen Einflüsterungen und Nachstellungen zu behüten, und auf der andern Seite das Vorbild – ach, ach! wahrlich, ein nachahmenswerthes Beispiel!“

Er war wieder in die alte Ironie verfallen, aber an seiner Wimper hing noch die Thräne, welche die Erinnerung an seine kleine Any ihm erpreßt hatte.

„Dein Kind ist todt, Wilhelm?“ fragte Hilda weicher, als es ihr eigentlich angemessen schien; sie trat näher an den Tisch heran,

[61]

„Wenn ich ein Vöglein wär’!“
Originalzeichnung von Conrad Ermisch.

[62] auf den sich ihr Bruder stützte. Da streifte sie ein dankbarer Blick des armen Kranken; er nickte stumm. „Aber wie konntest Du Deine Frau allein lassen in ihrer schweren, nun doppelt kummervollen Lage? Wilhelm, das war nicht recht. Ist der Schmerz einer Mutter nicht schon tief genug?“

„Sie singt und tanzt.“

„Unmöglich! Oder –“ sie stockte vor Entsetzen – „ist sie wahnsinnig?“

„Nein, wenn es nicht vielleicht in ihrer Rolle steht,“ antwortete er bitter. „Aber so große künstlerische Aufgaben fallen ja zumeist nur den Tragödinnen zu. Im Café chantant goutirt man keine Wahnsinnsarien.“

„So hast Du, Unseliger, sie zu diesem Verzweiflungsschritte getrieben? O, es muß grausam sein, die Gefühle, die Einem das Herz zerfleischen, verbergen zu müssen, um eine rohe Menge zu unterhalten.“

„Ja, es muß grausam sein,“ wiederholte er wie ein Automat.

„Du sagst es, Wilhelm – und empfindest dabei nichts.“

„Und vielleicht doch mehr als sie.“

„Schäme Dich! Kannst Du denn immer nur verleumden? Hast Du nicht so viel Selbstachtung, um Dein Weib nicht vor Anderen herunterzusetzen? Wenn Du nun einmal um ihren Besitz die großen Opfer gebracht hast, so sei nicht so klein, der Frau, welche ihre Heimath für Dich verlassen, die mit[WS 1] Dir hinausgezogen ist über’s weite, weite Meer, die Anerkennung zu verweigern, welche sie verdient hat! War sie es nicht, die Dein Loos muthig mit auf ihre schwachen Frauenschultern genommen hat in einem Moment, wo ihr wahrlich kein Vorwurf daraus hätte erwachsen können, wenn sie sich von Dir losgesagt hätte? Sie hat Deine Opfer mit größeren zurückgezahlt. Und Du bezeichnest achselzuckend als Schmach, wozu offenbar nur Deine eigene Indolenz sie genöthigt? Ist es nicht vielmehr eine Schmach, Deine Schmach, Wilhelm, daß Du Dich von ihrer Hände Arbeit ernähren ließest?“

„Von ihrer Hände Arbeit?“

„Hat sie nicht Hüte gefertigt, hat sie nicht Kleider gemacht? Mußte sie sich nicht selbst die armselige Summe für eine Nähmaschine bei Andern erbitten, da Du nicht einmal ihre Ersparnisse geschont hattest, wo es Deine Vergnügungen galt? O, Du siehst, ich weiß alles, oder kannst Du mir widersprechen?“

(Fortsetzung folgt.)




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
16. Unsere Dienstboten.

Fast möchte sich die Feder sträuben gegen das Niederschreiben des Wortes: Dienstbote. Es klingt recht altmodisch; gemahnt es doch an die Zeiten, wo man noch nichts wußte von „Arbeitnehmern“ und „Arbeitgebern“, wo die Töchter anständiger Bürgerhäuser noch in den „Dienst“ gingen, und nicht in „Condition“, wo auch die jetzigen „Gehülfen“ noch „Gesellen“ hießen, und am Gesindetisch einer größeren Landwirthschaft Jeder und Jede fast eine Ehre darin fand, sich „Knecht“ und „Magd“ eines Gutes nennen zu hören, während diese Worte heutzutage schon beinahe für eine Beleidigung gelten.

Zu jener Zeit, aus der das Wort „Dienstbote“ stammt, war jeder Haushalt ein kleiner Sonderstaat im Staate, ein fest gegliedertes Ganzes, dessen einzelne Ringe sich gegenseitig hielten und trugen, ohne daß einer davon entbehrt werden konnte. Jetzt, wo sich dieses gegenseitige Verhältniß in einem so hohen Grade gelockert hat, daß die Dienstboten, der Schwalbe gleich, aus- und einstreichen in unsern Häusern, daß man sie gleichgültig wechselt, wie einen Rock, jetzt ist es ganz in der Ordnung, daß man für diese neuen Verhältnisse auch neue Bezeichnungen gewählt hat.

„Kindergärtnerin“, „Bonne“, „Stütze der Hausfrau“, „Kochmamsell“, „Beschließerin“ und „Ausgeberin“, „Pferdewärter“ und „Schafmeister“ – es klingt wirklich Alles recht fein und nobel; diese netten Namen verhüllen in anständiger Weise, daß man fremdem Willen zu gehorchen hat, daß man seine Kräfte dazu anwendet, auf ehrliche Weise sein Fortkommen in fremden Diensten zu finden.

Als ob dies eine Schande wäre!

Mit dem Namenswechsel ist aber an der Sache selbst doch nichts geändert, und ob unsere Dienerschaft nun so oder so genannt wird, die Klagen über dieselbe von Seiten der Herrschaften sind durchaus nicht geringer geworden. An den beliebten Kaffee- und Theetischen unserer Hausfrauen bilden sie noch immer ein ebenso unerschöpfliches Gesprächsthema wie vor hundert Jahren. Wollte man sich aber die Mühe nehmen, an den Thüren von Küche, Stall und Dienststuben zu horchen, so würde man dort in gleicher Weise die Kehrseite der Frage erörtern hören; denn auch die Klagen der Dienstboten über ihre Herrschaften sind ein ewig unerschöpfliches Thema. Und wenn wir gerecht sein wollen: jede der beiden Parteien hat in der That oft genug Grund, zu klagen.

Die „vernünftige Hausmutter“ greift in ihren Schilderungen und Betrachtungen nicht hinaus über ihr Gebiet; sie hat nur einfach bürgerliche Verhältnisse im Auge, und läßt jene großen Paläste unberücksichtigt, wo ein ganzes Heer von Dienerschaft einem Haushofmeister unterthan ist und von diesem geleitet wird. Solche Haushaltungen haben natürlich andere Gesetze und Regeln als die unserigen, wenngleich auch dort die bekannte Erfahrung gemacht werden mag, daß man am besten bedient ist, je weniger Dienerschaft man hält. Im Leben des Mittelstandes hat dieser Satz sich häufig bewährt. Wer es haben kann, der halte sich zwei Dienstmädchen, mehr nur dann, wenn etwa ein Kranker oder ein Säugling im Hause ganz specieller Pflege bedarf! Oft erfordert auch der Beruf des Hausherrn einen männlichen Diener, der dann seinen besonderen Pflichtenkreis für sich hat.

Zwischen zwei Dienstboten kann die Arbeit gut getheilt werden, während ein Dritter nur dazu da ist, um von den beiden andern als Aschenbrödel benutzt zu werden. Viele sehr anständige Familien begnügen sich in den jetzigen theuren Zeiten wohl auch mit nur einem Mädchen, und finden es nicht unter ihrer Würde, bei den feineren Arbeiten selbst thätig zuzugreifen. Ja, einigen unter ihnen wird diese Selbstthätigkeit zu einer so lieben Gewohnheit, daß sie dieselbe selbst dann nicht missen mögen, wenn sich ihre Verhältnisse verbessert haben.

Eine meiner Verwandten hatte einen jungen Officier geheirathet und sich im Anfang ihrer Ehe recht knapp behelfen müssen. Sie hielt stets nur ein Dienstmädchen. Als aber ihr Mann später Oberst wurde, fragte man sie:

„Nicht wahr – jetzt wirst Du Dir doch ein Stubenmädchen nehmen? Jetzt wirst Du nicht mehr selbst die Betten machen wollen?“

„O, gewiß will ich das,“ lachte die fröhliche, rüstige Frau, „denn als Obristin will ich erst recht gut schlafen, und das kann ich nur, wenn ich mein Bett selbst geordnet habe.“

Nach meiner Erfahrung kann man die brauchbaren, braven Mädchen einfacher Haushaltungen in zwei große Hälften scheiden, in Gutmüthige und in Selbstbewußte.

Die Schaar der Gutmüthigen besteht meist aus Mädchen vom Lande, die ein paar derbe Fäuste und den allerbesten Willen, sonst aber nicht viel mitbringen. Anspruchslos und bescheiden, stets guter Laune, sind diese Personen willig zu jeder Arbeit; ja, wenn du einer Solchen früh Morgens das Programm der Tagesarbeit entwirfst, so wird sie meistens noch einige Vorschläge mehr anbringen. Du sagst vielleicht zu deiner „Auguste“:

„Diesen Nachmittag kannst Du die Wäsche rollen.“

„Vorher möchte ich aber noch die Fenster putzen,“ meint sie.

„Wie war es gleich mit der Lampe?“ fragst du weiter, „wann sollte sie fertig werden?“

„Sie ist heute fertig; ich will sie nachher abholen, wenn ich die Wäsche gerollt habe. Es sind ohnedem auch noch Stiefel zum Schuhmacher zu tragen, die nehme ich dann gleich mit.“

Die Frau ist ganz entzückt über den guten Willen ihres Mädchens; aber ach! Wenn sie des Abends die Arbeit controllirt, ist die Wäsche vielleicht nicht zur Hälfte zusammengelegt, an Rollen noch nicht zu denken. „Mit dem Fensterputzen bin ich nur im Salon fertig geworden,“ berichtet das Dienstmädchen, „aber ich putze die anderen morgen früh bei Zeiten,“ fügt sie eifrig hinzu.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mir

[63] „Und die Lampe, und die Stiefel?“

„O, das besorge ich Alles morgen früh mit beim Einkaufen.“

Die Hausfrau kann ruhig darüber sein, daß Beides auch – übermorgen noch nicht besorgt sein wird. Will sie aber anfangen zu schelten, so zeigt sich das Mädchen ganz zerknirscht von Reue; sie bittet demüthig um Vergebung, ja es kommt ihr nicht darauf an, noch spät am Abend mit verweinten Augen den Rest der Wäsche fertig zu legen. Man kann ihr nicht gram sein; sie hat so guten Willen und ist immer in athemloser Geschäftigkeit. Die Arbeit geht ihr, wie man zu sagen pflegt, zwar nicht „aus der Hand“, aber dieser Fehler ist eine Folge ihres zu guten Willens, ihrer zu großen Gutmüthigkeit.

Alle Hausgenossen benützen ihre Bereitwilligkeit, und so wird sie beständig hin und her gesprengt durch hundert verschiedene Befehle. Wohl hat sie nie schlechte Laune und macht keine Ansprüche, aber niemals auch ist ihre Küche sauber aufgeräumt und sie selbst nett angezogen; nie ist eine Arbeit zur bestimmten Stunde gethan.

