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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465]

No. 28. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


20.

Lucile hatte sich nach der stürmischen Scene wie ein trotziges Kind in ihre Zimmer eingeschlossen und war auch nicht zum Thee im Salon erschienen. Die Kammerjungfer hatte eine Platte voll Erfrischungen aus der Küche holen und ihrer Herrin für den Rest des Abends Gesellschaft leisten müssen – auch sie war nicht wieder zum Vorschein gekommen. So hatte die kleine Frau nicht erfahren, daß der Hausarzt auf Baron Schilling’s Wunsch noch spät am Abend dagewesen war, um José ein beruhigendes Mittel zu verschreiben, weil sich die fieberhafte Aufregung des Knaben eher steigerte, als verminderte.

Donna Mercedes hatte sein kleines Bett in ihr Schlafzimmer tragen lassen, um ihn selbst zu überwachen. Er war auch unter der Wirkung der Medicin eingeschlafen, zur Beruhigung Aller. Aber nun, gegen Mitternacht, wachte er plötzlich auf. Er glühte, als schlügen Flammen aus dem Bettzeug über ihn hin, und sein heftig schmerzender Kopf lag schwer wie Blei auf dem Kissen. Mühsam hob er die Lider und sah sich fremd um – er hatte ja noch nie hier geschlafen.

Dort an der gegenüberliegenden Wand stand Tante Mercedes’ Bett; sie lag unausgekleidet auf der weißatlassenen Steppdecke und schlummerte. Das ganze Zimmer schwamm in einem sanften Rosaschein, den die Glasampel an der Decke verbreitete. Er färbte die weiße Spitzenwolke, die vom Betthimmel herab das Lager der schlafenden Frau umfloß; er weckte ein feines Sprühen aus dem steinfunkelnden Geräth des Toilettentisches, glitt durch die offene Thür schräg über das blanke Parquet des anstoßenden großen, unbeleuchteten Salons und ließ drüben den breiten Pfeilerspiegel zwischen den Fenstern wie einen bleichen Silberstreifen aus der Dunkelheit dämmern.

Auch die Pflanzengruppe, die, hart neben diesem Spiegel, in dem Fensterbogen Tante Mercedes’ Schreibtisch flankirte, reckte ihre langen Wedel und Schwertblätter in das blaßrothe Licht hinein – dem fieberumflorten Blicke des kranken Kindes erschienen sie wie riesige, krallenhaft gekrümmte Finger, die zusehends wuchsen, um nach dem Bette herüber zu greifen.

Der Knabe schloß die Augen vor Furcht – in der entsetzlichen Dachkammer war ja auch Alles lebendig geworden, was er angesehen. Und jetzt knisterte es auch drüben in der stillen, dunklen Fensterecke, als werde im Vorüberstreifen ein bewegliches Stück Papier berührt – war das die große Maus wieder?

Er hob den Kopf vom Kissen und starrte auf den Fußboden jenseits der Thür, über den das gefürchtete Thier hinlaufen mußte – da trat ein langer, hellbekleideter Menschenfuß auf einen der Parquetwürfel, die der rothe Lichtfleck spiegelnd hervorhob – dieser Fuß ging lautlos auf den Zehen. …

Instinctmäßig sah das Kind empor und suchte den Kopf des Menschen, der da aus der Fensterecke kam – und es sah in ein bärtiges, ihm flüchtig zugewendetes Gesicht auf schattenhafter Männergestalt; es sah den kurzgeschnittenen, starren Haarschopf, der hartlinig tief in die Stirn ging, und drunter die herabhängenden, buschigen Brauen, unter denen so grimme Augen funkelten – und entsetzt fuhr der Kleine mit dem Kopfe unter die Bettdecke, jeden Augenblick fürchtend, die große, braune Hand des Mannes falle auf ihn nieder, um ihn zu züchtigen.

Er wagte nicht zu schreien, nur ein angstvolles Stöhnen rang sich aus der kleinen schwerathmenden Brust. Aber schon bei den ersten Lauten fuhr Mercedes aus ihrem leichten Schlummer empor und eilte an das Bett des Kindes. Sie zog ihm die Decke vom Gesicht und erschrak heftig über die brennenden Händchen, die krampfhaft fest ihre Finger umklammerten, über den verstörten Blick, mit welchem der Knabe ihr zuflüsterte: „Lasse den schrecklichen Mann nicht herein, Tante – Du weißt, er will mich schlagen. – Klingle schnell! Jack soll kommen und Pirat auch.“

„Kind, Du hast geträumt,“ sagte sie bebend – wie ein Feuerstrom ging die Fiebergluth von dem kleinen Körper aus – und jetzt schnellte der Knabe empor; er stieß sie von sich. „Jack, Pirat!“ schrie er mit gellender Stimme.

Donna Mercedes riß an der Klingel. Die schwarzen Diener erschienen voll Bestürzung, und bald darauf stand der herbeigerufene Arzt mit bedenklichem Gesicht am Bette des Kindes, das im vollsten Delirium fort und fort nach Hülfe rief, um den „schrecklichen Mann“ fortzujagen.

Damit begann eine furchtbare Zeit. …

Der Tod stand lange am Bette des kleinen José und drohte, das Geschlecht der Lucians in seinem letzten Sproßen für immer auszulöschen. Oft schien es, als recke er seinen Arm bereits hinüber bis an das junge, wildschlagende Herz; dann lag das Kind in lethargischem Zustande, und tiefe Schattenzüge verwischten bis zur Unkenntlichkeit das frühere Gepräge des schönen, blondlockigen Köpfchens. Die Aerzte boten Alles auf, den Knaben dem Leben zu erhalten, und es war seltsam zu sehen, wie sie einstimmig und instinctmäßig sich gerirten, als gelte es, ihn einzig und allein zu retten für die junge Frau mit dem südlichen [466] Bronzegesicht, die thränenlosen, starren Blickes, mit fest zusammengepreßten Lippen, ihre Berichte entgegennahm, die nie klagte, aber meist Speise und Labung schweigend zurückwies und Tag und Nacht nicht von dem Krankenbette wich.

Die kleine Mama dagegen, die oft mit dickverschwollenen Lidern, in vernachlässigter Toilette am Fußende des Bettes kauerte und unaufhörlich flüsterte und gesticulirte, war ein wahrer Schrecken für die Aerzte. Angesichts des bewußtlosen Kindes brach das Muttergefühl leidenschaftlich durch, aber auch zugleich der ganze Egoismus dieser Frauenseele. Sie wollte die Angst, die sie folterte, nicht ertragen; sie wollte beruhigt sein; sie peinigte die Aerzte mit Fragen, und doch nahm sie jedes besorgte Achselzucken, jeden noch so verhüllten Hinweis auf die Gefahr wie eine beleidigende Schonungslosigkeit auf. Sie warf sich jammernd über den kleinen Kranken hin und erging sich in maßlosen Schmähungen und Vorwürfen gegen diejenigen, die ihr Kind nach Deutschland, in den spukhaften Schillingshof geschleppt und in eine solche Lebensgefahr geflissentlich gebracht haben sollten. Mit ihrem Gebahren füllte sie den Leidenskelch für Mercedes bis an den Rand – sie mußte selbst überwacht werden, wie ein Kind, und erschwerte die Pflege, die ohnehin eine aufreibende war, da auch Deborah in ihrem unbeherrschten Schmerz durchaus nicht als Stütze gelten konnte.

Die Schwarze litt doppelt. Die Leute des Hauses behaupteten einstimmig, das Kind müsse sterben – Adam sei ihm erschienen. Ein panischer Schrecken hatte Alle gepackt, seit die gellenden Hülferufe des Knaben Corridor und Flurhalle erfüllt – Niemand mochte sich Nachts, selbst bei hellster Beleuchtung, bis an die Laokoongruppe, nächst der Thür des Salons mit den Holzschnitzereien, wagen, und Deborah zitterte am ganzen Leibe bei dem leisesten Geräusch im anstoßenden Zimmer; sie warf die Schürze über den Kopf, um nicht zu sehen, wie der „schreckliche Mann“ plötzlich auf die Schwelle trete, um die Seele des Lieblings zu holen.

In Haus und Garten des Schillingshofes herrschte Todtenstille, die Baron Schilling selbst behütete und überwachte. Keine rauhe Stimme, kein hart auftretender Fuß durfte laut werden; man hatte alle Klingeln im Erdgeschoß abgenommen; das Geräusch des rollenden und rasselnden Kieses auf den Wegen des Vorgartens war gedämpft durch aufgeschüttetes Stroh; kein plätschernder Fontainenstrahl sprang aus den geschlossenen Wasserröhren, und der lärmende Pirat wurde Tag und Nacht ist strenger Haft gehalten.

In diesen schweren Tagen stand das Atelier völlig verwaist; Baron Schilling verließ das Säulenhaus nicht mehr. Er war in der ersten Nacht fast mit dem Arzte zugleich erschienen, und seitdem hatte er ein Hinterzimmer des Oberbaues bezogen, um stets bei der Hand zu sein.

Anfänglich kam er nur auf Stunden in das Krankenzimmer; er fühlte sehr gut, daß die schweigende Pflegerin in ihrer namenlosen, wenn auch heroisch niedergekämpften Angst nicht beobachtet sein wolle. Nur ganz allmählich verlängerte sich sein Aufenthalt am Bett des Kindes, und er stieß auf keinen Widerspruch; die Kräfte der Pflegerin waren nahezu aufgerieben, und sie mochte einsehen, daß sie eine zuverlässigere Stütze nicht finden konnte, als in dem Manne, der mit Augen voll Schmerz und tiefer Zärtlichkeit ihren Liebling behütete. Sie empfing ihn nicht mehr mit finster abweisenden Blicken, wenn er eintrat; seine nahenden Schritte machten sie nicht mehr emporschrecken aus der Stellung, die sie oft stundenlang auf dem Teppich knieend vor dem Krankenbett einnahm. Sie hatte sich neulich gegen jegliche Art des Zusammengehens verwahrt, und doch kam und ging er jetzt in Folge stillschweigenden Einvernehmens und wachte des Nachts bei dem Kranken, während er darauf bestand, daß die tieferschöpfte Pflegerin sich in der anstoßenden Kinderstube zur Ruhe niederlege – und sie fügte sich; angesichts des furchtbaren Unglücks, das über sie hereinzubrechen drohte, versanken alle Bedenken, die sonst die Oberhand in ihrer stolzen Seele hatten.

Es fiel fast nie ein Wort zwischen ihnen, und doch kamen sich Beide näher in der gegenseitigen Beurtheilung. Er hatte es freilich mit einer Sphinxnatur zu thun, die oft genug seiner Prüfung entschlüpfte, um ihm plötzlich wildfremde, räthselvolle Züge zuzuwenden. So oft er den Blick vom kleinen Krankenbett hob, wurde ihm ganz märchenhaft zu Sinne. Als hätten Gnomenhände einen ganzen Regen ihrer unterirdischen Schätze verstreut, um eine schöne Frau mit kühlem Feuer zu umspielen, so funkelte der Steinschmuck an allem Geräth; selbst vom kleinsten Trinkbecher sprühte Rubinenlicht wie aus halbversteckten rothglühenden Koboldaugen. Und die weiße Duftwolke mit ihrem eingewobenen köstlichen Blumen- und Blättergerank, die über den weißen Atlas, die Spitzenkanten der Polster herabfloß, die farbenglänzenden Matten auf dem Parquet, die Sitzmöbel, aus kostbaren Hölzern so luftig aufgebaut, als sollten sie auf ihren Seidenkissen nur leichte Feengestalten tragen – das Alles war aus einer mit sybaritischer Pracht ausgestatteten Pflanzervilla über das Meer hergeschwommen, um wenigstens einen Raum des deutschen Hauses für die verwöhnte Tochter des Südens heimisch und erträglich zu machen.

Für Donna Mercedes war der raffinirteste Luxus sichtlich die Lebenslust, das Element, das ihre ätherische Erscheinung vom ersten Athemzuge an auf seinen Wogen gleichsam hoch über der Erde gewiegt und getragen, und dieselbe Frau hatte es gleichwohl verschmäht, in Zeiten der Gefahr auf ihre sturmgeschützte Besitzung zu flüchten; sie hatte sich in andere Wogen geworfen, in die brausende Brandung des erbitterten Kampfes; das verwöhnte Ohr war nicht zurückgeschreckt vor dem Schlachtendonner, es hatte auf die Signale, die rauhen Commandos lauschen gelernt; durch Dornen und Gestrüpp waren die zarten Füße gewandert; die schlanken, ringgeschmückten Finger hatten kräftig die todbringende Waffe umspannt, und das atlasschimmernde Lager war mit der harten Erde, dem groben Soldatenmantel vertauscht worden – statt der Spitzenwolke des Betthimmels hatte sich das niederschauernde Nachtgewölk über die am Lagerfeuer Rastende hingebreitet.

Ja, sie war rücksichtslos und unbeugsam hart gegen den eigenen verweichlichten Körper, angesichts großer Fragen, wie sie unerbittlich, ja fanatisch gehässig Denen gegenüber stand, die „unberechtigt“ ein menschenwürdiges Dasein erstrebten. „Menschen?!“ hatte sie neulich im Hinblick auf die aufrührerischen Schwarzen mit empörendem Hohn gerufen – man hätte damals glauben müssen, sie habe auch zu jenen raffinirt grausamen Plantagenherrscherinnen gehört, die das Fleisch ihrer Sclavinnen als Stecknadelpolster benutzen sollten, und doch – kamen die sanften, gütevollen Laute, mit denen Jack und Deborah stets und immer angeredet wurden, wirklich von den stolzen Lippen?... Deborah war in Folge des Schreckens und Kummers selbst erkrankt; sie lag in der Kinderstube und sträubte sich in kindischer Furcht gegen das verordnete Medicament. Baron Schilling hörte, wie ihr Donna Mercedes besorgt, in unerschöpflicher Geduld und Langmuth zuredete – sie litt es nicht, daß eine andere Hand als die ihre der „alten, treuen Dienerin“ die Labung reiche, ihr das Lager aufschüttele.

Sie zeigte ferner offenbaren Haß gegen das Germanenthum, seit sie deutschen Boden betreten hatte, deutsche Luft athmete, aber sie las und kaufte fast nur deutsche Bücher; auf dem Flügel lagen Bach, Beethoven und Schubert, und verschiedene Schriftstücke auf dem Schreibtisch bewiesen, daß sie vorzugsweise in deutscher Sprache schreibe. Diesem Arbeitstisch kam Baron Schilling nur nahe, wenn einer der Aerzte an demselben saß, um ein Recept zu schreiben. Da wurde flüsternd über den Zustand des kleinen Patienten verhandelt, manchmal vielleicht einen Augenblick länger als nöthig, denn die Fensterecke hinter der grünen Seidengardine war höchst interessant. Donna Mercedes hatte auch hier in eng gezogener Schranke ein kleines Stück ihres amerikanischen Heims aufgebaut.

Da hing das Oelbild ihrer stolzen spanischen Mutter, einer undinenhaften Schönheit wie die Tochter, das herabfluthende „Zigeunerhaar“ an den Schläfen leicht mit Perlenschnüren zurückgenommen, die feine, biegsame Gestalt, nach Fürstenart, von schwerem violettem Sammet umbauscht; Perlenspangen rafften da und dort die Faltenwucht zusammen. Ja, der Urtypus des Hochmuths war sie gewesen, diese zweite Frau, die sich der imposant schöne Major Lucian, nachdem er im Leben schon halb und halb Schiffbruch gelitten, noch zu erobern gewußt hatte. Seine Photographie hing unter dem Oelbild, daneben sein Sohn Felix, beide Portraits umringt von herrlichen kleinen Landschaftsbildern in Wasserfarben, Ansichten von Lucian’schen Besitzungen vor dem Kriege. Und auf dem Schreibtisch selbst, inmitten [467] kostbarer Geräthschaften von Edelmetall, stand in ovalem Bronzerahmen die Photographie eines jungen Mannes, ein Kopf von großer Schönheit, aber ziemlich unbedeutend im Ausdruck.

