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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[709]

No. 43.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Spätsommer.

Novelle von C. von Sydow
(Fortsetzung.)


„Ja,“ antwortete Henriette, plötzlich zögernd, „Curt sieht mit den Augen der Phantasie; so ist es.“

Und es war, als ob ein ernster Schatten über ihre weiße, faltenlose Stirn zöge, um nicht so schnell wieder zu weichen.

„Diese Augen sind nicht nur gefährlich für den, der sie sieht, sondern auch für den, der sie hat,“ fuhr sie gedankenvoll fort. „Es ist eine kindische Frage – aber sagen Sie mir: Glauben Sie, daß der Knabe einmal glücklich werden wird?“

„Gnädige Frau, was verstehn Sie unter Glück?“ fragte Arndt, „etwa die Summe des Genusses, den der Mensch aus seinen eigenen Kräften und Fähigkeiten zieht? Und auch in diesem Fall,“ setzte er sinnend hinzu, „fragt es sich ja, ob das Schicksal eine normale Ausbildung der innewohnenden Kräfte – also einen ungetrübten Genuß zuläßt.“

„Das Schicksal!“ rief Henriette, und es war, als ob eine geheimnißvolle Leidenschaft die sanfte Ruhe ihres Wesens durchzitterte. „Wissen Sie, ich glaube, die Menschen räumen dem, was sie Schicksal nennen, eine zu große Gewalt über sich und Andere ein.“

„So leugnen Sie dieselbe? Gnädige Frau, verzeihen Sie – es dürfte denn doch ein titanisches Vermessen sein – –“ sagte Arndt scharf accentuirt.

„Gewiß nicht; wie könnte ich die Gewalt des Schicksals leugnen?“ antwortete sie, und es wollte ihm erscheinen, als nähme plötzlich ihr Auge einen feuchten, eigenthümlich schwärmerischen Glanz an. „Ich meine nur, daß nach den meisten Schicksalsfällen noch ein unendlich werthvoller Rest des Lebens bleibt, den man mit etwas gutem Willen für sich und Andere retten und zu einem schönen Ganzen gestalten kann. Und zu diesem guten Willen sollte man frühzeitig den Keim legen. – O, ich meine immer, wenn nur zur rechten Zeit das Rechte geschieht, müßte man es vom Schicksal erzwingen können, daß gewisse Menschen glücklich werden.“

„Sie scheinen das Glück für die vornehmste Lebensbedingung zu halten,“ entgegnete Arndt immer interessirter, „und doch entfaltet sich manche Natur historisch nachweisbar nur im Unglück zu voller Reife.“

„Ich weiß es, aber ich hege doch den leidenschaftlichen sehnlichen Wunsch, daß der Knabe glücklich werde,“ sagte sie leise. Können Sie mir das verdenken?“

Es lag eine große Bewegung in dem Tone ihrer Stimme, als aber Arndt nach einigen Secunden zu ihr aufblickte, lebte in ihren Zügen nichts Trauriges. Bewundernd schweifte ihr Blick über die weite sonnige See und hinauf in den wolkenlasen Himmel.

„Er wird schon glücklich werden,“ sagte sie lebhaft, „denn es giebt nichts Schönes auf der Welt, das er nicht empfände, und nichts Gutes, das er nicht wollte.“

Doch plötzlich schien ihr einzufallen, daß es doch am Ende Arndt langweilen könne, nur immer und immer von dem Knaben reden zu hören. Mit einer Lebhaftigkeit, als habe sie ein wirklich ernstes Versehen wieder gut zu machen, fragte sie jetzt nach seinen Interessen, erkundigte sich nach der beabsichtigten norwegischen Reise und ließ sich noch Manches von den besonderen Verhältnissen seines Berufes erzählen. Dabei wurde vorübergehend auch der Hauptstadt erwähnt, in welcher Beide lebten, und durch die verschiedenartigsten Kunstinteressen, welche dieselbe vertritt, ergab sich stets interessanter neuer Stoff zur Unterhaltung.

Wie anregend diese aber auch immer sein mochte, das Innerste von Henriettens Seele schien doch fortwährend mit dem Knaben beschäftigt zu sein; denn so oft er herangesprungen kam, hatte sie sofort nur Aufmerksamkeit für ihn, und wenn er einmal längere Zeit fern geblieben war, blickte sie sich mitten im Gespräche suchend nach ihm um.

Es war seltsam – sie gehörte eigentlich nicht zu denjenigen Naturen, welche sich auf den ersten Blick begreifen lassen, und doch wurde Arndt, streng genommen, durch nichts an ihr überrascht – vielleicht, weil er von vornherein gewußt hatte, daß sie eine ungewöhnliche Frau sei und daß er jede Stunde etwas Neues an ihr entdecken würde.

Der Abend war schon vorgeschritten, als man sich, vom Spaziergange zurückkehrend, trennte, und Arndt war sehr zufrieden mit dem Inhalte des verlebten Abends: er hatte sich heute noch länger und eingehender mit ihr unterhalten, als es gestern bei der Ruderpartie hätte der Fall sein können.

Mit eigenthümlichem Interesse bemerkte er im Verkehr der folgenden Tage, wie selbst die Gestalten der beiden originellen Schwestern ohne Weiteres vor Henrietten in den Hintergrund traten. Mochte es von Adelheid's Seite ein fanatisches Freundschaftsbedürfniß sein, nur eine Folie für Henriette abzugeben, so lag ein derartiger Cultus durchaus nicht in Augustens Natur, und doch schien auch sie ihren hellen Verstand und schlagfertigen Mutterwitz in der Gegenwart der Freundin nur Funken sprühen zu lassen, damit diese die Flamme ihres Geistes daran entzünden und leuchten lassen könne.

[710] Henriette besaß in seltener Weise die Fähigkeit, Fremdes in sich aufzunehmen und zu beherzigen und es durch selbstständiges Fühlen und Denken auszuspinnen und zu vertiefen. Diese Gabe stimmte so eigenthümlich harmonisch zu dem schwärmerischen Zuge ihrer Seele, sich stets für Andere zu opfern, daß ihr Wesen dadurch eine Größe gewann, welche, von innen herausstrahlend, auch ihre ganze äußere Erscheinung wunderbar hob.

Es waren oft kleine Dinge und Veranlassungen, bei denen sich ihre Eigenart, mehr an Andere als an sich zu denken, offenbarte, aber je kleiner diese Veranlassungen waren, desto charakteristischer mußten sie dem aufmerksamen Beobachter erscheinen. So wußte Henriette es zum Beispiel durch alle erdenklichen Vorwände von einem Tage zum anderen zu verschieben, daß Curt's Bild aus Adelheid’s zeitweiligem Atelier in ihre Wohnung überging; sie wollte der Freundin möglichst lange den Genuß gönnen, sich jeden Augenblick ihres Werkes zu freuen. Arndt hatte das selbst gelegentlich wahrgenommen; auch sprach Auguste zu ihm darüber.

„Wenn alle Leute so eigensinnig auf ihren edlen Absichten beharrten wie Henriette, wäre es in der Welt vor Zank und Streit ganz unerträglich,“ sagte sie. „Ich würde an Adelheid’s Stelle das Bild ganz behalten.“

Wenige Tage nach ihrem ersten gemeinsamen Spaziergange fand Arndt die junge Frau eines Nachmittags vor der Thür ihrer Wohnung über einen kolossalen Band Naturgeschichte gebeugt; er wußte, ohne zu fragen, welche Regung ihr denselben in die Hand gegeben hatte. Aber Adelheid, die das Buch später auf der Bank liegen sah, knüpfte eine erstaunte Bemerkung an dasselbe, indem sie sich über dessen ungeheuren Umfang wunderte, und Auguste erkundigte sich spöttisch, aus welchem vorsündfluthlichen Leihinstitut man denn diesen altersgrauen Folianten habe kommen lassen und zu welchem unbegreiflichen Zwecke? Da die Sache einmal in’s Lächerliche gezogen war, mochte Henriette sich scheuen, den wahren Grund ihres plötzlichen Studiums zu gestehen; deshalb beichtete sie nur lächelnd, daß sie das Werk von einem alten, in der Badegesellschaft höchst wunderlich scheinenden Gelehrten geliehen habe, den man wegen seines steifen Wesens den „steinernen Gast“ getauft und über den schon mancher Witz aus dem Munde der Schwestern Lappe gefallen war. Sie habe dem armen Einsiedler einmal eine Freude machen wollen und ihn deswegen um etwas gebeten, behauptete sie scherzend, und das sei ihr denn auch merkwürdig gut gelungen; er sei gewiß Jahre lang so von den alleralltäglichsten menschlichen Beziehungen losgetrennt gewesen, daß ihn das Gefühl, einem anderen lebendigen Wesen auch einmal etwas nützen und geben zu können, wie ein ungeheures Glück überrascht hätte.

Arndt fand, daß selbst dieser Scherz, mit welchem sie ihren wahren Grund für den Augenblick verdeckte, wieder voll besonderster Liebenswürdigkeit war; denn eine aufrichtige Rührung mischte sich augenscheinlich in ihr Lächeln über den alten Gelehrten.

„Sie kann nicht aus sich selbst heraus,“ dachte er bei sich; „sie verstrickt sich sofort von Neuem in ihre eigene Anmuth, wenn sie einmal einen schönen, edlen Zug ihres Wesens verleugnen will.“

Auch bemerkte er in den folgenden Tagen, wie sie nicht mehr in die satirischen Bemerkungen über den „steinernen Gast“ einstimmte, ihn aber bei jeder Gelegenheit nach etwas, das ihm speciell bekannt war, fragte, jedenfalls um ihm eine neue Freude zu machen. – –

Henriette empfand eine aufrichtige Dankbarkeit gegen Arndt, dessen günstiger Einfluß auf Curt ihr nicht entging. Es war oft förmlich, als fühlte das wunderbare Kind sich gehoben, sobald es mit Arndt im Boote saß und ruderte, ihm die Segel spannen half, an seiner Seite die ersten Schwimmversuche machte, oder auch nur still zuhörte, wenn der Architekt mit seiner Mutter über Welt- und allgemeine Lebensverhältnisse sprach. Durch Arndt war offenbar ein Element in Curt’s Leben gekommen, das ihm bisher gefehlt hatte: das Element praktischer Frische, das Henriette ihm beim besten Willen nicht in diesem Maße zuführen konnte, da sie ihrer Natur nach selbst in dem Banne jener ausschließlich idealen Welt lebte, welcher das Wesen des Knaben zugehörte.

Das war es eben, weshalb Henriette so großen Dank für Arndt empfand, und da sie zu wenig selbstsüchtig war, um dem Knaben Alles sein zu wollen, begünstigte sie ohne jede störende Nebenempfindung sein Zusammensein mit dem männlichen Freunde und trat demselben bei dieser Gelegenheit auch für ihre eigene Person nothwendig immer näher. – Arndt’s Charakter sowie seine Art, sich zu geben, sprachen sie außerordentlich an; sie fand darin Verwandtes, das ihr lieb war, und wiederum Andersartiges, das sie zum Nachdenken reizte.

So verflossen die Tage von Arndt’s Anwesenheit auf Rügen in lebhaftem Freundschaftsverkehre, dessen interessante Lieblichkeit ihn, der es so wenig gewohnt war, ausschließlich dem Genusse zu leben, mit fremdartigen Empfindungen umstrickte. Alles, was er erlebte, zog noch immer wie ein wunderlicher Reisetraum an ihm vorüber, und Henriette Brandenburg fesselte ihn von Tag zu Tag mehr.

Aber nicht, als ob er besinnungs- und gedankenlos sein Herz an sie verloren hätte, wie ein Jüngling! Nein, er war sich sogar bewußt, daß es Etwas in ihrem Wesen gab, das ihn störte.

Und das war nicht mehr, wie vor Jahren, das Gefühl, als betrauere sie ihren Gatten nicht, wie es sich gebühre – es war etwas ganz Anderes: es bedrückte und beklemmte ihn mitunter die Empfindung, in ihrer Gegenwart keinen profanen Gedanken haben zu dürfen und jede selbstsüchtige Regung ersticken zu müssen, wollte er nicht weit hinter ihr zurückbleiben: sie war eine ideal gestimmte Frau und er ein Mann des realen Lebens und der unmittelbaren Empfindung.

Und doch! Im Widerspruch mit diesem ihn störenden Gefühl gab es bald nichts Ersehnteres für ihn, als allein mit ihr zu sein und ganz ungestört mit ihr zu reden, wenn einmal die Malerinnen nicht zugegen waren und sich selbst der Knabe abseits umhertrieb.

Er meinte, daß er nie etwas so eigenthümlich Schönes gesehen habe, wie diese Frau, wenn sie neben ihm durch den stillen Buchenwald an’s hohe Ufer ging und oft plötzlich stehen blieb, das Gesicht lebhaft zu ihm gewandt, um ihn auf einen hüpfenden Vogel, einen malerisch herüberhängenden Ast oder die unerwartet durch den Schatten brechenden Sonnenstrahlen aufmerksam zu machen. – Er vergaß dann, daß sie eine Frau und Wittwe war, und empfand ihre Nähe wie die eines jugendschönen Mädchens, das, von räthselhafter Anmuth und Hoheit umwoben, an seiner Seite schritt.

Oder sie saßen auch fernab vom Dorfe mit einander auf der kahlen Düne am Strande, Henriette oben auf dem Hügel zwischen wehendem Strandhafer und er, wie selbstverständlich, tiefer unten, gleichsam zu ihren Füßen, und was sie dann sprachen, war nie etwas Alltägliches. – Ihre Unterhaltung drehte sich um Alles, das in höherem Sinne interessant war, und Henriette redete zu ihm wie zu einem alten Bekannten.

Einmal hatten sie, von ihrem Wege ausruhend und mit einander plaudernd, Berlin und allerlei gegenwärtige Weltverhältnisse berührt, welche ihn als Mann, der gelegentlich rüstig im Strome seiner Zeit zu schwimmen hatte, natürlich beschäftigten. Da fragte plötzlich Henriette unruhig:

„Was meinen Sie, wie wird sich Curt einmal in die Welt finden? Mir schwindelt, wenn ich von all diesem Parteiwesen höre. – Die Einen haben Recht und die Anderen haben gewiß nicht Unrecht. – O, mir scheint auf der einen Seite genau so viel Selbstsucht und Beschränktheit zu sein, wie auf der anderen, und deshalb kann man keiner Partei den erbitterten Kampf auf Leben und Tod verdenken. – Keiner fühlt sich in seiner Lage wohl – und darum hat Jeder Grund genug, es anders zu wünschen, als es eben ist. – Früher, als ich jung war, schwärmte ich für die Revolution; – o, lächeln Sie nicht! Ich meine es sehr ernsthaft – aber – ich bin älter geworden. – Doch – weiß Gott – anders, als sie ist, möchte ich auch heute noch die Welt haben! – Aber mich dünkt, ein Kind könnte sie reformiren, wenn man es mit den Worten über die Erde schickte: ‚Macht einander Freude – und thut Euch nicht weh!‘“

Die Thränen waren ihr in die Augen getreten, als sie so sprach.

Arndt, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, vermochte nichts zu entgegnen und sah gegen seine Gewohnheit unbeweglich zu ihr auf.

„Hier ist es schön,“ sagte sie nach einer Weile tief aufathmend; „finden Sie nicht? – Hier hört man nichts von alledem, das einen ängstigt und bedrückt – O Gott, die Natur!“

Darauf schwieg sie wieder, und ihr feuchtschimmerndes Auge eilte am Strande entlang dem herankommenden Knaben entgegen, während ihr geschlossener Mund noch zu sprechen schien.

[711] Wieder war sie so Eins mit sich; wieder hatte sie Etwas gesagt, das so tief in ihrem innersten Wesen begründet war, daß sich Arndt fragte, ob eine solche Harmonie nicht gleichbedeutend mit Glück sei, und doch drängte sich gerade in diesem Augenblick jene verjährte Scene im Nachbarsgarten, da sie den Tod mit einem ausgeblasenen Lichte verglich und gewissermaßen zugab, daß der Mensch mehr als einmal sterben könne, in seine Erinnerung zurück.