Die „Selbstbewußte“ ist von alledem das Gegentheil. Ihr darf man überhaupt nur selten eine bestimmte Arbeit zuertheilen. Sie macht nur das, was sie will, und zu der Zeit, wo es ihr am besten paßt. Höchstens noch darf sich die Hausfrau gestatten, schüchtern zu fragen: „Heute wirst Du wohl die Wäsche rollen?“ „Weiß nicht, es ist noch nicht Alles trocken,“ antwortet das Mädchen in ziemlich brummigem Tone.

Die Frau geht fort, etwas ärgerlich über das vorlaute Wesen der Magd, der zu widersprechen sie doch nicht den rechten Muth hat. Am Abend aber findet sie die ganze Wäsche nicht nur gerollt, nein auch schon gebügelt vor. In der spiegelblanken Küche sitzt das Mädchen mit Näharbeit beschäftigt, so ruhig und gleichgültig, als hätte sie nicht in den wenigen Nachmittagsstunden außer dem Rollen und Bügeln auch noch das Putzen und Scheuern der ganzen Küche vollbracht.

Die Frau sieht es und freut sich darüber. Sie ist durstig und möchte gern noch ein Glas frischen Wassers haben. Wird sie das Mädchen wohl schicken, es zu holen? O, beileibe nicht! Sie nimmt selbst das Glas und geht damit hinaus an den Wasserhahn. Es ist nicht Hausbrauch, daß um zehn Uhr Abends noch Wasser geholt wird, und sie wagt es nicht, dem Mädchen solch eine außergewöhnliche Anstrengung zuzumuthen.

Die „Selbstbewußte“ ist stets flink, sauber, zuverlässig, aber sie macht, wie schon gesagt, nur was sie will, und der kleinste Querbefehl trübt ihre Laune auf halbe Tage hinaus. Wenn sie Gemüse zuputzt, so ist es nicht denkbar, daß sie abgerufen werden könnte, um einen Gang zu machen; wenn sie „Waschtag“ hat, so können ihretwegen ruhig Herr und Frau und Kinder verhungern; sie weicht nicht von ihrem Troge, bis das letzte Stück Wäsche fertig ist. Eine Mahnung, die Semmel bei einem andern Bäcker zu holen, die Milch in einem andern Gefäß abzukochen, als sie gerade für passend hält, wäre ebenso fruchtlos, wie der Versuch, ihr Einhalt zu thun, wenn sie sich für einen bestimmten Tag das große Scheuerfest vorgenommen hat. Still und geduldig fügt man sich in ihre Tyrannei, bis dieselbe doch einmal gar zu arg wird; da endlich faßt man den heroischen Entschluß, ihr doch zu kündigen. Der „Erste“ des Monats ist da. Mit Herzklopfen steht die Hausfrau auf; sie hat schon die ganze Nacht nicht geschlafen und sich hundertmal überlegt, mit welchen Worten sie die beabsichtigte Kündigung einleiten soll. Alles, womit das Mädchen sie in der letzten Zeit ärgerte, hat sie sich in’s Gedächtniß zurückgerufen, um sich zur nöthigen Höhe der Entrüstung hinauf zu schrauben. Jetzt schreitet sie in die Küche, gepanzert in ihrem Innern, jede Muskel schlagfertig. Da tritt ihr die Magd entgegen, ein blüthenweißes, duftiges Häubchen in der Hand:

„Was? Gnädige Frau sind schon auf? Wie schade! Gerade wollte ich das Morgenhäubchen heimlich hinein legen; ich weiß doch, daß es gnädige Frau gern recht bald haben wollten, da hab’ ich es nicht zur Wäscherin getragen, sondern gleich selbst garnirt.“

„Ja, aber Minna – wann denn?“ stammelt die Frau, in allen ihren Maßnahmen erschüttert, „wann hast Du denn das gemacht?“

„Na, gestern Abend,“ triumphirt das Mädchen, „just um ein Uhr Nachts war ich fertig.“

Die Frau steht verblüfft da. Soll sie jetzt ihre schön ausgedachte Rede halten? Unmöglich! O Minna, du Pfifficus, du hast es gar wohl gewußt, daß heute der „Erste“ ist, und mit Hülfe deines Kalenders hast du dir abermals den Sieg gesichert.

Die „Gutmüthige“ und die „Selbstbewußte“, Beide bleiben sie meistens längere Zeit in einem Dienste. Die Erstere behält man aus Mitleid immer wieder, und die Letztere versteht es, sich so unentbehrlich zu machen, daß man sich stets auf’s Neue ihrer Alleinherrschaft im Hause fügt. Pfiffig wie sie ist, studirt sie genau den Charakter ihrer Herrschaft und weiß die kleinen Schwächen jedes einzelnen Familiengliedes zu benutzen. Sie erkundigt sich zehnmal am Tage mit bedauernder Miene nach den Zuständen der nervösen Dame des Hauses; sie legt dem Herrn pünktlich und genau jeden Gegenstand, den er braucht, an den dazu bestimmten Ort; sie öffnet ihm die Hausthür, ehe er noch die Glocke gezogen hat. Den erwachsenen Töchtern bringt sie die Neuigkeiten der Stadt nach Hause, und den Sohn benachrichtigt sie rechtzeitig, wenn Damenbesuch da ist, damit er geräuschlos in sein Zimmer verschwinden kann, statt in den Rachen der Besucherinnen zu fallen. Den Kindern hilft sie bei ihren Weihnachtsarbeiten für die Eltern oder steckt ihnen heimlich ein Butterbrod zu. Ein solcher „Tresor“, wie man dergleichen Unicum zu nennen pflegt, dient am liebsten allein in einem Hause, da er sich selten mit Nebendienstboten vertragen kann. Solch ein Mädchen ist auch fast immer ein Erbstück der Familie, etwa die Amme des ältesten Kindes oder gar die Amme der jungen Hausfrau selbst. Sie ist mit der Geschichte der Familie vertraut bis in die kleinsten Falten und kennt jedes Geräth im Hause, jedes Stück Wäsche viel genauer, als die Besitzerin dieser Dinge selbst.

Kommt aber solch ein „Tresor“ doch einmal in einen andern Dienst, so ergiebt es sich meistens, daß man dort durchaus nicht ebenso zufrieden mit ihm ist. Ich habe überhaupt ein entschiedenes Mißtrauen gegen solche lebendige Familienerbstücke.

Keiner Herrschaft möchte ich gerathen haben, meine alte „Strieglermutter“ in den Dienst zu nehmen, nachdem sie in unserem Hofe durch siebenundzwanzig Jahre gedient und sich dort als Factotum so unentbehrlich gemacht hatte, daß man sich unsere Wirthschaft gar nicht hätte vorstellen können ohne die „Strieglern“. Eigentlich war sie ihres Zeichens Garten- und Waschfrau. Aber sie hatte auch andere Aemter: war eine Kuh krank, so mußte sie bei derselben wachen; fuhren wir in’s Theater, so blieb sie bei den Kindern – zu deren größtem Jubel und Entzücken; denn so schöne Geschichten wie die alte „Strieglern“ konnte Niemand erzählen. Gab es einen Geldbrief zu besorgen, oder einen besonders delicaten Auftrag mündlich zu bestellen, wer anders als sie hätte der Bote sein können?

Wenn diese Frau später zu einer andern Herrschaft gekommen wäre, so hätte sie gewiß nur die stehende Redensart solcher Familienerbstücke im Munde geführt: „Bei uns wurde das anders gemacht; unsere Herrschaft machte es so und so“, etc. Unmöglich hätte sie sich in ein anderes Regiment fügen können, und so ist es am besten, daß sie an dem Orte blieb, wo ich ihr lebenslängliche Wohnung mit Gärtchen für den Rest ihrer Tage gesichert hatte.

Die gewöhnlichen bunt bekritzelten Dienstbücher unserer Stuben- und Küchenmädchen, die für jedes Jahr mehrere gefüllte Seiten von Zeugnissen aufzuweisen haben, sind mir stets sehr verdächtig. Am liebsten nehme ich ein Mädchen aus braver, solider Familie, die noch gar nicht gedient hat, aber zu Haus überall tüchtig mit zugreifen mußte; denn in den bei uns üblichen Zeugnissen ist ja überhaupt nichts weiter zu berücksichtigen, als die Dauer des Dienstes; einen Tadel schreibt ja Niemand hinein. So lange die Herrschaften sich nicht entschließen, genauere Atteste auszustellen, werden die Dienstbücher nicht mehr Werth für sie haben, als ein polizeilicher Aufenthaltsschein. Und doch ist solches Angeben der Wahrheit ein schwierig Ding. Ich habe es ein einziges Mal versucht, werde es aber für alle Zukunft bleiben lassen. „Ist ehrlich gewesen, aber sehr nachlässig,“ schrieb ich einer Küchenmagd in’s Buch. In Folge dessen hatte ich dreimal an Amtsstelle zu erscheinen und mußte eine lange schriftliche Erklärung über die gerügten Vernachlässigungen abgeben. Nun, das Verzeichniß des zerbrochenen Geschirres, der angebrannten Suppen etc. war lang genug, um dem Herrn vom Gericht zu imponiren – mein Attest blieb daher auch unverändert stehen. Aber an diese stundenlangen Zeugenverhöre will ich denken, so oft ich wieder die Feder ansetze zu einem Dienst-Attest.

[64] Ich meine übrigens, in das Gesicht und auf das ganze Gebahren eines Mädchens muß man mehr sehen, als in ihre Zeugnisse. Dann muß vor Allem nach der Familie gefragt oder mündlich Nachfrage gehalten werden bei der letzten Herrschaft. Das sind die einzigen Vorsichtsmaßregeln, die man ergreifen kann – sie werden selten ganz trügen.

Hat man aber einmal ein Mädchen in’s Haus genommen, deren Aeußeres und Herkommen Vertrauen einflößt, dann zeige man ihr auch Vertrauen! Viele Frauen klagen: „Nicht das Geringste kann man stehen lassen vor dieser Näscherin.“ Eben weil jede Kleinigkeit weggeschlossen wird, so glaubt das Mädchen in seinem Recht zu sein, wenn sie dasjenige verbrauchte, was nicht verschlossen wurde. Wenn Du sie aber daran gewöhnst, selbst Speisereste aufzubewahren, nachdem sie den ihr gebührenden Theil davon empfangen hat, so wird Dein Mädchen solches Vertrauen meist zu würdigen wissen.

Aehnlich verhält es sich auch mit dem Vertrauen in wichtigeren Dingen. Nur ein Dienstbote, vor dem man mit peinlicher Sorgfalt jedes Familienereigniß geheim hält, den man energisch ausschließt von allen Interessen seiner Herrschaft, nur ein solcher wird an den Thüren horchen und das dort Erlauschte weiter klatschen. Wenn ich irgend ein Vorkommniß im Hause geheim halten will, so ist gewiß das Erste, daß ich es meinem Dienstmädchen erzähle mit der Anempfehlung, die Sache nicht weiter zu sagen. Wie stolz, wie geehrt fühlt sich das Mädchen durch solches Vertrauen! Wenn sie brav und rechtschaffen ist, so wird sie das Geheimniß ihrer Herrschaft hüten wie ihr eigenes. Das ihr anvertraute Geheimniß ist ein Heiligthum für sie, aber was sie erhorcht oder errathen hat, fühlt sie sich nicht verpflichtet, heilig zu halten.