„Der arme Valmaseda“ – hatte Lucile, Baron Schilling’s Blick nach dem Bilde verfolgend, in ihrer medisanten Art eines Tages geflüstert – „er war ein netter, ein bildhübscher Mensch, aber – es war doch gescheidt von ihm, zu sterben. Wissen Sie – ein großes Licht war er gerade nicht. Mercedes hatte sich mit fünfzehn Jahren verlobt; da paßten sie noch zusammen, aber nachher that sie ja so furchtbar geistreich, und da konnte der arme Schelm nicht mehr mit – in der Ehe hätte das kein Jahr lang gut gethan – mein Gott, was sage ich – nicht vier Wochen! Die brave Feindeskugel kam gerade recht, noch in seine Bräutigamsillusionen hinein. Mercedes ist an seiner Seite gewesen und hat ihn in ihren Armen aufgefangen. ‚Ein himmlisches Sterben!’ soll er gesagt haben.“

An den Verhandlungen in der Fensterecke betheiligte sich Donna Mercedes später nicht mehr – aus Furcht vor der eigenen Schwäche, die sie allmählich überkam; sie ließ sich deshalb die Aussprüche der Aerzte durch Baron Schilling berichten.... Es war ein seltsam neues Gefühl, das sie immer mehr beschlich, das Bewußtsein eines Haltes, der ihr von außen kam. Bis dahin hatte sie sich stets nur auf die eigene Kraft verlassen und ihre Selbstständigkeit eifersüchtig gewahrt wie ihre Tugend; so hatte sie nie gewußt, was es heiße, Schutz zu genießen – jetzt fühlte sie ihn als eine Wohlthat. Sie sagte sich, daß der Mann, der sich mit ihr in den Krankenwärterdienst theilte, aufmerksamen Auges zugleich ihr Wohl und Wehe behüte, aber das stolze, verächtliche Lächeln, mit welchem sie gewohnt – war, unbegehrte Theilnahme zurückzuweisen, spielte ihr dabei nicht um die Lippen.... Wenn der nichts weniger als schöne, aber kraftvoll stattliche Mann mit dem Ausdruck stillen Ernstes am Krankenbett saß, dann schöpfte sie Trost aus seinem Anblick, dann war ihr, als sei ihr Liebling geborgen, als müßten alle finsteren Gewalten zurückweichen. Sie wurde unruhig, wenn er fortging, und athmete freudig klopfenden Herzens auf, sobald sie seinen nahenden Schritt draußen im Corridor hörte. Sie dachte nicht mehr an die Frau, die in Rom betete, um die verhaßten Eindringlinge möglichst schnell loszuwerden, an diese Klosterschülerin, welche im finsteren Aberglauben ihr eigenes Heim mit spukhaften Seelen bevölkerte und alle Logirräume bis auf die verrufene Zimmerflucht verschlossen hatte, jedenfalls, damit der unsaubere Geist den ungewünschten Besuch austreibe.

Etwas Unheimliches hatte diese Erdgeschoßwohnung allerdings auch für Donna Mercedes – das waren die mächtigen, tief auf den Boden herabgehenden Fenster. Die Brüstung zwischen den Zimmern und der draußen hinlaufenden Säulenhalle war so niedrig, wie kaum ein Balcongeländer, das man mühelos übersteigen kann. Der erstickenden Hitze wegen durften Abends die inneren Läden nicht vorgelegt werden; die Fensterflügel des Krankenzimmers standen auf Anordnung der Aerzte offen, und damit kein helles Licht von außen hereinfalle, hatte Baron Schilling das Anzünden der Gasflammen im Vorgarten verboten. Es herrschte somit gähnende Finsterniß unter der Wölbung der Halle; nur ganz fern glühten drüben auf der menschenleeren Promenade vereinzelte Gaslichter; der Nachtwind zog schwach seufzend an der Säulenreihe hin, und vom Klostergut kamen die Fledermäuse herüber und schwammen scheu in dem schwachen, grünen Licht, das die kleine Flamme durch den Lampenschirm des Krankenzimmers hinauswarf.

Aber dieser blasse Schimmer, den die Nacht draußen schon aufsog, ehe er nur die nächste Säule erreichte, er hob auch andere Erscheinungen aus der Finsterniß, und das war unheimlich, visionartig. Donna Mercedes sah zweimal dasselbe, als sie, regungslos im Dunkel hinter dem Spitzenbehang ihres Bettes sitzend, das phantasirende Kind behütete. Kein Schritt war draußen auf dem Steingetäfel hörbar geworden; nicht das leiseste Geräusch hatte Menschennähe ahnen lassen, und doch hatte sich plötzlich ein Antlitz über die Brüstung hereingeneigt, ein todtenweißes, schönes Frauengesicht mit Zügen wie in Stein gemeißelt, mit dunkelglühenden Augen, die starren, verzehrenden Blickes auf das kranke Kind gerichtet waren, als wollten sie ihm die Seele aussaugen. Bei dem unwillkürlichen Emporschrecken der Pflegerin aber war das Gesicht jedesmal verschwunden, als sei es von einer schwarzen Tafel weggelöscht worden.

Donna Mercedes hatte das weibliche Dienstpersonal des Schillingshofes nie beobachtet, aber sie meinte, dieses in Schmerz und Gram förmlich versteinerte Antlitz müßte ihr doch bei der Begegnung nothwendig aufgefallen sein. Sie forschte jedoch nicht nach, wie sie überhaupt während der ganzen schweren Prüfungszeit nur über das Allernöthigste sprach.

So waren viele Tage in unbeschreiblicher Angst und Aufregung verstrichen – nun eine furchtbare Nacht noch, in welcher man jeden Augenblick fürchtete, den schwachen Kindesodem für immer verlöschen zu sehen, dann brach ein rosig schöner Morgen an, und das goldene Tageslicht flammte auf, um ein junges Menschenkind wiedergewonnen in seine lebenathmende Fluth zurückzunehmen – der kleine José war gerettet.

Der Jubel darüber war groß. Die beiden Schwarzen geberdeten sich wie toll, und Lucile war in ihrer Freude so extravagant, wie vorher in ihrer Angst. Zum ersten Mal wieder sorgsam frisirt, in hellseidenem Kleide, die Locken voll frischer Rosen, einen Rosenstrauß an der Brust und in den Händen, kam sie geschmückt und grazienhaft wie eine Bajadere früh in das Krankenzimmer geflogen und machte Miene, sich stürmisch über den Knaben hinzuwerfen und sein Lager mit den duftenden Blumen zu bestreuen; allein die eben anwesenden Aerzte verbaten sich energisch derartige Freudenausbrüche, was die kleine Frau durchaus nicht begreifen wollte und als gänzliches Mißverstehen ihrer Zärtlichkeit sehr übel nahm. Sie kehrte ihnen trotzig den Rücken und lief schmollend hinaus – die Gefahr war vorüber – nun konnte man auch wieder naiv und unartig sein.

Donna Mercedes war tagsüber standhaft geblieben; sie hatte den Thränen des Glückes, der unaussprechlichen Erleichterung vor den Augen der Anderen gewehrt. Aber nun war es wieder Abend geworden; Baron Schilling hatte sein Atelier aufgesucht; Lucile und Paula tranken den Thee in den Gemächern der kleinen Frau, und Deborah war hinübergegangen, um dabei zu bedienen.

Es war um die neunte Stunde, aber schon herrschte die Finsterniß der tiefen Nacht – der Himmel hing voll Regenwolken. Nur hinter der weit drüben liegenden Häuserreihe der Straße schoß dann und wann die grelle Lohe des Wetterleuchtens empor, um machtlos in den düfteschweren, schwülen Lüften zu verlöschen.

Der kleine José schlief – es war der traumlose Schlaf der tiefsten Erschöpfung; ein in den Kissen ruhender Engel von Wachs hätte nicht lebloser daliegen können, als dieses Kind in seinem spitzenbesetzten, weißen Nachtkleidchen.... Donna Mercedes kniete an seinem Bette und hatte die Rechte leise auf das kühle, fieberlose und schlaff hingesunkene Händchen gelegt. Nun war sie allein mit ihm; nun konnte sie ihre Augen wieder weiden an dem Gesichtchen unter dem blonden Gelock, wenn es auch noch so unheimlich vertieft und dunkel in den Augenhöhlen, so abgezehrt und blutlos wächsern dalag – es sollte sich ja wieder runden und aufblühen zu seiner früheren Lieblichkeit. – Sie grub die Stirn in die weiße Decke, die den schwachathmenden kleinen Leib halb verhüllte, und ein lautloses, aber heftiges und befreiendes Weinen durchschütterte ihren Körper.

Der Nachtwind kam über die Rosenbäume des Vorgartens her; er zog warm und balsamisch durch das Zimmer und blähte die Vorhänge auf – die Knieende hörte, wie sich die Seidenfalten im Zurücksinken an einander rieben. Es klang aber auch, als schleife ein Gewand draußen über die Steinmosaik der Säulenhalle, und plötzlich tastete eine Hand auf der Fensterbrüstung....

Donna Mercedes fuhr empor – und da war das weiße Gesicht wieder. Eine schwere, graue Flechte wie ein Fürstendiadem über der Stirn, um die Schultern einen zurückgesunkenen schwarzen Shawl, der jedenfalls das Haupt vermummt gehabt, stand die fremde Frau da und krampfte die Hände um den Holzrahmen des Fensters.

„Gestorben?!“ stöhnte sie in wildem, halb ersticktem Aufschrei.

Die Knieende erhob sich – dieser Anblick, der Stimmklang, der sich unbeherrscht einer schmerzgefolterten Menschenbrust entrungen, erschütterten sie. Lebhaft verneinend schüttelte sie den Kopf und wollte auf das Fenster zugehen – sofort wich das [468] Gesicht draußen in die Nacht zurück; sie sah noch, wie sich die Brauen über den funkelnden Augen in finsterer Zurückweisung falteten, wie die großen, weißen Hände in wilder Hast das Tuch über den Kopf zogen – dann war die Fremde wie ein Phantom verschwunden.

Diesmal wollte und mußte Donna Mercedes Aufklärung haben. Sie eilte in die anstoßende Kinderstube; dort brannte kein Licht, und die Fenster standen offen. Sie bog sich weit hinaus, allein es war unmöglich, in der totalen Finsterniß irgend einen Gegenstand zu sehen; nur einen Augenblick später hörte sie das eiserne Gitterthor drüben an der Promenade leise klirrend zufallen.

„Nun weiß ich’s ganz genau – es war ein Mann –“ sagte plötzlich eine männliche Stimme ganz in ihrer Nähe.

„Daß Du doch immer streiten mußt!“ fiel eine andere ärgerlich ein – sie gehörte dem Bedienten Robert. „Willst Du nicht auch behaupten, es sei der todte Adam gewesen? – Eine Frau war’s, und dabei bleibt’s – hab’ ich sie doch vor ein paar Tagen beinahe erwischt.“ –

Das Fenster, an welchem Donna Mercedes stand, war das letzte der Zimmerreihe; es stieß an die Flurhalle und befand sich nahe der Hauptthür, in welche die Männer soeben getreten sein mußten.

„Wenn ich nur wüßte, was sie eigentlich will,“ fuhr der Bediente fort. „So viel steht fest, sie hat’s auf die Säulenhalle abgesehen und guckt in die Fenster.“ – Er lachte leise und höhnisch auf. „Na, dumm ist’s gerade nicht; Unsereiner thut’s ja auch!... Da drin ist’s gerade wie auf dem Theater – schwarze Mohrenfratzen, eine aufgeputzte Schlafstube, als sollte der Kaiser von Marokko drin schlafen, und falsche Edelsteine die schwere Menge.... Und die stolze Madame liegt auf den Knieen vor dem kranken Prinzen, und unser Herr sitzt dabei wie eine Schildwache und sieht sich die Knierutscherei an, als wollte er sie auf seine Bilder bringen. Er treibt’s zu arg; Tag und Nacht sitzt er drin, und die Dame muß auch keine Scham und Scheu im Leibe haben, daß sie das leidet und sich vor Unsereinem gar nicht genirt – das ganze Haus macht seine schlechten Witze darüber.... Ach ja, ich glaube, der wär’s schon recht, wenn die Gnädige gar nicht wieder käme – im Schillingshofe sitzt sich’s warm – aber Profit, damit ist’s nichts!... Guck, Fritz, ich lachte mich todt, wenn die Gnädige einmal unvermuthet heimkäme und sähe die Bescheerung durch’s Fenster.“

Er sprach in gedämpften Lauten fast flüsternd, und doch war es, als schlüge jedes dieser hämischen Worte wie ein tönender Hammer auf das Ohr der jungen Dame. Die Stimmen draußen schwiegen, und noch stand sie, die Unterlippe zwischen die feinen, scharfen Zähne geklemmt, wie zu Stein erstarrt.

Sie sah durch die offene Thür Deborah in das Krankenzimmer treten und ging hinüber, und als sie in den grünen Lichtschein trat, da erbebte die arme Schwarze – so hatte die verstorbene Herrin daheim ausgesehen, wenn sie zürnte; so dämonisch flimmernden Auges, so blaß, als rolle nicht ein Tropfen färbenden Blutes in dem schönen Leibe, hatte sie grausame Strafen über die Schuldigen verhängt und nie ein Jota von dem zurückgenommen, was sie einmal ausgesprochen.

Donna Mercedes wischte sich mit dem Taschentuch über die Lippen, die sie sich wundgebissen, und bedeutete schweigend der Negerin, sich an das Bett des schlafenden Kindes zu setzen, dann ging sie hinaus; hinaus in die Luft wollte sie – in diesem Hause mußte sie ersticken.




21.

Sie schritt an den hellbeleuchteten Steinbildern hin; die Gestalten der Liebe, der losen Schelmerei lächelten als Aphrodite und Eros von dem einen Piedestal auf die lautlos vorübergleitende schöne Frau nieder, die mit dem hartgeschlossenen Mund, den ausdrucksvoll geschwellten Nasenflügeln und dem sprühenden Blick unter den tiefgesenkten Brauen recht gut als Statue des Hasses da droben hätte stehen können.

Die Männer standen noch an der offenen Hauptthür; sie stellten sich unwillkürlich in Positur, als die schwebende, weiße Erscheinung um die Corridorecke kam, und der, welcher sie eben noch verlästert, der Bediente Robert, machte den tiefsten Katzenbuckel....

Donna Mercedes wandte sich nach dem Ausgang, der in den großen Garten führte; aber als sie die Hand nach dem Thürschloß hob, da hörte sie Männertritte draußen die Freitreppe heraufkommen; sie wich einen Schritt zurück, und gleich darauf öffnete sich die Thür, und Baron Schilling trat herein. Wie er so aus der hinter ihm lagernden tiefen Nacht auftauchte, das krause, dunkle Haar unbedeckt und den überraschten Blick auf die unerwartet vor ihm stehende junge Dame geheftet, da lag es wie eine hohe Freude auf dem gedankenvollen Gesicht – er war ja zum ersten Male nach so vielen bangen Tagen in seinem Atelier gewesen; er hatte ein Wiedersehen mit geliebten Gestalten gefeiert und sich offenbar neue Begeisterung vor den eigenen Meisterschöpfungen geholt.

Er hielt einige farbenprächtige, wohl eben erst im Glashause gepflückte Gloxinien in der Hand und bot sie der jungen Dame schweigend mit einer tiefen Verbeugung.

„Ich danke, mein Herr – ich liebe die Blumen nicht!“ sagte sie schneidend, ohne auch nur einen Finger der lässig herabhängenden Hände zu heben, und ihr feindselig funkelnder Blick glitt von seinem Gesicht auf die Blumen nieder. Sie trat noch um einige Schritte zurück, damit er vorübergehe und ihr den Weg nach dem Garten freimache; in demselben Moment jedoch erschien einer der Aerzte in der Flurhalle, um, wie stets in den späten Abendstunden, noch einmal nach dem kleinen Kranken zu sehen. Sie war gezwungen, im Haus zu bleiben und die Herren in das Krankenzimmer zu begleiten.

Baron Schilling sprach ruhig und höflich mit dem Arzt, und im Vorübergehen legte er sorgsam die verschmähten Blumen auf das kühle Steinpostament zu Füßen einer Ariadne.

„Und bis wann glauben Sie, daß José eine Uebersiedelung aus dem Krankenzimmer erträgt?“ fragte Donna Mercedes im Salon den Arzt, nachdem er mit Befriedigung constatirt hatte, daß all und jede Spur des Fiebers erloschen sei.

Er sah überrascht empor – er hatte diesen herben Metallklang noch nicht von den Lippen gehört, die, sonst fast immer schmerzhaft geschlossen, augenblicklich in leidenschaftlich drängender Ungeduld bebten. „Daran ist noch lange nicht zu denken,“ sagte er entschieden.

„Auch nicht, wenn ich das Kind, warm verhüllt, selbst auf den Armen hinaustrüge?“

„Hinaustragen?“ Er sprang förmlich zurück. „Darüber wollen wir in vierzehn Tagen sprechen, gnädige Frau. Vorläufig darf weder hinsichtlich des Zimmers, noch der Pflege irgend ein Wechsel eintreten – noch liegt Gefahr in der außerordentlichen Schwäche des kleinen Patienten.“

Er empfahl sich, und Baron Schilling, der ihn an die Thür begleitet, kehrte zurück.