Von Neuem sah er prüfend zu ihr auf, aber seine Gedanken verloren unterwegs etwas von ihrem forschenden Ernst, denn sein Blick blieb mit unruhigem Entzücken an ihren zart geschweiften Lippen hängen, auf denen noch immer ein hold beredter Ausdruck spielte, gleichsam als ob auf ihnen die verschwebenden Geister von allerlei sinnigen Gedanken geheimnißvolle Zwiesprach hielten.

Es war nicht das erste Mal, daß er sich dieser absonderlich lebendigen Schönheit Henriettes erfreute, aber es war doch das erste Mal, daß er sich ihrer so reflectirend bewußt wurde.

Dazu plätscherten leise die im Sande verrinnenden Wasser, und im zarten Wiederschein des Westens röthete sich der weite Osthimmel, um sanft in das spiegelnde Wasser hinabzuleuchten.

„Ja – hier ist es schön!“ sagte er und erhob unwillkürlich wieder den Blick zu Henriette, immer noch mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Der Gedanke an das Gewirr der Welt hatte ihr die Thränen in die Augen getrieben – wie anders dagegen empfand er! Was sie beängstigte, konnte ihn nicht erschrecken und noch weniger erschüttern. Der Kampf der Welt war ihm bisher seinen eigenen persönlichen Lebenslasten und Berufsleiden gegenüber wie etwas heilsam Großes erschienen, das Alle, welche Gefahr laufen, in kleinlichen Alltagssorgen zu versinken, mit stets lauter Drommete zum Kampf für allgemeine und deshalb höhere Interessen ruft.

Und doch – heute – angesichts dieser Natur und unter dem Zauber von Henriettes Nähe wollte es ihn wiederum als etwas unendlich Kleines bedünken. Was war der große Kampf auf dem Welttheater anders, als das Gewimmel eines Ameisenhaufens, dessen Volk sich mit rastlosem Eifer eine Welt erbaut, die ein Fußtritt des ewigen Schicksals vernichten und in Staubatome auflösen kann? All das sagte er ihr in lebhaften beredten Worten, und als er ausgesprochen, meinte Henriette:

„Wenn Ihnen das Weltgetriebe kleinlich .., nein! das ist nicht das Richtige! denn kleinlich kommt es freilich auch mir vor! – aber: wenn es Ihnen zu unbedeutend erscheint, als daß man darüber traurig sein könnte, wo wollen Sie dann die Kraft, die Geduld hernehmen, wieder eine Rolle in ihm zu spielen, was Sie als Mann doch müssen?“

„Eben aus den Nachwehen der heutigen Festtagsstimmung!“ antwortete er kühn. „Dieses ‚heute‘ natürlich in einem etwas weiten Sinne genommen.“

In diesem Augenblick trat Curt heran, und das Gespräch wurde durch die unvermittelten Aeußerungen des Knaben unterbrochen, und doch klang es, wie jede Unterhaltung mit Henriette, noch lange in Arndt nach.




8.

Mit hochgespannten Gefühlen stand der Architekt Arndt um die Dämmerung des letzten Abends vor seiner Abreise nach Norwegen an einer Bucht des Ufers, wo er Henriette und Curt zu einer kleinen Bootfahrt erwartete. Und noch einmal sagte er sich endgültig, daß ihn die Luft dieser Insel verjüngt habe.

Lebhafte Zukunftspläne traten vor seine Seele, seine Züge waren erregt, und sein Auge leuchtete in vollem Lebensmuth. – Was er von dieser Reise gewünscht hatte: Klarheit und feste Kraft des Entschlusses in jeder Beziehung – sie hatte es ihm gebracht. Seine Gedanken schweiften rasch und lebendig, wie seine Blicke, hin und her, richteten sich zuletzt aber hauptsächlich auf Eines: Arndt fühlte kein Bedürfniß mehr, einen Hausstand mit Erna Lepel zu gründen.

Der Umgang mit Henrietten hatte ihn gelehrt, daß es besser sei, frei zu bleiben, als sich ängstlich durch heilige Pflichten zu binden, denn er war sich in diesem Augenblicke vollkommen bewußt, daß es ihm werthvoller sein würde, Henriette zur Freundin seines Lebens, als Erna zur Gattin zu gewinnen, und damit war Alles, was ihn an dieses Mädchen gebunden hatte, ein für alle Mal abgethan.

Langsam und gedankenvoll schritt er am Ufer auf und nieder.

Allerdings, es gab etwas, das ihn in Henriettens Nähe nicht ganz frei athmen ließ – und doch ...!

Es dunkelte mehr und mehr am Strande. Abendschatten zogen über den ganzen Himmel, und nur am Horizonte blieb noch ein breiter Streife Tageslicht, zart in allen Regenbogenfarben leuchtend, zurück; er schlang sich wie ein verlorenes buntes Band, mit dem die sinkenden Sonnenstrahlen zu spielen schienen, halb heiter, halb wehmüthig um die abendlich stille See, deren Grün immer tiefer und eintöniger und darum immer milder und wärmer wurde. Die Schatten des Abends zogen, zitternd wie flüchtige Erinnerungen oder schwankend wie ein leiser, noch unausgedachter Zukunftsgedanke, über das schlummerweiche Wellenantlitz der See.

Arndt empfand die Poesie dieses Anblickes plötzlich wie eine ihm fremde, sehnsüchtige Rührung, die er, eben weil sie ihm fremd war, mit einer gewissen Neugier belauschte und lächelnd in sich gewähren ließ. Leise bebte sie in ihm auf und legte sich wie ein Bann um seine Glieder.

Da sah er Henrietten, mit Curt an der Hand, eiligen Schrittes auf ihn zukommen. Er blieb stehen und sah den Beiden entgegen.

„Bleibe bei mir – denn es will Abend werden,“ klang es traumverworren, wie ein ersticktes Flüstern durch seine weich gewordene Mannesseele, aber nein: eine Freundin konnte und wollte sie ihm vielleicht werden – nicht mehr! Was sollte ihm diese weibische, weichmüthige Regung?

Abend war es gewesen – die Nacht seines Lebens lag hinter ihm; ein frischer, freier Morgen tagte vor seinen Blicken.

Er hatte es vorhin gefühlt, und er fühlte es auch jetzt wieder: er besaß noch Kraft genug, den „Rest seines Lebens für sich zu retten“ und zu einem „schönen Ganzen“ zu erheben, wie Henriette sich selbst ausgedrückt hatte. – Wenn sie, ein zartes Weib, das gekonnt hatte ... aber da war sie ja wieder! Und wiederum war es ihr übermächtiger Einfluß, dem er, wie es schien, den Aufschwung seiner Kraft zu verdanken hatte!

Eine stolze Wolke des Unmuthes jagte über seine Stirn, und beinah unwirsch ging er Henriette entgegen. Doch als sie näher kam, verflog diese Wolke.

„Es ist spät geworden, verzeihen Sie!“ sagte sie schon aus der Entfernung. „Ich hoffte immer, Adelheid und Auguste würden noch mitkommen – aber sie scheinen heute bis in die sinkende Nacht gemalt zu haben.“

„Endlich!“ rief Curt, als Arndt ihm die Hand schüttelte. „Herr Arndt, ich dachte, Sie wären eine große Versteinerung geworden, als Sie vorhin immer so auf's Wasser starrten. Bitte, lieber Herr Arndt, Sie geben mir heute gleich das eine Ruder! – St! sagen Sie jetzt kein Wort – hören Sie nur einen Augenblick, wie das Wasser murmelt!“

„Ich hab’ es schon eine ganze Weile gehört,“ antwortete Arndt, „die Nixen singen thörichte Lieder.“

„Nein, sie haben Todtenfest und singen ein schönes Requiem für die Ertrunkenen,“ sagte der Knabe feurig und sprang dann mit einem wilden Jauchzen an Arndt und Henriette vorbei in’s Boot. „Ich hab’s! ich hab’s! Ich hab’ das eine Ruder, Herr Arndt!“ rief er triumphirend, und einige Minuten später glitt der Kahn, eine helle Furche ziehend, fast lautlos aus dem stillen Wasser dahin.




9.

Als sie von der Bootfahrt zurückgekehrt waren und das Fahrzeug nun wieder glücklich in seinem kleinen natürlichen Hafen lag, das heißt, zwischen einigen am Ufer sich erhebenden alten Steinblöcken, da war die Stimmung in der Natur eine ganz andere geworden. Ein lebhafter Südost blies über die See und regte sie zu immer wachsenden Wellen auf. Curt kletterte rasch über die Steine fort an den Strand, und Henriette wollte sich eben von ihrem Holzbänkchen erheben und ihm folgen, als Arndt, der noch mit dem Festmachen des Bootes beschäftigt war, fragte:

„Was hat Curt heute Abend? Ist ihm etwas Besonderes geschehen?“

„Er ist aufgeregt, weil Sie morgen abreisen,“ antwortete Henriette noch sitzen bleibend. „Ich kann Ihnen Etwas verrathen, das Sie freuen muß: er hat Verse auf Sie gemacht.“

„Verse? Wo sind sie?“ fragte Arndt.

Henriette lächelte.

[712] „Natürlich längst zerrissen,“ sagte sie. „Ich fand sie heute Morgen unter meiner Kaffeetasse; selbstverständlich wurde er glühend roth, während ich sie las, und riß sie mir, als ich damit kaum zu Ende war, schon wieder aus der Hand, um mit dem Concept zum Zimmer hinaus zu stürzen.“

„Schade, daß ich sie nicht sehen durfte! So etwas hätte ich mir nicht träumen lassen!“ meinte Arndt.

„Nicht? Sie müssen doch bemerkt haben, wie er Sie bewundert?“

„Ja, weil ich das Militärmaß und noch einige Zoll darüber habe,“ scherzte Arndt, um eine ungewöhnliche Bewegung zu verbergen. Henriette lachte flüchtig; dann aber sagte sie herzlich:

„Aber, wenn wir ernsthaft sein wollen: Sie müssen gefühlt haben, Herr Architekt, wie dankbar Ihnen mein Sohn für die große Freundlichkeit ist, welche Sie ihm diese ganze Zeit über erwiesen haben, und ich bin es mit ihm. – Ich mußte Ihnen das einmal sagen, und ich freue mich, daß ich noch heute Abend dazu Gelegenheit fand.“

Arndt erwiderte nichts darauf. Desto beredter sprach ein Ausdruck freudiger Ergriffenheit aus seinem leicht gerötheten Gesichte, und eine bescheiden ablehnende lebhafte Handbewegung lieh seiner inneren Bewegung Ausdruck. Noch eine gute Weile blieben sie einander gegenüber auf den schmalen Bänkchen des Bootes sitzen.

Arndt war nachdenklich und schweigsam geworden. Etwas, das er seit seiner persönlichen Berührung mit Henrietten wiederholt unterdrückt hatte, erfüllte ihn an diesem letzten Abende des Zusammenseins mit ihr übermächtig – und mochte es nun passend sein oder nicht, er wollte es heute aussprechen.

„Verzeihen Sie mir eine Frage!“ sagte er plötzlich. „Sie sind schon in früher Jugend einem harten Schicksal begegnet, gnädige Frau; Sie haben mir so Manches erzählt, aber Sie sprachen noch nie von Ihrem Gemahl. – Waren Sie lange auf seinen Tod vorbereitet?“

„Ich wußte, daß er bald sterben würde, als ich mich mit ihm verlobte,“ sagte sie ruhig, aber mit einer andächtigen Klangfärbung, wie sie die Stimme des Menschen bei Erwähnung eines Todten anzunehmen pflegt. Sie schien zu frösteln: denn sie zog plötzlich ihr Shawltuch fester um die Schultern.

Arndt fühlte, daß er an eine wunde Stelle in Henriettens Herzen gerührt, aber er gestand sich nicht, wie selbstsüchtig die Motive waren, die ihn dazu veranlaßten; ein leises Lächeln der Befriedigung stahl sich in seine erregten Züge, und wäre es nicht so dunkel gewesen würde Henriette vor dem sonderbaren Leuchten seiner Blicke erschrocken sein.

Indessen schwiegen sie Beide, und nun war es, als begönnen plötzlich die Wellen, welche das Boot umwogten, an ihrer Stelle zu reden. Wie ein dumpfes unterirdisches Branden und Brausen, wie ein leise in der Tiefe verhallender Donner zog es von fernher heran, und dazu zischten und rauschten die einzelnen Wellen auf der Oberfläche.

Henriette neigte sich leicht über den Rand des Bootes und blickte an den schwarzen Steinblöcken vorüber wie gebannt auf den tanzenden Schaum, während Arndt noch immer daran dachte, wie ihm nun bestätigt sei, was er von vornherein geahnt habe, daß Henriette in dem verstorbenen Gatten nicht den Geliebten ihrer Jugend betraure. – Dieser war es also nicht. –

Plötzlich wandte sie leise den Kopf. „Curt!“ sagte sie und stand auf. – Sie wußte wohl, daß der Knabe gern eine Weile allein war, wenn ihn etwas aufregte, aber sie meinte doch, es sei jetzt Zeit für ihn, heimzukehren. Und bevor sie noch den Fuß auf den Bord des Kahnes gesetzt hatte, stand auch Arndt schon außerhalb, um ihr von dort die Hand zu reichen, damit sie besser aussteigen könne. Dann führte er sie ebenso sicher und sorgsam über die großen und kleinen Steinblöcke hinweg an’s Ufer. Dabei kam sie ihm oft ganz nah, sie achtete aber nicht darauf, daß er heftig athmete, wie nach einem langen Marsch oder einer sonstigen Anstrengung. Er hielt ihre Hand so regungslos fest in der seinen, daß ihr unmöglich etwas an ihm auffallen konnte.

„Curt, komm jetzt!“ sagte Henriette freundlich und wandte sich zum Gehen.

Der Knabe, welcher bisher wie ein junger Seehund auf einem großen flachen Steine am Ufer gelegen hatte und nun schnell aufgesprungen war, folgte den beiden Vorangehenden. Doch schritt er diesmal nicht an der Seite seiner Mutter, sondern drängte sich dicht an Arndt heran und sah während des Weges dann und wann stumm und verstohlen zu ihm auf. Erst kurz vor dem Dorfe begann er unruhig und lebhaft zu schwatzen und betrug sich überhaupt sehr aufgeregt. Arndt war innerlich wohl mehr mit der Mutter, als mit dem Sohne beschäftigt, aber trotzdem entging ihm Curt’s Stimmung nicht.

Nach kurzer Wanderung hatten sie den Vorgarten von Brandenburg’s Wohnung erreicht. Auf der Schwelle des Hauses verabschiedete sich Arndt von Henrietten – schnell, aber mit einer gewissen verhaltenen Innigkeit. Und dem Knaben, welchen Abschied bot er ihm, der mit so sichtlicher Liebe an ihm hing? Schon mehrmals hatte er ihm die Hand geschüttelt, und nun, als Arndt sich schon halb zum Gehen gewandt, kam es auf einmal wie zwingend über ihn – fast ohne es zu wollen, beugte er sich zu dem Knaben herab und drückte einen Kuß auf seine Stirn.

„Auf Wiedersehen in Berlin, mein junger Freund!“ sagte er dann heiter und grüßte noch einmal leicht mit dem Hut zu Henrietten hinüber. Als er aber allein dem Nachbardorfe zuschritt, war er räthselhaft erschüttert, und hastiger, als seine Schritte vorwärts stürmten eilten seine Gedanken zurück. – – –

„Jä,“ meinte Putbrese am andern Morgen, als Arndt wartend vor ihm stand, um sich einige Mark herausgeben zu lassen, die er über den Betrag seiner Rechnung gezahlt hatte, „jä – Se gaohn ock woll lichter, as Se kaomen sünd?“

Der Alte zwinkerte so schlau mit den schief gezogenen Augen, als wollte er dem Abreisenden die Antwort aus der Seele lesen.

„Natürlich, guter Putbrese, dafür sorgen die Herren Gastwirthe überall,“ entgegnete Arndt lächelnd.