Ein Dienstbote, der das Vertrauen seiner Herrschaft genießt, wird sich überdies bald genug den nöthigen Tact aneignen, um nicht störend in die intimen Beziehungen des Hauses einzugreifen. Er wird es bemerken, daß das Gespräch bei seinem Eintritte stockt, und deshalb die im Zimmer nöthige Verrichtung so rasch als möglich erledigen. „Wie der Herr, so der Knecht“, es giebt kein wahreres Sprüchwort.

Wer nur fühllose Maschinen als Dienerschaft wünscht, der wird sie bald genug haben; er darf aber auch dann von diesen Automaten nicht mehr verlangen, als daß sie die tägliche Aufgabe richtig abschnurren; er darf nicht erwarten, daß sie in entscheidenden Momenten das Maß ihrer Pflichten freudig überschreiten, um der Herrschaft ihre Liebe und Anhänglichkeit zu bezeigen.

Gute und treue Dienerschaft muß man sich selbst erziehen; sie wächst nicht in den Vermittelungsbureaux heran. Zwischen Vertrauen und Vertraulichkeit aber ist noch ein großer Unterschied, und nur das erstere sollen unsere Dienstboten von uns genießen. Hier ist die Klippe, die am schwersten zu umschiffen, die Grenze, die am schwersten einzuhalten ist. Durch würdig ernstes Vertrauen gewinnen wir uns die Herzen unserer Dienerschaft; durch läppische Vertraulichkeit geben wir uns selbst in ihre Hände. So wie ein Kind niemals, selbst in den Momenten zärtlichster Hingabe nicht, vergessen darf, daß es Vater und Mutter vor sich hat, nicht gleichstehende Gespielen, so darf auch ein Dienstbote – selbst wenn er seit vielen Jahren im Haus wäre – nie seine dienende Stellung zur Herrschaft vergessen. Dieses Bewußtsein braucht kein drückendes zu sein; es ist im Gegentheil ein erhebendes.

Einen Dienstboten, wie er sein soll, kann das Vertrauen seines Herrn nur um so mehr erheben, je tiefer er sich an Bildung unter demselben stehen fühlt, und dieses Vertrauen wird ihn sicher weit mehr befriedigen, als jene leichtfertige Vertraulichkeit, die er bei seines Gleichen überall finden kann, also nicht erst bei der Herrschaft zu suchen braucht.

Von einem Dienstboten, den man in dieser Weise vertrauensvoll an sich herangezogen hat, muß man dann aber auch etwas verlangen können. Man darf nicht nur verlangen, daß er das ihm Anbefohlene pünktlich ausführt, nein, man muß auch darauf halten, daß er selbst etwas sieht. Ich kenne eine Dame, welche ihrem Stubenmädchen klingelt und, wenn dasselbe eingetreten ist, nur die drei Worte zu ihr sagt: „Sieh Dich um!“ oder: „Was fehlt denn auf dem Tisch?“

Immer muß das Mädchen selbst finden, was sie versäumt hat. Es ist ein klein wenig Grausamkeit bei diesem Vorgehen, das gebe ich zu; denn das arme Ding steht dann wie mit Blut übergossen da und läßt in tödtlicher Verlegenheit die Blicke rundum schweifen. Weiß sie doch nicht, ob das, was sie sehen soll, ein Spinnengewebe an der Zimmerdecke oder ein Schmutzfleck auf dem Boden ist! Aber gerade die kleine Strafe dieser Verlegenheit ist recht wirksam, und jene Dame hat stets sehr accurate Dienstleute.

Einem braven und anstelligen Mädchen sollte man auch die Eintheilung der Arbeit zum größeren Theil selbst überlassen. Sobald sie lange genug im Hause ist, um einen Ueberblick über die gesammte ihr zufallende Arbeit gewonnen zu haben, ist sie selbst auch diejenige, die sich ihre Zeit am besten eintheilen kann, und erspart sie durch kluge Zeitbenutzung ab und zu ein Stündchen, so sei die Hausfrau nicht so grausam, ihr zur Ausfüllung desselben eine besondere, neue Arbeit zu dictiren. Es ist ein falsches Princip, zu sagen: „Meine Dienstboten müssen von sechs Uhr früh bis acht Uhr Abends arbeiten.“ Es muß heißen: „Meine Dienstboten haben dies und das zu vollenden; ob sie damit um sechs Uhr fertig sind oder bis in die Nacht hinein arbeiten, das ist ihre Sache.“

Faule und unordentliche Dienerschaft, vor Allem aber Lügner, würde ich nie im Hause behalten. Da ist, wie das Sprüchwort sagt, „der erste Aerger der beste“. Die angelobte Reue und Besserung hat meistens nur kurze Zeit Bestand, und man thut später doch, was man besser sogleich gethan hätte.

Da heißt es eben: wechseln, immer wieder wechseln, bis man eine Person erlangt hat, die ehrlich und aufrichtig ist und mit gutem Willen und Fleiß an die Arbeit geht. Ist aber eine solche gefunden, dann sei sie auch danach gehalten! Wenn ein gutes Mädchen bei Euch nicht gedeiht und nicht Stand hält, dann seid Ihr selbst daran schuld, verehrte Hausfrauen und Mitschwestern.

Ich sehe Euch im Geiste leise den Kopf schütteln. Ihr mögt es nicht gern geschehen lassen, daß man den Spieß herumdreht und Euch selbst als die Schuldigen hinstellt. Aber dieser Weg ist in jeder mißlichen Sache der einzig richtige zur Abhülfe. Zuerst muß man immer fragen: „Trage ich selbst keinen Theil an der Schuld?“ ehe man den Stab bricht über Andere, und es ist seltsam, daß auf diese Frage meistens ein rasches, entrüstetes: „O nein!“ zu erschallen pflegt, das sich aber bei näherer Beleuchtung oft in ein beschämt demüthiges „Ja – vielleicht doch!“ verkehrt.

So ist es auch in der leidigen Dienstbotenfrage, bei der die Schuld häufiger als sonst irgendwo auf beiden Seiten liegt, wenn unsere Frauen klagen: „Es giebt keine braven Dienstleute mehr“, und die dienende Classe seufzt: „Es giebt keine guten[WS 1] Herrschaften mehr“.

Gar komisch war mir die Klage einer Hausfrau, die da sagte: „Sowie man ein braves Mädchen hat – Schwupp, heirathet sie Einer weg. Warum nur nicht lieber die unordentlichen heirathen? Es wäre doch wohl weniger schade um sie.“

Das macht eben: die Männer haben den unbegreiflichen Geschmack, lieber nach den braven und fleißigen Mädchen zu greifen.

Es ist eine schöne, milde Ansicht, daß jeder Mensch sich bessern kann und daß man also Nachsicht haben soll, vorzüglich mit Dienstleuten, aber in der Praxis ist diese Ansicht nur auf einen bestimmten Kreis von Fehlern anwendbar. Nachlässigkeit, unbeholfenes Wesen, ja sogar Unsauberkeit läßt sich zuweilen bei den Dienstboten bessern, aber Frechheit, Betrügerei, Verstocktheit, Lügen- und Launenhaftigkeit niemals! Wer also die Humanität nicht so weit treiben will, aus seinem Heim eine Besserungsanstalt zu machen, der handelt klüger, wenn er Dienstboten so schnell als möglich entläßt, an denen sich einer der obigen Charakterfehler gezeigt hat.

Und nun die Moral von meiner Plauderei? Das Geschlecht der braven, treuen Dienstboten ist nicht ausgestorben, und wer da sucht, der wird auch heute noch finden. Ader er soll das „Gefundene“ dann auch werth und warm halten – nicht in blinder Schwäche, nicht in läppischer Vertraulichkeit, aber in freundlich theilnehmender Weise, ganz ähnlich der Art, die zwischen guten Eltern und braven Kindern herrscht. Ein Dienstbote aber, der solch eine Herrschaft gefunden hat, soll auch seinerseits Alles aufbieten, um sich deren Vertrauen und Zufriedenheit zu erhalten; denn was auch trügerische Verheißungen ihm vorspiegeln mögen von höherem Lohne, mehr Freiheit u. dergl. m. in anderen Häusern, er hat das Beste gefunden, was es geben kann, nächst der eigenen Heimath, so oft ist er sogar bei einer guten Herrschaft noch sicherer geborgen, als im eigenen Elternhause.



[65]



Der Page.
Mit dem Bilde von F. Keller.


Wem gilt Dein Lied, Du schöner Knabe?
Dein Auge spricht; es schweigt Dein Mund,
Und Deiner reichen Liedergabe
Lauscht Niemand, als Dein treuer Hund;
Es klingt so wunderseltsam süße,
So wehmuthsvoll und doch so traut –
Wem bringst Du, Page, solche Grüße
Mit Deiner Mandoline Laut?

Dein Vater fiel im heil’gen Lande –
Ihn traf ein Saracenenpfeil;
Am heißen, stillen Cydnusstrande
Ward ihm ein einsam Grab zu Theil.
Dem besten Bruder war beschieden
Der Tod in der Mongolenschlacht,
Und wo die Ahnen ruh’n in Frieden,
Ward Mütterchen zur Ruh’ gebracht.

Will um verlor’ne Todte klagen
Dein Lied so weich und goldig rein?
Willst Du in Tönen ihnen sagen,
Wie Du in weiter Welt allein? –
Allein! – Bist wirklich Du verlassen,
Schläft alle Deine Lieb’ im Grab’,
Und will Dich Niemand warm umfassen
Mit lindem Arm, Du schöner Knab’? – –

Es steht, von Rebengrün umsponnen,
Am Oderstrand ein weißes Haus;
Im warmen Strahle sich zu sonnen,
Blickt dort ein blondes Haupt heraus.
Die süßen Augen blinzeln müde;
Die Locken wehen leicht im Wind;
Es ist, als lausche fernem Liede
Das wunderholde, liebe Kind.

Du kennst das Haus, schwarzlock’ger Knabe,
Und kennst der süßen Augen Stern;
Weit mehr als Deiner Lieder Gabe
Gäbst Du der Holden gar zu gern.
Still sehnend träumst Du noch vom Glücke
Wie von dem fernen Wunderland –
Getrost, Dein Lied baut Dir die Brücke,
Die sich von Herz zu Herzen spannt.

Anton Ohorn.



[66]

Die Reform des modernen Theaterbaues.

Von Karl von Lützow.


Ein finsterer Dämon waltet seit Wochen über den freundlichen, glanzerfüllten Räumen unserer Theater, den Stätten der Erholung und des edelsten Genusses für viele Tausende, denen im Kampfe des Lebens jede sonstige Gelegenheit verloren gegangen, sich der Segnungen der Kunst zu erfreuen. Soll auch dieser letzte Zufluchtsort ihnen verschlossen werden oder sollen sie nur von banger Furcht begleitet ihn betreten dürfen? Das ist eine Frage, die wohl schon früher sich da und dort erhoben hat, nun aber – nach der entsetzlichen Katastrophe des Wiener Ringtheaters – allseitig laut hervortritt und zu einer ernsten Betrachtung der Zustände unseres modernen Theaterbaues herausfordert.

Dieser nämlich, der Bau und seine Einrichtung, nicht die menschliche Fahrlässigkeit, Gewissenlosigkeit und Kopflosigkeit trägt, meines Erachtens, die Hauptschuld an den unaufhörlichen und mit steigender Verderblichkeit auftretenden Theaterbränden. Ich will dies in Kürze darzulegen versuchen und hieran einige Gedanken über die Heilung des Uebels knüpfen.