(Fortsetzung folgt.)




Das Fest der heiligen Rosalie in Palermo.
Von Fl. Korell.


Das Foro italico ist zweifellos Palermos, der an schönen Aussichtspunkten so reichen Hauptstadt Siciliens, schönste Promenade. Von dort schweift der Blick ohne Schranken über das nimmer ruhende Wasser, das zu allen Stunden fesselnde Erscheinungen bietet. Zur rechten Seite dehnt sich die mit den weißen Häusern mehrerer Ortschaften bedeckte Küste weit in’s Meer hinaus, um mit einem flachen Vorgebirge zu enden, zur Linken aber, jenseits des mit Segel- und Dampfschiffen bevölkerten Hafens, hält der Monte Pelegrino mit seinen gewaltigen Felsmassen die ernste „Wacht am Meer“. Vom Foro steigt die Stadt eine sanfte Erhebung hinan, von deren höchstem Punkte der monumentale Bau des Palazzo reale das Ganze beherrscht. Im Hintergrunde schließt, gegen das Innere der Insel, ein gewaltiger Gebirgszug ab, scharfumrissen und in seinen einzelnen Häuptern die wechselvollste

[469]

Rosalien-Festzug in Palermo zur Zeit der Bourbonen.
Originalzeichnung von Ch. Wilberg in Berlin.

[470] Mannigfaltigkeit darstellend, die „Conca d’oro“, die „goldene Muschel“, welche die Perle Palermo hegt. Selbst in den heißen Tagen des Sommers genießt das Foro wegen der unmittelbaren Nachbarschaft des Meeres eines erfrischenden Luftzuges; deshalb ist hier die Stätte aller öffentlichen Feste; hier tummelt sich zumeist die Lust des Carnevals, und hier gelangt der glänzendste Act des großen Kirchenfestes der „heiligen Rosalie“ zur Aufführung. Von den Vorbereitungen dieses Festes hört der Fremde schon wenige Wochen nach Beendigung des Carnevals reden; bald wird dasselbe zum fast ausschließlichen Gegenstande der Unterhaltung an öffentlichen Orten und in Privatkreisen erhoben; in den ersten Tagen des Mai sieht man in den Hauptstraßen bereits Gasarbeiter eine außergewöhnliche Thätigkeit entwickeln, und auf dem Foro italico beschäftigt man sich wochenlang mit dem Aufbau eines Gerüstes, welches, wie man dem Fremden auf Befragen mittheilt, für jenes großartige Feuerwerk dienen soll, das die Stadt alljährlich mit einem Aufwande von 30,000 bis 40,000 Lire zur Feier des Festes der „heiligen Rosalie“ abbrennen läßt. Die „heilige Rosalie“ ist nämlich die Schutzpatronin Palermos und in dieser Stadt nicht minder berühmt und verehrt, als in Neapel der heilige Januarius. Die Legende berichtet von ihr, daß sie als Verwandte eines Königs von Sicilien am Hofe lebte, später jedoch, der weltlichen Freuden satt, als Einsiedlerin auf den Monte Pelegrino sich zurückzog und im Rufe hoher Frömmigkeit und der Wunderthätigkeit daselbst gestorben ist.

Die Rosalien-Grotte auf dem Monte Pelegrino.
Nach einer italienischen Photographie.

Als in späteren Zeiten einst die Pest in Palermo wüthete, wurden die mittlerweile wieder aufgefundenen Gebeine der Heiligen auf Veranlassung des Erzbischofs in die Stadt gebracht; hier wirkten, der Ueberlieferung zufolge, ihre Reliquien sofort ein großes Wunder: mit dem Einzuge der heiligen Gebeine verschwand die Pest aus der Stadt; zum Dank für dieses Wunder wurde die Heilige in einem massivsilbernen Sarge in einer Capelle des Domes, welche nach der Heiligen benannt ist, beigesetzt, feierlich zur Schutzpatronin Palermos ernannt und ihr ein alljährlich zu feierndes Fest gewidmet, welches bis 1859 eine fünftägige Dauer hatte (vom 11. bis 15. Juli), nunmehr aber auf eine Zeit von drei Tagen beschränkt ist.

Auf der Stelle, wo am Monte Pelegrino die Gebeine der Heiligen gefunden worden, erhebt sich eine Capelle, welche die von dem Florentiner Tedeschi gearbeitete, mit reichem Goldgewande geschmückte Statue der im Schlummer ruhenden Rosalie einschließt. Goethe, der bei seinem Aufenthalte in Palermo die Capelle besuchte, bemerkt darüber in seiner „Italienischen Reise“: „Kopf und Hände von weißem Marmor sind, ich darf nicht sagen, in einem hohen Stil, aber doch so natürlich und gefällig gearbeitet, daß man glaubt, sie müßte Athem holen und sich bewegen.“

Die heilige Rosalie von Tedeschi.
Für die „Gartenlaube“ nach der Natur aufgenommen.

Das Fest, zu welchem aus der Umgegend viele Tausende herbeiströmen, vertheilt sich, wie gesagt, jetzt auf drei Tage; den Hauptpunkt des ersten Tages bildet das Abendconcert in der illuminirten Villa Giulia, der sogenannten Flora. Es ist dies eine Gartenanlage im besten Stil; eine Fülle der seltensten ausländischen Zierbäume und Sträucher verbindet sich mit den einheimischen zu einem harmonischen Ganzen; Wasseranlagen, wie Fontainen, Cascaden, geben Leben, während geschmackvolle Kioske und aus dem dunklen Grün des Lorbeers hervorschimmernde Marmorstatuen den Schmuck der Kunst zur Schönheit der Natur hinzufügen. Hier entfaltet nun die Kunst der Beleuchtung in mannigfacher Weise ihre blendenden Effecte: dort eine dunkle Allee durch zahllose Festons mit chinesischen Lampen erhellt; hier auf dem freien Platze, dem Grün des Rasens und unter den niederfallenden Tropfen des Springquells das blendendweiße Gaslicht in funkelnden Sonnen, diamantblitzenden Sternen und schimmernden Arabesken; dort buntfarbige Lichtpyramiden, aus rothen, grünen, gelben, blauen, weißen Lampions gebildet, und das glänzt und strahlt, das schimmert und flimmert, das blitzt und leuchtet, und dazwischen jubelt und klagt die Musik, und in den breiten Wegen und in den engen Gängen drängt sich die Menge, die gekommen ist, zu sehen und – gesehen zu werden. Welcher Glanz von Damentoilette! Fast keine Dame ist mit geringerem Stoffe als Sammet, Atlas oder Moiré antique gekleidet und jedwede geschmückt mit funkelndem Geschmeide.

Aber sagte man nicht, daß heute hier eine Vereinigung aller Stände stattfinde? Die Dame dort in veilchenblauem Atlas ist allerdings die Principessa X, und jene in braunem Sammet ist die Gräfin Y, aber diese Dame dort ist nicht minder kostbar gekleidet, und doch ist sie nur die Frau des kleinen Colonialwaarenhändlers, der kaum im Stande ist, für sich und seine Familie das Nothdürftigste zu verdienen. „Sagen Sie mir,“ so wandte ich mich fragend an meinen Begleiter, „wie macht der Mann es möglich, seiner Frau den unerhörten Luxus dieser durchaus neuen Toilette zu gewähren?“ Ich stand vor einem Räthsel, doch mein sachkundiger Freund, der, gleichwie Odysseus, „vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat“, wußte das Räthsel zu lösen. Speculirend auf die übermäßige Putzsucht der Palermitanerinnen, lassen gewitzigte Händler, nicht selten geradezu nach dem Kleidermaße einer bestimmten Frau, einen Anzug aus kostbarem Stoffe herrichten, welcher als vollkommen neu für das erste Mal um einige hundert Lire vermietet wird; bei den folgenden Vermiethungen sinkt natürlich der Preis, aber bevor dieser letztere auf der äußersten Grenze der Billigkeit angelangt ist, hat der Händler schon längst einen beträchtlichen Vortheil erzielt; die erste Trägerin jedoch hat einige hundert Lire geopfert, um während weniger Abendstunden das Glück des Besitzes einer Garderobe für tausend und mehr Lire zu genießen. In ähnlicher Weise wird mit Diamantschmuck und dergleichen verfahren. Wer’s nicht weiß, der ahnt nicht, wie viel Sorge und Noth häufig mit dieser erlogenen Pracht verknüpft ist; denn äußerlich ist Alles heiter und freut sich, daß der eigene Glanz manch fremden Glanz überstrahlt. Im Uebrigen muß rühmend bemerkt werden, daß nicht der geringste Mißton das Fest störte, welches trotz der weiten Kluft zwischen Stand, Vermögen und Bildung der einzelnen Theilnehmer durchaus harmonisch in später Nacht, oder wenn man will, am frühen Morgen ausklang.

Der zweite Festtag gipfelt in dem Schauspiele des großen Feuerwerkes. Eine zahllose Menschenmenge, Tausende und aber Tausende drängen sich auf dem Foro italico; einförmig rauscht die Meeresfluth gegen die Mauer, welche den Quai begrenzt; Dunkelheit liegt über dem Wasser; da erscheint plötzlich ein Lichtpunkt über der Fläche; der leuchtende Punkt vervielfältigt sich; jetzt sind es zehn, jetzt zwanzig, vielleicht fünfzig und mehr Lichtkörper, die wie durch eigene Kraft über dem Wasser zu schweben scheinen und langsam dem Schauplatze sich nähern; jetzt tönt sanfte Musik über dem Wasser; jetzt erkennt man die Umrisse einer chinesischen Dschonke, deren Masten, Raaen und Taue mit buntfarbigen Papierlampen geschmückt sind; andersgeformte Fahrzeuge folgen; es entwickelt sich das phantastische Bild eines glänzenden Wassercorsos, der unter den Klängen der Musik am Ufer vorübergleitet und in der Ferne hinter einem vorspringenden Hügel verschwindet, um nach kurzer Zeit zurückzukehren. Nun geben Kanonenschläge und riesige Raketenbouquets das Zeichen zum Beginne des Feuerwerkes. Die Pyrotechnik ist vielleicht die volksthümlichste Kunst in Italien; dieses durch die Augen lebende und redende Volk ist im höchsten Grade empfänglich für Alles, was das Auge reizt; das Lichte, Farbige, Bunte, das Glänzende ist ihm Bedürfniß zugleich und Entzücken. Die Kirche hat ihrerseits nicht unterlassen, diese Leidenschaft des Südländers für glänzende Effecte in ihren Dienst zu nehmen. Wie sie durch die Pracht und den Pomp ihres Cultus, durch Bild- und Marmorschmuck ihrer Kirchen dem Auge schmeichelt, wie sie durch ihre Kirchenmusik das Ohr entzückt, so verschmäht sie auch nicht die Dienste der niederen Pyrotechnik, um dem sinnlichen Bedürfnisse der schaulustigen Menge Genüge zu leisten. So ist es gekommen, daß, namentlich im südlichen Italien, ein Kirchenfest ohne Feuerwerk gar nicht gedacht werden kann, und in Neapel findet ist dieser Beziehung zwischen den verschiedenen Kirchen ein Wettstreit statt, der mit Aufbietung aller Kräfte und nicht ohne schwere Geldopfer geführt wird; entscheidet doch der Sieg nicht allein über das größere Ansehen, sondern auch über den stärkeren Einfluß und die reichere Einnahme der siegenden Kirche im Laufe des kommenden Jahres. Die vielen Tausende, welche zu Ehren der „heiligen Rosalie“ in Gestalt von Raketen, Schwärmern, bengalischen und römischen Lichtern verpufft werden, hätten ohne Zweifel eine würdigere Verwendung finden können; wer aber das schauende Volk hätte befragen mögen, ob es nicht nahrhaftes Brod dem unfruchtbaren Schaugepränge vorziehe, der würde erfahren haben, daß der Südländer Vieles, fast Alles entbehren kann, wenn nur seine Schaulust gesättigt wird.

Die italienische Feuerwerkskunst ist der unserigen weit überlegen; [471] namentlich jene Leuchtkugeln, welche zuerst in weißestem Lichtglanze, gleich einem Meteor in umgekehrter Richtung, gen Himmel schießen, hoch oben am dunklen Gewölbe sich theilen und Hunderte von kleineren Leuchtkugeln in den verschiedensten Farben ausstreuen, die nun langsam niederschweben, um den gleichen Theilungsproceß, nach Zurücklegung etwa der halben Niederfahrt, nochmals, natürlich in weit, weit größerer Mannigfaltigkeit, zu wiederholen – diese Leuchtkugeln, über dem Meeresspiegel aufsteigend, zum Meeresspiegel niederschwebend, in ihn versinkend, sind von wahrhaft magischer Wirkung. Die höchste Leistung der Pyrotechnik scheint mir aber in der Darstellung wirklicher Bilder zu liegen, welche auf das Brettergerüst aufgemalt worden waren, dessen ich oben erwähnte. Man hatte Gegenstände aus der Blüthezeit der griechischen Colonisation Siciliens gewählt: die Darbringung eines Opfers z. B., einen Kriegsrath, eine Schlacht u. dergl. m. Landschaft, Architektur, Personen erscheinen hier deutlich erkennbar durch verschiedenfarbige Feuerlinien umrissen; die bewegliche Natur, das Flammen der feuerigen Linien theilt den Körpern eine gewisse Bewegung mit, durch welche der täuschende Effect des Lebens den Figuren eingehaucht wird; dadurch, daß die Farben, zwei- bis dreimal wechselnd, zu immer reicherem Glanze aufsteigen, wird nicht nur Abwechselung, sondern auch eine gewisse Spannung im Zuschauer bewirkt, der unwillkürlich den Eindruck empfängt, als wohne er einer vorschreitenden Handlung bei.

Die Haltung des Publicums war wieder musterhaft; völlig naiv in ihrer Freude, glich die Menge einer ungeheueren Kinderversammlung, für welche der Weihnachtsbaum geschmückt ist; lebhafte Ausrufe der Freude, der Befriedigung, des Entzückens ließen sich vernehmen; Vergleiche mit den vorjährigen Festen wurden angestellt, und nachdem wiederum Kanonenschläge und einige Raketenbouquets jetzt das Signal des Schlusses des Festes gegeben, zerstreute sich die Menge in Ruhe und Ordnung; nach einer Stunde herrschte tiefste Stille dort, wo kurz vorher das Licht geflammt, die Raketen gezischt, die Kanonenschläge gedonnert und eine zahllose Menge gelacht und gejubelt hatte; feierlich ernst entstieg das sanfte Mondlicht der dunklen Fluth, seine silbernen Strahlen zitterten auf der schwankenden Fläche; hoch vom Himmel herab strahlten bald in röthlichem Feuer, bald in grünlichem, diamantartig blitzendem Lichte die ewigen Sterne; auch sie schmückt der Süden mit schönerem Glanze, als der Norden es gewährt.

Der dritte Tag bringt den eigentlich kirchlichen Theil des Festes. Alle Hauptstraßen der Stadt sind glänzend erleuchtet; die gewöhnlichen Gaslaternen haben prächtigen Gaspyramiden Platz gemacht; von Balconen und Fenstern hängen buntfarbige Teppiche – durch die taghell erleuchteten Straßen bewegt sich der Zug. Voran Hunderte von Knaben und Jünglingen, Wachsfackeln tragend, die Gemeindebeamten, Musikbanden, geistliche Orden, Kapuziner und Andere, der Clerus, die Domgeistlichkeit, der Erzbischof in goldstrotzender Carosse, und dann – der angeblich 500 Pfund schwere silberne Sarg mit den Gebeinen der Heiligen. Alle zehn Minuten müssen die Träger, welche dem Kreise der jungen Bürger entnommen werden, wechseln, und wegen des schweren Gewichtes sind sie genöthigt eine Art Tanzschritt, eine gewissermaßen hüpfende Bewegung einzuhalten, sodaß der mit Lichtern und silbernen Aufsätzen geschmückte Sarg fortwährend von einer Seite zur andern geschaukelt und in dem Zuschauer die Befürchtung eines bevorstehenden Sturzes erregt wird. Chorknaben und bürgerliche Theilnehmer schließen den langen Zug, welcher bis zu seiner Rückkehr zum Dom eine Zeit von etwa vier Stunden gebraucht.