„Iä – jä – dat is doch äwers ’n schlimm Ding, allens hier to laoten un goarnix dorför mit to nähmen – jä? – Oder nähmen S’ doch ’n bäten wat mit? – Keen son lütt Angedenken?“

„Daß ich nicht wüßte! Ich bin kein Raritätensammler. – Aber bitte, beeilen Sie sich etwas, Herr Putbrese! Denn die mir noch zustehenden Markstücke will ich allerdings gerne mitnehmen.“

„Verstah all,“ grinste der Alte und trat vor sein Pult. „Na – na, man nich so hitzig! – Se sünd keen Roretätensammler? Ne, dat sünd Se nich, äwers dat givt doch ock anner Oarten von Roretäten ... Dunnerwärer! een, twe, dree, vier, vief Mark! – Jä! wenn de nix Ror’s is, denn weet ich ’t nich.“

Arndt hatte nichts von seinem letzten Gemurmel gehört; denn er verabschiedete sich soeben von der „hochdeutschen“ Wirthin, die sofort, als er das Haus verlassen hatte, in einen plattdeutschen Redestrom ausbrach:

„Ick weet nich, Putbres’, wenn se dissen nich nimmt ...! Dat se de vörrigjohrschen Herrn nich ankäken hat ... leve Gott! se möt vähl von ehren Herrn Prefesser hollen hebben – un dat fin ich so rührend un christlich bi sonne vörnähme Doam – – Aewers dissen Herrn Architekten! Wo kleedt den Mann dat good! Alleen disse Boart! disse smucke lange Snauzboart! Putbres’, Du best Dien Daog nich son Boart hatt! – Du kennst goar den Wierth nich, de in sonnen Boart sitt! – dat is nich üm den Boart alleen – dat is üm dat Vörnähme. – – Aewerhaupt: siehr nette Manieren het de Mann! Keen patzig Wurd – un doch nich temied! – Ne, de Mann geföllt mie – dat kann ich woll seggen, siehr geföllt disse Mann mie. Un ick will nich Methilde Putbresen heten, wenn em dat nich ock bie uns angenähm wäst is un he anner Johr wedder kümmt.“

Das glattrasirte Gesicht des alten Putbrese verzog sich zu einem breiten, nachhaltigen Lächeln, draußen aber läutete schon die Glocke des Dampfschiffes, und schäumend setzten sich die Räder des kleinen Fahrzeuges in Bewegung.

Arndt stand auf Deck; sein Blick schweifte nach dem benachbarten Dorfe hinüber; deshalb übersah er wohl, daß aus dem Fenster der Malerinnen, das gerade auf das Wasser hinausging, ein weißes Tuch wehte, welches so langsam und melancholisch hin und her gezogen wurde, daß es nicht schwer gewesen sein dürfte, sich in der Phantasie Augustens braves Gesicht mit dem ironischen Ausdruck dahinter zu ergänzen.




10.

Es war Winter. Menschen und Ereignisse drängten sich wieder in der Hauptstadt. Eine Tagesneuigkeit löste die andere ab. Der Reichstag war eröffnet, die Theatersaison auf der Höhe; fremde und einheimische Künstler aller Gattungen brachten ihre

[713]

Album schöner Frauenköpfe: 4. Studienkopf.
Oelgemälde von Prof. Paul Thumann.
Nach einer Photographie im Verlage von G. Schauer in Berlin.

[714] Werke zur Ausstellung, und fettgedruckte Zeitungsreclamen lockten das Publicum bald hierhin, bald dorthin.

Für ein gemüthliches häusliches Leben blieb nur wenigen Leuten Zeit übrig, und was immer die warme Jahreszeit gebracht haben mochte – jede Erinnerung, war sie zu Anfang des Winters auch noch so frisch gewesen, wurde jetzt von der rauschenden Gegenwart übertönt.

In dieser großen rauschenden Welt der Hauptstadt bildeten die fünf Personen, welche im jüngst verflossenen Jahre zwei schöne Wochen mit einander auf Rügen verlebt hatten, eine kleine Welt für sich, ein Zauberkreis umschloß sie; er ward von tausend zarten, bunt durch einander gewebten Fäden gebildet, die der Spätsommer damals so natürlich auf öden Dünen und im stillen, dunkeln Buchenwalde angesponnen hatte.

Um Arndt’s Herz, der jetzt wieder mitten im unruhvollen Leben und Treiben der Welt stand, aber in seiner Berufsthätigkeit seit seiner Rückkehr von Norwegen einen neuen Aufschwung genommen hatte, zogen sich diese leisen Sommerfäden wie Strahlen eines goldenen Lichtes, das seine Augen um so durstiger einsogen, je weniger das Gewölk, das bis vor Kurzem an seinem Horizonte stand, ihm je den Schimmer einer ähnlichen Sonne vergönnt hatte.

Nicht so deutlich, wie er, sah Henriette diese flimmernden Fädchen; nur manchmal fühlte sie vorahnend wie im Traume, daß sich etwas Liebes und Freundliches anscheinend gefahrlos um sie her wob, aber nachgerade so nahe an sie heran kam und so unentwirrbar und dicht wurde, daß es sie in Netzen fangen mußte, welche nur mit schmerzender Gewalt zu zerreißen sein würden; der halb spielende, halb sinnende Curt dagegen ließ es sich angelegen sein, diese Netze, an denen auch für ihn schöne Erinnerung und freundliche Gegenwart gleich emsig woben, in leidenschaftlichem Ungestüm immer fester zu ziehen.

Auch die beiden Malerinnen waren nicht unbetheiligt. Sie bedurften keine Lupe für ihr kluges Freundschaftsauge, um das zarte Gewebe des Sommers jetzt, unter dem Schatten des Winters, geheimnißvoll wachsen zu sehen, und mit ängstlicher Spannung hingen oft Adelheid’s Blicke, wenn Niemand sie beobachtete, an den schwebenden Maschen dieser Fäden, während Auguste wohl ebenso interessiert wie die Schwester, aber weniger aufgeregt, der Dinge harrte, die da kommen sollten.

Henriette, die seit ihrer Verheirathung in äußerlich günstigen Verhältnissen in Berlin lebte, hatte nach und nach einen ziemlich weiten Bekanntenkreis in der unruhigen Großstadt gewonnen, in welchem die Malerinnen den ersten Platz einnahmen; sie zog sich auch in diesem Winter keineswegs ganz von den Anforderungen zurück, welche an sie gestellt wurden, doch waren dieselben im Allgemeinen sehr vorübergehender Natur.

Daß Arndt sofort nach seinem ersten Besuche, den er ihr in Berlin machte, auch äußerlich als Gleichberechtigter an die Seite der Malerinnen trat, war als eine Folge der Rügener Beziehungen eigentlich etwas Selbstverständliches, und als ebenso selbstverständlich mußte es erscheinen, daß er durch die Vermittelung des Knaben, dem er immer mehr ein väterlicher Freund wurde, nach und nach manchen Schritt über die Gleichberechtigung hinausthat und in eine immer engere Sphäre aufgenommen wurde.

Es dauerte gar nicht lange, so theilte er sich mit ihr in die Erziehung des Knaben, genau wie Vater und Mutter sich oft in diese verantwortungsvolle Arbeit zu theilen pflegen: der Vater ist des Sohnes Berather und Bildner in allen praktischen und wissenschaftlichen Dingen – die Mutter erzieht die junge Seele; der Vater wird dem mehr und mehr Heranwachsenden ein Freund – die Mutter ist ihm die erste Geliebte, die Geliebte mit dem Heiligenschein.

Um die Mitte des Winters hatte sich Curt bereits so eng an Arndt angeschlossen, daß man für gewöhnlich gar nicht mehr an die Zeit zurück dachte, in welcher es anders gewesen war. Kaum, daß Arndt des Abends die Schwelle betreten hatte, so mußte er dem Knaben auch schon irgend eine mathematische Formel erklären, ihm wunderliche lateinische Vocabeln übersetzen, die gewiß nicht in den Wörterbüchern zu finden waren, oder doch wenigstens allerlei spitzfindige grammatische Regeln deuten.

Arndt fühlte auch jetzt noch, daß etwas im Grunde von Henriettens Wesen schlummere, das er noch nicht enträthselt hatte, und doch zweifelte er in diesen Wintermonaten keinen Augenblick daran, daß es ihm gelingen müsse, sich über kurz oder lang völlige Klarheit und mit der Klarheit auch völligen Besitz dieser Frau zu verschaffen, ohne welche er sich überhaupt keine Zukunft mehr denken mochte.

Um ganz leben zu können, wie es ihm gefiel, hatte er fast allen anderen geselligen Verkehr in diesem Winter abgebrochen, und er bereute diese Consequenz keinen Augenblick – um so weniger, als er in der ersten und letzten Gesellschaft, welche er in dieser Saison bei früheren Bekannten mitgemacht hatte, nach langer Pause wieder einmal Erna Lepel begegnet war.

(Fortsetzung folgt.)




Die Tauben im Dienste des Mars.

Es läßt sich wohl zweifellos behaupten, daß unsere heutigen Haustauben den Weg nach Deutschland allein vom Morgenlande her gefunden haben. Nur theilweise wurden sie direct über Griechenland und Italien eingeführt, wobei die Annahme nicht ausgeschlossen bleibt, daß einzelne Taubenarten durch die Mauren von Spanien her, oder durch den Handel zur See über die Niederlande und von hier schließlich selbst über östliche deutsche Häfen zu uns gelangt sein können. Ebenso kann mit Sicherheit angenommen werden, daß die ersten Haustauben, welche nach Deutschland kamen, von weißer Farbe gewesen sind, und es darf auch wohl als berechtigt (? die Red.) erscheinen, wenn man die Bezeichnungen: „die Taube“, „den Taubert“ mit dem althochdeutschen Worte „Dagobert“ in Verbindung bringt, was den Tag-hellen, den Licht-hellen bezeichnet. Erst aus Taube und Taubert sind dann die niederdeutschen Worte: „Duvu“, „Duwert“ entstanden.

Die Taube ist im Morgenlande von altersher als Hausthier gepflegt worden, es geht dies unter anderm daraus hervor, daß schon die Taube Noah’s durchaus eine gezähmte gewesen sein muß, denn eine wilde Art hätte die Freiheit benutzt und wäre nicht wieder zu der Arche zurückgekehrt. Auch im Sanskrit, einer Sprache, welche Tausende von Jahren vor der christlichen Zeitrechnung gesprochen worden ist, finden sich gegen dreißig verschiedene Namen für sicherlich unterschiedliche zahme Taubenarten. Das Gleiche gilt für die alte persische Sprache, in welcher sich ebenfalls über ein Dutzend Bezeichnungen für Haustauben vorfinden, und auch Aegypten liefert in seiner Hieroglyphenschrift den Beweis, daß die Tauben 3200 Jahre vor Christi Geburt als Haustiere bekannnt gewesen sind. – Abgesehen von der Erwähnung der Tauben in der Bibel gelegentlich der Sündfluth, wird derselben noch öfters an anderer Stelle gedacht, und werden speciell solche von weißer Farbe als besonders zum Opfer geeignete Thiere erwähnt. Die weißen Tauben spielen aber auch in der Götterlehre anderer alter Völker eine hervorragende Rolle, namentlich bei Ausübung des Cultus der Venus, und kann von diesen Tauben sogar behauptet werden, daß sie die ersten Brieftauben gewesen sind, abgesehen davon, daß gelegentlich der griechischen Kampfspiele Tauben benutzt worden sind, um Freunden und Verwandten den Ausfall der Wettkämpfe so schnell wie möglich zu melden, und zwar durch Briefe, die man den in’s Theater mitgenommenen Vögeln anheftete, ehe sie, direct vom Zuschauerraum aus, freigelassen wurden.

Daß diese Tauben abgerichtet gewesen und nicht allein ihrem Instinct folgten, welcher sie trieb, der Heimath zuzufliegen, geht wohl aus der Art und Weise hervor, wie die Priester der Aphrodite die Tauben benutzten, um sich selbst und der Göttin der Liebe das nöthige Ansehen zu geben. Der Venusdienst verlangte nämlich unter Anderem, daß die Abreise der Göttin von Sicilien nach Libyen alljährlich festlich begangen werde, bei welcher Gelegenheit die in dem dortigen Tempel gepflegten weißen Tauben freigegeben wurden, um unter Anführung einer rothen, vielleicht mit Purpur gefärbten Schwester, welche die Göttin der Liebe selbst vorstellte, dem Meere zuzufliegen. Nach neun Tagen kehrten die Tauben dann wieder zum Tempel zurück.

Dieses Spiel ist wohl nicht anders zu erklären, als durch einen kleinen Betrug, der darin bestand, daß die Priester Tauben [715] fliegen ließen, welche an einem anderen Orte, vielleicht bei einem Amtsbruder zu Hause waren und erst vor dem Abflug in das Heiligthum der Venus gebracht wurden. Die Tauben dagegen, welche nach neun Tagen zurückkehrten, waren in dem Tempel selbst zu Hause; sie wurden rechtzeitig fortgetragen und von einem Eingeweihten an anderem Orte aufgelassen, von dem sie nach ihrem Wohnorte, dem Tempel, wieder heimflogen.

Nichts mehr und nichts weniger sind auch heutzutage unsere Brieftauben zu leisten im Stande; sie müssen an einem Orte völlig heimisch sein, um, dann fortgeschickt und an einem anderen mehr oder weniger weit entfernten Platze in Freiheit gesetzt, zur Heimath zurückzukehren. Die Heimathsrichtung muß hierbei stets dieselbe bleiben, und können daher Tauben zum Postdienst, mit genügender Sicherheit des Erfolges, nur zwischen vorher bestimmten Orten gebraucht werden, deren Route den Vögeln durch stückweises, immer fortschreitendes Einlernen eingeprägt worden ist.

Es ist zwar schon öfter vorgekommen, daß Tauben auf weite Entfernungen ohne jede vorherige Dressur und Kenntniß des einzuschlagenden Weges in ihre alte Heimath zurückgekehrt sind, hierbei ist aber auch stets constatirt worden, daß diese Tauben tagelang unterwegs geblieben sind, Tausende von Meilen geflogen und erst nach langem Suchen, vielleicht auch dann nur zufällig, den gewohnten Schlag wieder gefunden haben.

Ob nun die Tauben der Venus Cypria, die Brieftauben der Griechen und Römer, die Tauben, welche Ende des zwölften Jahrhunderts im Orient als Luftboten verwendet wurden, und diejenigen, welcher wir uns heute zu gleichem Zwecke bedienen, derselben Art angehören, läßt sich schwer feststellen, doch ist sicher, daß die Brieftauben des zwölften Jahrhunderts im Orient „Bagdetten“ (von Bagdad) genannt wurden, eine Bezeichnung für eine gewisse Taubenart, die noch augenblicklich, namentlich in England, bis zur Vollkommenheit unter dem Namen „Carrier“ – d. h. Bote – gezüchtet wird und als Stammvater der jetzigen Brieftauben angesehen werden muß.

Auf ganz kurze Entfernungen wird jede Taube in ihren einmal gewohnten Schlag zurückkehren, zu weiteren Entfernungen dagegen braucht sie eine größere Ausdauer, ein ausgesprochenes Flugvermögen; und außerdem bei schwierigem Terrain, d. h. im Gebirge und beim Durchfliegen ausgedehnter Wälder, ein weitsehendes Auge und stark ausgeprägten Orientirungssinn. Diese letzteren Eigenschaften sind beziehungsweise den Carriern, Tümmlern und Mövchen besonders eigenthümlich, und sind durch gewisse Kreuzungen dieser Taubenarten bestimmte Brieftaubentypen gezüchtet worden, welche sich ungefähr in derselben Weise unterscheiden lassen, wie z. B. ein in Gradis gezüchtetes Rennpferd von einem in Trakehnen gezogenen Carossier.