Von den beiden Theilen, aus denen jedes Theater besteht, der Bühne und dem Zuschauerraum, hat erstere, namentlich im Laufe der letzten Jahrzehnte, eine früher ungeahnte Entwickelung durchgemacht. Die Ausstattung der Bühne ist immer naturalistisch reicher, das Maschinenwesen immer complicirter, der Beleuchtungsapparat immer feuergefährlicher geworden. Dem gegenüber blieb der Zuschauerraum im Wesentlichen der alte; von einzelnen Ausnahmen abgesehen, hat er, insbesondere was die schnelle Circulationsfähigkeit des Publicums betrifft, keine nennenswerthen Veränderungen erfahren. Oder mit anderen Worten: tausende, ja hunderttausende von Menschen werden täglich mit einem der feuergefährlichsten Körper in unmittelbare Verbindung gebracht, ohne daß für ihre Rettung hinlänglich gesorgt wäre.

Das in jüngster Zeit viel citirte Buch von August Fölsch über Theaterbrände (1878) führt den Nachweis, daß die bei Weitem größere Mehrzahl dieser Unglücksfälle im Bühnenraum entstanden sind. Auch im Ringtheater war dies bekanntlich der Fall. Und wie könnte es auch anders sein? Hier ist eine unglaubliche Menge von Holzwerk, von Balken, Brettern und Latten aufgehäuft, welche durch den langjährigen Gebrauch in erwärmter Luft ausgedörrt sind, sodaß sie im Augenblick Feuer fangen. Dazu kommt das riesige Quantum von grobfaseriger Leinwand, von mit Firniß getränktem Papier und anderen rasch entzündbaren Stoffen, endlich der häufige Gebrauch von brennbaren Flüssigkeiten und gefährlichen Apparaten, wie sie die moderne Bühnenkunst, namentlich Oper und Ballet, immer häufiger und kühner anzuwenden lieben, sodaß nicht selten eine Anzahl von Löschmännern hinter den Coulissen fortwährend bereit gehalten werden muß, um die durch Feuerregen etc. entstehenden Entzündungen der Bühneneinrichtung zu löschen.

Man müßte die menschliche Natur und den Gang der modernen Kunstentwickelung wenig kennen, wollte man sich der Hoffnung hingeben, daß diesem gefährlichen Spiel mit dem verderbenbringenden Element etwa durch die Theaterkritik oder durch polizeiliche Vorschriften Einhalt zu thun wäre. Unsere gesammte Kunst mit ihren gewaltigen coloristischen und naturalistischen Evolutionen drängt auch im Bühnenwesen vor Allem auf Beschäftigung der Sinne, Illusion und Effect um jeden Preis hin. Es wäre leichter, unsere Kunstfreunde an Wandgemälde im Stile Giotto’s oder Tafelbilder in Stephan Lochner’s Weise zu gewöhnen, als die ständigen Besucher der heutigen Theater an die schlichte Bühneneinrichtung der Goethe’schen Zeit. Entschlösse man sich selbst der Polizei die weitestgehende Obsorge über die feuergefährliche Hantirung hinter den Coulissen einzuräumen, so wäre auch dadurch die Gefahr nicht beseitigt.

„Wenn also das Feuer nicht zu beseitigen ist, so mache man die auf der Bühne verwendeten Stoffe weniger leicht entzündbar!“ So lautet eine sehr natürliche Folgerung, welcher die moderne Naturwissenschaft auch bereits in dankenswerthester Weise zu genügen beflissen war. Wir waren in Wien unlängst Zeugen von Versuchen, welche mit imprägnirten Stoffen (System Patera und andern) angestellt wurden und die beruhigendsten Resultate ergaben. Auch an anderen Orten sind solche Proben wiederholt gemacht, an einigen Theatern sogar die neuen Stoffe bereits eingeführt. Beachtenswerth erscheint auch nach den vorliegenden fachkundigen Berichten eine unter verschiedenen Namen („Extincteur“, „Mata Fungos“ etc.) auftretende Erfindung, mittelst deren ein bedeutender Brand plötzlich gelöscht werden kann (System Delattre).

Allein bei diesen sämmtlichen höchst dankenswerthen Vorschlägen und Erfindungen, sowie bei vielen anderen Propositionen, durch welche man den Bühnenbränden wirksam entgegenzuarbeiten oder ihre verheerende Wirkung auf den Bühnenraum zu beschränken hofft (Draht- und Blech-Courtinen, Bühnenregen etc.), bei alledem handelt es sich um die wirkliche Gefahr. Leider wissen wir aber Alle, daß es keineswegs diese allein, sondern ebenso sehr die imäginäre Gefahr ist, welche bei der ganzen Angelegenheit in Betracht kommt. Es braucht gar nicht zu brennen; ein Frevler oder ein Irrsinniger braucht nur „Feuer“ zu schreien – und unsägliches Unglück bricht über die Masse herein. Die Schreckensscenen in der Warschauer Kreuzkirche bieten dafür den neuesten traurigen Beweis. Gebe man sich doch nicht der trügerischen Hoffnung hin, daß mit der Einführung der Flammenschutzmittel in unser Decorationswesen, mit dem Ersatz des Holzes durch Eisen bei der Construction der Schnürböden, durch die höchste Vervollkommnung des Feuerlöschwesens u. dergl. m. die Panik des Publicums auch nur im Geringsten sich vermindern werde! Diese Beruhigungsmittel mögen und werden dazu beitragen, daß die Leute sich wieder daran gewöhnen, ohne Furcht vor dem Verbrennen in’s Theater zu gehen. Ja, ich bin sogar der Meinung, daß der göttliche Leichtsinn, dieser ewige Genosse des Menschen, auch ohne Palliativmittel gegen den Flammentod allmählich das nämliche erwünschte Resultat herbeiführen werde. Ruhig hinausgehen aber, wenn es brennt, oder wenn man glaubt, es brenne, werden die Menschen nie. Ein entwürdigendes, menschenmordendes „Sauve qui peut“ wird immer die Parole solcher Augenblicke sein.

Deshalb meine ich: unsere Heilmethode muß dort eingreifen, wo in den Augenblicken der Verwirrung die Gefahr sich zusammendrängt, im Circulationsraum des Publicums. Oder mit andern Worten: im Bau der Theater, in der Einrichtung des Zuschauerraumes vor Allem ist die wirkungsvollste Abhülfe für die geschilderten Gefahren zu suchen; die Aufgabe, die zu lösen ist, ist in erster Linie eine architektonische.

Es sei mir zur Erläuterung dieses Gedankens ein ganz kurzer geschichtlicher Rückblick gestattet. Wie grundverschieden das Theater des classischen Alterthums von dem unserigen gewesen sein mag, so hat dasselbe doch, wie die Baukunst der Alten überhaupt, gewisse Grundzüge der Anlage festgestellt, welche sich als Errungenschaften von unveräußerlichem Werth für alle Zeiten, selbstverständlich für die unserige so gut wie für jede andere, erweisen. Trennung von Bühne und Zuschauerraum war ein Hauptzug des Theaterbaues der Griechen. Die Römer hoben diese Trennung auf – milderten sie wenigstens – und schufen aus beiden Bestandtheilen ein geschlossenes Ganzes. Sie verwandelten zugleich den Zuschauerraum, der bei den Griechen an eine natürliche Bodenerhebung sich anzulehnen pflegte, in einen vollkommen freistehenden, mit der Bühne zusammenhängenden Bau.

Auflösung des Zuschauerraumes in ein System von Treppen und Gängen war der Grundgedanke, den sie dabei verwirklichten. „Das Motiv, welches sie zu Grunde legten, war ein sehr verständiges. Es fiel ihnen nicht ein, einer großen Menschenmasse zuzumuthen, daß sie sich durch zwei, drei Thüren mit einer Breite von zwanzig Fuß im Ganzen geduldig entferne, wenn das Schauspiel zu Ende war, oder daß sie gar, wenn Tumult entstand, nicht zu drängen anfange.“ Mit diesen Bemerkungen Jacob Burckhardt’s stimmt ein Wort überein, welches ich einmal aus Gottfried Semper’s Munde hörte: „Der Theaterbau soll in demjenigen Theil, welcher den Zuschauerraum umschließt, im Aeußeren sich als ein aus dem Boden hervorgezogener Fundamentbau darstellen.“ Hierin ist angedeutet, daß der große moderne Meister das römische Motiv als übertragungsfähig auf den modernen Theaterbau betrachtete. Ohne ein Zurückgreifen auf das System der Römer, das auf möglichste Decentralisation (Auseinanderhaltung) der Treppenanlagen abzielte, ist in der That eine Lösung der Aufgabe ebensowenig zu denken, wie ohne Wiederaufnahme der Forderung der Griechen, welche die Trennung von Bühne und [67] Zuschauerraum durchgeführt hatten. Daß dabei alle Modificationen eintreten müssen, die der gedeckte Raum an Stelle des ungedeckten der Alten mit sich bringt, ist selbstverständlich.

Betrachten wir nun den modernen Theaterbau, so sehen wir, daß sich derselbe, wenige rühmliche Ausnahmen abgerechnet, gerade nach der entgegengesetzten Richtung hin entwickelt hat.

Unsere alten Schauspiel- und Opernhäuser mit ihrem Gewirr enger Gänge und Treppen sollen dabei ganz außer Acht gelassen bleiben. In ihnen ist gar kein System, kein auch noch so geringfügiger Keim der Entwickelung enthalten. Und es ist nur dem Zufalle, in einigen Fällen wohl auch der sehr strengen Aufsicht zu verdanken, wenn in diesen „Musentempeln“ bisher nicht noch viel häufiger, als die Statistik es ausweist, der Feuertod seine furchtbare Ernte gehalten hat. Anders ist die Sache bei den stattlichen modernen Theaterbauten, welche jetzt in immer größerer Zahl und reicherer Ausstattung an den Straßen und Plätzen unserer Großstädte und Mittelstädte sich erheben. Bei ihnen hat namentlich das von Frankreich ausgegangene System der Anlage weiter, glänzend geschmückter Vorhallen und Foyers, hin und wieder durch Loggien-Vorbauten bereichert, seine oft mit Glück durchgeführte Anwendung gefunden. Unter den französischen Typen sei hier auf das große Theater von Bordeaux und auf die neue Pariser Oper hingewiesen; von deutschen und österreichischen Werken genügen als Beispiele die neuen Opernhäuser zu Wien und Frankfurt am Main. Alle diese Anlagen haben das mit einander gemein, daß sie das Publicum in einen großen Vestibüle- und Treppenraum zusammenführen. Hier steigen alle Vorfahrenden ab, treten alle Fußgänger ein; hier findet sich die froh erregte oder weihevoll gehobene Menge nach Schluß der Vorstellung zusammen; man tauscht Gruß und Meinung aus; die Toiletten der Damen, wenn auch in theilweiser Verhüllung, und – die Damen selbst („sie spielen ohne Gage mit“) passiren hier die letzte Revue vor den ihrer harrenden Herren und Gebietern.