Von besonderer Andacht habe ich nichts wahrgenommen; auch dieser Zug, obgleich seinen Mittelpunkt ein Sarg bildet, ist den Palermitanern nichts anderes als ein Schauspiel ohne Entréekarten; so nehmen sie es an, so betheiligen sie sich an demselben; aber der Versuch des Clerus, aus der großen Zahl der Theilnehmer einen Rückschluß auf die Zahl der clerikal Gesinnten zu machen, muß als vollkommen verfehlt bezeichnet werden; die Zahl der clerikal Gesinnten kann sehr groß sein, die Erörterung dieser Frage liegt außerhalb des Bereiches meiner Aufgabe – das nur muß hervorgehoben werden, daß die Theilnahme an einem Kirchenfeste keinen Rückschluß auf die kirchliche Gesinnung der Theilnehmenden gestattet.

Früher, zur Zeit der Herrschaft der Bourbonen, hatte das Fest nicht nur, wie im Eingange bereits erwähnt, eine längere Dauer, sondern es wurde bei demselben auch, ohne Rücksicht auf die Kosten eine weit größere Pracht entfaltet. Während der damaligen fünf Feiertage waren die Geschäftslocale nur bis Mittag geöffnet, dann aber ward Alles geschlossen, da gegen zwei Uhr die Feierlichkeiten begannen, deren noch heute interessantes Programm mir folgendermaßen geschildert worden ist:

Am ersten Tage hielt um zwei Uhr der kolossale Karren, welchen unsere Abbildung zeigt, mit Blumen, buntfarbigen Draperien, Gold- und Silberflittern, Fahnen u. dergl. m. prächtig geschmückt, das imposante Standbild der Heiligen tragend, vom Fora italico aus durch die Porta felice seinen Einzug in die Stadt. Dem Karren schritten die kirchlichen und bürgerlichen Autoritäten voran, denen ein Vorläufer mit einer gewaltigen Glocke folgte. Der Karren wurde von vierzehn Paar jener stattlichen Stiere gezogen, wie man sie nur in Sicilien findet, deren gabelförmig weit von einander abstehende, kolossale Hörner das Erstaunen aller Fremden errege. Diese mächtigen Thiere mit Blumenmassen und buntfarbigen Bändern geschmückt, ihre nebenherlaufenden Führer in prächtig-bunter Festtagskleidung, riesige Stäbe mit mächtigen Stacheln zum Antreiben der Thiere in den Händen schwingend – so bewegte sich der Karren de Corso Vittorio Emanuele (damals Toledo oder Cassaro genannt) hinan. Allemal nach Zurücklegung von 300 bis 500) Schritten gab der Vorläufer mit seiner Glocke ein Zeichen zum Halten, worauf sofort eine der beiden auf dem Karren sitzenden Musikbanden zu spielen begann. Das Gewicht des Karrens war so gewaltig, daß die vier Riesenräder dampften und unfehlbar in Brand gerathen wären, wenn man sie nicht während des Fahrens fortwährend mit Wasser begossen hätte, welches auf einem besonderen Wagen dem Karren unmittelbar nachgefahren wurde. Die Straße, durch welche der Zug sich bewegte, war prächtig geschmückt; von allen Fenstern hingen buntfarbige Teppiche, Blumenguirlanden zierten die Balcons und zogen sich über die Straße von dem einen zum gegenüberliegenden Hause, vor den Häusern aber hatte man alle 15 bis 20 Schritte Holzsäulen angebracht, welche Wappen, Blumen, Fahnen und bunte Oellämpchen trugen, mit einander aber wieder durch Blumenguirlanden verbunden waren. Langsam bewegte sich der Karren den Toledo hinan bis zur Piazza Vittoria, woselbst man ihn vorläufig stehen ließ. Am Abende des Tages nun fand prächtige Illumination des Toledo statt, welcher durch das bunte Licht an den Säulen vor den Häusern das Ansehen einer prächtig erleuchteten riesigen Säulenhalle empfing; dazu Lampions auf allen Balcons, zwischen Blumen flammendes Licht in allen Fenstern und die taghell erleuchtete Straße gedrängt voll von einer bunten, heitern Menge von Spaziergängern in festlicher Kleidung. Später fand am Foro Feuerwerk statt, welches dem jetzigen an Pracht weit überlegen gewesen sein soll.

Am zweiten Festtage begannen um zwei Uhr Nachmittags die von den vielfachen Beschreibungen des römischen Carnevals allbekannten Wettläufe reiterloser Pferde. Die Rennbahn war wiederum der Toledo von der Porta Felice bis zur Porta Nuova, woselbst man am Ende der Bahn ein mit Mennige (rother Farbe) beschmiertes Seil gezogen hatte, das von dem zuerst anlangenden Pferde zerrissen werden und dabei demselben gleichzeitig als Zeichen des Sieges eine rothen Strich auf die Brust drücken mußte. Interessant bleibt es bei diesen Rennen immer, zu sehen, wie diese Pferde von wirklichem Ehrgeize beseelt zu sein scheinen und selbst zur List und zur Intrigue ihre Zuflucht nehmen, um durch Abdrängen, Schlagen, Beißen u. dergl. Mittel dem Nebenbuhler den Sieg zu entwinden. Am Abend dieses zweiten Tages wurde der Karren durch den wiederum glänzend erleuchteten Toledo nach dem Foro italico zurückgefahren.

Der dritte Tag brachte eine Wiederholung der Pferderennen und des Feuerwerkes. Den Schluß dieses Tages bildete die Erleuchtung der Villa Giulia.

Am vierten Tage wurden ist allen Straßen prächtige Vespern abgehalten, und an der abendlichen Illumination betheiligte sich auch die Kathedrale durch glänzende Erleuchtung ihrer Façade.

Der fünfte Tag war der großen Procession gewidmet, bei welcher die Einrichtung herrschte, daß das eine Jahr die eine, und das folgende Jahr die andere Hälfte der Stadt durchzogen wurde. Dabei wurde nicht nur das Standbild der „heilige Rosalie“ umhergetragen, [472] sondern jede der zahlreichen dortigen Kirchen betheiligte sich mit ihrem besonderen Heiligen. Die Kapuziner pflegten hierbei die erste Rolle zu spielen, indem sie ihren Heiligen auf einem prächtig geschmückten thurmartigen Gerüste umherführten, welches die Höhe der sehr hohen Häuser Palermos überragte.

Hierdurch wird es allerdings begreiflich, daß die Palermitaner vor dem Beginne des Festes dasselbe auch in seinen heutigen, beschränkteren Verhältnissen für eines der Weltwunder erklären, die man nothwendiger Weise gesehen haben müsse, nach Beendigung des Festes aber regelmäßig versichern, man habe eigentlich Nichts gesehen, da man das Fest, wie es früher gewesen, nicht geschaut habe.




Der Sclavenbefreier William Lloyd Garrison.


Unter den Männern, welche in der nordamerikanischen Union dem entsittlichenden Institute der Negersclaverei den Kampf auf Tod und Leben ankündigten und diesen Kampf unter den schwierigsten Verhältnissen mit unbeugsamer, eiserner Energie in Wort und That fortsetzten, nimmt der am 24. Mai dieses Jahres zu New-York verstorbene William Lloyd Garrison einen der hervorragendsten Plätze ein. Nicht immer ist den Kämpfern der Freiheit das Glück so hold, daß sie den Sieg der Sache, für die sie ihre besten Kräfte einsetzten, erleben; William Lloyd Garrison aber war es vergönnt, noch in voller Manneskraft erfüllt zu sehen, was das Hauptstreben seines opfermuthigen Lebens ausmachte: die Befreiung der Neger in dem weiten Gebiet der Vereinigten Staaten von den Fesseln der Sclaverei und ihre bürgerliche Gleichstellung mit der weißen Race.

Garrison wurde nach Einigen am 12. December 1804, nach Anderen am 10. December 1805 in dem Städtchen Newburyport im Staate Massachusetts geboren. Da er seinen Vater, der als Schiffscapitain vielfach mit dem Handel nach Westindien beschäftigt war, schon in früher Jugend verlor, so sah sich seine Mutter, die, um nur das tägliche Brod zu verdienen, häufig außerhalb des Hauses arbeiten mußte, gezwungen, ihre Kinder frühzeitig zu fremden Leuten zu geben.

Ein solches Loos traf denn auch William Lloyd, den zweitgeborenen Sohn, der mit seinem neunten Lebensjahre bei einem Schuhmacher zu Lynn in die Lehre trat. Diese Beschäftigung war jedoch weder körperlich noch geistig für den strebsamen Knaben zuträglich, der deshalb auch bald nach seinem Geburtsorte zurückkehrte, wo er die Gemeindeschule besuchte, seinen Unterhalt aber sich durch Holzsägen und Botendienste erwarb. Obschon der junge Garrison früh das elterliche Haus verließ, so blieben doch die ersten Eindrücke und die religiösen Lehren, welche er von seiner frommen, einer Baptistensecte angehörenden Mutter empfangen hatte, für alle Zeit seinem auf das Ernste und Hohe gerichteten Geiste eingeprägt. Ein fleißiges Lesen der Bibel hatte ihn so mit diesem Buche vertraut gemacht, daß er dasselbe fast auswendig wußte.

Nach verschiedenen mißglückten Versuchen, einen bestimmten Berufszweig zu ergreifen, fand er bei einem gewissen Ephraim W. Allen, dem Herausgeber der „Newburyport Gazette“, dauernde Beschäftigung als Buchdruckerlehrling. Er zeichnete sich hier durch Ordnung und Fleiß aus und erwarb sich durch Privatstudium reiche Kenntnisse; bald schrieb er für verschiedene Tagesblätter gern gelesene Artikel und redigirte kurze Zeit ein eigenes Blatt in Newburyport. Im Jahre 1827 ging er nach Boston, wo sich ihm für seine Thätigkeit ein weiteres Feld öffnete und wo er als Buchdrucker und Journalist neue Erfahrungen sammelte. Allein schon im nächsten Jahre verließ er Boston und gab mit einem Freunde zu Bennington im Staate Vermont eine Zeitung heraus, in welcher er für die Idee des allgemeinen Friedens eintrat und die Negersclaverei bekämpfte.

Um diese Zeit hatte die Agitation gegen das Institut der Sclaverei neuen Inhalt gewonnen und größere Dimensionen angenommen. Theils an die gleichzeitigen Bestrebungen der englischen Abolitionisten Wilberforce, Clarkson und Anderer sich anlehnend, welche damals gerade die Aufhebung der Sclaverei in Westindien anstrebten, theils durch die immer dreister auftretende Reaction der südlichen Sclavenhalter in’s Leben gerufen, bildeten sich in verschiedenen Theilen der nordamerikanischen Union Abolitionistenvereine. Der Quäker Benjamin Lundy namentlich hatte durch eine Reihe von Vorlesungen und durch sein in Baltimore erscheinendes Blatt „Der Genius der allgemeinen Emancipation“ an vielen Orten eine nahezu religiöse Schwärmerei für die Sache der allmählichen Emancipation der Sclaven geweckt, und er war es auch, der den feurigen Garrison bestimmte, nach Baltimore zu kommen und an der Redaction des „Genius“ theilzunehmen. Kaum dort angelangt, schrieb Letzterer die zündendsten Artikel, in denen er nicht mehr, wie Lundy es gethan, die allmähliche, sondern die sofortige und zwar unentgeltliche Freigebung der Negersclaven verlangte. Bei einer besondern Gelegenheit schilderte Garrison die verabscheuungswürdigen Folgen der Sclaverei in so grellen Farben, daß er sich eine Gefängnißstrafe zuzog. Dies trug sich folgendermaßen zu:

Ein dem Herrn Francis Todd in Newburyport zugehöriges Schiff kam nach Baltimore und nahm eine Ladung von Sclaven an Bord, um dieselben nach New-Orleans zum Verkaufe zu bringen. Alle die erschütternden Scenen, welche bei diesem Menschenhandel zu Tage traten, machten auf Garrison’s Gemüth einen solchen Eindruck, daß er die unter seinen Augen vorgenommene Verpackung und Versendung der armen Schwarzen mit der grausamsten Art von „Seeräuberei“ auf eine Stufe stellte und den Schiffseigenthümer, sowie alle bei dem schmachvollen Handel betheiligten Personen in Lundy’s „Genius“ als „verabscheuungswerthe Händler mit Menschenfleisch“ brandmarkte. Natürlich rief er dadurch den Zorn der Sclavenhalterpartei in hohem Grade wach; die von ihm angegriffenen Personen aber verklagten ihn wegen „gröblicher und boshafter Schmähung“, und er wurde, da er die ihm vom Gerichte auferlegte Geldstrafe und die Unkosten des Processes nicht zahlen konnte, zu einer längeren Gefängnißstrafe verurtheilt. Nachdem er einige Wochen diese Strafe erduldet, erhielt er seine Freiheit wieder, indem ein der Emancipation günstig gesinnter, wohlhabender Kaufmann in New-York, Herr Arthur Tappan, für den Rest der Strafe mit Geld aufkam.

Garrison schied, wie dies gewöhnlich bei Personen zu geschehen pflegt, die ihrer innersten Ueberzeugung halber eine Kerkerhaft erduldet, keineswegs niedergebeugt oder entmuthigt aus dem Gefängnisse, sondern ging nur mit um so größerem Eifer an das einmal unternommene Werk der Negerbefreiung. Er begab sich zunächst nach Washington City, der Hauptstadt der Union, und machte dort bekannt, daß er demnächst ein eigenes Antisclavereiblatt gründen werde. Sein Proceß in Baltimore hatte überall in den Vereinigten Staaten das größte Aufsehen erregt, und so waren die gegen die Sclaverei gerichteten Vorträge, welche er in mehreren Städten des Nordens der Union hielt, zahlreich besucht. Im Herbste 1830 finden wir Garrison wiederum in Boston, wo er bemüht war, die Geistlichen der verschiedenen Religionssecten für seine Ideen zu gewinnen, allein kein einziger dieser Herren wagte es damals, mit Entschiedenheit für die Emancipation der Neger in die Schranken zu treten; nur einige wenige sprachen zu Gunsten des Planes, Negercolonien außerhalb der Vereinigten Staaten zu gründen. Gegen diese Ansicht, die er selbst zwar früher einmal getheilt hatte, trat aber Garrison jetzt mit der größten Entschiedenheit auf. Am 1. Januar 1831 erschien sein Blatt „Der Befreier“ (The Liberator). Die Sinnsprüche, welche dieses Journal auf der Titelseite trug, kennzeichneten dessen Richtung und Inhalt, sie lauteten: „Unser Vaterland die Welt, alle Menschen unsere Landsleute“, und „Keine Gemeinschaft mit den Sclavenhaltern“.

Umsonst suchte Garrison längere Zeit in Boston nach einem öffentlichen Locale, um dort in freier Rede für seine Ansichten einzutreten; Niemand wagte es, zu diesem Zwecke seine Räumlichkeiten herzugeben, nur der sogenannte „Verein der Ungläubigen“, der sich an keine veralteten religiösen Dogmen band, gewährte ihm seine Halle. Von dieser Zeit an sagte sich auch Garrison von allem kirchlichen Sectenwesen los, ohne jedoch seine eigene strengreligiöse Ueberzeugung aufzugeben. In der ersten Nummer des „Liberator“ kam unter Anderem folgender Passus vor: „Auf [473] meiner letzten Reise, die ich unternahm, um die Aufmerksamkeit des Volkes der Vereinigten Staaten auf die bösen Wirkungen des Institutes der Negersclaverei hinzulenken, machte ich die Bemerkung, daß in den freien Staaten des Nordens, namentlich in Neu-England, ein Umschwung der Gesinnung zu Gunsten der Abschaffung der Sclaverei verhältnißmäßig weniger eingetreten ist, als im Süden. Man begegnete mir in den nördlichen Staaten mit bittererer Geringschätzung, stärkerer Opposition, rücksichtsloserer Verleumdung, zäherem Vorurtheile und größerer Apathie, als unter den Sclavenhaltern. Gewiß gab es einzelne rühmenswerthe Ausnahmen. Diese Thatsache konnte mich wohl betrüben, aber nicht entmuthigen. Ich beschloß, die Fahne der Emancipation um jeden Preis vor den Augen des amerikanischen Volkes, im Angesicht von Bunker Hill, hier in Boston, der Geburtsstätte unserer nationalen Freiheit und Unabhängigkeit, zu entfalten. Dieselbe ist nun entfaltet; möge sie lange wehen, unverletzt durch die Zeitereignisse und die Angriffe verzweifelter Feinde; ja, möge sie wehen, bis jede Kette gebrochen ist, bis jeder Sclave seine Freiheit erlangt hat! Laßt die südlichen Unterdrücker zittern, laßt ihre geheimen Mitschuldigen erzittern, laßt alle Feinde der verfolgten schwarzen Race mit Zagen erfüllt werden! In dem Glauben an die in unserer Unabhängigkeitserklärung niedergelegte Wahrheit, daß alle Menschen von Natur gleichgeboren sind, daß sie von ihrem Schöpfer gewisse unveräußerlichen Rechte erhalten haben, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit, in diesem Glauben werde ich mit aller mir zu Gebote stehenden Macht eintreten für die sofortige, unentgeltliche Befreiung der Sclavenbevölkerung unseres Landes. Hierzu bin ich fest entschlossen; ich werde klar und deutlich meine Ansichten zum Ausdruck bringen und keine Winkelzüge machen, nicht einen Zoll breit werde ich zurückweichen, und schließlich wird man gezwungen sein, auf mich zu hören.“

Diese Worte besaßen eine prophetische Bedeutung und sind in der Hauptsache in Erfüllung gegangen. Gerade fünfunddreißig Jahre später, am 1. Januar 1866, konnte Garrison erklären, daß das schwere und große Werk, welches er unternommen, vollendet sei, er konnte mit stolzer Zufriedenheit und voll Dank gegen die Vorsehung das Aufhören seines „Liberator“ proclamiren. Sein eigener Sohn hatte tapfer in der Unionsarmee gegen die südlichen Rebellen gekämpft; Charleston, das Brutnest der Secession, war unter dem Jubel der befreiten Sclaven gefallen, und die Handschellen und Ketten des Sclavenmarktes waren als Sieges- und Friedenstrophäen auf die Redaction des „Liberator“ nach Boston gesandt worden.