Die beiden hauptsächlichsten Brieftaubentypen, welche augenblicklich auch zur Zucht der deutschen Militärbrieftauben benutzt werden und welche durchaus als constant gewordene Rassen angesehen werden müssen, sind die Antwerpener Brieftaube, ein Kreuzungsproduct von Carrier und Tümmler, und die Lütticher Brieftaube, deren Stammeltern auf Tümmler und Mövchen zurückzuführen sind. Erstere Art zeichnet sich durch Ausdauer und großes Flugvermögen aus – Eigenschaften der Stammrassen –; leztere besitzt einen vortrefflichen Orientirungssinn – ein Erbtheil des Mövchens –, der auch vorhält, selbst wenn sie vor ihrer Reise Wochen hindurch eingesperrt gehalten worden ist.

Die beigegebenen Abbildungen lassen die äußerliche Verschiedenheit der Stammeltern unserer Brieftauben und dieser selbst auf den ersten Blick erkennen, und bleibt es wunderbar, wie der Einfluß des Menschen, die fortschreitende Cultur, Klima und Nahrung auf das Urgeschlecht der wilden Tauben eingewirkt haben müssen, um so verschiedenartige Gebilde hervorzubringen, wie sich dieselben z. B. in der Feldtaube – jedenfalls der ältesten Art unserer zahmen Tauben –, im Carrier, im kurzschnäbligen Tümmler und im Mövchen aussprechen.[1]

Wie schon zuvor erwähnt, wird die deutsche Brieftaube aus Antwerpener und Lütticher Tauben gezüchtet. Auf die specielle Wahl der Zuchtthiere muß man aber noch ein ganz besonderes Augenmerk richten; denn es kommt bei der Zucht darauf an, alle nur möglichen guten und ausgezeichneten Eigenschaften auf ein Individuum zu übertragen, um auf diese Weise ein Material zu gewinnen, welches auch den höchsten Anforderungen entspricht.

Hier liegt wiederum der Vergleich mit unseren Rennpferden nahe. Auch bei der Zucht der letzteren wird seit langer Zeit ebenso verfahren. Dort hat ein Hengst ein Rennen gewonnen und dabei eine enorme Leistungsfähigkeit gezeigt, hier hat eine Stute Unglaubliches bei Ueberwindung von Hindernissen geleistet. Die Nachzucht beider wird sicherlich gute Steeple-Chaser geben. Bei den Tauben dagegen hat ein Taubert eine weite Strecke in kurzer Zeit durchflogen; eine Täubin ist in schwierigem Terrain bei höchst ungünstiger Witterung, wenn auch vielleicht langsam, so doch sicher, in den Schlag zurückgekehrt. Die Brut beider wird gewiß schnelle und sichere Reisetauben liefern.

Außerdem müssen bei richtiger Auswahl der zu verpaarenden Tauben Größe und Figur übereinstimmen und dunkel befiederte Tauben mit hellgefärbten vereinigt werden, da es darauf ankommt, dunkelfarbige Tauben zu ziehen, welche mehr als die hellgefärbten vor den Nachstellungen der Raubvögel gesichert sind.

Es liegt auf der Hand, daß die Auswahl des Zuchtmaterials nicht nur eine große Kenntniß der Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Tauben erfordert und daß dieselbe nur durch Sachverständige gehandhabt werden kann, sondern daß auch eine umfassende Controlle ausgeübt werden muß, welche stets gestattet, den Stammbaum der Tauben zu verfolgen und die zusammengepaarten Tauben auf dem Zuchtboden zu beaufsichtigen, die Nachkommen zu bezeichnen etc.

Da sich nun die Brieftauben in Farbe und Zeichnung mehr oder weniger gleichen und Abzeichen derselben nicht leicht genau zu beschreiben sind oder sich häufig wiederholen, so sind die Tauben [716] in den Stamm- und Brutlisten nur nach der Nummer aufgeführt, und trägt jede Taube ihre Nummer mehrfach auf die Schwungfedern gedruckt, was alle Jahre zur Mauserzeit wiederholt, auch öfters revidirt werden muß. Tauben, welche an ein und demselben Orte stationirt, aber auf verschiedene Richtungen abgerichtet sind, tragen diese Nummer auch in verschiedener Farbe. Geht eine Taube verloren, so wird an ihrer Stelle keine neue Taube mit derselben Nummer eingetragen, da sonst die Controlle aufhören würde.

Um die Militärbrieftauben als solche weiter zu kennzeichnen, druckt man auf ihre Federn neben der Nummer noch den Stempel M. B. S. (Militärbrieftauben-Station) und die Route, für die sie abgerichtet und eingeflogen sind, z. B. für Hamm nach Köln, für Mainz nach Metz etc. (Vergl. unsere Abbildung S. 717.) Junge Tauben dagegen werden zuerst mit den Nummerstempeln ihrer Eltern, und erst nachdem sie mehrfach von Uebungsflügen zurückgekehrt sind, auch ihr Geschlecht sicher festgestellt ist, mit der laufenden Nummer versehen.

Zur Vermeidung aller Zweifel trägt auch jeder Nestbehälter, von welchen für jedes einzelne Paar Tauben je einer auf den Heimathsstationsschlägen vorhanden ist, auf einer Tafel dieselben Nummern, wie die darin nistenden Tauben. Diese Nestbehälter, welche in zwei bis drei Reihen über einander an den Seiten des Taubenbodens entlang laufen, sind derartig eingerichtet, daß sie unter einander völlig getrennt liegen, auch durch eine Gitterthür verschlossen werden können.

Nestbehälter in einer Militärbrieftauben-Station.

Sitzstangen in einer Militärbrieftauben-Station.

In diesen Räumen, welche auch dazu benutzt werden, Tauben zum Paaren abzusperren, stehen zwei Nestgefäße von gebranntem Thon, da die Tauben sich gewöhnlich schon zu einer wiederholten Brut anschicken, ehe die Jungen das Nest verlassen haben. (Vergl. die obenstehende Abbildung.)

Damit die Thierchen auch außerhalb der Nestbehälter sitzen können, sind im Schlage Sitzstangen angebracht, welche jedoch mindestens zwanzig Centimeter von den Wänden abstehen müssen, da die Tauben sonst sich die Federn an denselben scheuern würden. Auch diese Sitzstangen sind durch aufrechtstehende Brettchen gleichsam in Abschläge getheilt, um zu verhüten, daß sich die Tauben unter einander beißen und raufen, wodurch sie sich leicht beschädigen und in ihrem Flugvermögen beeinträchtigen könnten. (Vergl. die obenstehende Abbildung.)

Aus demselben Grunde ist auch der ganze Taubenschlag durch Gitter mit Gitterthüren, welche nur Durchlauföffnungen mit Schiebern zur Verbindung und beliebigen Absperrung der einzelnen Abtheilungen besitzen, in einzelne Abschnitte getheilt. Dank dieser Einrichtung können die Tauben weder den ganzen Schlag durchfliegen, noch sich in demselben herumjagen, durch welches Gebahren ebenfalls leicht Flügelbeschädigungen eintreten.

Auch für gehöriges Licht und ausgiebige Ventilation muß in den Taubenschlägen gesorgt sein. Die Fensteröffnungen sind jedoch außer durch Scheiben auch noch durch Drahtgitter zu schließen, damit unter allen Umständen genügende Sicherheit gegen Raubthiere, Marder, Iltis etc. vorhanden ist.

Zum Einfliegen der Tauben sind an den Heimathsstationen Kasten angebracht, welche nach Belieben geöffnet und geschlossen werden können, jedoch noch eine besondere Einrichtung haben, welche zuläßt, daß die Tauben nur in den Schlag herein, aber nicht wieder heraus können. Letztere Einrichtung ist noch mit einem Controllapparat und einer elektrischen Signalglocke verbunden, wodurch ermöglicht wird, daß eine Taube, sobald sie von der Reise zurückkehrt und den Schlag betritt, sich gewissermaßen selbst ankündigt und einen Wärter herbeiruft, der andernfalls fortdauernd auf dem Taubenboden anwesend sein müßte, um den Vögeln die Depesche abzunehmen.

Die Außenstationen, das heißt diejenigen Taubenschläge, auf welchen Tauben aufbewahrt werden, die, gelegentlich in Freiheit gesetzt, zu ihrer Heimathsstation zurückfliegen sollen, unterscheiden sich von Letzteren dadurch, daß sich in denselben keine Nestbehälter, sondern nur Sitzstangen befinden. Auch werden die Tauben hier nach Geschlechtern getrennt eingesperrt, damit sie nicht etwa durch Eiererzeugung für eine Reise unbrauchbar werden. Ebenso sind in diesen Taubenschlägen auch keine Ausflugkasten vorhanden, die Fenster derartig angebracht, daß die Tauben nicht hinaussehen können, da sie sich andernfalls die Umgegend einprägen würden, was sie vielleicht veranlassen könnte, später nicht die Reise in die Heimath anzutreten, sondern auf der Außenstation zu verbleiben.

Die Sorge um die junge Taube beginnt, sozusagen, schon mit dem Lege des ersten Eies. Dieses legt die Täubin etwa am elften Tage nach der Paarung in das Thonnest, welches zuvor nur mit wenigen Strohhalmen oder Reisern ausstaffirt worden ist. Das zweite Ei folgt zwei Tage später, und die ganze Brutzeit, während welcher der Taubert die Gattin täglich von zehn Uhr Vormittags bis vier Uhr Nachmittags ablöst, dauert circa achtzehn Tage. Die Jungen sind anfangs blind und nur mit Flaum bedeckt, und erst nach sechs bis sieben Tagen sehen sie; dann beginnen ihnen auch die Federn zu wachsen, und im Alter von fünf bis sechs Wochen sind sie flügge und verlassen das Nest. Zur Erzielung eines kräftigen Nachwuchses aber wird das schwächere Junge, sobald sich der Kraftzustand beider constatiren läßt, getödtet.

Die Tauben mausern, wie schon erwähnt, alle Jahre einmal und sind während dieser Zeit nicht recht reisefähig. Junge Thierchen – bereits im Alter von zwei Monaten – wechseln die Federn; mit dem vierten bis fünften Monat ist jedoch die Mauserung völlig beendet, und können von dieser Zeit ab Flugübungen mit den neuen Recruten vorgenommen werden. Dies geschieht aber nur mit denjenigen Tauben der ersten Brut, welche im zeitigen Frühjahr ausgekommen, und später erbrutete Thiere warten mit ihren Exercitien bis zum nächsten Jahr. Im ersten Jahr der Dressur werden die Tauben nur auf 40 bis 60 Kilometer Entfernung, im darauf folgenden bis zu 100 Kilometer von der Heimathsstation aufgelassen. Aeltere Tauben werden dagegen auf Reisen bis zur doppelten Entfernung erprobt. Nach jeder einzelnen Reise müssen sie jedoch wieder einige Tage in dem Heimathsschlag belassen werden, um in ihnen den Heimathssinn rege zu erhalten.

Wenn indessen letzterer sowie ihre große Gattenliebe sie auch nach dem alten gewohnten Schlag zurücktreibt, so können sie denselben doch nur dann wiederfinden, wenn sie auf die einzuschlagende Richtung dressirt worden sind. Die Fähigkeit der Tauben, ihre Heimath stets wieder zu finden, dürfte namentlich auf der Einprägung der Himmelsrichtung beruhen, wenn auch sicherlich das Wiedererkennen – selbst aus größerer Entfernung – einer einmal durchflogenen Gegend bei der Rechnung nicht außer Acht gelassen werden darf.

[717]

Deutsche Militärbrieftauben.
Für die „Gartenlaube“ nach der Natur gezeichnet.

Bei allen Abflügen von der ersten bis zur letzten Uebungsstation, welche vorher, um die Ausbildung ganz systematisch zu betreiben, in einem Flugprogramm zusammengestellt werden, muß daher der aus Weiden geflochtene Reisekorb, in welchem die Tauben transportirt werden, stets nach der Himmelsrichtung hin, in welcher die Heimath liegt, geöffnet werden, damit die Tauben jedesmal unwillkürlich dieselbe Direction einschlagen. Das Auflassen darf aber auch nur bei günstigem Wetter erfolgen, da Regen, Nebel, starker Wind u. dergl. m. die Tauben immer behindern, die einzuschlagende Himmelsrichtung zu finden oder doch festzuhalten.

Sind die Tauben auf kürzere Entfernungen sicher eingeschult, so wird zu weiteren Uebungen übergegangen; ältere Tauben, die auch von diesen zurückgekehrt, werden schließlich Dauerversuchen unterworfen, d. h. man sperrt sie bis zu sechs Wochen auf einer Außenstation ein, ehe sie zur Rückkehr in die Heimath aufgelassen werden. Das Auflassen selbst aber hat stets aus einem Reisekorb stattzufinden, der an einem möglichst hochgelegenen freien Orte aufgestellt wird.

Ein systematisches Reiseprogramm enthält Entfernungen von 7, 15, 30, 50, 70, 90, 120, 150 etc. Kilometer, und bei den [718] Dauerversuchen pflegt man den Tauben auch eine Depesche an eine Schwanzfeder zu heften, wie dies für den Ernstfall vorgesehen ist.

Als Futteral für die Depeschen dient der Kiel einer stärkeren (Gänse-)Feder, in welchen die Depesche, auf feines Papier oder auf ein Collodiumhäutchen geschrieben, gedruckt oder durch Mikrophotographie auf Letzteres gebracht, gesteckt wird. Die Oeffnungen des Kiels sind durch Wachspfropfen zu schließen, um das Hereindringen von Feuchtigkeit zu verhindern; der Kiel selbst aber wird sorgfältig an einer der mittleren Schwanzfedern der Taube, mittelst fester Faden, wie es die Abbildung (S. 717) zeigt, befestigt. Letztere Arbeit ist sehr sorgfältig auszuführen, da hierbei leicht die Schwanzfeder in ihrer Hautfalte gelockert werden, beim Fliegen der Taube herausfallen und mit ihr die Depesche verloren gehen kann. Um derartige Zufälligkeiten nach Möglichkeit zu verhindern oder doch zu beschränken, werden im Ernstfall stets mehrere Tauben mit derselben Depesche abgesandt; denn es dürften ja Verluste der geflügelten Couriere selbst eintreten, indem sie einem Raubvogel, vielleicht sogar einem vom Feinde abgerichteten, zur Beute fallen oder dem Blei eines wachsamen feindlichen Postens erliegen könnten.

Doch die zarten Boten der Luft, welche im Laufe der Zeit aus dem Dienste der Venus in das rauhe Lager des Mars übergehen mußten, werden bei der einsichtsvollen Schulung, welche sie in Deutschland genießen, schon nach Möglichkeit ihre Pflicht und Schuldigkeit thun. Bis jetzt hat freilich unsere Kriegsgeschichte noch keine Erfolge auf dem Gebiete des Brieftaubenwesens aufzuweisen, hinter den Leistungen aber, zu welchen die französischen Brieftauben sich während der Belagerung von 1870 bis 1871 aufgeschwungen haben – hinter diesen Leistungen werden auch die jüngeren deutschen Schwestern sicherlich nicht zurückbleiben.

Vorläufig eine gründliche, unermüdliche Friedensschulung – vielleicht später einmal eine hohe Kriegsleistung!
F.


Musik der Berge und Thäler, Wälder und Wüsten.

II.
Der tönende Berg (Gebel Nakus) am Sinai. – Die Musik der Granitfelsen am Orinoko und die Memnonssäule. – Streit der Gelehrten über die Entstehung dieser Töne und neue Beobachtungen – Ein „Bramador“ (Schreier) genannter Berg in Chile. – Trompetenartige Töne der Sanddünen in der Wüste nach den Beobachtungen von O. Lenz.