Das ist nun Alles recht schön und angenehm – ohne Feuersgefahr! Aber es darf uns nicht über die Wahrnehmung der Thatsache hinwegtäuschen, daß dieses Zusammenführen der Masse des Publicums aus allen Räumen des Theaters, aus Parquet und Parterre, wie aus sämmtlichen Logen und Gallerien, die größten Gefahren in sich birgt. Es ist darin das Princip der Convergenz (des Zusammenlaufens) der Gänge und Treppen an Stelle desjenigen der Divergenz (des Auseinanderlaufens) getreten, und nur dieses letztere, wie es die Alten bereits erkannt, ist das allein Richtige und Heilbringende. Nicht darauf kommt es an, den Strom der Theaterbesucher in einem Reservoir zu vereinigen, sondern vielmehr darauf, die natürliche Gliederung der Menge, wie sie sich in den Rängen und Sitzreihen ausdrückt, auch in den Zugängen, Treppen und Vorhallen beizubehalten ja sie zur größeren Bequemlichkeit jedes Einzelnen noch zu vermehren.

Einsichtsvolle Architekten, wie Moller und namentlich Semper, haben denn auch auf die gründliche Umgestaltung des Theaterbaues in diesem Sinne hingearbeitet. Aber sie gingen dabei trotzdem noch immer mehr von den rein künstlerischen als von den eigentlich praktischen Gesichtspunkten aus. Sie trennten Bühne und Zuschauerraum architektonisch, und gaben dem Außenbau des letzteren ein von dem Bühnenbau scharf unterschiedenes charakteristisches Gepräge. Das schöne, nach Art der alten Römerbauten gegliederte Halbrund des ersten Semper’schen Theaters in Dresden und die Segmentform des zweiten verdanken diesem Bestreben ihren Ursprung. Und wenn man die Grundrißanlage des ersten mit der des zweiten Baues von Semper in Vergleich zieht, so ergiebt sich ein Fortschritt in der Richtung der Decentralisation der Treppen, von denen ein Theil nach den Seiten, ein anderer Theil nach rückwärts, d. h. in der Linie der Längenaxe des Gebäudes entwickelt ist. Einen weiteren Fortschritt auf derselben Bahn erblicke ich in der Anlage des neuen Wiener Burgtheaters, welches bekanntlich von Hasenauer nach einem durch ihn und Semper gemeinsam entworfenen Plane ausgeführt wird. Hier sind die breiten Treppen des ganzen Parterre- und Logenpublicums in zwei rechts und links angefügte Flügelbauten verlegt, und für das Publicum der beiden Gallerien (des dritten und vierten Ranges) besondere Stiegen, ebenfalls von ausreichender Breite, angeordnet, welche – wie in Dresden – im Rücken des Zuschauerraums, den Standpunkt außen gedacht, an der Hauptfronte des Gebäudes gegen die Ringstraße zu in eine große Vorhalle ausmünden. Wenn man auf demselben Wege nun noch den letzten Schritt machen, und für jeden Rang, für jede Gallerie, wie für Parterre und Parquet, je nach dem Fassungsraum aller dieser Abtheilungen, besondere Treppen in entsprechender Anzahl und Breite schaffen würde, wie die Römer es gethan, so wäre damit dem Uebel in durchgreifender Weise abgeholfen. Das Princip der Decentralisation und Divergenz der Treppen muß in der Weise durchgeführt werden, daß die Menge, ohne zu suchen, selbst in der Verwirrung, wie mechanisch den Ausgang findet und in möglichst vielen, kleinen Abtheilungen direct an’s Freie geführt wird. Ein besonderes Gewicht ist dabei auf die Ausmündungen der Treppen zu legen; dieselben dürfen nicht tangential, sondern sie müssen radial, das heißt strahlenartig, gegen die bogenförmig zu gestaltenden Vorhallen gerichtet sein, so daß auch im letzten Stadium des Austrittes kein Zusammenstoßen, sondern ein möglichst getrenntes Auseinanderweichen der Massen erfolgen könne.

Wenn ich aus dem Gesagten jetzt einige bestimmte Folgerungen ziehen und als Forderungen für die Reform unseres Theaterbaues bezeichnen darf, so wären es diese:

1) Der Bühnenbau ist vom Zuschauerraum durch Brandmauern, eiserne Thüren und eine in steter Benutzung zu erhaltende Blechcourtine zu trennen; seine Einrichtung ist durch Flammenschutzmittel, ausgiebige Löschvorrichtungen, Luftsauger oder ähnliche Ventilationsapparate zu sichern; wo nur immer das Holz durch Eisen ersetzt werden kann, sollte dies geschehen.

2) der Zuschauerraum ist in einer dem antiken römischen Theater ähnlichen Weise umzugestalten, mit zahlreichen radial angelegten Durchgängen, breiten umlaufenden Vorhallen und möglichst vielen leicht findbaren, weiten, feuersicher construirten und überwölbten Treppen zu versehen, die direct in’s Freie hinaus führen; auch für den Ausgang ist die radiante Richtung wesentlich.

3) ist der Theaterbau nur auf freien Plätzen in entsprechender Entfernung von den umliegenden Gebäuden zu errichten; nur so ist die Entwickelung des Treppen- und Gangsystems in der geschilderten Weise durchführbar, ganz abgesehen von der verminderten Gefahr für die Nachbarschaft, auf die hier nicht einzugehen ist. – –

Als dieser Aufsatz im Wesentlichen bereits niedergeschrieben und ein damit übereinstimmender Vortrag acht Tage nach dem Ringtheaterbrand im „Wissenschaftlichen Club“ zu Wien gehalten war, kamen mir die „Anordnungen und Einrichtungen“ zu Gesicht, welche die preußische „Akademie des Bauwesens“ auf Veranlassung des deutschen Reichskanzlers vor ewiger Zeit ausgearbeitet hat und welche kürzlich (in Nr. 293 des „Reichsanzeigers“ und in anderen Journalen) veröffentlicht wurden. Sie stimmen im Großen und Ganzen mit den von mir entwickelten Grundsätzen vollkommen überein und geben nur mehr technisches und baupolizeiliches Detail, als hier am Platze wäre, dessen Studium übrigens dem Publicum dringend empfohlen werden muß.

Was mir aber vor Allem jetzt vonnöthen scheint, ist eine Regelung des Theaterbaues und Bühnenwesens auf dem Wege des Gesetzes. Wir haben Gesetze für den Eisenbahnbau und Eisenbahndienst, welche mit drakonischer Strenge die kleinsten Versehen und Fahrlässigkeiten ahnden. Für den Theaterbau und das Bühnenwesen hilft man sich mit veralteten Polizei-Ordnungen, commissionellen Erhebungen, die zu keinem Ende führen, und schleppt in Folge dessen einen Wust von Uebelständen weiter zur fortwährenden Bedrohung vieler Tausende. Wer die Statistik der Theaterbesucher mit der des Publicums der Eisenbahnreisenden vergleichen würde, dürfte so ziemlich auf die gleichen Ziffern stoßen. Für die Einen, welche ihr Leben einem höchst vollkommenen Institut, einem Wunder der modernen Technik und Erfindungskraft anvertrauen, hat man durch Gesetze und Polizeivorschriften ausgiebig gesorgt, um sie vor Gefahr und Verlust zu schützen. Die Anderen dagegen setzt man in den Höhlengängen unserer alten, in der Regel für viel kleinere Verhältnisse berechneten und nothdürftig der neuen Zeit angepaßten Theater täglich dem Feuer- und Erstickungstode, ja der noch viel schrecklicheren Gefahr des Erdrücktwerdens aus, ohne daß die unaufhörlichen Unglücksfälle bis jetzt ein anderes Resultat gehabt hätten als ein – akademisches Gutachten. Regierungen und Volksvertreter, thut eure Pflicht zum Schutze der Menschheit und zur Erhaltung unseres hehren Musendienstes!




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Auf der „Norddeutschen Werft“ zu Gaarden.


Als der Eisenschiffbau vor einigen Jahrzehnten in England, seiner eigentlichen Heimstätte, bereits in höchster Blüthe stand und seine stolzen Gebilde schon alle Meere durchzogen, war auf den deutschen Werften noch nicht die leiseste Spur einer neuen Entwickelungsphase zu erkennen. Die gesammte deutsche Industrie hatte gar zu sehr gegen das Vorurtheil anzukämpfen, das im eigenen Vaterlande gegen sie obwaltete, und deshalb den Muth eingebüßt, ihre Kräfte frei zu entfalten und in den Wettkampf der internationalen Arbeit einzutreten. Wohl vollendete im Jahre 1856 die „Reiherstieg-Schiffswerft“ in Hamburg ihr erstes eisernes Fahrzeug und folgten diesem ersten gelungenen Versuche weitere Schöpfungen auf diesem Gebiete, aber dennoch kam der Eisenschiffbau in Deutschland weder in Aufschwung noch im In- und Auslande zur rechten Geltung.

Der Vorsteven des eisernen Kauffahrteischiffes „Cassius“ auf der Werft zu Gaarden.
Nach einer Photographie im Verlage von E. A. Schwartz in Berlin.

Erst mit der Wiedergeburt des deutschen Reiches begann in den deutschen Häfen sich ein neues, frisches Treiben zu entfalten, und auch die deutschen Werfte schickten sich an, sprechende Beweise ihrer Leistungsfähigkeit abzulegen; da kam die deutsche Handelsflagge

[69]

Der Kieler Hafen und die „Norddeutsche Werft“ zu Gaarden.
Nach einer Photographie im Verlage von E. A. Schwartz in Berlin.

[70] und auch das in Deutschland erbaute Eisenschiff zu Ehren. Der deutschen Kriegsmarine gebührt das Verdienst, das Vorurtheil gegen die deutsche Schiffbaukunst gebrochen zu haben; sie gewann Vertrauen zur deutschen Arbeit und ließ nun ihre Schiffe auf heimischen Werkstätten erbauen.

Die „Märkisch-Schlesische Maschinenfabrik-Actiengesellschaft“ (vormals F. A. Egells) in Berlin, die bereits im Auslande hohe Anerkennung für ihre Kunstschöpfungen auf dem Gebiete der Schiffsmaschinen gefunden hatte, wurde zuerst mit der Anfertigung der Maschinen- und Kesselanlagen für die Kriegsflotte betraut; dann wandte sich die kaiserliche Marine auch an die deutschen Werften, bis sie sich schließlich von den ausländischen Werkstätten lossagen konnte.

Nunmehr trat in dem Eisenschiffbau Deutschlands ein vollkommener Umschwung ein. Sowohl die heimischen wie die ausländischen Rheder erkannten jetzt den Werth der deutschen Arbeit, folgten dem von der Kriegsmarine gegebenen Beispiel, und es entwickelte sich alsbald auf den deutschen Werften eine rege und erfolgreiche Thätigkeit. Zu einer hohen Bedeutung in der maritimen Baukunst gelangten namentlich die bereits oben erwähnte Reiherstieg-Schiffswerft“ in Hamburg, die Actiengesellschaft „Vulcan“ in Stettin, die bereits eine stattliche Zahl stolzer Kriegsschiffe geschaffen hat, und die „Norddeutsche Werft“ zu Gaarden, welche gleichfalls für die deutsche Kriegsflotte schon wacker gewirkt hat und noch wirkt; sie erwarb sich jüngst den besonderen Ruhm, das größte eiserne Kauffahrteidampfschiff, das jemals in Deutschland erbaut worden, fertig gestellt zu haben. Widmen wir den Werkstätten der gedachten Werfte und ihrer jüngsten Schöpfung eine kurze Betrachtung!