Bevor aber dies Alles geschehen konnte, hatte Garrison und seine Gesinnungsgenossen persönlich viele Mühen und Gefahren zu erdulden, und die Union hatte die härtesten und blutigsten Kämpfe zu bestehen. Nicht wenige Emancipationisten wurden von den Sclavenhaltern und ihren Helfershelfern weggefangen, ausgepeitscht und gehängt. Zu Alton im Staate Illinois wurde der edle und muthige Elijah P. Lovejoy in der Vertheidigung seines Redactionslocals von den wüthenden Anhängern der Sclaverei erschossen; der alte John Brown starb unfern von Charleston den Tod am Galgen, aber sein Name lebt fort in dem Andenken seiner Landsleute, und das Lied von John Brown tönte manchem Rebellen während des Secessionskrieges verderbenbringend in das Ohr. Garrison selbst konnte in Boston dem Tode nur dadurch entgehen, daß er durch die Behörden in das Gefängniß geführt wurde. Als er nämlich im October des Jahres 1835 in einer öffentlichen Versammlung über die Gründung von Antisclavereivereinen Bericht erstatten wollte, stürmte ein Mob in den Saal, schleppte den Freiheitsmann durch die Straßen der Stadt und mißhandelte ihn auf das Schmachvollste. In den Sclavenstaaten, z. B. Georgien, wurden hohe Summen auf seinen Kopf gesetzt.

Garrison war wiederholt in England, wo er mit Wilberforce, Lord Brougham, Clarkson und anderen Freiheitsfreunden über die Emancipation der Negersclaven berieth und den feurigen Redner George Thompson bestimmte, nach Amerika zu kommen und dort für das Niederbrechen der Sclaverei zu wirken. Wir Deutschen haben die Ehre, durch Karl Follen in den Reihen der Abolitionisten würdig vertreten gewesen zu sein.

Noch bis in die jüngste Zeit interessirte sich Garrison lebhaft für das Schicksal der Neger und warnte durch öffentliche Kundgebungen vor den unions- und freiheitsfeindlichen Bestrebungen der demokratischen Partei, an deren Spitze gegenwärtig wiederum eingefleischte Rebellenfreunde stehen. Auch für die Auswanderungen der Neger, welche im Beginne des Jahres massenhaft nach den Nordstaaten stattfanden, empfand er das lebhafteste Interesse. Seit 1834 verheirathet, führte er eine glückliche Ehe; seine Frau starb vor ihm, er selbst aber schied zu New-York im Hause seines Schwiegersohnes, Henry Villard, aus diesem Leben. Seine irdischen Ueberreste wurden unter allgemeiner Theilnahme zur Erde bestattet.

Wohl war Manches an den Tendenzen der radicalen Abolitionisten, der sogenannten „Garrisonianer“, nicht zu billigen; man mag ihre lange Abschließung gegen die Tagespolitik unpraktisch und zweckwidrig finden, man mag selbst die Art ihrer Propaganda nicht überall gutheißen, denn sie verurtheilten sogar die Constitution der Vereinigten Staaten, weil sie die Sclaverei erlaubte, als „eine Vereinigung mit der Hölle“ und wollten lieber die Auflösung der Union, als das Fortbestehen der Sclaverei: aber dennoch sind die Abolitionisten edle Idealisten und hingebende Patrioten gewesen, und – was mehr als Alles das ist – sie waren lange Zeit das politische Gewissen des amerikanischen Volkes, sie waren seine Mahner und Rather in den Stunden der politischen Versuchung und Gefahr; sie hielten ihm kühn und unerschrocken den Spiegel seiner Schande vor, wenn es sich von den Handwerkspolitikern zu einem schmutzigen Schacher über Ehre und Grundsätze verleiten lassen wollte. Sie haben vor Allem das Verdienst, dem Despotismus der Sclavenhalter seine Maske abgerissen und ihn in seiner ganzen Nacktheit, in seiner Unverträglichkeit mit den freien Institutionen der Union gezeigt zu haben. Es ist vielleicht in den Vereinigten Staaten mehr, als irgend sonstwo, eine ungewöhnliche Erscheinung, daß ein Mann für sich selbst auf äußeren Erfolg verzichtet, daß er sein ganzes Leben an die Verwirklichung einer hohen Idee setzt und jede Gemeinschaft mit den politischen Parteiführern, den Spendern von Gunst und Aemtern, von sich weist. Ehre darum dem Andenken der Abolitionisten und einem ihrer ersten und bedeutendsten Führer – William Lloyd Garrison!

Rudolf Doehn.




Klytia.
Von Hermann Oelschläger.
(Schluß.)

Den nächsten Morgen brachte ich damit zu, die Wohnung einzuräumen, die ich immer behaglicher fand. Die Klytiabüste ließ ich unberührt und sogar unbesehen. Eine gewisse Scheu hielt mich dem Kasten doch noch immer fern. Als ich gegen Mittag das Haus verließ, bemerkte ich zu meiner Freude, daß ein Tischler, der im Parterre seine Werkstätte aufgeschlagen hatte, Tags zuvor ausgezogen war. Da hatte ich denn weiter keine lärmende Störung bei meinen Arbeiten zu befürchten, wenn auch die Wohnung wieder besetzt schien. Denn an einem Fester lehnte ein zerbrochener Spiegel mit allerlei sonstigem armseligem Hausgeräth. An dem Fester, welches mit demjenigen meines Schlafzimmers correspondirte, war das Rouleau herabgelassen. Einem vierjährigen Jungen, im dritten Stock, der mir während des Vormittags mit seinen eisenbeschlagenen Stiefeln zuviel über dem Kopfe herumgetrampelt hatte, brachte ich bei meiner Rückkehr ein Paar Filzschuhe mit, deren fleißige Benutzung ich der gerührten Mutter des Knaben aus Gesundheitsrücksichten gerade jetzt bei dem gefährlichen Uebergange vom Winter in das Frühjahr dringend anempfahl. Und so schien ich denn nach oben und unten gleich gesichert; alles Uebrige, wenn ich arbeite wollte, lag weiterhin lediglich und ganz allein an mir selbst.

Wenige Tage darauf war ich aus lustiger Gesellschaft spät nach Mitternacht nach Hause gekommen und hatte mich in meinem Himmelbett kaum dem ersten Schlummer hingegeben, als es heftig [474] an der Glocke riß. „Ein Betrunkener,“ dachte ich, „der in den dritten Stock gehört!“ und zog den Zipfel des Kissens fester über die Ohren. Da klingelte es noch einmal und noch einmal, immer heftiger. Scheltend erhob ich mich. Ein ärmlich gekleidetes Mädchen von etwa zweiundzwanzig Jahren stand vor der Thür, mit frischen rothen Backen.

„Entschuldigen Sie, Herr Doctor,“ sagte das Mädchen, „möchten Sie nicht einen Augenblick zu meiner Schwester kommen?“

„Zu wem?“

„Zu meiner Schwester.“

„Wo ist denn Ihre Schwester?“

„Wir wohnen im Parterre dieses Hauses.“

„So. Was will denn Ihre Schwester?“

„Ach, ich glaube, sie stirbt.“

Das ist freilich eine schlechte Beschäftigung, die man sich wohl überlegen soll – dachte ich und fand, von einem barbarischen Egoismus angekränkelt, wenig Reiz darin, aus der Behaglichkeit meines Schlummers an ein wildfremdes Sterbebett zu gehen, das mich gar nichts anging. Was hatte ich dort zu thun? Was sollte ich dort nützen?

Diese letztere Frage wiederholte ich laut.

„Kommen Sie nur mit, Herr Doctor,“ bat das Mädchen dringender. „Vielleicht können Sie doch noch etwas für meine Schwester thun. Sie selbst meint zwar, ihr könne kein Arzt mehr helfen, aber –“

Kein Arzt! Kein Arzt! Nun stand mit einem Male Alles mit erwünschtester Klarheit vor meiner Seele; nun wußte ich ganz genau, warum dieses unselige Mädchen gerade mich zu nachtschlafender Zeit an das Sterbebett seiner Schwester rufen wollte; nun wußte ich ganz bestimmt, was mich hier wieder einmal in eine recht peinliche und unangenehme Situation geworfen hatte, während ich in meinem süßen Himmelbett ungestört den Schlaf des Gerechtesten hätte schlafen können – und was dies war? Nichts Anderes als meine gottverwünschte Eitelkeit.

Arzt! Doctor! Ich, der ich nicht einmal das Eine, noch viel weniger das Andere war. Nicht einmal ein Doctor der Theologie, der mich doch wenigstens hier am Sterbebett noch hätte anständig herausbeißen können, wenn ich auch sonst im Leben nichts mit ihm anzufangen wußte. Aber natürlich, es mußte so kommen. Weil ich allwöchentlich so und so viele Briefe bekam, die meine bescheidene Persönlichkeit mit dem Doctortitel feierlich aufputzten, hielt mich dieser harmloseste aller Postboten der von dem Schwindel dieser Welt keine Ahnung hatte, auch wirklich für einen Doctor; weil ich alltäglich so und so viele Besuche empfing, die mich in dieser ehrerbietigen Weise anredeten, hielt mich die würdige Hausfrau für einen Doctor, und weil Postbote und Hausfrau die so wohlklingende Ansprache nun um die Wette an mich verschwendeten, hielt mich alle Welt und hielten mich auch diese armen Mädchen für einen Doctor.

Warum aber – offen gestanden – hatten mich jene nichtsnutzigen Schauspieler bei ihrem neulichen Besuche aus eigener Machtvollkommenheit promovirt? Weit sie gut recensirt zu sein wünschten. Und warum hatte mich sogar jener lumpige Kellner hartnäckig Doctor gescholten? Weil er auf ein gutes Trinkgeld rechnete. Und so hielten, wenn ich mir’s recht überlegte, Schauspieler wie Kellner offenbar es für eine große Schande, daß ich nicht einmal mit dem kleinsten aller Titel bekleidet, sondern so zu sagen noch in meiner ganzen adamitischen Natürlichkeit, in der ich auf diese titelreiche Welt vor vielen Jahren gekommen, noch immer auf derselben herumlief, und hatten mir aus falscher Höflichkeit und aus gemeinem Eigennutz die Schlinge der Eitelkeit um den Hals geworfen, daß ich nun in ihr zappelte wie ein Fisch, der nicht mehr aus dem Netze kann.

Mit diesen zwar zeitgemäßen und durch die Umstände entschuldigten, aber immerhin höchst verdrießlichen Betrachtungen im Kopfe wäre ich fast die Treppe hinuntergefallen.

„Hallo, gehen Sie doch langsamer mit dem Licht!“ rief ich ärgerlich und stolperte hinter meiner Führerin her, der ich allerdings kurz auseinander setzte, daß ich kein Arzt sei, deren nachträglichem Bitten aber, sie trotzdem nicht in dieser fürchterlichen Nacht allein zu lassen, ich zuletzt willfahrte.

Ehe ich mich’s versehen, stand ich in dem Wohnzimmer der beiden Mädchen; da sah es freilich traurig genug aus. Kahle Wände, die ihres bescheidenen Anstrichs im Sturm der Jahre schon längst verlustig gegangen waren, ein großer, langer, abgenutzter und von Messerschnitten heillos entstellter Tisch, der für das Feuer gerade gut war und auf welchem nun armselige Brodreste, Salz in zerrissenem Papier, zwei irdene Töpfe und ein blinder Blechlöffel zu sehen waren, davor eine wurmstichige Bank, darunter ein schwarzgrauer, schmutziger Fußboden – kein Stuhl, kein Schrank, kein Nagel, ringsum nur die größte Armuth, das tiefste Elend, das mich aus den finstern Ecken angähnte, und die jammervollste Noth, die hier ihren dunklen Schleier über alles Lebende gebreitet hatte. Und dort im anderen Zimmer der Tod!

Leise traten wir ein. Bei dem Halbdunkel, das uns umgab, sah ich eine weibliche Gestalt vor mir im ärmlichsten Bette liegen, bleich und mit eingesunkenen Wangen, um die das tiefschwarze Haar in aufgelösten Strähnen herunterfiel. Die großen, dunklen, fieberglühenden Augen hatte die Kranke starr in die Ferne gerichtet; ihre Brust hob und senkte sich rasch; aus den vertrockneten, halb geöffneten Lippen schien in schweren, hastigen Athemzügen das schwache Leben entfliehen zu wollen, und die langen mageren Hände zuckten krampfhaft bald sich öffnend, bald sich wieder zusammen ziehend, unruhig über die Decke hin.

Langes, angstvolles Schweigen eine schwer lastende Stille, die schon dem Grabe entstiegen zu sein schien und die das Röcheln der Kranken noch grauenvoller machte! Von dieser schien ich noch gar nicht bemerkt worden zu sein. Da fragte sie, ohne die Lage ihres Kopfes oder die Richtung ihres Blickes zu ändern:

„Warum hast Du diesen Herrn zu mir gebracht?“

„Es ist,“ antwortete die Schwester, „der Herr im Hause, den wir für einen Arzt gehalten haben.“

Dann holte sie, damit ich, wie sie sagte, das zuletzt verschriebene Recept des Arztes lesen könnte, das Licht aus dem Wohnzimmer herbei; sein rothglühender Schein fiel voll auf das bleiche Angesicht der Kranken – zu meinem Entsetzen, denn ich sah dasselbe Weib vor mir, das ich neulich im Traume gesehen, das mein Zimmer zu nächtlicher Zeit besucht, das die Hände so angstvoll gerungen hatte, das der Marmorbüste so sprechend ähnlich war – Klytia.

Ich war entsetzt, aber ich preßte bis zum Schmerze die Lippen zusammen – ich schwieg. Ich starrte nur auf die Gestalt vor mir mit der schmalen Stirn, in die das schwarze Haar so voll herein reichte, mit dem edlen Profil, das jetzt nur zu scharf und schneidend ausgebildet war, mit den großen Augen, die jetzt im Fieber der Krankheit brannten. Die Melancholie des Mundes war in einen heftigen Schmerz, in eine wilde Angst gesteigert, und die runden Wangen waren hohl und eingesunken – der große Verderber, der rastlose Mehrer der Gräber hatte seine Hand schon nach dem Opfer hier ausgestreckt, und die Fluth des Lebens, die einst so heiß und mächtig durch die Adern dieses Weibes gerauscht sein mochte, war im Begriff zu erstarren.

Die Schwester der Kranken war, ich weiß nicht, ob aus Erschöpfung oder aus Theilnahmlosigkeit, neben mir auf einen Stuhl gesunken. Das Sterben dort im Bett war grauenvoll. Das Mädchen hatte gewiß bessere Tage gesehen. Ihr Schicksal hatte sie verdammt, an der Stätte der Armuth den letzten schweren Kampf zu kämpfen; die Zärtlichkeit der Freunde und Freundinnen, die mit feuchtem Auge und küssendem Munde ihr hätte ein Trost sein können, war ihrem Lager fern geblieben, und Nichts umgab sie, als die Einsamkeit, die Fremde und eine Schaar geisterhafter Schatten aus vergangenen Tagen des Glückes und vielleicht der Reue, welche nur gekommen war, sie auf’s Blut zu quälen und zu peinigen. Vielleicht war ihr der Tod eine Erlösung aus Elend und Schande. Aber das war kein Ausklingen des Lebens – das war ein Zugrundegehen. Vielleicht sehnte sie sich nach dem Augenblick, da die Nacht des Todes über ihrem Haupte zusammenschlug. Aber auch der erbärmlichste Mensch läßt nicht vom Hoffen, und erst mit dem letzten Athemzug hört er auf zu glauben, daß gar Vieles von jetzt an anders und immer besser kommen würde, wenn nur die Frist dieses Lebens sich ihm noch verlängerte. Und diese Hoffnung ist nichts als der letzte traumhafte Rest jener Poesie, die jedem Menschen angeboren ist und die Keiner ganz verlieren kann, so tief er auch sinken mag.