Im ersten Artikel wurde bereits auf die eigenthümlichen Schwierigkeiten hingedeutet, welche die richtige Erklärung akustischer Naturerscheinungen bietet, deren Ursprung man weder mit den Augen sehen, noch mit den Händen greifen kann. Für diese Thatsache liefert der in den letzten Jahren auf Grund einiger neuen Besuche wieder vielfach in naturwissenschaftlichen und belletristischen Journalen, sowie in gelehrten Vereinen besprochene Glockenberg (Gebel Nakus) am Sinai einen höchst merkwürdigen Beleg, sofern er sich nicht nur durch den Streit um den Ursprung seiner Töne als ein Seitenstück zum singenden Thale von Thronecken darstellt, sondern sogar zeigt, wie neuere Besucher trotz der ihnen wohl bekannten richtigen Erklärung immer wieder nach anderen Deutungen suchen, sodaß für den unbefangenen Leser die Frage wirklich zweifelhaft werden kann, wie sie denn auch selbst in naturwissenschaftlichen Journalen neuerdings von einem sehr verkehrten Standpunkte behandelt worden ist. Angesichts der hierüber kürzlich vielfach in die Oeffentlichkeit gedrungenen falschen Auffassungen halte ich es daher für angezeigt, auf die nicht uninteressante Geschichte der Ergründung dieses Naturwunders ausführlicher einzugehen.

Der Glockenberg oder Gebel Nakus ist, seitdem man im Anfange unseres Jahrhunderts durch Seetzen nähere Kunde von ihm erhielt, sehr häufig sowohl von Naturforschern wie von Touristen und Bibelforschern besucht worden, wozu freilich seine Lage zwischen zwei Wallfahrtsorten verschiedener Pilgerclassen viel beigetragen hat. Der eine dieser Wallfahrtsorte ist der Sinai, welcher stets Schaaren von jüdischen, christlichen und mohammedanischen Pilgern angezogen hat, der andere das armselige Fischerdorf Tor oder Tur am rothen Meere, welches wieder und wieder naturforschende Pilger zu sich lockte, weil das Ufermeer hier die herrlichsten Korallenklippen und eine Menge von darin hausenden Thieren darbietet, die (wie die gesammte Fauna des rothen Meeres) von denjenigen des Mittelmeeres, trotz des unbedeutenden, sie trennenden Erdstriches von Grund aus verschieden sind. Hier haben daher nach einander Ehrenberg, Frauenfeld, Ransonnet, Häckel, Panzeri und viele andere Zoologen ihr Arbeitsfeld aufgeschlagen und reiche Ausbeute gefunden. In einer Tiefe von zehn bis zwanzig Fuß erblickt man in dem krystallklaren Wasser unter dem Boote eine Thierwelt, die in ihrer Farbenpracht dem herrlichsten Blumengarten gleicht oder ihn vielmehr weit übertrifft. Häckel hat auf einer Farbentafel seines Prachtwerkes über die „Arabischen Korallen“ (Berlin 1876) versucht, uns diesen feenhaften Anblick im Bilde wiederzugeben. Der Hafendamm, ja das ganze Dorf ist aus den schneeweißen Skeleten von Korallen aufgebaut, und herrliche, wunderbar zierliche Blöcke dieser aus dem Meere gefischten Bausteine liegen überall umher. Manche der elenden Hütten dieses Ortes birgt in einer einzigen Wand, wie Häckel sagt, eine größere Sammlung von schönen Korallenarten, als sie in vielen europäischen Museen zu finden ist.

Natürlich haben verschiedene der mit der Untersuchung dieser herrlichen Meeresfauna beschäftigten Naturforscher auch den nur drei Meilen weit entfernten Glockenberg besucht, und namentlich verdanken wir dem berühmten Naturforscher Ehrenberg, welcher 1823 hier zoologischen Studien oblag, die genaueste Untersuchung des Phänomens. Außerdem ist er vielfach von Sinai-Reisenden, denen er sozusagen am Wege lag, aufgesucht worden, und als solche waren Seetzen, Gray, G. H. von Schubert, Wellstedt, Palmer und viele andere weniger bekannte Reisende dort, die uns mehr oder weniger ausführliche Schilderungen des tönenden Berges hinterlassen haben. Es ist ein nur wenige tausend Schritte vom Ufer entfernter, höchstens dreihundert Fuß hoher, steiler Sandsteinkegel, der etwas aus der hinter ihm belegenen höheren Gebirgswand hervorspringt und auf seinen beiden Seiten Abhänge von hundertfünfzig Fuß Höhe und so starker Neigung darbietet, daß der durch Verwitterung des porösen Felsens entstehende, sehr gleichmäßig grobe Quarzsand sich eben noch auf demselben im Gleichgewicht erhalten kann, so lange er nicht durch äußere Veranlassung in seiner Ruhelage gestört wird.

Die Erkletterer dieses Felskegels vernehmen ziemlich regelmäßig eigenthümliche, glockenartige Töne, die denen am ähnlichsten sind, welche man durch Anschlagen größerer metallener Lineale oder Teller mit einem hölzernen Hammer erzeugt, wie man sich dieser sogenannten Gong-Gongs oder Tamtams in den chinesischen und arabischen Tempeln und auch in den Sinai-Klöstern statt der Glocken bedient, um die Gläubigen an bestimmten Stunden zum Gebete zu rufen. Die Sage der Beduinen berichtet darnach, daß innerhalb des Felsens ein verzaubertes christliches Kloster liege, dessen Mönche unterhalb der Erde auf wunderbare Art fortleben und deren Nakus- oder Tamtamgeläute man besonders an Sonn- und Feiertagen aus dem Berge vernehme, welcher hiervon seinen Namen erhalten habe. Einzelne Beduinen hätten an bestimmten Tagen den Berg offen gefunden und von den schönen unterirdischen Gärten und Springbrunnen daselbst Kunde gebracht.

Man sieht, es hat sich hier zur Erklärung der Glockentöne ein Märchen nach Art der arabischen Erzählungen der Scheherazade gebildet, wobei das Katharinen-Kloster am Sinai mit seinen festungsartigen Mauern und seinen schönen, dahinter verborgenen Gärten und Brunnen offenbar als Vorbild gedient hat. Natürlich gelten die in dem Felsen eingeschlossenen Mönche für verdammt, und daher erkläre sich die Wuth, in welche die Kameele gerathen, wenn sie die Töne aus dem Berge vernehmen. Wegen seiner merkwürdigen Eigenschaften und der daran sich knüpfenden Sagen ist der Berg wahrscheinlich schon in früheren Jahrhunderten besucht worden; denn auf den benachbarten Felswänden finden sich koptische, griechische und arabische Inschriften und Namen aus dem alten Geschlechte Derer von Kieselack.

Der erste Europäer, welcher von dem Wüstenwunder Kunde gab und, was noch bemerkenswerther ist, auch sogleich die richtige [719] Erklärung desselben fand, war der treffliche deutsche Reisende Ulrich Jasper Seetzen, welcher im Beginne unseres Jahrhunderts den Orient durchforschte und an einem Junitage dem tönenden Berge einen Besuch abstattete. Es war eine kleine Gesellschaft, die von dem Wunder gehört und mit Mühe den sandigen Abhang bis zu einer Höhe von siebenzig bis achtzig Fuß erklettert hatte, um sich an der Stelle zu lagern, wo die Pilger, den Tönen lauschend, zu verweilen pflegen. Bereits beim Hinaufklettern hatte Seetzen unter seinen Knieen einen eigenthümlichen säuselnden Ton vernommen, der ihn auf die Vermuthung brachte, es sei nicht der Felsberg, sondern vielmehr der auf dem steilen Abhange liegende Sand, der die Töne erzeuge. Aber erst gegen ein Uhr Nachmittags drang ein stärkerer Ton zu den Ohren der Besucher, worauf das Tönen stärker wurde und gegen drei Uhr eine solche Stärke erreichte, daß es, einmal erregt, sechs Minuten anhielt. Der Ton hatte im Beginn große Aehnlichkeit mit dem Geräusche eines Brummkreisels, fiel und stieg aber dabei, wie die Klänge einer Aeolsharfe und ging schließlich in ein lautes Dröhnen über. Um sich zu überzeugen, ob es wirklich nur der trockene Sand sei, welcher, durch den Wind oder durch die Füße der Besucher in Bewegung gesetzt, den Klang hervorbringe, kletterte Seetzen nunmehr mit größter Anstrengung bis zu dem höchsten Theile des Sandabhangs hinauf und glitt dann so schnell, als er konnte, hinunter, indem er zugleich mit Händen und Füßen den Sand in Bewegung zu setzen versuchte. Der Erfolg übertraf seine Erwartungen bei Weitem; denn der unter ihm fortrollende Sand brachte ein solches Getöse hervor, daß der ganze Berg in einem schreckenerregenden Grade zu beben und bis in seine Grundtiefen erschüttert zu sein schien. Schon damals verglich Seetzen die lange, allmählich in Bewegung gesetzte Sandschicht mit einem riesenhaften Violinbogen, der über die rauhe Unterlage hinabstreicht und sie in tönende Schwingungen versetzt. Wir werden bald erfahren, wie sehr dieser Vergleich das Richtige trifft.

Fast um dieselbe Zeit, in welcher diese Beobachtungen von Seetzen angestellt wurden, hatte Alexander von Humboldt am Orinoko die von den Eingeborenen für verzaubert gehaltenen musikalischen Felsen (loxas de musica), Granitfelsen, aus denen bei Sonnenaufgang orgelartige Klänge hervorbrechen, besucht und diese Töne von den starken Temperaturunterschieden abgeleitet, welche dort zwischen Nacht und Morgen sich fühlbar machen und nach seiner Meinung in den tiefen Spalten des Granits tönende Luftströmungen erzeugen sollen.

Humboldt wandte seine übrigens durch nichts näher bewiesene Vermuthung alsbald auf die Erklärung jenes Wunders der alten Welt an, welches bereits in den römischen Kaiserzeiten ganze Touristenzüge nach dem alten Theben lockte und über welches man noch im vorigen Jahrhundert dicke Bände geschrieben hat, auf die beim Scheine der Morgensonne ertönende sogenannte Memnonsstatue. Seine Erklärung wurde noch plausibler, als die Mitglieder der Napoleonischen Expedition in Aegypten, Jomard, Jollois und Devilliers, in einem granitnen Monumente unweit Karnak bei Sonnenaufgang einen Klang vernahmen, wie den einer springenden Saite, mit welchem schon der alte Pausanias den Klang der Memnonssäule verglichen hatte. Man wollte nun diese Erklärung alsbald auch auf die Töne des Glockenberges anwenden, indem man annahm, der Wind bringe die Töne in seinen Felsspalten hervor.

Wir wollen nur im Vorbeigehen bemerken, daß uns die Humboldt’sche Erklärung des Tönens der nächtlich abgekühlten Felsen in der glühenden Morgensonne der Tropen sehr unwahrscheinlich erscheint, und daß es viel näher liegt, an jenes von Afrika- und Orientreisenden – ich nenne Wetzstein, O. Fraas und Livingstone – wiederholt mit Auge und Ohr wahrgenommene oberflächliche Zerspringen und Absplittern der Steine durch den jähen Temperaturwechsel zu denken. Wie dem auch sein mag, daß jedenfalls das Tönen des Glockenberges nichts mit Luftströmungen zu thun hat, bezeugte bald darauf der Professor Gray aus Oxford, der den Berg wiederholt besuchte. Er konnte lediglich Seetzen’s Beobachtungen bestätigen, suchte vergeblich an dem Felsen nach Luftspalten[WS 1] und hörte den Berg an zwei verschiedenen Tagen bei völlig ruhiger Luft tönen. Dasselbe bestätigte der berühmte Naturforscher Ehrenberg, welcher den Berg 1823 besuchte. Die Reisenden hörten bei jedem Schritt eine kleine Verstärkung des Tones, welcher immerfort mit der Menge des in Bewegung gesetzten Sandes lawinenartig anschwoll und endlich eine Stärke erreichte, welche Ehrenberg mit einem fernen Kanonendonner verglich. Als alle Personen die Sandschicht verlassen hatten, erlosch das Geräusch allmählich an allen Punkten.

Ehrenberg hat darauf das Phänomen genau analysirt und die Mächtigkeit der Schlußwirkung durch die Anhäufung kleiner Wirkungen ähnlich wie beim Lawinensturz erklärt. Die ungefähr 150 Fuß hohe und unten ebenso breite Sandfläche erhebt sich unter einem Neigungswinkel von fünfzig Grad und ruht daher mehr auf sich selbst, als auf dem Felsen, der ihr nur ein schwaches Anlehnen gestattet. Der Sand ist grobkörnig und aus sehr reinen gleichmäßigen Quarzkörnchen von 1/6 bis ½ Linie Durchmesser gebildet. Die große Hitze dörrt den Sand am Tage bis auf eine gewisse Tiefe aus (während derselbe allnächtlich vom Thau durchfeuchtet wird) und macht ihn dann ebenso trocken wie klangfähig. Wird nun durch das tiefe Einsinken eines menschlichen Fußes ein leerer Raum im Sande gebildet, so wird dadurch die ganze über diesem Punkte befindliche hohe Sandschicht ihres Stützpunktes beraubt und beginnt langsam in ihrer ganzen Länge sich in Bewegung zu setzen. Durch das seitliche Zufließen des Sandes und die wiederholten Tritte gelangt endlich ein großer Theil der gesammten Sandschicht des Abhanges in Bewegung und bewirkt durch die Reibung auf den darunter liegenden ruhenden Theilen ein Geräusch, welches aus einem Summen in ein Murmeln und endlich in ein Dröhnen übergeht und um so überraschender ist, als man von dem Rieseln und der allgemeinen Bewegung der oberflächlichen Sandschicht nicht viel sieht. Nach dem Aufhören der Störungen nimmt allmählich auch das Rutschen ab, je nachdem sich die Lücken wieder geschlossen, die Sandsäule unten eine stärkere Basis erhalten und wieder in eine Ruhelage zurückgekehrt ist.

Ich bin, wie gesagt, nochmals so ausführlich auf diese wohlbegründete Erklärung eingegangen, weil in den letzten Jahren deutsche Reisende, Th. Löbbecke und H. Palmé, nach ihren eigenen Beobachtungen sich von Neuem ganz entschieden gegen die Seetzen’sche Erklärung ausgesprochen haben. Löbbecke hat darüber in den Sitzungen der Niederrheinischen Gesellschaft für Naturkunde (März 1880) einen Bericht gegeben, nach welchem bei seinem Besuche alles Laufen, ja Löchergraben im Sande vergeblich gewesen sei, bis sich gegen Abend der Wind erhob und das Phänomen nun mit aller Stärke eintrat.

Ganz Aehnliches erlebte Palmé zum großen Erstaunen des von ihm gemietheten Negers, der unterwegs unaufhörlich versichert hatte, er und kein Anderer sei der Beherrscher des Berges und er allein könne den darin wohnenden Teufel zum Singen bringen. Aber all sein Toben und Steinewerfen war vergeblich; der Berg blieb stumm, und das Vibriren begann erst, als sich ein leichter Wind erhob. Palmé giebt daher ebenfalls die Sandtheorie auf und nimmt an, daß sich in dem Berge große von außen nicht sichtbare Höhlungen befinden, aus welchen durch die brennende Sonne oder den Wind angeregte Luftströmungen hervorbrechen und das Gewölbe des Berges in Vibration versetzen – mit einem Worte: er kehrt zu der Humboldt’schen Erklärung zurück.

Es kann wohl kein besseres Beispiel geben, um die Schwierigkeiten darzulegen, die sich der Auflösung akustischer Naturräthsel entgegenstellen. Und doch liegt die Erklärung der abweichenden Erfahrungen der beiden letztgenannten Beobachter so außerordentlich nahe. Palmé selbst erwähnt, daß der Sand an dem Morgen seines Besuchs stark vom Thau durchfeuchtet war. Schon der Reisende Wellstedt hat nun bemerkt, daß der Sand am Gebel Nakus, wenn er durchnäßt ist, auf keine Weise zum Tönen gebracht werden kann; bei trocknem Sande hörte er dagegen das Dröhnen so stark, daß es dem Donner gleich kam, wobei die Treiber nur mit Mühe die auf dem zitternden Boden wildgewordenen Kameele bändigen und festhalten konnten.