Gegenüber dem freundlichen Kiel, der aufblühenden Hauptstadt der Provinz Schleswig-Holstein, liegt der meist von Schiffern und werkthätigen Arbeitern bevölkerte Flecken Gaarden. An seinem Ufer, an der blauen, spiegelglatten Meeresbucht erstreckt sich in einer Länge von etwa einem Kilometer das imposante Besitzthum der Norddeutschen Werft mit seinen zahlreichen Werkstätten und rauchenden Schloten, mit seinen reichen Holz- und Eisenlagerplätzen, seinen von mächtigen Gerüsten umschlossenen Schiffsgebilden. Das Leben und Treiben, das sich auf diesen Arbeitsplätzen abspielt, die wettergebräunten Seemannsgesichter der Arbeiter, ihr monotoner, eigenartiger Singsang bei gemeinsamer Kraftentfaltung, die mit Theergeruch erfüllte Atmosphäre, das hier und dort lagernde Schiffsgeräth, das wirre Durcheinander von Planken, Ketten, Tauen, dazu die wechselnden Bilder auf dem Wasser – dies alles vereinigt sich in harmonischer Weise zu einem lebhaften Spiegelbilde des Hafenlebens und gemahnt an die Bestimmung der hier entstehenden Werke. Dem Weltverkehr sind sie gewidmet, und ein Stück Weltverkehr pulsirt schon an ihrer Wiege. Bald naht das Dampfroß auf dem nahen Schienenwege; bald legt am Gestade ein Schiff an, um die zum Schiffbau gehörigen Producte aus den verschiedensten Ländern der Erde zu überbringen. Da sehen wir Holzstämme aus den südamerikanischen Waldungen, Eisen aus England und der Rheinprovinz etc. ausladen und gar viele Hände thätig, um diese Producte zu verarbeiten. Und überall rasseln die eisernen Glieder der Dampfmaschine, um hier den Holzstamm zu formen, dort die Gebläse der Schmelzöfen anzufachen, oder mit Riesenhämmern die glühenden Metallmassen zu walzen; wie der menschliche Gedanke vermag hier die Maschine mit Hülfe der Präcisionsmechanik in einem Augenblick tausend Verbindungen herzustellen, mit einem Schlage gewaltige Eisenmassen zu durchbrechen oder wie Papier zu zerschneiden. Auf dem Boden jenes Raumes dort zeichnet der Ingenieur die Linien des neu zu erbauenden Schiffes; nach diesen Mustern werden in den Walzwerken die Eisenplatten geformt. Hier sieht man Arbeiter beschäftigt, die Platten an einander zu nieten; dort erhebt sich schon die majestätische Gestalt eines eben vollendeten Eisenmastbaumes.

Doch welch’ ein fesselndes Bild der gemeinsamen Arbeit und menschlicher Kraft bietet sich dem Auge bei Betretung der eigentlichen Bauplätze dar! Während hier als Grundlage eines imposanten Werkes die Kiellegung beginnt, sehen wir dort schon die Spuren des stählernen Gerippes eines deutschen Kriegsschiffs und weiter hinauf einen schon der Vollendung nahen Riesenschiffskörper sich erheben. Dort, jener Koloß mit den edlen Linien, der bereits für das nasse Element die Reife erlangt hat, ist der für den Hamburger Rheder Andersen bestimmte Kauffahrteidampfer „Cassius“. Er hat die gewaltige Länge von 312 Fuß, eine Breite von 38 Fuß, eine Höhe von 27 Fuß 41/2 Zoll nach englischem Maß und eine Tragfähigkeit von 3400 Tons oder 68,000 Centnern.

Sowohl dieses Schiff, wie auch die sechs anderen hier entstehenden Dampfer sind mit allen Neuerungen der maritimen Technik versehen. So hat der „Cassius“ in seiner ganzen Länge einen doppelten Boden erhalten, nach einer Methode, die wohl schon längst bei dem Bau von Kriegsschiffen in Brauch ist, jedoch erst in neuester Zeit auch bei den großen Kauffahrern in Anwendung gelangt, um das Schiff, falls es ein Leck erhalten sollte, vor dem Untergange zu schützen. Das eindringende Wasser sammelt sich nämlich dann in dem durch den Doppelboden gebildeten Raum und wird nun durch Centrifugalpumpen, welche durch Dampfkraft in Bewegung gesetzt werden, entfernt. Das Pumpwerk des „Cassius“ ist im Stande, in einer Minute 6000 Liter Wasser aus dem Schiffsraum zu pumpen. Seine Maschine besitzt eine Arbeitskraft von 1500 Pferden und setzt das Schiff in den Stand, mit einer Geschwindigkeit von elf Knoten oder zweidreiviertel geographischen Meilen in der Stunde die Meereswogen zu durchziehen. Sowohl der Riesenanker des Schiffes, wie das Steuerruder werden durch besondere Dampfmaschinen in Wirksamkeit gebracht. Sämmtliche Maschinen- und Kesselanlagen, welche die Werft zur Ausrüstung ihrer Schiffe bedarf, werden nicht in Gaarden gebaut, sondern sind das Werk der schon oben erwähnten „Märkisch-Schlesischen Maschinenfabrik-Actien-Gesellschaft“ in Berlin und Tegel, welche auch die Eigenthümerin der „Norddeutschen Werft“ zu Gaarden ist.

Unsere beiden Abbildungen zeigen uns in trefflichster Naturtreue und Anschaulichkeit den „Cassius“ noch auf dem Baugerüste, von den stützenden „Hellingen“ umgeben. Auf der einen Illustration sehen wir den „Vorsteven“, die vordere Kante des Schiffes, mit dem Riesenanker, auf der anderen einen Theil des Decks, auf welchem Arbeiter noch das letzte Werk verrichten. Von der Höhe des Decks haben wir einen prächtigen Blick auf die Meeresbucht und das gegenüberliegende freundliche Kiel mit seinen stattlichen Thürmen und schmucken Gebäuden, mit seinen aus- und eingehenden Schiffen. Die beiden Dampfer, welche in der Nähe des Gaardener Gestades dicht an einander liegen, sind die von der deutschen Regierung als Kriegscontrebande beschlagnahmten Schiffe „Sokrates“ und „Diogenes“. Die beiden griechischen Philosophen liegen heute noch angekettet vor Anker, während der stolze Römer „Cassius“ bereits die Anker gelichtet und den Meereswogen und Stürmen seine Kraft gezeigt hat.

Der Ablauf solch eines Schiffkolosses von seinem Bauplatze in das Wasser bietet ein überaus erhebendes Schauspiel dar. Bevor das große Werk beginnen kann, müssen erst die Stützen, welche das Schiff von den Seiten her aufrecht erhalten, und die Stapelklötze, auf denen es unten ruht, allmählich entfernt und unter dem Kiele ein auf geschmierten Balken gleitendes Gerüst, der sogenannte Schlitten, angebracht werden. Ist diese Arbeit bis auf die Entfernung einiger Stützen gethan, dann stellen sich an beiden Seiten und den noch stehenden Stützpfeilern die Arbeiter auf und warten mit erregten Gesichtern und schweigendem Munde auf das Ende des feierlichen Taufactes, auf das übliche Zerschellen einer Flasche Wein am Vorsteven; dann erschallt der Ruf „Los!“; mit einem Schlage fallen die letzten Stützen; gleichzeitig hämmern die Zimmerer auf die Keile der unteren Klötze, und plötzlich beginnt der Koloß seinen Lauf und gleitet leicht, wie ein auf glatter Bahn dahin sausender Schlitten, in die Fluth hinab.

Auf keinem Gebiete der menschlichen Arbeit müssen so verschiedenartige Kräfte wetteifern, um zu einem großen Ziele zu gelangen, wie auf dem großen Markte des Weltverkehrs. Der Schiffsbau, die Nautik, die Naturwissenschaften, der Handel, alle diese Factoren müssen sich in harmonischer Verbindung vereinigen, um an dem großen Werke der Cultur und der Vervollkommnung des Menschen weiter zu bauen.

Paul Hirschfeld.     




[71]
Das Bücherwesen im Mittelalter.
Von Dr. Hermann Richter.

Wenn man heute noch die Ansicht aussprechen hört, die Bildung der Neuzeit habe ihre Basis in den wissenschaftlichen und künstlerischen Errungenschaften des Alterthums, so hat dieselbe trotz der weitgehenden Umgestaltung der Wissenschaften, wie sie sich besonders in diesem Jahrhundert vollzogen hat, doch ihre Berechtigung. Denn was das Mittelalter in wissenschaftlicher Beziehung geleistet hat, ist fast gleich Null zu achten.

Trotzdem aber werden wir dem Mittelalter, über dessen Wissenschaftlichkeit wir ein so absprechendes Urtheil gefällt haben, vielen Dank wissen; denn der unermüdliche Fleiß jener Klosterleute ist es ja gerade gewesen, der die kostbaren Schätze des Alterthums vervielfältigte und dem Untergange entriß. Besonders zu loben ist in dieser Beziehung der Orden des heiligen Benedict, dessen Regel schon eine derartige Beschäftigung vorschreibt, und der vom neunten bis zum zwölften Jahrhundert fast ausschließlich der Hüter der wissenschaftlichen Ueberlieferungen war. Seine Bestrebungen wurden vor allem von den Karolingern und besonders von Karl dem Großen selbst unterstützt, und unter der Regierung des Letzteren schon sehen wir die beiden Klöster Fulda und St. Gallen, welche später die hauptsächlichsten Stätten der Wissenschaft werden sollten, emporblühen; ja, Karl der Große selbst war nach Liutprand’s[WS 2] Zeugniß der Begründer der Fuldaschen Bibliothek. Allein trotzdem war der Mangel an Büchern in jener Zeit sehr groß. Mit aller Sorgfalt war man daher in den Klöstern darauf bedacht, Bücher zu vervielfältigen, und das regste Leben entfaltete sich in den Schreibstuben derselben. Bald wurden die Bibliotheken die kostbarsten Schätze jener Klostergeistlichen, und sprüchwörtlich sagte man: Keine Burg ohne Rüstkammer, kein Kloster ohne Bücherei.

Das Schreiben war in der damaligen Zeit auch durchaus keine so leichte und gewöhnliche Sache, und selbst in den Zeiten der höchsten Blüthe des Ritterthums gab es Männer, die, obgleich höfisch gebildet, doch, wie der Dichter des „Parcival“, diese Kunst nicht verstanden. Man schrieb nur auf Pergament, welches man aus Thierhäuten mit solcher Kunst zu fabriciren verstand, daß wir es heute noch in den Urkunden oft schneeweiß und fein wie unser Papier antreffen; zu Concepten und Rechnungen aber bediente man sich wegen der Kostbarkeit dieses Materials der Wachstafeln. Das Pergament hatte damals aber auch einen hohen Preis, und nur gegen das Versprechen, die Häute der erlegten Thiere zur Bereitung von Pergament zu verwenden oder zu Bücherdeckeln verarbeiten zu lassen, konnte sich Karl der Große bewogen fühlen, einem Kloster das Jagdrecht ausnahmsweise zu gestatten.

Bis zum Jahre 820 ungefähr finden wir nun in Deutschland allerdings ein ziemlich rohes Material vor, ein dickes und unsauberes Pergament, welches sich nicht sehr von gegerbten Häuten unterscheidet – ferner eine ziemlich charakterlose Cursivschrift, welche durch allerhand Merovingische und Lombardische Züge, sowie durch Buchstabenverbindungen verunstaltet war. Außerdem bediente man sich des Calamus[1] (des Rohrs) als Schreigriffels, wohingegen man erst später mit der Penna (der Vogelfeder) schrieb. Vom Jahre 820 an aber finden wir überall die Römisch-Carolingische Schrift, die der heutigen Antiquaschrift nicht unähnlich ist.