Am nächsten Morgen ließ ich mich nach der Armen erkundigen. Sie lebte noch. Ich fragte meine Hausfrau, ob es denn nicht möglich gewesen sei, der so schwer Kranken eine bessere Lagerstätte zu verschaffen. Frau Huber sagte, daß der Armenverein [475] auf ihre Bitten vor einigen Tagen ein Bett in’s Haus geschafft, daß es die Schwester aber zur nämlichen Stunde wieder versetzt habe. Geld brauchen wir, hatte sie geantwortet, als man sie zur Rede stellte.

In der darauf folgenden Nacht starb denn die Kranke, und zwei Tage nachher war das Begräbniß.

Ein Wagen, der in der Dunkelheit des Abends vor dem Hause hielt, erregte meine Neugierde. Ich brauchte nicht lange zu warten. Die Schwester der Verstorbenen erschien in Trauerkleidern und stieg in den Wagen. Ihr folgte ein großer, vornehm gekleideter älterer Herr. Er gab dem Kutscher den Befehl, auf einen der Bahnhöfe zu fahren; er solle sich sputen, der Zug gehe bald ab. Dann rollte der Wagen davon.

„Die Tragödie ist zu Ende,“ sagte ich, indem ich das Fenster schloß. Aber ich hatte nur ihren letzten Act mit angesehen – was mochten die vorhergehenden wohl enthalten haben?

Zum ersten Male wieder seit jenem verhängnißvollen Abend nahm ich den Marmorkopf aus dem Kasten des Schreibtisches. Seine Aehnlichkeit mit der Verstorbenen erschien mir größer und auffallender denn je, voll Wehmuth betrachtete ich den edlen Kopf, dessen schönes Ebenbild so jung der Vernichtung und dem Untergang anheimgefallen war, und abermals fragte ich mich, ob hier wirklich ein Zusammenhang der Dinge und Personen bestanden habe, ob die Schicksale dieses Marmorkopfes und jenes unglücklichen Mädchens wirklich mit einander verknüpft gewesen seien, ob mein Traum von neulich mehr als ein bloßes Hirngespinnst gewesen sei? – Da hörte ich auf dem Vorsaal Frau Huber, die mir zur gewohnten Stunde den Thee brachte, und als sei ich mir einer bösen That bewußt, verschloß ich die Klytiabüste wieder in dem Kasten.

„Sie sehen angegriffen aus,“ sagte ich zu meiner Wirthin, die nicht das gewohnte muntere Wesen zeigte.

„Gott sei Dank,“ seufzte sie, „daß die Geschichte endlich zu Ende ist!“

„Welche Geschichte?“

„Ich meine die Zwei, die unten im Hause wohnten.“

„Sie haben sie gekannt?“ rief ich überrascht.

„Freilich! Die Eine wenigstens, die wir heute begraben haben, in ihrer früheren Pracht und Herrlichkeit, und wer hätte ihr damals gesagt, daß sie so schnell und so elend zu Grunde gehen werde!“

„Sie machen mich neugierig; erzählen Sie!“ sagte ich hastig.

„Ahnen Sie nichts?“ fragte Frau Huber entgegen, den Blick scharf auf mich gerichtet.

„Um Alles in der Welt, was soll ich denn ahnen? Ich weiß ja nicht einmal, wer die Mädchen waren, woher sie kamen, wie sie hießen.“

Frau Huber besann sich einen Augenblick und machte sich an den Bändern ihrer Schürze zu schaffen. Dann sagte sie: „Nun gut, Sie sollen Alles wissen. – die Unglückliche, die vorgestern unten im Hause starb, hat einst hier in diesen Ihren Zimmern gewohnt.“

„In diesen Zimmern?“ fuhr ich auf und faßte Frau Huber erschrocken am Arme.

„Ja, aber lassen Sie mich ruhig erzählen! Im Grunde weiß ich selbst nicht viel, und Sie müssen sich’s eben zurechtlegen, so gut es geht. Sie stammte aus einem vornehmen Hause.“

Frau Huber nannte mir eine adelige Familie in einer Stadt Mitteldeutschlands.

„Ihre Mutter muß eine schöne Frau gewesen sein, aber leichtsinnig und leidenschaftlich, der Vater still in sich gekehrt und, vielleicht im Bewußtsein seines Unglücks, dem Trunke ergeben. Die Mutter warf einen tiefen Haß auf ihre Töchter, wie diese heranwuchsen und Sinn für die Schande im Hause bekamen. Sie mißhandelte sie sogar, und an ihrem Vater fanden sie keinen Schützer. Da liefen sie aus dem Hause in’s Weite; sie wollten zum Theater. Die Aeltere, die von ihrer Mutter die Schönheit geerbt hatte, sang auch recht gut, und sie soll auf der Bühne so schön und lieblich wie ein Engel ausgesehen haben; sie machte alle Männer toll, aber sie kümmerte sich um ihre Anbeter blutwenig. Sie war stolz. Die Jüngere war zu nichts Gutem nütze, aber dafür um so leichtsinniger, und das hatte sie auch von ihrer Mutter.

Da lernte die Aeltere einen jungen Baron aus unserer Stadt kennen. Sie liebte ihn, und er verlangte, daß sie vom Theater weg hierher in’s Haus ziehe. Er miethete die Wohnung von mir auf mehrere Jahre und richtete sie so schön und behaglich ein, wie Sie sie hier sehen. Der Baron war es auch, der mir im Plaudern so nach und nach das Meiste von der Geschichte des Mädchens erzählte, während ich das Andere leicht genug dazu errieth. Aber, wie ich Ihnen schon sagte, das Mädchen war stolz und hielt auf sich. Sie wollte ihrem Geliebten nur als seine Frau angehören. Auch dazu war der Baron bereit. Aber seine Familie setzte ihm den heftigsten Widerstand entgegen, und der Baron mag damals Arges durchgekämpft haben. Auf der andern Seite war auch das Mädchen unerbittlich, und so ließ er sich denn endlich heimlich mit ihr trauen; vor der Welt behielt sie ihren Mädchennamen bei; auch ich durfte sie nicht anders nennen, obwohl mir die Wahrheit doch so gut bekannt war. Sie habe sich mit dem Baron, sagte sie, nicht der Welt, sondern ihrer selbst wegen trauen lassen. Das müsse aber ein Geheimniß bleiben, bis die Familie ihres Mannes versöhnt sei; an dem Gerede und Glauben der Leute liege ihr nicht das Geringste, sagte sie, um die Welt habe sie sich nie gekümmert; die Menschen, war ihre häufige Rede, verdienten gar nicht, daß man sich um ihre Achtung oder Nichtachtung einen Gedanken mache; wenn man sich nur vor sich selbst und seinem eigenen Gewissen gerechtfertigt fühle. Ich verstehe das nicht und weiß auch nicht, ob sie Recht hatte, indeß fügte ich mich von Herzen gern ihrem Wunsche, ließ sie für mich wie bisher auch fernerhin nur mein liebes, gnädiges Fräulein sein, und, weiß Gott – kam mir diese Heimlichthuerei vielleicht im Grunde doch nicht ganz recht und richtig vor – ich hätte, mein’ ich, selbst wenn ich den Versuch gemacht hätte, die ‚Frau Baronin’ kaum ordentlich über die Lippen gebracht. Aber was ging das mich an? Das Glück der beiden jungen Leute war nicht zu sagen, und es schien, als wenn die Freude kein Ende nehmen würde. Sie liebte ihn leidenschaftlich, und der junge Baron war ganz gewiß ihre erste Liebe, denn das Schauspielerleben hatte sie nicht verdorben.

Aber nun muß, wie es denn am Ende auch nicht anders kommen konnte, die heimliche Trauung den Eltern des Barons wohl doch verrathen worden sein. Es ging toll zu; der Baron befand sich tagelang in der schrecklichsten Aufregung; seine schöne junge Frau weinte halbe Nächte lang, und ich möchte eine solche Zeit nicht wieder mit erleben. Um das Maß voll zu machen, kam zuletzt auch noch der alte Baron selbst hierher in’s Haus – ein hochmüthiger Mensch, wissen Sie, Einer von der Art, der Unsereins schon auf der Straße gern von Weitem aus dem Wege geht. Er überraschte das Fräulein, oder, wie ich eigentlich sagen müßte, die Baronin förmlich mit seinem Besuche, und es muß zu harten Auseinandersetzungen zwischen Beiden gekommen sein. Er verlangte in barschen Worten, daß sie sich von seinem Sohne wieder scheiden lasse, und wie er sah, daß er mit seinem brutaten Herumbefehlen nicht das Mindeste erreiche, muß er ihr sogar Anerbietungen gemacht haben, mit denen er aber garstig ankam. Ich erschrak über die Wildheit, die das sonst so liebliche und freundliche Geschöpf bei dieser Schmach, wie sie es nannte, befiel. Und da hatte sie auch Recht. Denn wie die Sache auch immer stand, so war sie doch einmal seine Schwiegertochter, die Frau seines Sohnes, vom Pfarrer mit ihm zusammengetraut, so gut wie ich mit meinem seligen Mann, und kein Mensch hätte ihr auch nur das leiseste Schlechte nachreden können. Du mein Gott, da hat schon Mancher, der noch viel reicher und viel vornehmer war, als der alte Baron, eine Schlimmere als Schwiegertochter in sein Haus geführt und hat am Ende noch geprahlt damit, wie wenn ihm Gott weiß was für ein rares Glück zugefallen wäre. Darum hielt aber auch der junge Baron trotz aller Trübsal fest bei ihr aus, und das war begreiflich; denn sie war strahlend schön, so schön, wie –“

„Wie diese Büste da!“ rief ich und holte den Marmorkopf der Klytia aus dem Schreibtisch hervor.

„Ach, da ist der Kopf ja noch!“ sagte Frau Huber wehmüthig. „Ja, den ließ der junge Baron bei einem der ersten Künstler eigens für sie aus kostbarem Stein, der weit her kam, machen und nannte seine Geliebte auch danach, weil sie dem Marmorbild so sprechend ähnlich war, daß man es leicht genug für das ihre hielt, und wenn er Abends kam, sie zu besuchen, so hatte das Fräulein gar oft in frohem Uebermuthe sich und zugleich [476] der Büste da – die stand dort in der Ecke auf einer schwarzen Säule – einen Kranz von Rosen aufgesetzt und sang, und das Alles machte sie wunderschön.

Ob der junge Baron nachher doch schwankend geworden ist, weiß ich nicht. Genug, seine Familie verfiel, den Trotzkopf zu zwingen, zuletzt auf ein Mittel, das schon manchen Stärkeren mürbe gemacht hat: sie entzog ihm seine Einkünfte, drohte mit Enterbung und –“

„Setzte damit auch die Liebe auf den Aussterbe-Etat,“ fiel ich ein.


Die Rosalien-Grotte auf dem Monte Pelegrino.
Nach einer italienischen Photographie.


„Mein Gott, was wollte der junge Baron auch machen!“ fuhr Frau Huber achselzuckend fort. „Was wird er viel gekonnt haben, sich sein Leben selbst zu verdienen! Das Einzige, was er wenigstens bei uns hier that, war, seine ewigen Cigaretten zu drehen, ein bischen Clavier zu spielen und viel Geld auszugeben. Das verstand er aus dem Fundament. Ob er bei seinen Freunden, den Officieren, viel Gescheidteres that, weiß ich nicht, glaub’ es aber kaum. Was wollte er jetzt machen? So sehr sie mir’s zu verbergen suchten, ich bin auch nicht von gestern und merkte bald, daß Schmalhans anfing Küchenmeister zu werden. Hätte er Schulden machen sollen? Das hätte ihm kaum schwer fallen können. Vielleicht wollt’ er nicht. Vielleicht, dacht’ ich mir manchmal – denn die Männer lernt Niemand aus – vielleicht ist es ihm bei aller Liebe und Verzweiflung, die er noch zum Besten giebt, gar nicht unangenehm, gedrängt und zu einer gewaltsamen Aenderung seiner Verhältnisse gezwungen zu werden. Wer kann das wissen? Aber er wurde verdrießlicher und verdrießlicher –, so kann es nicht mehr weiter gehen!“ – hörte ich ihn oft sagen. Seine Frau wollte wieder zur Bühne gehen und singen – das litt er nicht. Er lachte ihr in’s Gesicht, daß es mir wehe that. ,Wie sie ihm eine solche Zumuthung machen könne?’ rief er. Er zankte oft und brach den Anlaß dazu häufig vom nächsten Zaune, wie man so sagt. Da blieb er endlich gar einmal ein paar Tage aus, ohne einen Grund oder eine Entschuldigung anzugeben; auf die zärtlichen Vorwürfe, die er bei seinem Wiederkommen zu hören bekam, hatte er nur kurze, abweisende Antworten. Und nun wußte ich genau, wie viel es geschlagen hatte; mein armes Fräulein aber auch; denn sie wurde täglich stiller und trauriger; ich durfte ihr keine Rosen zu Kränzen mehr bringen, all mein gutgemeintes Zureden und Trösten half Nichts mehr, bis eines schönen Tages der alte Baron wiederkam.“

Frau Huber machte eine Pause und sah traurig vor sich hin. „Ja,“ sagte die wackere Frau dann, „das war ein Schrecken. Aber sie ließ sich von ihm doch nicht gleich in’s Bockshorn jagen. Er schickte mich zu ihr herein, ob er das Fräulein sprechen könne. ‚Das Fräulein?’ wiederholte sie langsam und zog die Schultern

[477] so stolz in die Höhe, wie ich es von ihr noch nie gesehen hatte. ‚Sagen Sie dem Herrn, hier wohne kein Fräulein; wenn er aber die Frau seines Sohnes, die Baronin von –, zu sprechen wünsche, sei ich bereit, ihn zu empfangen.’ Der alte Baron drehte eine Weile schweigend die Spitzen seines silberweißen Kürassierschnurrbartes, wiederholte dann seine Anfrage in gebührlicherer Form, und ich erhielt die Erlaubniß, ihn einzulassen. Er blieb diesmal sehr lange und war, glaube ich, ruhiger und höflicher als das erste Mal. Als er ging, meinte ich sogar, seine Augen roth zu sehen, aber ich werde mich wohl getäuscht haben. Wie der Baron sich zu diesem zweiten Besuche seines Vaters gestellt hat, der doch auch keinen andern Zweck haben konnte, als ihn frei zu machen, und ob er auch diesmal seine Frau mit Thränen beschworen hat, nur treu zu ihm zu halten und nicht den Glauben an ihn zu verlieren, weiß ich nicht. Aber das steht fest: er blieb immer häufiger aus, und ich war nicht wenig erstaunt, als ich damals von guter Hand hörte, wie mein Baron, den ich mir meistens auf Reisen gedacht hatte, sich wieder mitten auf allen Bällen und Gesellschaften herumtreibe und recht eigentlich der Gefeierte wäre.


Die heilige Rosalie von Tedeschi.
Für die „Gartenlaube“ nach der Natur aufgenommen.


Man erzählte sich in diesen Gesellschaften die merkwürdigsten Dinge von ihm, bald von einer unglücklichen Liebe, bald von einer heimlichen Ehe, und das Alles, ob man’s nun glaubte oder nicht, hatte den Damen so sehr den Kopf verrückt, daß sie sich völlig um ihn rissen. Offen gestanden, verstehe ich so etwas nicht – aber wahrscheinlich ist das für eine einfache Frau, wie ich bin, zu hoch, und die vornehmen Damen werden schon gewußt haben, was sie zu thun hatten.