Der englische Reisende M. A. Palmer bemerkt in seinem 1871 gedruckten Werke über die Wüste des Moses, daß selbst der an schattigen und kühlen Stellen liegende Sand, dessen Temperatur 17° C. betrug, trotz seiner Trockenheit viel weniger gut tönte, als der in der Sonne auf 45° C. erhitzte. Der Wind mag bei den Besuchen Löbbecke’s und Palmé’s die doppelte Wirkung gehabt haben, den nicht ganz trockenen Sand vollends auszutrocknen und außerdem aus mechanischen Gründen seine Beweglichkeit zu erhöhen, sicher liegt aber nicht der mindeste Grund vor, nach diesen [720] beiden verneinenden Berichten die alte, so wohlverständliche und von so vielen scharfsinnigen Beobachtern unterstützte Erklärung zu verlassen.

Wie man sich leicht vorstellen kann, findet das Phänomen des tönenden Sandes nicht blos am Sinai, sondern auch an anderen Orten der Erdkugel statt, wo sich dieselben Bedingungen zusammenfinden: heißes, trockenes Klima, grober Sand und eine stark geneigte Rutschfläche. Während sich Darwin auf seiner Reise um die Welt in Copiapo im nördlichen Chile befand, erzählte man ihm von einem nahen Berge, den die Einwohner „El Bramador“ oder „den Schreier“ nannten, und er erfuhr, daß dieser Berg ganz mit Sand bedeckt sei, und nur dann ein Geräusch von sich gäbe, wenn Personen ihn erkletterten und dabei den Sand in Bewegung setzten. Die neueste Beobachtung des tönenden Sandes rührt von dem Afrikareisenden Oscar Lenz her, welcher die Erscheinung im Winter 1879 bis 1880 auf seiner von Tenduf aus angetretenen Wüstenreise durch das südliche Marokko nach Timbuktu, und zwar in dem Igidi genannten Gebiete der Sanddünen, wiederholt beobachtete.

Es war ein eigenthümliches, erst leise knisterndes Geräusch, welches bald in einen dumpfen, trompetenartigen Schall überging, der in der todtenstillen menschenleeren Wüste ein unheimliches Gefühl erweckte und bald von der einen Stelle der Dünen, bald von einer anderen erklang. Diese Dünen bestehen aus einem groben, trockenen Quarzsand, der sehr leicht in Bewegung geräth. Den Leser aber, der sich nicht vorstellen kann, wie das kleine Geräusch der fallenden Quarzkörnchen zu Trompeten-, ja zu Donnertönen anschwellen kann, müssen wir eben an die sich steigernde Wirkung der kleinen Anstöße und an das rollende Schneekörnchen erinnern, welches, von einem leichten Windhauche, ja von dem Laute einer menschlichen Stimme in Bewegung gesetzt, zur donnernden Lawine anschwillt, welche ganze Wälder und Ortschaften in den Abgrund reißt. Der Hauptunterschied ist der, daß die Bewegung der Sandlawine eine oberflächliche bleibt, weil die Ausdörrung wegen des starken Nachtthaus nur bis zu einer gewissen Tiefe fortschreitet.

Aber wie in dem Ellicot’schen Uhren-Experiment der leise Pendelschlag einer Uhr allmählich eine ganze Bretterwand in Schwingungen versetzt, sodaß eine zweite, entfernt von der ersten aufgehängte und stehende Pendeluhr davon in Gang gesetzt wird, so bringen hier die unzähligen hinabrieselnden Quarzkörnchen trotz ihrer Winzigkeit schließlich den ganzen Berg in Bewegung und erzeugen ein Klangphänomen, welches nach den einstimmigen Schilderungen aller Besucher zu den ergreifendsten Naturerscheinungen gehört, welche dem Weltreisenden winken.

Carus Sterne.


Deutsche Wohlthätigkeits-Gesellschaften im Auslande.

Die Deutschen sind von jeher Träger und Pioniere der Cultur im Auslande gewesen, leider aber ging früher ihre culturelle Thätigkeit oft der Nation verloren und gereichte nicht selten ausschließlich fremden Völkern zum Vortheil; denn so lange es noch kein deutsches Reich gab, war Deutschland in seiner Zerrissenheit dem Auslande gegenüber machtlos und entbehrte in der Fremde des so nöthigen Schutzes durch die heimathlichen Regierungsbehörden. Zahllose Deutsche im Auslande haben daher im großen Völkermeer jedes Vaterlandsgefühl abgethan, sodaß vollends ihre Nachkommen sich innerlich und äußerlich ganz mit der Nationalität vermischten, in deren Mitte sie ihre neue Heimath begründet. Manche legten schon bald nach der Uebersiedelung ihre deutschen Namen ab und romanisirten, englisirten oder slavisirten dieselben sogar. Man werfe aber darum keinen Stein auf diese Abtrünnigen! In ihrer Schutz- und Hülflosigkeit waren sie vielleicht zu schwach, um dem auf sie geübten Drucke zu widerstehen. Heute, nach Aufrichtung des mächtigen deutschen Reiches, ist die Sache freilich ganz anders und viel besser geworden.

Aber schon lange, bevor dieses heißersehnte Ziel erreicht worden, trat die erfreuliche Erscheinung zu Tage, daß thatkräftige Deutsche mit vereinten Kräften durchsetzten, was der Einzelne nicht zu erreichen vermochte, indem sie durch Privatthätigkeit in’s Leben riefen, was ihnen von obenher gebrach. Dieser Tendenz verdanken wir die deutschen Schutz- und Hülfsgesellschaften im Auslande.

Die ersten derselben entstanden in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in den Hafenstädten Philadelphia, New-York und Baltimore; ihnen folgten solche in den Hauptstädten der alten Welt, in London, St. Petersburg, Constantinopel, Paris und in einer zweiten englischen Stadt, in Dalston, worauf wiederum der Gründungseifer nach Nordamerika zurückkehrte, wo in St. Louis, New-Orleans, San Francisco und Chicago Hülfsvereine gegründet wurden. Bald darauf folgten den zur Linderung materieller Noth gegründeten Zufluchtsstätten solche zur Abwehr politischer Verfolgung: die Schweiz und Belgien.

Nach dem Jahre 1870, welches dem deutschen Reiche seine frühere Machtstellung wieder gab und somit auch die Deutschen im Auslande mit dem Gefühle junger Kraft erfüllte, schossen dann die deutschen Hülfs- und Schutzvereine überall wie Pilze aus der Erde, und kaum irgend eine bedeutende Stadt Amerikas und Europas entbehrt heute eines solchen Vereins. Die Zahl der deutschen Hülfsvereine, soweit sie uns nach den uns ziemlich vollständig vorliegenden Statuten und Jahresberichten bekannt wurden, beläuft sich heute auf 64, deren Entstehen zu fast dreiviertel ihrer Zahl auf die Zeit nach dem Jahre 1871 fällt.

Der erste und älteste aller deutschen Hülfsvereine im Auslande ist die „Deutsche Gesellschaft von Pennsylvanien“. Die Gründung derselben hat ihre eigene Geschichte. Die Gesellschaft verdankt ihren Ursprung der deutschen Einwanderung. Diese nahm ihren Anfang im Jahre 1683; denn die früheren Einwanderer in die englischen Colonien Nordamerikas dürfen nur als versprengte Vorläufer betrachtet werden. Die Anregung aber zu eigentlichen Wanderzügen aus Deutschland gab kein Anderer als Wm. Penn selbst, der dreimal – und zwar die ersten beiden Male vor der Gründung Pennsylvaniens (1671 und 1677) – selbst in Deutschland war, um für seine Secte, die Quäker, Propaganda zu machen und das zu Ehren seines Vaters benannte Land zu bevölkern. Penn predigte in Krißheim bei Worms und erließ ein Manifest (1681), in welchem er die Ansiedelung plausibel machte; alsbald entstanden denn auch in Frankfurt und Crefeld unter den Gläubigen Auswanderungs-Gesellschaften.

Am 6. October 1683 gingen die ersten Auswanderer ab, welche sechs Meilen von Philadelphia, das damals nur einige Häuser zählte, die Stadt Germantown gründeten, und ihnen folgten, dank den damaligen unseligen Zuständen in Deutschland, bald andere Auswanderungszüge nach.[2]

Die großen Zuzüge aus Deutschland beunruhigten die angesiedelten Engländer und drückten wie ein Alp auf ängstliche Gemüther, sodaß James Logan, der berühmte Secretär W. Penn’s, die Befürchtung aussprach, es könne den dortigen Angelsachsen dasselbe Schicksal widerfahren, wie im fünften Jahrhundert den britischen Kelten durch die Angelsachsen. Auch in der englischen Gesetzgebung der Colonie sprach sich durch zum Theil später wieder zurückgezogene Repressivmaßregeln dieselbe Befürchtung aus.

Da nun die meisten Auswanderer zu arm waren, um die gegen 200 Mark betragenden Kosten der Ueberfahrt zu zahlen, so trafen sie mit den Schiffseigenthümern ein Uebereinkommen, wonach sie sich verpflichteten, nach ihrer Ankunft in Amerika ein Arbeitsäquivalent für die Fahrt zu leisten. Ein solcher Dienstcontract war, wie ein lettre au porteur, übertragbar. Ein guter Arbeiter mochte mit drei bis vier Jahren abkommen, die Dauer der Arbeitsknechtschaft konnte aber auch bis zu sieben Jahren sich

[721]

Deutsche Hospitäler im Auslande.
Originalzeichnung von Fritz Stoltenberg.
1. Die Halle der „Deutschen Gesellschaft“ in Philadelphia. – 2. Das „Deutsche Krankenhaus“ in Constantinopel. – 3. Das „Neue deutsche Hospital“ in San Francisco. – 4. Das „German-Hospital“ in Dalston. – 5. Das „Asyl des Wohlthätigkeits-Vereines“ in St. Petersburg.

[722] ausdehnen, und Kinder blieben bis zur Großjährigkeit Arbeitssclaven. Der Arbeiter wurde einfach „serf, Knecht“ genannt.

In den frühesten Zeiten der deutschen Einwanderung kamen derartige Fälle selten vor, zum ersten Male urkundlich 1686, und erst in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gelangte das System zur vollen Ausbildung und allgemeinen Anwendung. Die Agenten, welche große Provisionen bezogen, hießen „Neuländer“, wurden aber auch mit dem minder schmeichelhaften Namen „Seelenverkäufer“ bezeichnet. Wir besitzen von Zeitgenossen und Augenzeugen so genaue und lebensvolle Schilderungen dieser Zustände, daß uns bei der Lectüre derselben geradezu ein Grauen befällt.

Wenn die Schiffe in Philadelphia nach der langen Seefahrt landeten, durften nur die Zahlenden oder durch Bürgen Geschützten das Land betreten. Alle Anderen mußten warten, bis man sie kaufte, was oft, wenn sie nicht jung und gesund waren, wochenlang dauerte, sofern sie nicht inzwischen Krankheiten erlagen. Männer mit kranken Frauen und Frauen mit kranken Männern mußten, wenn sie die Ihrigen mit sich zugleich auslösen wollten, für diese durch eine längere Arbeitsdauer einstehen und oft wurden ganze Familien getrennt, indem Mann, Weib und Kinder an verschiedene Käufer gelangten und Mütter von ihren Kindern auf Nimmerwiedersehen lassen mußten, weil Letztere, wenn sie das Alter von fünf Jahren noch nicht erreicht hatten, nicht gekauft, sondern umsonst ausgegeben wurden und dann bis zum einundzwanzigsten Jahre dienen mußten. Das Schiff war der Markt des Menschenhandels: dorthin kamen, in Folge der Anzeigen im Philadelphiaer „Staatsboten“, welcher die Ankunft „frischer, gesunder Waare“ meldete, in großer Zahl, oft zwanzig bis dreißig Wegstunden weit her, die Käufer und handelten um Menschen – um unsere deutschen Landsleute! Es ist indessen zu bemerken, daß die Deutschen in Pennsylvanien sich niemals an diesem Menschenschacher betheiligt haben.

Zu alledem kam noch ein weiterer abscheulicher Mißbrauch der Rheder: Bei der Abfahrt von Europa wurde zwar das Gepäck der Auswanderer vor deren Augen mit verladen, heimlich aber wieder an’s Land gebracht, um entweder gar nicht oder auf später abgehenden Frachtschiffen nachbefördert zu werden. Es geschah dies, um für die Menschenwaare mehr Raum zu gewinnen. Die armen Auswanderer fanden sich dann bei ihrer Ankunft an den „gastlichen“ Gestaden der neuen Welt nackt und hülflos, und kamen die Kisten dann endlich an, so waren sie geöffnet und ihres besten Inhalts beraubt; häufiger aber blieben sie ganz aus.

Man wird fragen, wie es gekommen, daß so himmelschreiende Mißbräuche nicht gehörig untersucht und durch Bestrafung der Schuldigen abgestellt wurden? Die Antwort giebt Christoph Saur, der unermüdliche Freund und Schützer des Auswanderers. „Es war keine Maus“ – sagt er – „die der Katze wollte die Schellen anhängen. Die Leute, welche von der Ausbeutung der Passagiere ihren Nutzen zogen, hatten beim Gouverneur mehr Einfluß, als entrüstete Menschenfreunde.“

Die gesetzgebende Behörde erließ zwar im Jahre 1750 ein Gesetz zum Schutze der Einwanderer, aber es blieb Alles beim Alten; denn die eingesetzten Inspectoren waren käuflich und drückten ein oder beide Augen zu, sodaß, wie Saur sagt, „die Leute zuweilen nicht mehr als zwölf Zoll Raum und nicht halb genug Brod und Wasser hatten.“

So lagen die Dinge, als sich im Herbste 1764 das jammervolle Schauspiel ereignete, daß gleichzeitig mehrere Emigrantenschiffe in Philadelphia anlangten, welche mit Kranken und Sterbenden besetzt waren – ein Fall, der sich früher nur auf einzelne Schiffe beschränkt hatte. Ueber die Zahl der unterwegs Gestorbenen wurde nichts berichtet. In Folge dessen brachte der „Staatsbote“ am 19. November eine anonyme Einsendung, welche zur Unterstützung der Ankömmlinge das öffentliche Mitleid in Anspruch nahm. Der Herausgeber der Zeitung begleitete das Inserat mit einer warmen Fürsprache, und dadurch angeregt, trat eine Anzahl deutscher Männer, anfangs ohne alle gesellschaftliche Einigung, zur Linderung der augenblicklichen Noth ihrer Landsleute zusammen. Da aber voraussichtlich der Anlaß zu ähnlichem Einschreiten öfters wiederkehren mußte, so entschlossen sie sich bald darauf, durch die Stiftung einer deutschen Gesellschaft ihre wohlthätige Wirksamkeit zu einer bleibenden und planmäßigen zu machen: Am zweiten Christtage 1764 Nachmittags vier Uhr constituirte sich mit 65 Mitgliedern im Schulhaus der Cherrystraße zu Philadelphia die oben erwähnte erste deutsche Hülfsgesellschaft der Welt unter dem noch heute bestehenden Namen „Deutsche Gesellschaft von Pennsylvanien“.

Es würde zu weit führen, hier eine specielle Geschichte der Thätigkeit dieser Gesellschaft zu liefern, und so mag die Bemerkung genügen, daß der Verein zunächst ein Gesetz zum Schutze der deutschen Einwanderer durchsetzte, daß er dann den Schulunterricht, die Krankenpflege und die Armenunterstützung unter seine Fittiche nahm und eine deutsche Bibliothek gründete.

Eine Periode der Erschlaffung der Gesellschaft trat während der Jahre 1818 bis 1859 ein, in welcher Zeit die Vereinsverhandlungen sogar in englischer Sprache geführt wurden und die Mitgliederzahl erheblich abnahm. Bei der geringen Fürsorge der Gesellschaft für die Interessen der Einwanderer entstand um jene Zeit eine andere „Einwanderungsgesellschaft“ neben der Deutschen (1843), allein zu Beginn der sechsziger Jahre hob sich der Verein sichtlich und drängte somit das Gedächtniß an jene unrühmliche Zeit mehr und mehr in den Hintergrund. – – –

Die zweitälteste deutsche Hülfsgesellschaft im Auslande ist die „Deutsche Gesellschaft der Stadt New-York“;[3] sie wurde im Jahre 1784 gegründet und wird somit in zwei Jahren das Erinnerungsfest ihres hundertjährigen Bestehens feiern, wozu bereits großartige Vorbereitungen getroffen werden.