Die Klöster waren mit dem, was ihre Bedürfnisse erforderten, im Allgemeinen vollkommen auf sich selbst angewiesen, und unter den Klosterleuten gab es Künstler von mancherlei Art. So verfertigten sie auch, wie schon angedeutet, ihr Pergament selbst; Andere zogen auf demselben Linien; Andere wieder vergoldeten die Titel und die Anfangsbuchstaben; wieder Andere malten sie aus mit kleinen Miniaturbildern, und in der Nacht zwischen der Mette und dem Sanctus saßen sie dann in Sanct Gallen im Scriptorium, um Original und Abschrift mit einander zu vergleichen. Nachdem aber das Buch fertig war, ward es in einen Zoll dicke, eichene Bretter gebunden welche mit Leder, Elfenbein oder Metall überzogen waren. Am sorgsamsten verfuhr man mit jenen Büchern, welche zum Gottesdienste benutzt werden sollten. Da wurde das Pergament mit purpurner Farbe gefärbt; mit silberner oder goldener Tinte schrieb man auf dasselbe und verzierte die Anfangsbuchstaben reich mit Gold und zierlich gemalten Bildern. Während sonst zu Schreiberdiensten die weniger zu wissenschaftlicher Arbeit Befähigten verwendet wurden, so beschäftigten sich mit der Anfertigung solch künstlicher Buchstaben und Titelbilder auch die vornehmsten Geistlichen, wie Ekkehard dies in seiner Sanct Gallener Klosterchronik vom Bischof Salomon von Constanz bezeugt. Da nun vom Anfange des neunten Jahrhunderts an alle Bücher in Minuskel- oder Uncial-Schrift geschrieben waren und der Schreiber sich auf diese Weise nach jedem Buchstaben abzusetzen genöthigt sah, so ist es natürlich, daß diese Arbeit nur langsam und beschwerlich von Statten ging, und scheint uns die Klage des Schreibers Eadbert, der da sagte: „drei Finger schreiben nur, aber der ganze Körper arbeitet,“ gewiß natürlich. Um so mehr aber müssen wir die große Bücherproduction bewundern, wenn wir binnen wenigen Jahrzehnten die St. Gallener Bibliothek auf über vierhundert Bände anwachsen sehen und die Sammlungen in Fulda einen ebenso schnellen Aufschwung nahmen.

Da die mittelalterliche Erziehung in den Klosterschulen auf eine theologische Fachbildung hinauslief, die ebenfalls dort getriebenen sieben freien Künste aber nur die Mägde der Theologie waren so ist es ganz erklärlich, wenn die heilige Literatur bei weitem bevorzugt wurde, ja in Zeiten, wo die Wogen eines ascetischen Fanatismus hochgingen, Schätze profaner Wissenschaft sogar dem Untergange und dem Verderben geweiht wurden. Diese Auszeichnung der heiligen Literatur – ich meine nämlich Interpretationen der heiligen Schriften, Homilien, Heiligengeschichten, Ordensregeln etc. – gegenüber der meist dem classischen Alterthum angehörigen Profanliteratur that sich in Fulda z. B. auch noch in anderer äußerlicher Weise kund. Dort finden wir unter den verschiedenen Bibliotheksräumen ein eigenes Scriptorium für die Abschreiber theologischer Werke, und am Eingange war eine dieselben ermahnende, aber zugleich ehrende Aufschrift angebracht, welche Alkuin, der berühmte Lehrer und Freund Karl’s des Großen verfaßt hatte.

Alkuin, der auch ähnliche Ermahnungen an den Wänden seines Museums, wie er den für die Abschreiber eingerichteten Saal nannte, hatte anbringen lassen – z. B. langsam zu schreiben, gehörig abzusetzen, richtig und genau zu interpunktiren – hat sich überhaupt um das Schriftwesen sehr verdient gemacht.

Besonders hat er in Betreff der orthographischen Correctheit der Bücher unleugbare Verdienste. Denn mit der überhandnehmenden Verwilderung der lateinischen Sprache war auch die Orthographie eine sehr unsichere geworden, und dieselben Gründe, welche Karl den Großen vielleicht veranlaßten, mit der Abfassung einer lateinischen Grammatik zu beginnen, führten Alkuin wahrscheinlich zur Anfertigung eines orthographischen Lehrbuches, von welchem noch der Auszug eines Salzburger Mönches erhalten ist. Wir finden darin nicht nur eine Zusammenstellung gleichklingender, aber verschieden zu schreibender Wörter – Homonyma – sondern auch Synonyma und ein Verzeichniß unregelmäßiger Zeitwörter. Und doch, wie häufig läßt die Correctheit der Bücher viel zu wünschen übrig!

Freilich hatten auch in dieser Beziehung die verschiedenen Klöster ihren besonderen Ruf, und war vor Allem das Kloster Hirsau im Schwarzwalde als Aufenthalt vorzüglicher Schreibkünstler berühmt.

Doch wir haben noch nicht gesagt, wie die deutschen Klöster in den Besitz der Originale kamen, von denen sie so zahlreiche Abschriften anfertigen ließen. Es war dies eine durchaus nicht leichte Sache; denn man mußte oft hundert Meilen weit sein Gesuch um leihweise Ueberlassung eines Buches richten und lange Zeit verging oft, ehe bei der Mangelhaftigkeit der Verkehrsmittel der betreffende Wunsch erfüllt werden konnte. Zuweilen aber trauten sich die geistlichen Brüder unter einander nicht, da man in dieser Beziehung schlechte Erfahrungen gemacht hatte, und der Streit zweier Klöster um ein Buch, von denen jedes das Eigenthumsrecht auf dasselbe für sich in Anspruch nahm, gehört nicht zu den Seltenheiten.

Einzelne Klöster pflegten sich daher, um solchen Eventualitäten nicht ausgesetzt zu sein, mit einander zu verbrüdern zugleich auch, um durch gegenseitigen wissenschaftlichen Verkehr sich geistig anzuregen. Der Briefwechsel jener Mönche behandelt deshalb meistens ein und dasselbe Thema. Da fragt Einer an, ob dies oder jenes Buch in der Bibliothek vorhanden wäre, in welchem Falle der Andere es leihen oder selbst abschreiben lassen möge; da beschwert ein Anderer sich darüber, daß ein erwartetes Manuscript noch nicht in seinen Händen sei, und wieder ein Anderer fordert das geliehene dringend zurück.

Die ersten wissenschaftlichen Schätze brachten die Schottenmönche nach Deutschland. Vom heiligen Gallus und besonders vom heiligen Bonifacius ist dies bekannt. Daß Karl der Große die Fuldaer Bibliothek begründete, hörten wir schon; aber am thätigsten für die Bücherverbreitung ist doch Alkuin gewesen, der selbst seine Bücherschätze aus dem Kloster Eboracum in das Frankenreich mitgebracht hatte und für eine emsige Vervielfältigung Sorge trug. Aber auch direct aus Italien wurden bedeutende Bücherschätze in Deutschland eingeführt, zumal in den Zeiten, da der Reliquienhandel besonders im Schwunge war, und profitirten natürlich diejenigen Klöster, die, wie St. Gallen und Reichenau, in der Nähe der großen italienischen Heerstraße lagen, am meisten davon.

Zur Zeit Kaiser Karl’s des Großen sehen wir bei dem bedeutenden Interesse, welches dieser gewaltige Fürst für die Hebung der Bildung im Allgemeinen an den Tag legte, auch unter den Laien wissenschaftliche Studien erblühen; doch unter den folgenden Karolingern war das Lesepublicum nur unter der Geistlichkeit vertreten. Freilich ward das Verhältniß etwas anders, als nach der Verheirathung Otto’s des Ersten mit Adelheid und Otto’s des Zweiten mit Theophania griechisch-lateinische Bildung in die höheren fürstlichen Kreise eindrang; doch ist auch dann noch Schreiben und Lesen als eine Kunst der Mönche zu bezeichnen, und zwar so lange, bis mit dem Aufkommen der Stadtschulen in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts die Bildung in den bürgerlichen Kreisen Eingang zu finden begann.

Die Bibliothekare hatten also selten an einen vornehmen Herrn etwas zu verabfolgen, und manchmal hatte das Kloster dann überhaupt das Nachsehen. So ließ sich Otto der Zweite, als er nach St. Gallen kam, die Bibliothek öffnen und nahm, angereizt durch die reichen Schätze derselben, mehrere der kostbarsten Bücher mit hinweg, von denen er aber nur wenige auf dringendes Bitten Ekkehard’s später wieder zurückgab. Noch ist uns ein alter Katalog der St. Gallener Bibliothek aus dem neunten Jahrhundert erhalten, der uns einmal darüber informirt, welche Bücher damals in den besten Bibliotheken Deutschlands vorhanden waren. Andererseits ist dieses Document aber noch dadurch wichtig, daß es uns einen Blick in die Thätigkeit der Bibliothekare werfen läßt.

Als nun später aber mit dem Auskommen der Stadt- und Kathedralschulen die Klosterschulen immer mehr von ihrer einstigen Blüthe herabsanken, da waren jene klösterlichen Stifte auch nicht mehr die Stätten der Büchererzeugung. Man hat es Bürger übel genommen, daß er in seinem Gedichte „Der Kaiser und der Abt“ zur Personification klösterlicher Dummheit und Beschränktheit gerade den Abt von St. Gallen verwandt hat, allein wenn man bedenkt, daß im Jahre 1291 weder der Abt noch einer aus dem Capitel daselbst zu schreiben vermochte, so wird man diese Wahl wohl nicht als Mißgriff zu bezeichnen haben, zumal das Gedicht das Colorit einer späteren Zeit trägt.

Zum Schluß sei es mir noch gestattet, aus den Verbleib zweier der

  1. Calamus, das Schreibrohr, eine Art Schilfpflanze, welche in bester Qualität aus Aegypten, Cnidus und dem anaitischen See bezogen wurde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gute
  2. Vorlage: Lintprand’s

[72] bedeutendsten Bibliotheken hinzuweisen. Man hat sich lange den Kopf darüber zerbrochen, wie denn plötzlich die alte berühmte Handschriftenbibliothek von Fulda zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges verschwinden konnte. In neuerer Zeit scheint die Frage von Nikolaus Kindlinger völlig gelöst worden zu sein, der die Vermuthung aufstellte, daß jener Caraffa, dem im Jahre 1621 vom Papste Gregor dem Fünfzehnten die unumschränkte Vollmacht zur Klostervisitation ausgestellt wurde, gleich wie er die Heidelberger Bibliothek, die sogenannte Palatina, 1662 durch Tilly und Maximilian in die Hände des Papstes brachte, so auch diese Büchersammlung nach Rom überführte. Jene Heidelberger Sammlung ward damals von dem päpstlichen Commissar Leo Allatius (1628) in Empfang genommen und auf mehr als hundert Maulthieren nach Rom geschafft, um als Bibliotheka Palatina im Vatican untergebracht zu werden.