Mein Fräulein hier verkümmerte und verblühte inzwischen immer mehr; sie berührte nicht einmal ihr Clavier mehr, an dem sie früher doch noch dann und wann eins ihrer schönen Lieder gesungen hatte. Da erhielt sie plötzlich einen anonymen Brief – es giebt so immer Schufte genug in der Welt, denen es eine Freude ist, Einem aus dem sichern Hinterhalt eine Schmach anzuthun. Der unbekannte Schreiber theilte ihr in der hämischsten Weise mit, daß sich ihr Baron wieder zu verloben gedenke, und bat sie, nun endlich doch die Komödie aufzugeben und die Summe zu nennen, für welche sie in die Scheidung willigen werde. Sie saß den ganzen Tag todtenblaß da, wortlos, den nichtswürdigen Brief in der Hand. Der Baron ließ sich nicht sehen.

Am nächsten Morgen ging sie, die Dame zu besuchen, die ihr als die künftige Verlobte bezeichnet worden war, die Tochter aus einem der vornehmsten Häuser hier. Man wollte sie erst nicht vorlassen, aber sie erzwang sich den Eintritt, den verhängnißvollen Brief in der Hand. Es soll ein garstiger Auftritt gewesen sein – mein Fräulein, in der unbeschreiblichsten Aufregung, soll der Andern auf das Unbarmherzigste mitgespielt haben; sie wollte sich rächen und die Verhaßte wenigstens an diesem letzten Tage noch sich zu Füßen sehen. Sie war wie rasend, daß die Andere, um nur loszukommen, endlich in eine Ohnmacht fiel, womit denn Alles zu Ende war.

Das Fräulein kam ganz ruhig nach Hause, wie wenn nichts vorgefallen wäre, aber sie schritt dann doch hastig hier im Zimmer auf und ab, während ich mir zu schaffen machte, als ob ich noch nicht ganz aufgeräumt hätte, und wie sie dann plötzlich einmal vor mir stehen blieb und mich – offenbar aus innerer Erregung – bei der Hand faßte, fühlte ich, daß ihre Hände eiskalt waren. Sie erwartete offenbar den Besuch des Barons. Bei der leisesten Bewegung im Hause schrak sie zusammen, und als es einmal an der Hausthür klingelte, griff sie wie voll Todesangst nach dem Herzen. Da stürzte denn auch der Baron in’s Haus, und ich glaubte, er würde sie ermorden. Aber er wurde bald wieder ruhig, rief mich und sagte mir, er werde noch heute verreisen, ich möge die Wohnung wie immer besorgen, die Dame – er sagte das mit besonderer Betonung, indem er auf die Thür des Zimmers wies, hinter der seine unglückliche Frau sich in Krämpfen wand – könne hier so lange bleiben, wie sie wolle, und dann ging er ohne ein Wort des Abschieds, ohne einen Gruß. Die Aermste saß, wie er gegangen war, still und mit trockenen Augen da, aber sie zitterte und bebte am ganzen Körper.

Spät Abends schrieb sie einen Brief an den Baron, den ich noch in der Nacht besorgen mußte. ‚Jetzt ist Alles aus, liebste [478] Frau Huber,‘ sagte sie zu mir, in helle Thränen ausbrechend, ‚ich habe ihm seinen Willen gethan und habe ihn freigegeben.‘

Drei Tage blieb sie noch; vielleicht glaubte sie, der Baron werde doch wiederkommen; am Morgen des vierten war sie verschwunden. Am Abend desselben Tages kam aber wirklich der Baron wieder; er hatte es nicht über’s Herz bringen können, zu reisen, und wie er sie nicht mehr fand, verfiel er geradezu in Raserei über ihren wilden, unbändigen Trotz, wie er sagte, und riß die Büste dort von der Säule und schmetterte sie wüthend auf den Boden, daß sie in zwei Stücke brach – sie solle nun auch zu Grunde gehen, rief er, wie ihr Ebenbild.

Das war vor einem Jahre. Von dem Mädchen habe ich nichts mehr gehört, und der Baron ging dann wirklich auf Reisen nach Rom und Neapel. Auf meine Anfrage, die ich endlich durch dritte Hand an ihn gelangen ließ, kam die Mittheilung an mich, ich solle mit der Wohnung machen, was ich wolle, ja, ich dürfe sie sogar noch einmal vermiethen. Und Sie sind der Erste, der hier wieder eingezogen ist.“

„So?“ sagte ich, und schritt bedächtig im Zimmer auf und ab.

„Seltsamer Weise kam zur selben Stunde, da Sie Wohnung hier gemiethet hatten, ein fremdes Mädchen und beschwor mich, die Zimmer zu ebener Erde, die bisher ein Tischler inne gehabt, an sie abzugeben. Sie habe eine kranke Schwester, die ihr bisheriger Hauswirth nicht mehr in seinem Hause dulden wolle; sie seien in der namenlosesten Verzweiflung und würden mir’s ewig danken, wenn ich ihnen nur so lange Zuflucht geben würde, bis die kranke Schwester wieder genesen sei. Ich habe immer ein warmes Herz für Unglückliche gehabt und habe ihnen immer gern Gutes gethan. Am Abend des folgenden Tages zogen zugleich mit Ihnen denn auch die Schwestern ein; die Kranke freilich mußte aus dem Wagen in die Stube getragen werden, und dann begann sie im Bette gleich zu fiebern und irre zu reden, daß ich schon in jener Nacht an das nahe Ende der Aermsten glaubte. Welchen Schrecken ich aber empfand, als ich in dieser elenden Gestalt mein armes Fräulein wieder erkannte, werden Sie mir glauben. Nun lag sie hier unten auf dem Stroh und ohne Ahnung, welche goldene Zeit der Schönheit und der Liebe sie in dem nämlichen Hause vor Kurzem noch verlebt.“

„Hatte sie das Haus nicht wieder erkannt?“

„Nein, und ihre Schwester hatte die Wohnung ganz ahnungslos gemiethet. Aber es war bald, wie wenn ein seltsamer Geist über sie gekommen sei; die Erinnerungen des Hauses schwebten ihr deutlich vor den Sinnen, und ganz besonders war es die Marmorbüste dort, von der sie in ihren Irrreden immer und immer wieder sprach.“

„Die Marmorbüste?“ fiel ich hastig ein.

„Ja, sie nannte wiederholt ihren Namen, und aus den wirren, zusammenhangslosen, klagenden Reden hätte man glauben können, sie wisse, daß auch die arme Büste zerbrochen hier in Ihrem Zimmer liege. Aber das ist ja nicht möglich, da der Baron die Büste erst später von der Säule geworfen hat.“

„Seltsam, seltsam!“ sagte ich. „Und um wie viel Uhr war das?“

„Etwa zwischen zehn und elf Uhr. Gegen Mitternacht wurde sie ruhiger.“

Ich hütete mich, Frau Huber von meinem Traume zu erzählen; wer weiß, wie sie die Geschichte aufgenommen hätte. Die blieb am besten ein Geheimniß für mich. In diesem Augenblicke sollte kein Anderer mir sie deuten.

„Arme Klytia!“ sagte ich, vor die Büste tretend.

„Ganz recht,“ rief Frau Huber, „das war der Name, den sie immer nannte.“

„Und haben Sie,“ fragte ich weiter, „nichts von den Schicksalen der Unglücklichen gehört, nachdem sie Ihr Haus verlassen?“

„Nur wenig. Sie scheint ihre Schwester aufgesucht zu haben und bei dieser in eine hitzige Krankheit gefallen zu sein, in der sie ihre Stimme verlor.“

„Und dann?“

„Ich weiß nichts weiter, das Ende und den trüben Ausgang haben wir ja mit angesehen. Und offen gestanden, es widerstrebte mir, die Schwester auszufragen, die so ganz, ganz anders geartet schien.“

„Diese selbst ist in ihre Heimath zurückgekehrt?“

„Ein Verwandter ihres Hauses hat sie abgeholt – das hätte wohl früher geschehen müssen. Ich bin begierig, was sie jetzt noch aus ihr machen wollen,“ meinte meine Wirthin.

Zwei Tage nachher war ich abermals auf der Suche nach einer Wohnung. Frau Huber glaubte, als ich ihr Meldung davon machte, nicht recht gehört zu haben, und ich begriff mich auch nicht. Aber die Erinnerungen dieses Hauses erdrückten mich, und ob ich durch’s Zimmer schritt, oder am Schreibtisch an der Arbeit saß, immer war mir’s, als sähe ich das schöne Ebenbild der in ihrer Liebe ebenso zärtlichen und in ihrer Rache ebenso grausamen Nymphe vor mir im weißen Gewand, mit klagender Miene und mir, dem fremden Eindringling, ihre traurige Geschichte erzählend.

Nur die Marmorbüste der Klytia nahm ich mit Erlaubniß der Frau Huber mit mir fort, und, von kundiger Hand wieder hergestellt und auf einer schwarzen Säule wieder erhöht, schmückt sie noch heute eine Ecke meines Zimmers.




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
6. Anstand und feine Sitten im täglichen Verkehr.

Es giebt in dem, was man gemeinhin Bildung und feinen Anstand nennt, der Abstufungen und Unterschiede gar viele. Oft trifft man in Gesellschaft Leute, welche mit feinstem Geschmack gekleidet sind und sich in Sprache und Benehmen nach allen Regeln des besten Anstandes bewegen, und doch wird man ein gewisses ängstliches Gefühl beständiger Vorsicht ihnen gegenüber nicht los. Man sucht unwillkürlich das Gespräch blos in den allerbreitesten Heerstraßen des Gewöhnlichen fortzuschieben; man vermeidet sorgsam jede Gelegenheit, solch einen Menschen warm werden zu lassen, oder ihm den allergeringsten Theil von Vertraulichkeit zu zeigen; man hütet sich, ohne zu wissen warum, ihm gegenüber beständig vor irgend einer unbestimmten Gefahr. Und wieder Andere giebt es, Männer und Frauen, bei denen man von vornherein überzeugt ist, unser Gespräch mag welche Wendung immer nehmen, es wird nie etwas Rohes und Gemeines, es wird nie eine Aeußerung oder auch nur ein Blick vorkommen, bei welchem man anfängt, sich unbehaglich zu fühlen. – Das sind die Menschen, die nicht blos gebildet handeln und sprechen, sondern auch fein denken und empfinden – darin liegt der ungeheure Unterschied.

Solche Menschen, denen das Gefühl für Anstand und feine Sitten gleichsam im Blute liegt, sind gesucht und geliebt von den Besten aller Stände und Classen; ist es doch ihr schönes Vorrecht, daß sie den tiefer Stehenden zu sich emporheben, sich von höher Gestellten nie einschüchtern lassen und stets und überall den rechten Ton zu treffen wissen.

Die äußere Form des feinen Tacts nennt man „Anstand“; der Geist, die Seele aber, aus welcher der Anstand entspringen muß, ist ein so allumfassendes Wesen, daß man fast behaupten kann, es schließe alle größten, erhabensten Tugenden des Menschen in seinem Rahmen ein. Allgemeine, selbstlose Menschenliebe und Achtung ist der Kern davon, aber es gehört auch gründliches Wissen, fester Charakter, Bescheidenheit und richtige Selbsterkenntniß, Umsicht und Klugheit – es gehört so viel dazu, um diesen inneren feinen Tact in allen Lebenslagen zu bethätigen, daß ich wohl behaupten darf, er kann als Maßstab für den Werth eines Menschen gelten.

Wird nun von diesen beiden Theilen des feinen Tactes nur der erstere, der äußerliche Anstand, gepflegt und geübt, ohne den Geist, der die Form beseelen muß, so erhält man dadurch eine gefährliche Waffe zur Täuschung seiner Mitmenschen. Es gehen leider gar Viele durch die Welt, die sich diese Waffe zu erschwindeln gewußt haben und sich mittelst derselben zu dem Vertrauen Leichtgläubiger Bahn brechen. – Wird hingegen die äußere Form vernachlässigt, so bleibt der Geist, die Seele der guten Sitte, ein unsichtbares Wesen, das nicht erkannt und nicht beachtet wird. Nur Beides in harmonischer Vereinigung kann zu einem wahrhaft großen Segen für den Eigenthümer werden.

[479] Glücklich Jeder, der diesen Segen als unschätzbares und unverlierbares Gut aus treuer Elternhand mit hinaus in’s Leben bekommen hat; nur sehr schwer und selten kann man ihn in späteren Jahren sich noch verschaffen. Kinder können natürlich das Wesen dieser Mitgift noch nicht begreifen, sind aber schon sehr früh befähigt, sich ihre Formen anzueignen, und deshalb muß man mit diesen beginnen. Es ist nicht blos ein niedlicher Scherz, nein, tiefer Ernst liegt zu Grunde, wenn man das Kindchen, noch bevor es den ersten Schritt gethan und das erste Wort gesprochen hat, dazu anhält, um einen Gegenstand zu bitten, oder dem fremden Gaste ein „Patschchen“ zu geben. Es ist nicht Heuchelei, sondern erste Regel feiner Sitte, was wir die größeren Kinder lehren, wenn wir von ihnen verlangen, Fremden mit freundlichem Gesichte entgegen zu treten. Die natürliche Schüchternheit muß so weit überwunden, die kindische Lebhaftigkeit so weit gezügelt werden, daß schon kleine Kinder zur rechten Zeit freundlich Rede und Antwort geben lernen und zur rechten Zeit auch wieder bescheiden schweigen. Es ist sehr thöricht, wenn man über etwas Unpassendes, das sie gethan oder gesagt haben, lacht oder es gar in ihrer Gegenwart weiter erzählt.

„Die Tante hat aber einmal eine große Nase!“ sagte ein kleiner dreijähriger Pfifficus. Alles lacht, die Tante selber am meisten mit, und er bekommt mehr als einen Kuß für die treffende Bemerkung.

Großmama hat der kleinen Enkelin eine Puppe mitgebracht. Das Kind dreht sie nach allen Seiten und sagt endlich:

„Man kann ja das Püppchen nicht ausziehen, das ist aber dumm.“

„Seht einmal an, das hat sie doch gleich weggekriegt, der kleine Schelm! Ja, ja, die läßt sich nicht betrügen!“ heißt das Urtheil über die ungezogene Bemerkung.

Aber gewiß, die Kinder sind nicht zu jung, daß man nicht zum Knaben in ernstem Tone hätte sagen müssen:

„Ueber die Gesichter der großen Leute hast Du gar nichts zu sagen; das gehört sich nicht für einen kleinen Jungen. Geh, gieb der Tante einen Kuß. Sie will so gut sein und es Dir dieses Mal verzeihen, aber merke Dir, daß Du es nicht wieder thun darfst.“

Und zu dem Mädchen:

„So? Die gute Großmama hat Dir eine Freude gemacht, und Du tadelst ihr Geschenk? Pfui, das ist undankbar! Wenn Du das noch einmal thust, so nimmt Großmama die Puppe gleich wieder mit fort.“

Betroffen werden dann beide Kinder inne werden, daß sie gefehlt haben, und vorläufig der Form genügen lernen. Wer weiß auch, ob nicht schon jetzt ein Verständniß davon in ihren kleinen Herzen aufdämmern würde, daß es lieblos ist, über die Mängel und Gebrechen Anderer zu spotten, und daß man in jeder Gabe zumeist und zunächst die freundliche Absicht des Gebers zu achten hat.

Kinder müssen sich zuerst nur mechanisch, und einfach aus Gehorsam, die äußeren Formen der Höflichkeit, Aufmerksamkeit und Bescheidenheit aneignen; sie müssen Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung lernen, lange bevor sie eine Ahnung davon haben können, aus welchen Quellen all diese Tugenden stammen; sie müssen dieselben so lange aus bloßem Gehorsam üben, bis mit der vorschreitenden geistigen Reife sich dieser blinde Gehorsam in ein Handeln aus eigener Ueberzeugung umwandelt.

Damit aber diese anmuthigen und liebenswürdigen Formen nach und nach mit dem eigentlichen Wesen der guten Sitte verschmelzen, ist es unerläßlich, daß diejenigen, die uns die Form gelehrt haben, auch selbst von deren innerem Geiste durchdrungen sind.

Von einer Mutter, welche nur in Gesellschaft mit feinem Benehmen prunkt und dieses, gleich dem Sonntagsstaat, daheim wieder ablegt, von einem Vater, der gegen Fremde die gewähltesten Ausdrücke gebraucht und sich, sobald die Thür hinter dem Besuch geschlossen ist, gegen seine Hausgenossen einer ganz anderen Sprache bedient, von solchen Eltern können natürlich auch ihre Kinder nur die leere, todte Form des Anstandes erlernen, und es werden dann eben aus ihnen jene Menschen, vor denen der wirklich Gebildete eine gewisse instinctive Scheu empfindet. Nur wie ein loses Gewand umflattert sie der gute Ton und die hergebrachte Sitte – ein einziger unerwarteter Luftzug bläst die leichte Hülle fort und läßt die niedrigen Gesinnungen durchblicken, die darunter verborgen sind. Daheim, im täglichen Verkehr, im Schooße des Familienlebens ist allein die Schule, in der unsere Kinder Geist und Wesen der feinen Sitte zu erlernen vermögen; wie verkehrt ist es, die Mädchen zu diesem Zweck in theure auswärtige Institute zu senden! – Möglich, daß dort die junge Dame noch einige Anstandsregeln lernt, aber das Beste muß sie doch schon mitgebracht haben, wenn mehr aus ihr werden soll, als eine affectirte Zierpuppe.