Die „Deutsche Gesellschaft von New-York“ verdient unsere besondere Beachtung; denn sie steht in ihrer Organisation und Gliederung als ein rühmliches Beispiel einzig da, und ihre Jahresberichte sind deshalb wahre Fundgruben für alle Auswanderer und Diejenigen, welche sich für die Auswanderung praktisch oder theoretisch interessiren; sie überragen an Ehrlichkeit, Freimuth und guten Rathschlägen alle anderen Monographien über Auswanderung. Die Gesellschaft hat eine vollkommen organisirte Armen- und Krankenpflege, ferner ein Arbeitsnachweisungsbureau, ein Bankdepartement und ein Auskunftsbureau; auch steht sie mit einem vor sechs Jahren gegründeten, von der Gesellschaft subventionirten[WS 2] Rechtsschutzverein in Verbindung. Das im Jahre 1868 begründete Bankdepartement leistet nicht blos den Einwanderern die bedeutendsten Dienste, indem es sich mit Auszahlungen nach Europa, mit Wechselvermittelung mit der neuen Welt, mit dem Arrangement von Passagen über den Ocean und mit Einlösung europäischer Anweisungen und Paketbeförderung befaßt, sondern verschafft auch durch die dafür gezahlten Gebühren und Provisionen der Gesellschaft einen sehr beträchtlichen Theil ihrer Einnahmen.

Die wichtigsten Stützpunkte der Gesellschaft sind Wards Island und ganz besonders Castle Garden. Ersterer Ort dient als vorübergehende Zufluchtsstätte für kranke und mittellose Einwanderer, wenn nicht, was selten vorkommt, deren Rücksendung in die Heimath geboten erscheint. In den letzten Jahren machten wenig Einwanderer von den Wohlthaten dieses Institutes Gebrauch, was im Allgemeinen auf den Vermögensstand und die Gesundheit der angekommenen Einwanderer einen günstigen Rückschluß gestattet. In Castle Garden dagegen müssen alle Zwischendeckspassagiere gelandet werden. Jedem von ihnen wird hier auf vierundzwanzig Stunden ein Unterkommen gewährt, wobei, auch seitens derjenigen, welche nicht von diesem Unterkommen Gebrauch machen, Name, Herkunft und Reiseziel angegeben werden muß. Die Ankömmlinge erhalten dort bereitwillig für ihr weiteres Fortkommen die umfassendsten Informationen und Rathschläge.

Castle Garden wird einzig und allein von der Deutschen Gesellschaft unterhalten, welche dazu seit 1876 eine von der Staatsregierung von New-York von Jahr zu Jahr neu bewilligte, ziemlich geringe Subvention erhält. Früher durften die Einwanderungs-Commissäre von jedem in Castle Garden gelandeten Einwanderer

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Luftpalten
  2. Vorlage: suventionirten

[723] ein Kopfgeld erheben, aber das Bundesgericht hat dieses Gefälle im Jahre 1876 für unconstitutionell erklärt, und so ist die Gesellschaft bezüglich der Erhaltung des Institutes, so lange nicht die Einwanderungsfrage von Congreßwegen geregelt wird, was schon mehrmals angeregt, aber noch nicht zum Austrag gebracht ist, auf ihre eigenen Kräfte angewiesen.

Die Auswanderungs-Commissäre üben ihr mühevolles Amt mit aufopferungsvoller Hingebung unentgeltlich, und nur dadurch ist es bisher möglich gewesen, das für die Sicherheit und den Schutz der Einwanderer so nothwendige Institut am Leben zu erhalten. Wer also nach den Vereinigten Staaten über New-York einwandert, ist heutigen Tages gottlob! nicht rath- und schutzlos. Niemand versäume im Local der „Deutschen Gesellschaft“, Broadway 13, vorzusprechen, wo er bis in die Details hinein jedenfalls mit gewissenhaftem Rathe, wenn nöthig aber auch mit materieller Unterstützung ausgerüstet werden wird.

Ein volles Menschenalter dauerte es, bis mit gleichen Tendenzen, wie die beiden vorigen, die „Deutsche Gesellschaft von Maryland in Baltimore“ entstand (1817), und wieder ein weiteres Vierteljahrhundert, bis, diesmal speciell in dem Sinne, in welchem zur Zeit alle europäischen Hülfsgesellschaften thätig sind, der „Deutsche Wohlthätigkeitsverein in St. Petersburg“ in’s Leben gerufen wurde (1. December 1842), zu dessen Gründung der inzwischen verstorbene Dr. Spieß die erste Idee gab. Wer die Schwierigkeiten kennt, welche sich der Gründung von ausländischen Vereinen und Gesellschaften in Rußland unabweisbar entgegenstellen, der muß die bei der Schöpfung dieses Verbandes entwickelte Energie bewundern, zumal das Gründungsjahr in die Zeit der Machtfülle des gewaltsamen und rücksichtslosen Kaisers Nicolaus fällt. Der Verein besitzt ein Asyl (Armen- und Erziehungshaus) sowie ein Arbeitsmagazin und zeichnet sich durch eine musterhafte Wirksamkeit aus, die sogar vor Opfern an der Substanz des Gesellschaftsvermögens nicht zurückscheut, wenn es gilt, wahrhaft nützlich zu wirken. Es gab eine Zeit, wo auch die Kraft dieses Vereins erschlaffte – in den letzten der sechsziger Jahre – und die Mitgliedschaft im Verwaltungsausschuß nur als eine Brücke für eine Ordensgewährung betrachtet wurde, während die Sorge für die Thätigkeit und für die Mehrung der Kräfte des Vereins wenig galt. Herrn Friedrich von Stein gebührt das Verdienst, die Reorganisation der Gesellschaft angeregt zu haben; freilich wurde dieselbe dann von Anderen mit Umgehung seiner Person durchgeführt. Seitdem haben sich die Einnahmen des Vereins vervierfacht, und das Grund- und Reservecapital hat sich um das Anderthalbfache vermehrt.

Zwei Jahre später (1844) wurden in Paris mit allgemeinen, denen des Petersburger Vereins entsprechenden Tendenzen und in Constantinopel speciell für Hospital- und Krankenzwecke Hülfsvereine gegründet. Subventionen genießt der letztere Verein nicht, hat aber die freie Benutzung des vom Reiche erbauten Krankenhauses, in welchem Diakonissen wirken.

Die beiden folgenden Gründungen entstanden auf englischem Boden: das „German-Hospital in Dalston“ (1845) und die „Deutsche Gesellschaft der Wohlthätigkeit in London“. Ersteres, in gesunder, anmuthiger Gegend und in der Nähe des großen Platzes am Westend von London belegen, ward auf Grund einer unter Protection der verstorbenen Königin Elisabeth von Preußen, Gemahlin des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten, weiter verfolgten Idee am 15. October 1845, dem Geburtstage des Königs, dem Verkehr übergeben. Das Provinzialcomité, welches den ersten Bau und die Verwaltung geleitet, erkannte im Jahre 1860 die Nothwendigkeit einer Vergrößerung desselben und beschloß einen Neubau, der auch im großen Garten des alten Hospitals unter Leitung des Herrn Architekten Grüning und Professor Donaldson im Jahre 1863 begonnen und 1866 vollendet wurde. Das neue Hospital wurde genau 20 Jahre nach der Eröffnung des alten mit 100 Betten dem Verkehr übergeben, denen später 5 Betten hinzugefügt wurden. Das Hospital kostet mit allem Zubehör 400,000 Mark.

Die „Deutsche Gesellschaft der Wohlthätigkeit in London“ ist zwar schon 1817 gegründet, beschränkte aber ihre Wirksamkeit bis zur Statutenänderung 1847 lediglich auf Mitglieder der Gesellschaft selbst. Dieses Institut sowohl wie das zu Dalston ist so bedeutend und großartig, wie die vorerwähnten Schöpfungen, und die Wirksamkeit des Präsidenten des Londoner Vereins, H. Charles Tuchmann, muß, nach den allgemein rühmenden Erwähnungen seiner Person, eine ungemein erfolgreiche gewesen sein.

Von den weiteren Vereinsbildungen in St. Louis und New Orleans (1847) sowie in San Francisco (1854) wollen wir nur noch der letzteren speciell gedenken, weil die „Allgemeine deutsche Unterstützungsgesellschaft von San Francisco“ neben dem „German-Hospital von Dalston“ an Mitgliederzahl und Jahresbudget die größte der Welt ist. Die Gesellschaft zählt doppelt so viel Mitglieder, wie der nach ihr größte Verein von Dalston, bezicht keine Subventionen wie dieser und hat gleichwohl aus sich heraus, trotz ungestörter Wirksamkeit in ihrer statutenmäßigen Thätigkeit, im Jahre 1871 die enorme Summe von 592,000 Mark für die Kriegsverwundeten nach Deutschland senden können. Das Jahresbudget der Gesellschaft erreicht fast dasjenige von Dalston.

Sämmtliche amerikanische und der St. Petersburger Hülfsverein dehnen ihre Wohlthätigkeit auf alle Personen deutscher Zunge, also auch Deutsch-Oesterreicher und Deutsch-Schweizer aus, die Krankenhäuser in Dalston und Constantinopel und der Londoner Hülfsverein auch nöthigenfalls auf Angehörige anderer Nationen. Dasselbe geschieht Seitens der „Deutschen Gesellschaft in New-York“.

Außer den gedachten Hülfsgesellschaften bestehen noch folgende: in Chicago (1854), Zürich (1856), Brüssel, Bern, Basel (1862), Genf, Aarau (1864), Livorno (1868), Malaga, Mailand, Triest (1871), Chur, Lausanne (1872), Neuenburg, Chauxdefonds, Nizza, Boston, Madrid (1875), Stockholm (1876), Wien (1877), Chicago, Winterthur, St. Gallen (1878), Havre (1879), Kairo, Milwaukee (1880), Florenz (1881), Cincinnati, Pittsburg, Cannes, Buenos Ayres, Lima, Rio de Janeiro, Santiago, Porto Alegre, Antwerpen, Lüttich, Ancona, Rom, Genua, Neapel, Lissabon, Bukarest, Jassy, Moskau, Odessa und Barcelona. Hieran schließen sich, seit das deutsche Nationalgefühl auch auf englischem Boden lebendig geworden, d. h. seit dem Jahre 1870, folgende Londoner Institute an: die „Deutsche Herberge in Finsbury-Square“, eine wahre Wohlthat für alle Neuankömmlinge aus Deutschland, das „Deutsche Waisenhaus“, das über eine Jahreseinnahme von 16,000 Mark und ein Stammvermögen von 100,000 Mark gebietet, sowie die im vorigen Jahre gegründeten „Daheim der deutschen Gouvernanten“ („Home of German Governesses“) und „Gordon House“, in welchem deutsche Dienstmädchen billige Unterkunft, Schutz und unentgeltlichen Arbeitsnachweis erhalten.

Um einen Ueberblick über die Wirksamkeit aller dieser Hülfsvereine zu gewähren, lassen wir hier eine kurze Zusammenstellung folgen:

Die Zahl der Mitglieder aller dieser Vereine zusammen betrug im Jahre 1880 18,680, und auf jeden Verein kamen deren durchschnittlich 311. Der Jahresbeitrag schwankt zwischen 4 Mark (einige schweizerische und einige italienische Vereine) und 40 Mark (New-York und San Francisco). Es betrugen im Jahre 1880 die Gesammteinnahmen dieser Vereine 1,303,000 Mark, die Gesammtausgaben 1,162,990 Mark, während das Grundcapital und die Realitäten der Vereine einen Gesammtwerth von 4,187,606 Mark darstellen.

Unter den deutschen Hülfsvereinen im Auslande befinden sich einige, welche noch der Statuten entbehren und nur confidentiell unter Leitung der Consulate verwaltet werden, wie diejenigen in Alexandria und Havre, während andere sich nur noch Unterstützungscassen nennen und noch andere Filialvereine sind. Dagegen haben wieder die größeren Vereine Zweig- und Frauenvereine zur Seite, wie Chicago. Sämmtliche Statuten und Jahresberichte sind in deutscher Sprache abgefaßt, und nur der Verein von Dalston macht eine kaum zu rechtfertigende Ausnahme, zumal das Hospital ausschließlich deutsche Officianten hat und von deutschen Diakonissinnen bedient wird, wie auch das Hospital in Constantinopel.

Mehrere Vereine haben Vertrauensmänner eingesetzt, welche gewählt werden und die Aufgabe haben, durch Erkundigungen möglichst an Ort und Stelle die Berechtigung der Bittgesuche und die Würdigung der Petenten zu prüfen, eine vortreffliche Einrichtung, die besonders in St. Petersburg gut organisirt ist und ihre Früchte trägt. Die amerikanischen Gesellschaften haben dagegen angestellte und bezahlte Agenten und Generalagenten für diese Zwecke.

Fast alle Vereine, auch die in den entferntesten Ländern, klagen in ihren Berichten über die Belästigungen des internationalen [724] Bummlerthums, welches allenthalben unter dem Deckmantel des „armen Reisenden“ an die Wohlthätigkeit appellirt, und vielen Ortes, z. B. in der Schweiz, Odessa, Constantinopel und Barcelona, haben die Vereine beschlossen, sich der Unterstützung solcher Individuen möglichst zu entschlagen und den Nothstand der angesessenen Deutschen in erster Reihe zu berücksichtigen.

Zu den Vereinen, die, abgesehen von der Verfolgung ihrer nächsten statutenmäßigen Zwecke, auch sonst des deutschen Vaterlandes in der Noth mit Wärme sich erinnern, gehört der von Mailand, wo die deutsche Colonie 1871 reiche Sammlungen für die Verwundeten (gegen 14,000 Franken) veranstaltete.

Wir können unseren Bericht nicht schließen, ohne außer den schon erwähnten noch einige Männer zu nennen, die sich um die Vereinsthätigkeit besonders verdient gemacht haben. Zu ihnen gehören – es soll durch diese Namen die Tüchtigkeit vieler Anderer nicht in Schatten gestellt werden – der Botschaftsprediger Fuhle in Constantinopel, Heinrich Blind in Genf und Pfarrer Greber in Kairo, welcher letztere nicht allein den dortigen Verein gegründet, sondern auch zur Erbauung eines deutschen Hospitals im vorigen Jahre durch Sammlungen ein Capital von fast 50,000 Mark aufgebracht und von der ägyptischen Regierung die unentgeltiche Hergabe eines geräumigen Bauplatzes erwirkt hat.

Mögen die deutschen Wohlthätigkeits-Gesellschaften im Auslande zur Ehre des Vaterlandes und zum Heile unserer bedrängten Landsleute in der Fremde nach wie vor kräftig blühen und wachsen, und so auch die aufopferungsvolle Mühe und Treue Derer lohnen, welche dem Ausbau und der Verwaltung dieser humanitären Vereine ihre besten Kräfte widmen!




Blätter und Blüthen.


Die letzte Bärenjagd in Deutschland. Wohl jeder Fremde, der in dem am Fuße des Wettersteins und der Zugspitze gelegenen Partenkirchen Station macht, unternimmt als ersten Ausflug den Aufstieg nach Forsthaus „Vordergraseck“.

Vor Jahren residirte dort der königliche Forstwart Kiendl, welcher volle 32 Jahre im activen Dienste dieses über 30,000 Tagwerke umfassende, zum größten Theil aus Felswildniß bestehende Jagdrevier beging und auch der erste Besteiger der seither für unersteiglich gehaltenen Dreithorspitz (vergl. unseren Artikel „Auf dem höchsten Gipfel des deutschen Reiches“ in Nr. 40) gewesen.

Ihm verdankt die Naturwissenschaft manch interessantes Fundstück, da er bei seinen vielen Besteigungen der Zugspitze stets eifrigster Botaniker war, und entnehme ich auch seinem Tagebuche nachfolgende Schilderung der denkwürdigen Pürsch auf den letzten Bären, welcher in Deutschland im wilden Zustande gejagt wurde.