Wenn wir nun ferner hören, daß ein deutscher Gelehrter Eugen Gerlach (1772), der in der Vaticanischen Bibliothek Studien machte, eine große Anzahl ehemaliger Fuldaer Handschriften und unter Anderem mehrere von Hrabanus Maurus entdeckte, so liegt wohl die Vermuthung sehr nahe, daß die Fuldaer Bibliothek mit der Palatina verbunden wurde. Eine Ahnung mußte man von diesen Verhältnissen in Fulda übrigens haben, sonst hätte sich der Propst Karl von Pisport nicht mit der Bitte um Zurückgabe einiger alter Fuldaer Handschriften nach Rom wenden können.

Doch was war die Antwort auf diese Bitte? Es sei bekannt, hieß es, welche Mühe und Kosten die Päpste von jeher angewandt hätten, um Seltenheiten für die Vaticanische Bibliothek zu sammeln, damit solche derselben ewig Ehre machten; man wäre indessen bereit, die Manuscripte abschreiben zu lassen, welche etwa verlangt würden.

Im Jahre 1815 kam nun zwar ein Theil jener Handschriften theils auf Oesterreichs und Preußens Verwendung direct wieder zurück, der Rest aber wird wohl für immer im Vatican bleiben, einem, wie schon Böhmer in seinen „Fontes“ sich beklagte, für die Studien wenig geeigneten Orte.




Blätter und Blüthen.


„Die Nation und der Bundestag“ von Karl Fischer. Der König von Holland hat schon vor mehr als dreißig Jahren gesagt: „Ich habe immer gedacht, daß ein deutscher Kaiser besser wäre als der elende Bund.“ Die Veröffentlichung dieses königlichen Ausspruchs verdanken wir einem Werke, das zu keiner Zeit geeigneter erscheinen konnte, als gerade jetzt. Karl Fischer’s Buch: „Die Nation und der Bundestag“ (Leipzig, Fues). Von dem Bunde, jenem „Bilde des Jammers und der Impotenz“, als welches Deutschlands oberste Behörde fünfzig Jahre lang von der Nation und der Welt dastand, sind wir erlöst; ein Kampf und Sieg ohne Gleichen hat uns mit der Einheit, mit dem so unendlich ersehnten „Kaiser und Reich“ die Achtung aller Völker errungen – und dennoch müssen wir schon heute, ein Jahrzehnt nach jenen großen Tagen, die Mehrheit der Deutschen von unaufhörlicher Unruhe und tiefer Verstimmung durchdrungen sehen, ja es fehlt sogar nicht an öffentlichen Andeutungen, welche „an die Segnungen des Bundes“ erinnern.

Karl Fischer hat von dem Material, das in den Schränken der Staatsarchive lagert, zwar nicht Alles prüfen können, denn es giebt noch Regierungen, welche den Einblick in ihre Archivgeheimnisse versagen; dennoch setzte ihn das, was ihm Frankfurt und Berlin, sowie Baden darbot, in den Stand, wenn auch nicht eine „Geschichte des Bundestags“ zu schreiben, so doch „die Natur des Bundes und seines Organs, die Weise, wie er selbst seine Stellung aufgefaßt, die Methode, wie er die Geschäfte geführt, auf Grund der Acten nachzuweisen“. Der Verfasser erklärt, er habe die Nation noch einmal an dieses trübe Bundesgewässer geführt, damit sie sich darin, so gut es geht, spiegeln und aus diesen Bundesgeschichten von Neuem erkennen möge: „daß die besten Kräfte wirkungs- und erfolglos streben, wenn ihnen die Initiative versagt ist, wenn sie sich in die Sumpfgeleise der Selbstherrlichkeit oder der Selbstverzweiflung haben hineindrängen lassen.“

Leider müssen wir es uns versagen, den Leser in den Inhalt der acht Bücher, aus denen das Werk besteht, einzuführen, aber er wird nicht versäumen, diesen Gang selbst anzutreten, wenn wir ihm versichern, daß er keine durch Trockenheit abstoßende Lectüre zur Hand nimmt: der Bundestag hat selbst überreich dafür gesorgt, daß die Schilderung seines Lebens und seiner Thaten und Nichtthaten Ueberraschungen für die Generation der Gegenwart in Fülle bietet.

Heute hat das Fischer’sche Buch einen ganz besonderen Werth; denn wenn es den Aelteren, welche noch unter dem Geistesdruck des Bundestages gelitten haben, die vielen Bilder erlittener Schmach in die Erinnerung zurückruft und ihnen den frohen Seufzer erpreßt: „Gott lob, daß das vorüber ist!“, so führt es das jüngere Geschlecht zum ersten Male an die Quelle unserer fünfzigjährigen politischen Schmach und lehrt es, das in unseren Tagen Errungene wahrhaft zu schätzen und getreulich festzuhalten.


Neue Wärmflaschen. Bevor wir unseren Lesern von einer vor Kurzem erdachten und durchgeführten Reform der altbekannten Wärmflaschen und anderer ähnlicher Wärmapparate berichten, möchten wir ihnen der Verständlichkeit halber zunächst ein Capitel aus der Naturlehre in’s Gedächtniß zurückrufen.

Bekanntlich verbrauchen feste Körper, wenn sie in flüssige Form verwandelt werden, eine gewisse Wärmemenge, welche sie ihrer Umgebung entziehen. So kühlt z. B. Eis, während es schmilzt, die dasselbe umgebende Luft ab. Aber das aus dem Eise entstandene Wasser besitzt zunächst nur die Gefriertemperatur, das heißt 0° Wärme. Der schmelzende Körper hat also in diesem Falle eine gewisse Wärmemenge in sich aufgenommen, ohne selbst, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, wärmer geworden zu sein und nur mit Hülfe derselben seinen Aggregatzustand verändert: er ist aus einem festen ein tropfbar-flüssiger geworden. Die Wärme aber, die er verschlungen hat, ist nicht verloren gegangen, sondern bleibt in dem Körper gebunden, und sobald derselbe aus dem flüssigen in den festen Zustand übergeht, strahlt er diese Wärme wieder aus.

Dieses Naturgesetz bildet nun die Grundlage einer neuen Erfindung, nach welcher die Wärmfähigkeit unserer Wärmflaschen bei ihrer Anwendung im Haushalte, in den Eisenbahncoupés etc. bedeutend erhöht wird. Bis jetzt wurden diese Wärmapparate mit erhitztem Wasser oder Sande gefüllt. Im vorigen Jahre aber schlug der französische Ingenieur Ancelin vor, zur Füllung derselben essigsaures Natron zu verwenden, ein Salz, welches schon bei 59° C. schmilzt. Der Vortheil dieser Neuerung liegt nach dem Obengesagten klar auf der Hand.

Füllt man eine Wärmflasche mit diesem Salze an und erhitzt dieselbe in der Weise, wie man es mit der Wasserwärmflasche thut, so wird das essigsaure Natron mehr Wärme ausstrahlen, als dies unter gleichen Umständen dieselbe Menge Wasser vermöchte; denn während das Salz beim Erkalten allmählich fest wird, giebt es auch die in ihm gebundene Wärme an seine kältere Umgebung ab.

Man hat nun dieses Verhalten des essigsauren Natrons im Vergleich zum Wasser praktisch geprüft und ist zu folgendem Ergebniß gelangt: Eine Wärmflasche [von 1 Liter In]halt wurde mit Wasser gefüllt und auf 80° C. er[hitzt. Hierauf maß m]an genau die Menge der von ihr ausgestrahlten [Wärme: sie betrug 440] Calorien.[1]

Dieselbe Wärm[flasche lieferte aber, na]chdem man sie mit der gleichen Menge essigsauren Natrons gefüllt und wiederum auf 80° C. erhitzt hatte, 1731 Calorien, also etwa viermal mehr Wärme.

Daraus ergiebt sich nun, daß die neuen, mit essigsaurem Natron gefüllten Wärmflaschen in den Waggon-Coupés nur alle zehn Stunden ausgewechselt zu werden brauchen, während man die gewöhnlichen Wasserwärmflaschen schon nach zwei bis drei Stunden durch frisch erhitzte ersetzen muß. Die auf den französischen Staatsbahnen neuerdings angestellten Versuche haben die Richtigkeit der oben [angeführtn Behauptung] im vollsten Maße bestätigt.

Inzwischen hat sich diese Erfindung auch [nach Deutschland] Bahn gebrochen, und das deutsche Patent von A. Nieske in Dresden benutzt zur Füllung ähnlicher Wärmflaschen eine Mischung von essigsaurem und unterschwefligsaurem Natron, welche gewisse Vortheile gegenüber dem französischen System zeigt. Die Wärmflaschen werden zu dreiviertel ihres Inhalts mit dieser Mischung gefüllt und dann in einem Ofen oder einem Bade siedenden Wassers erhitzt, bis das Salzgemenge in denselben geschmolzen ist. Nach der Größe der Behälter strahlen sie die Wärme durch zehn bis achtzehn Stunden aus. Die Füllung braucht selbstverständlich nicht erneuert zu werden.

Es liegt klar auf der Hand, daß diese Wärmapparate auch im Haushalte überall die gewöhnlichen Wärmflaschen in geeigneter Weise ersetzen können, und sie verdienen in der That daher die Beachtung des großen Publicums.



  1. Calorie, die Einheit des physikalischen Maßes für Wärme, bedeutet diejenige Menge Wärme, welche ein Kilogramm, das heißt ein Liter Wasser, um 1° C. zu erwärmen im Stande ist.



Kleiner Briefkasten.


B. L. in Detmold. Der zweite Band der von uns (vergl. Nr. 11. 1881) schon früher empfohlenen „Entwickelungsgeschichte des Geistes der Menschheit“ von Gustav Diercks ist nunmehr erschienen (Berlin, Theodor Hofmann). Derselbe umfaßt das Mittelalter und die Neuzeit und verdient ebenso die allgemeine Beachtung, wie der erste Band dieses in gemeinverständlicher Darstellung gehaltenen Werkes.

A. K. in Rostock. Wir bedauern Ihnen eine durchaus zuverlässige Adresse nicht geben zu können.

Mehrere Leser in Meiningen. Der betreffende Dichter wurde am 5. Mai 1841 geboren.[WS 1]

M. K. in Berlin und F. M. in Bonn. Ungeeignet! Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!



Im Verlage von Ernst Keil ist erschienen:

Gekrönte Preisschrift!

„Anleitung zur Pflege der Zähne und des Mundes“. Nebst einem Anhange: Ueber künstliche Zähne, von Dr. Wilhelm Süersen (sen.), königlich preußischem Hofrath und Hofzahnarzt in Berlin. Herausgegeben vom „Central-Verein deutscher Zahnärzte“. Achte, neu durchgearbeitete Auflage. 0 Elegant broschirt. 0 Preis 2 Mark.

Mit dieser Schrift, deren günstige Aufnahme bereits acht starke Auflagen erheischte, empfängt das Publicum in populärer Form eine Anleitung zur Pflege und Erhaltung der Zähne. Die immer lauter werdenden Klagen über die so augenscheinlich sich steigernde Verderbniß der Zähne machten es den Vertretern der Zahnarzneikunde zur Pflicht, der leidenden Menschheit diesen zuverlässigen Wegweiser in die Hand zu geben, der schon als Preisschrift die Bürgschaft eines bestimmten Werthes in sich trägt.


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Geburtsdatum von Ernst Ziel, Schriftsteller und Redakteur der Gartenlaube.