Und wunderbar! Ich habe es mehr als einmal beobachtet, daß Mädchen, die in völliger Zurückgezogenheit, in den allereinfachsten Verhältnissen aufgewachsen waren, wenn sie später durch Schicksalsfügungen in die große Welt kamen, ihren Platz darin mit so feinem Tact und Anstand zu behaupten wußten, daß die hochgeborenen Damen ihrer Umgebung nicht genug darüber staunen konnten.

„Wo in aller Welt hat es die Kleine her?“ hört man dann; „sie benimmt sich wie eine Königin, und meine Tochter, die ich im feinsten Pariser Institut habe ausbilden lassen – sehen Sie nur! – dort steht sie wieder und dreht jener Dame den Rücken zu, wie ungeschickt!“ –

Diese Mutter bedenkt nicht, daß ihrer Tochter erst im Institut gelehrt und eingetrichtert worden ist: man dürfe einer Standesperson nicht den Rücken zukehren. Wie kann sie nur verlangen, daß das arme Mädchen beständig alle diese tausend eingelernten Anstandsregeln im Kopfe hat!

Die „Kleine“ aber, die sich unbewußt und ohne daran zu denken, „wie eine Königin“ benimmt, hat jene Regeln nicht im Kopfe, bei ihr sitzen sie im Gemüth und Herzen; sie hat sie eingeathmet mit der Luft des Elternhauses. Die Mutter hat es ihr vielleicht nie gesagt, daß solch ein Thun unhöflich ist, aber sie selbst – die Mutter – hat niemals einer Person, und sei es die ärmste Nähterin gewesen, grob den Rücken zugekehrt, und so ist in dem Mädchen auch der Instinct entstanden, daß Solches ungehörig sei. – Ein derartig erzogenes Mädchen wird, selbst wenn es nie in Herrengesellschaft war, dennoch schon am ersten Ballabend ganz genau wissen, wie es sich den Herren gegenüber zu benehmen hat, und kein leichtfertiger Stutzer wird es wagen, ihm auch nur mit einem Worte zu nahe zu treten. Es ist eine wunderbar mächtige Waffe, die gerade uns Frauen gegeben ist, wenn wir die feine, edle Sitte, die sich „nicht lernen“ läßt, in jedem Pulsschlage unseres Herzens klopfen fühlen. Mit Worten läßt sich diese Macht nicht definiren, aber wer es je versucht hat, ihr Trotz zu bieten, der kennt sie. –

Ist es nicht ein schönes, stolzes Bewußtsein, daß es in unserer Elternmacht liegt, unseren Töchtern und Söhnen etwas so Herrliches zu eigen zu machen? Etwas, das ihnen alle Pforten der Gesellschaft öffnet und ihnen zugleich die mächtigste Wehr in jeder Fährniß bietet?

Das Geheimniß der Erziehung zu Anstand und feiner Sitte ist einfacher, als man glauben möchte. Es liegt in dem einen Satze beschlossen: Erlaubt euch nie im Hause ein Wort, einen Blick, eine Handlung, die anders ist, als eure Worte, Blicke und Handlungen in der besten Gesellschaft.

Nur ein Beispiel! Das Wörtchen „Bitte“ und „Danke“ ist so schnell gesagt; warum also nehmt ihr euch nur Fremden gegenüber Zeit dazu? Es verstößt durchaus nicht gegen die Würde des Hausvaters und der Hausmutter, jeden Befehl in bittender Weise zu ertheilen und kurz für das Geleistete zu danken.

Wenn die Mutter zu ihrer kleinen Tochter sagt: „Bitte, Lieschen, heb’ mir den Knäul auf!“ und das Garn mit einem freundlichen: „Danke, mein Kind,“ in Empfang nimmt, so kann sie überzeugt sein, das Kind wird auch zu seinen Geschwistern und zu den Dienstboten in gleicher Weise sprechen.

Wenn der Vater aufmerksam aufspringt, um der Mutter den schweren Korb abzunehmen, den sie in der Hand tragt, so werden das nächste Mal seine Knaben es ihm nachthun, und die Dienstboten, welche in einem solchen Hause sind, werden bald auch angesteckt werden von der allgemeinen wohlwollenden Artigkeit und Aufmerksamkeit aller Familienmitglieder gegen einander.

Sagst du zur Köchin: „Bitte, bringen Sie mir ein Glas Wasser!“ so stellt sie das Glas schon ganz von selbst auch auf einen Teller und bringt es in anständiger Art herein. Aber die Magd, der du entgegengeherrscht hast: „Auguste, Kohlen!“ kommt mit brummigem Gesicht herein und schiebt dir polternd den Kasten [480] vor die Füße. Nur höfliche Herrschaften können auf zuvorkommende und ihnen treu ergebene Dienerschaft zählen. Dazu ist es durchaus nicht nöthig, intim oder zutraulich mit der Dienerschaft zu sein. Auch hier muß alles genau auf demselben Fuß bleiben, ob man allein ist oder Gesellschaft hat.

Ist der Zuschnitt deiner Häuslichkeit nach dem Maße des Verkehrs in guter Gesellschaft eingerichtet, so ist damit nicht nur die Erziehung ungemein vereinfacht: es ist damit zugleich eine Unsumme von besorgter Aufmerksamkeit, Verlegenheit und Unruhe gespart. Wenn dein Dienstmädchen gewöhnt worden ist, an jedem Tag die Arbeit fein und anständig zu verrichten, kannst du ihr auch die Bedienung fremder Gäste anvertrauen. Und ebenso kannst du mit größter Ruhe deine Kinder in ein fremdes Haus gehen lassen, ohne ihnen besondere Verhaltungsmaßregeln mitzugeben. Alles, was du sagen könntest, würde ja sein:

„Betragt Euch so, als ob Ihr zu Hause wäret.“

Die Kinder dürfen ja auch zu Hause und im täglichen Verkehr nur artig und zuvorkommend sein; sie müssen auch zu Hause stets nett und sauber in ihrer Kleidung sein; sie müssen alle Tage genau so anständig am Tische essen, wie man es in gesitteter Gesellschaft verlangt, und sie haben auch daheim nie etwas anderes gesehen und gehört, als sie in Gesellschaft sehen und hören werden.

Welchen Schrecken, ja welch Entsetzen ruft in manchen Häusern das unvermuthete Eintreffen fremder Gäste hervor! Da schießt Alles hin und her; Thüren hört man in der Ferne auf- und zuschlagen, hastig abgebrochene Worte werden geflüstert. Eins der Kleinen, das uns im Vorhaus freundlich entgegen laufen will, wird eiligst von einer Kindsmagd am Aermchen gepackt und zu irgend einer Thür hinausgeschoben, während wir selbst in den Salon genöthigt werden. Nun vergeht eine längere Zeit, bis die Hausfrau, die erst Toilette gemacht hat, erscheint, und sich über ihren eigenen Anzug, über die Unordnung im Zimmer, und was weiß ich noch Alles, verlegen entschuldigt, ehe sie aus der Aufregung nur einigermaßen zur Ruhe kommt.

Seht ihr, das sind Familien, in denen das anständige Wesen nur zu besondern Gelegenheiten umgehängt wird, wie ein Staatsmantel. – Muß nicht eine Hausfrau jede Stunde des Tages anständig genug gekleidet sein, um eine liebe Freundin ohne Verlegenheit empfangen zu können? Wie soll ich mir den Zustand vorstellen, in dem sie gewesen ist, ehe alle die Thüren zugeschlagen wurden, zu denen ich beileibe nicht hineinsehen durfte? Ein ganz einfaches Hauskleid, eine Leinwandschürze, wenn man eben im Häuslichen zu thun hatte, ja sogar eine von der Arbeit feuchte Hand, die man erst abtrocknen muß, ehe man sie der Freundin bieten kann, all Das würde mich nicht dazu veranlassen, beim Eintritt von Besuch die Flucht zu ergreifen. Man weiß es ja, daß ich in meinem Hause beschäftigt bin, und ich schäme mich dessen nicht. – Liegt hier und da ein Kinderspielzeug herum, nun wohl: man weiß es, daß ich kleine Kinder habe, die im Wohnzimmer spielen; auch das ist keine Schande. Aber freilich – Kleider, Wäsche oder das leere Geschirr von der letzten Mahlzeit, oder Staub und Schmutz in den Winkeln – das darf nicht im Wohnzimmer zu finden sein, das darf aber auch nie dort zu finden sein, und ebenso darf sich nie, absolut niemals, die Hausfrau oder ihre Kinder in einem Anzuge befinden, dessen sie sich vor fremden Augen zu schämen hätte. Müßte sie sich denn nicht viel tausendmal mehr vor den Augen ihres Gatten – ja sogar vor denen ihrer Dienstboten – schämen?

Darum kann echte, gute Sitte und feiner Anstand nur in einem Hause geübt werden, dessen ganzes Thun und Treiben, Reden und Denken klar vor den Augen aller Welt daliegt, wie unter einer Krystallglocke.

„Licht, viel Licht, bis in den letzten Winkel hinein!“ heißt es auch da wieder, und die Kinder, die in dieser klarem sonnenhellen Atmosphäre erwachsen sind, werden überall im Leben ihren Platz gut auszufüllen wissen, ob sie das Schicksal dereinst in bescheidene Verhältnisse bringt oder ihnen eine Krone in’s Wappen flicht.




Blätter und Blüthen.


Noch einmal die Colibri. Wenn in den „Colibri-Studien“ („Gartenlaube“ Nr. 6) gesagt wird, daß die so zierlichen Vögel sich hauptsächlich von kleinen Kerbthieren nähren, die sie in den Blumen aufsuchen, so mag es andererseits nicht ohne Interesse sein, zu erfahren, daß sie auch von Honig allein zu leben vermögen, es sogar, wenn eine kleine Mühe nicht gescheut wird, möglich ist, selbst ganz junge Thierchen, ohne Beihülfe der Alten, aufzuziehen, wie ich in den folgenden Zeilen zu schildern suchen werde.

In der Stadt Z. auf der Hochebene Mexicos begegnete ich eines Nachmittags einem Jungen, der ein auf einem gabelförmigen Zweige erbautes Nest, in dem sich zwei noch durchaus nackte Colibri befanden, in der Hand hielt. Ich bot dem Jungen einen Real (fünfzig Pfennig), und wir waren des Handels einig. Sofort eilte ich nach Hause, bohrte ein Loch in ein Brettchen, steckte den Zweig hinein und stellte das Ganze auf einen Tisch. Die erste Sorge war nun: wie und mit was füttern? Zuckerwasser verwarf ich als nicht geeignet, denn wenn, wie ich annehmen mußte, die Nahrung dieser Thierchen der Nektar der Blumen sei, so bot Zuckerwasser einen nur schwachen Ersatz dafür; ich kaufte deshalb etwas Honig, den ich mit Wasser verdünnte. Vermittelst eines dünnen Hölzchens, welches ich eintauchte, versuchte ich nun, an den Schnäbeln hinstreichend und dabei etwas aufdrückend, den kleinen Thieren ein wenig Nahrung beizubringen, denn sie wollten die Schnäbel nicht sperren. Nach wiederholten Versuchen gelang es mir, ihnen einige Tropfen einzuträufeln, und ich setzte auf diese Weise das Füttern fort. Um nun meinen so sehr zarten Pfleglingen die Wärme der fehlenden Eltern zu ersetzen, bedeckte ich sie mit gezupfter Baumwolle. Die Hoffnung, die Vögel am anderen Morgen noch lebend zu finden, war freilich eine nur kleine, um so größer aber meine Freude, als ich sie wirklich noch am Leben und munter fand.

Nach einigen Tagen ging das Geschäft des Fütterns schon besser, denn nun sperrten sie, wenn ich mich dem Tische näherte, ihre Schnäbel von selbst auf und fuhren an dem mit Honig bestrichenen Hölzchen, welches ich ihnen reichte, hin, mit ihren Zungen, dünn wie Nadeln, den Saft einführend.

Jedenfalls muß meinen Kleinen Kost und Pflege wohl bekommen sein, denn sie gediehen ganz hübsch; nur beging ich einmal den Fehler, ihnen zu viel Futter zu reichen, denn die noch ganz kahlen Kröpfchen waren durch die Ausdehnung fast durchsichtig geworden, was glücklicher Weise keine schlimmen Folgen hatte.

Mit vielem Vergnügen sah ich sie von Tag zu Tag sich mehr entwickeln, und nach zweiundzwanzig Tagen ward mir die Genugthuung zu Theil, die Thierchen mit schönem grün- und bronzeschillerndem Gefieder bedeckt und flügge zu sehen. Sie waren jetzt aber im Nest nicht mehr zu halten, und so oft ich sie auch vom Boden, wohin sie immer flogen, aufnahm und in ihr Nest zurücktrug, währte es nicht lange, so waren sie wieder unten. Als ich ihnen eines Morgens ihr Futter geben wollte, war eines meiner Kleinen verschwunden und blieb es auch, trotz allen Nachsuchens. Ob es nun davon geflogen oder von der Katze verspeist worden war, weiß ich nicht; nach weiteren zwei Tagen war das andere, wahrscheinlich aus Leid über den Verlust des Gefährten, todt.

J. G. B.




Ueberraschungs-Gesellschaften in Amerika. Aufregung ist dem Amerikaner Bedürfniß, und wo dieselbe fehlt, schafft er sie sich; es ist deshalb nicht zu verwundern, daß er sie auch bei rein gesellschaftlichen Zusammenkünften nicht vermissen will, und darin ist wohl der Ursprung der surprising parties oder Ueberraschungs-Gesellschaften zu suchen.

Eine Anzahl bekannter oder befreundeter Personen beschließt bei einer denselben befreundeten Familie eine surprising party zu geben. Sie versammeln sich zu diesem Zwecke an einem bestimmten Orte im feinsten Gesellschaftsanzuge und ausgerüstet mit allen Delicatessen und feinen Weinen zu einem splendiden Abendessen. Eben hat sich die zu überraschende Familie zu Bett begeben, als einer der Gesellschaft unter irgend einem Vorwand Einlaß bei derselben begehrt; kaum ist die Thür geöffnet, dann stürmen die Anderen nach und nehmen Besitz vom ganzen Hause; während die Einen nun das Souper arrangiren, improvisiren die Anderen einen Ball oder irgend eine andere Belustigung, zu der die Hausbewohner mit vielem Ceremoniell eingeladen werden. Ebenso plötzlich wie die Gesellschaft erschienen, verschwindet dieselbe auch wieder nach einiger Zeit, den so aus ihrer Ruhe Gerüttelten es überlassend, in ihre Häuslichkeit wieder Ordnung zu bringen, denn es ist ein Theil des Programms der surprising parties: alles von unterst nach oberst zu kehren. An der grenzenlosen Verwirrung im Hause erkennen denn auch die Ueberraschten in der Morgenfrühe, daß das Ganze kein Traum war. Erfreut sich eine Familie einer größeren Bekanntschaft, so ist sie nicht sicher, an ein und demselben Abend zweien oder mehreren solcher Gesellschaften ihre Thüren öffnen und ihr Haus zur Verfügung stellen zu müssen.




Vermißt. Ein hochbetagter armer Holzsäger bittet um Kunde von seinem Sohne, dem Seemann Peter Joh. Fr. Hargens aus Marne in Holstein. In seinem letzten Briefe vom 30. Juni 1857 aus Cardiff schrieb er, daß er am folgenden Tag (1. Juli) mit einem holländischen Barkschiff nach Singapore und Batavia abgehen und später nach Deutschland zurückkehren werde. Seitdem ist den alten betrübten Eltern keine Kunde von ihm geworden.




Kleiner Briefkasten.

M. B. in Breslau. Wir bedauern, Ihnen nicht dienen zu können.

N. Karl. Zu unserem Bedauern nicht zu verwenden. Geben Sie gütigst Ihre genaue Adresse zur Rücksendung des Manuscripts an!

C. S. in Karlsruhe. Sie kennen die Adresse: lassen Sie Ihrem Herzen freien Lauf und schicken Sie direct. Die Theilnahme in dieser Form kann unmöglich verletzen.

Americus. Ungeeignet.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.