„Am 28. August 1864 meldete Morgens vier Uhr ein Bauer von Vordergraseck: all sein Vieh sei heute Nacht in voller Flucht von der Alm nach Hause gerannt, und ein Kalb sei am Nacken arg zerbissen und zerkratzt gewesen. Ein erster Pürschgang ließ uns zwar die Spuren des Bären finden, mußte jedoch wegen Mangels an Schützen erfolglos bleiben. Nachdem eine weitere Kuh und ein Kalb zerrissen aufgefunden, gelang es endlich mir sowie dem Forstgehülfen Kopp, jetzt Oberförster in Mittenwald, und den Gehülfen Dillis und Richtstein dem Bären beizukommen.

Von der Brünsthütte im Thaleggerwald gingen wir der Stelle zu, wo ich vorher des Bären Spur gefunden. Auf einmal bemerkte ich, daß mein Hund zurückgeblieben, was er sonst niemals gethan. Ich sah, wie er eine Anhöhe hinauf windete. Wir gingen ihm nach und fanden ein vom Bären zerrissenes Stück Vieh, von dem bereeits ein Theil gefressen worden war. Die Gedärme hingen an den Aesten der Tannen; mir scheint, der Bär hat sich gefreut über sein Jagdglück und seinen guten Fraß. Wir beschlossen nun an dieser Stelle anzusitzen, in der Meinung, der Bär werde noch einmal seinen Hunger stillen wollen. Es war Abends fünf Uhr, als wir alle angesessen waren, die Einen vorwärts, die Anderen rückwärts sehend. Mich traf der vorletzte Posten rückwärts.

Wir mochten ungefähr eine halbe Stunde gesessen sein, als ich hinter einem Gebüsch auf sechszig Schritte den Bären sah, wie er vorsichtig zu der Stelle äugte, wo das Stück Vieh lag. Ich machte mich schußfertig. Während dieser Zeit hatte mein Nachbar Dillis bemerkt, daß ich in Feuerbereitschaft war; anfangs glaubend, ich mache Spaß, erblickte er, sich umsehend, auch den Bären. Dieser that noch einen Schritt vorwärts, sodaß ich eben nur den Kopf sehen konnte, wie er mich scharf mit seinen schwarzen Lichtern anschaute. Ich dachte mir: der Kerl brennt durch; ich schieß’ ihn auf den Kopf. – Gedacht – gethan! O weh! es hat versagt. Der Bär schlug um. Mein Nachbar Dillis wird auch schußfertig, schießt im Umschlagen und schießt ihn an. – Dem Schweiße nach war er waidwund geschossen, und da es bereits Nacht wurde, beschlossen wir, ihn anderen Tages weiter zu verfolgen. Einige zwanzig Schützen, nahmen wir am anderen Morgen die Fährte wieder auf und verfolgten eine starke Schweißspur bis zum Bette des felsigen Ferchenbachs; hier hörte alle Spur auf: er mußte im Bachbett aufwärts gewandert sein in’s Geschröff. Acht Tage lang suchten wir vergebens; der Bär muß in einer der zahlreichen Höhlen des Wettersteins verendet sein; man hat hier nie, ebenso wenig im benachbarten Tirol, wieder etwas vom Bären gehört. Dies meine Erinnerung."
Partenkirchen. Michael Sachs. 



Volksausgabe von Kant’s Schrift „Zum ewigen Frieden“. Vor einiger Zeit (vergl. Nr. 26) erschien in der „Gartenlaube“ ein Artikel über die mehrfach von bedeutenden Geistern ausgesprochene Idee eines für die gesammte menschliche Gesellschaft aufzurichtenden ewigen Friedens. Jener Artikel hat sicherlich zahlreiche Leser zum Nachdenken über den Gedanken eines solchen Friedensideals angespornt, und so möchte denn auch Mancher sich versucht gefühlt haben, Kant’s in jenem Aufsatze wiederholt angeführte Schrift über diese Frage aufzuschlagen, um aus dem Munde des Weisen vom Pregel jenen großen Plan gleichsam mit besonderer Feierlichkeit und Eindringlichkeit zu vernehmen.

Viele aber, welche diesem Impulse folgten, werden voraussichtlich Kant’s Schrift mit Enttäuschung aus der Hand gelegt haben. „Zopf!“ dürfte kurz und vielsagend ihr Urtheil gelautet haben. Und doch würden sie hiermit Kant Unrecht thun. Aber freilich, der bezopfte, altväterisch steife und förmliche Alte will auf seine Weise genommen sein; wir bedürfen Jemandes, der uns mit all seinen kleinen Gewohnheiten bekannt macht, der uns bei ihm einführt.

Das Amt, Kant’s Schrift: „Zum ewigen Frieden“ dem Geschlechte von heute wieder zugänglich und schmackhaft zu machen, hat ein tüchtiger Dolmetscher des großen Philosophen auf sich genommen und in trefflicher Weise verwaltet, Dr. Karl Kehrbach in seiner in der bekannten Reclam’schen Universalbibliothek erschienenen Ausgabe dieser Schrift (Preis 20 Pfennig). Kehrbach ist keiner von jenen mit Recht so berüchtigten Erklärern, die über dem Studium vergangener Zeiten ihre eigene, der Gegenwart angehörige Menschenseele verloren haben. Er hat es vielmehr verstanden, sich in den Geist Kant’s und seiner Zeit zu versenken, ohne darüber die Bedürfnisse und die Empfindungen der Gegenwart zu vergessen. So ist er in vorzüglicher Weise befähigt, den Vermittler zwischen diesen beiden äußerlich so verschiedenen, innerlich aber einander durchaus verwandten Geschichtsperioden zu bilden. Eine mit der ganzen knappen Eleganz modernen Stils geschriebene Vorrede unterrichtet den Leser nicht nur von allen für das Verständniß von Kant’s Schrift wichtigen Umständen der damaligen Zeitgeschichte; sie wirft auch scharfe Streiflichter auf die gegenwärtige Weltlage und die in breiten Schichten des Publicums oder bei den Lenkern der Volksgeschicke über Krieg und Frieden beliebten Ansichten.

Wer unter Kehrbach’s Führung auf’s Neue Kant’s Friedensschrift zur Hand nimmt, dürfte sehr bald erkennen, daß auch in Formen, die der Gegenwart ungewohnt sind, ein gedanklicher Kern zu leben vermag, der noch heute volle Existenzberechtigung hat, er dürfte mit Erstaunen und Freude entdecken, daß dieser Kern für die Gegenwart bereits Blüthen und Früchte getrieben hat, welche der Königsberger Weise voraussah, aber so bald noch nicht erwartet haben mochte, Blüthen und Früchte, die uns eine immer reichlichere Ernte versprechen, in je mehr Geistern und Herzen täglich jenem Gedanken neue Pflanzstätten bereitet werden.


Friedrich Hüttner todt! Soeben erhalten wir die schmerzliche Nachricht, daß Friedrich Hüttner, einer der ältesten Mitarbeiter und treuesten Freunde unseres Blattes, in der Nacht vom 15. auf 16. October von einem schweren Leiden durch den Tod erlöst wurde. Geboren am 9. October 1824 zu Plauen im Vogtlande, widmete er sich frühzeitig dem journalistischen Berufe, sich allzeit unbeirrt zu liberalen Principien bekennend. An den unvergeßlichen Begründer der „Gartenlaube“ knüpfte ihn außer der Mitarbeiterschaft an unserem Blatte noch ein anderes Band. Friedrich Hüttner redigirte vom Februar 1863 bis zum August 1864 den im E. Keil’schen Verlage erscheinenden „Dorfbarbier“, bekanntlich ein damals vielgelesenes illustrirtes Volksblatt, welches sich die Aufgabe stellte, in ernster und humoristischer Weise für die Verbreitung freisinniger Anschauung zu wirken. Seit dem Jahre 1868 war Hüttner verantwortlicher Hauptredacteur des „Leipziger Tageblattes“, in welcher Stellung er bis zu seinem Tode seltene Pflichttreue und anerkennenswerthes Geschick bekundete. Im Herzen der Leipziger Bevölkerung wird sein Andenken noch lange bewahrt bleiben.


Kleiner Briefkasten.

Rittergutsbesitzer von F. in der Rheinprovinz. Sie suchen für Ihre Nichte ein gutes Institut, in welchem dieselbe sich nach ihrer Schulzeit weiter ausbilden könne? Wir freuen uns, Ihnen ein solches, welches in der Nähe Ihres Wohnsitzes gelegen ist, mit voller Ueberzeugung empfehlen zu können – das Victoria-Lyceum in Köln. Dasselbe, unter dem Protectorate der deutschen Kronprinzessin stehend, ist eine Lehr- und Erziehungsanstalt, mit welcher zugleich ein Pensionat für eine kleine Anzahl junger Damen aus den höheren Ständen verbunden ist. Der Unterricht setzt da ein, wo die höhere Schule ihre Aufgabe vollendet hat. Es werden den allgemeinen Lehrgegenständen noch Kunstgeschichte, italienische Sprache, Zeichnen und Malen, Musik, weibliche Kunstarbeiten und, auf besonderen Wunsch, auch die classischen Sprachen hinzugefügt. In ausgezeichneter Weise wird auch durch gesunde, reichliche Kost, durch Spaziergänge und Turnen, durch Tanzen, Reiten, Schwimmen, Schlittschuhlaufen das körperliche Befinden der Pensionärinnen gepflegt und gefördert, wie denn auch die Lage des Instituts, seine Räumlichkeiten und Einrichtungen in jeder Hinsicht vorzüglich sind. Tüchtige Lehrkräfte wirken an der Anstalt, vor Allem aber verdient die feingebildete Vorsteherin des Victoria-Lyceums, Frau Prof. Lina Schneider, in jeder Weise das Vertrauen, das ihr von allen Seiten entgegengebracht wird. Wenden Sie sich also vertrauensvoll an die vorgenannte Dame! Adresse: Jahnstraße 19 in Köln am Rhein.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Manchem Leser dürfte die folgende genaue Beschreibung der einzelnen Rassen nicht uninteressant sein:
    Der Carrier ist eine Taube von imposanter Figur; trotz seines breiten Rückens und der starkknochigen, eckigen Formen, macht er in Folge seiner hohen Ständer und seines verhältnißmäßig dünnen und langgestreckten Halses einen höchst eleganten Eindruck. Das meist einfarbige Gefieder liegt knapp und eng an dem Körper an, und markiren sich daher namentlich die volle, breite Brust, sowie die Schulterknochen ganz besonders, wodurch es auch den Anschein gewinnt, als ob die sich eng anschmiegenden Flügel tief in die Brust hineinhingen. Besonders auffallend erscheint der Kopf dieser Taubenart, der rechtwinkelig gegen die Halswirbel angesetzt ist und rücksichtlich seiner anderweitigen Eigenschaften, auch im Vergleiche zu der Gesammtgröße des Vogels gewissermaßen klein erscheint. Der Kopf zeigt zwar eine hohe, aber doch stark geneigte schmale Stirn, welche letztere mit dem kräftigen, bis zum Mundwinkel fünfundzwanzig bis dreißig Millimeter langen Schnabel fast eine gerade Linie bildet. Der Schädel ist geradlinig, langgestreckt und fällt zum Nacken hin eckig ab. Die Nasenhaut, der Mundwinkel, auch der Unterschnabel tragen einen runzligen, aufgerichteten, warzigen Fleischauswuchs, der am Oberschnabel überhängt und etwa auf der Hälfte desselben spitz ausläuft. Ebenso umschließt das feurige, mit rothgefärbter Iris versehene Auge ein breiter Warzenring, der bei älteren Tauben mitunter das Auge überhängt.
    Der Tümmler kommt in den verschiedensten Varietäten vor und zeigt in seiner äußeren Gestalt seinen ganz beständigen Typus: im Allgemeinen unterscheidet man: kurzschnäblige und langschnäblige Tümmler, und nach Art ihres Flugvermögens: Ueberschläger oder Bugler – Dauer- und Hochflieger. Allen diesen Arten gemeinsamt ist eine breite Brust, ein volles Gefieder, edle Haltung, lange Flügel, welche beinahe bis zur Schwanzspitze reichen. Das Auge ist groß, die Iris gewöhnlich hellfarbig. Fein gezüchtete Arten haben stets eine beinahe wasserhelle, wenig roth angelaufene Iris, sogenannte Glasaugen. Häufig ist das Auge auch mit einem rothgefärbten Fleischring umgeben. Der Kopf, der auf einem schlanken Halse ruht, ist meist klein und kurz, erscheint eckig, zeigt bei hoher und steiler Stirn einen flachen Scheitel. Der Schnabel, welcher bei kleinen Arten, z. B. beim Weißkopftümmler, bis zum Mundwinkel nur achteinhalb Millimeter mißt, hat dagegen bei den großen Spielarten, z. B. beim Danziger Wolkenstecher, eine Länge von dreiundzwanzig Millimeter.
    Der Dragon, wenngleich nur ein Kreuzungsproduct beider vorbeschriebenen Arten, kann als ein constant gewordener Taubentypus betrachtet werden; er zeigt im Allgemeinen die Figur des Carriers, aber die weicheren Formen des Tümmlers.
    Aus Dragon und weiterer Verpaarung mit dem Tümmler sind die Antwerpener Brieftauben hervorgegangen; auch ihnen steht die Abstammung auf der Stirn geschrieben, und erinnern sie stets mehr oder weniger an eine ihrer Stammrassen.
    Das Mövchen ist im Ganzen kleiner als der Tümmler; es erscheint von Gestalt eckig, wozu namentlich das hervortretende, meist dunkel gefärbte Auge, die vorstehenden Augenknochen, ein breiter Schädel, welcher in seinem hinteren Theil hervorspringt, beitragen. Eine besondere Zierde trägt das Mövchen in dem Jabot auf der Brust, einer Federkrause, welche unter dem starken, kurzen Schnabel beginnt und tief am Körper herunterreicht.
    Die Lütticher Brieftaube, welche, wie ihre Antwerpener Schwester, ihre Abstammung nicht verleugnet, zeigt oft noch die Ansätze zu diesem Jabot, ja weist dasselbe auch mitunter in ausgebildeter Form auf; ebenso trägt sie häufig eine Kappe.
  2. Besonders stark waren die Bedrückungen auch in Württemberg, und aus diesem Lande gingen Massenzüge von Auswanderern nach Amerika ab, das erste Mal 1709, dann wieder 1717. In einzelnen Jahren, wie 1711 und 1716, war die Auswanderung sehr stark; im Herbste 1749 langten 25 Schiffe mit deutschen Einwanderern in Philadelphia an, und der Reisende Kalm veranschlagt die damalige Zahl derselben auf 12,000. Auch 1750 und 1755 kamen wieder viele Schiffe mit Auswanderern, und im Jahre 1752 waren unter den 190,000 Bewohnern des Landes 90,000, im Jahre 1755 unter 220,000 fast die Hälfte Deutsche.
  3. Zur Bildung der „Deutschen Gesellschaft in New-York“ traten am 22. August 1784 dreizehn Männer zusammen, darunter zwei ehemalige Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft von Pennsylvanien“. – Ob die „Deutsche Einwanderungsgesellschaft“ in Philadelphia noch besteht, konnte der Verfasser dieses Artikels nicht in Erfahrung bringen. Ebenso wenig ist aus den Quellen der amerikanischen Hülfsgesellschaften zu ersehen, ob die im Jahre 1766 in Charlestown gegründete „Deutsche Gesellschaft von Süd-Carolina“ sich noch erhalten hat, welche demnach älter wäre, als diejenige von New-York, oder ob sie sich aufgelöst hat. Eine Anfrage des Verfassers an die Adresse dieser Gesellschaft, deren in dem Seidenstricker’schen Werke „Geschichte der Deutschen Gesellschaft von Pennsylvanien“ Erwähnung geschieht, blieb ohne Antwort, und die Berichte der Hülfsgesellschaften von Nordamerika erwähnen zwar aller anderen Hülfsgesellschaften, welche jetzt bestehen, nicht aber derjenigen von Charlestown.

Anmerkungen (Wikisource)