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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[661]

No. 40.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Junker Paul.
Erzählung von Hans Warring.
1.

„Sie werden es noch zu Ihrem eigenen Schaden erfahren, mein Junge, daß man hier zu Lande nicht mit dem Kopf durch die Wand kommt.“

„Ich bin nicht so harmlos, mein lieber Herr Nachbar, daß ich mit meinen dreiunddreißig Jahren diese Erfahrung nicht bereits auch anderwärts gemacht haben sollte. Aber ich habe nebenbei auch noch dies gelernt: ein Mann in meiner Lage ist rettungslos verloren, sobald er ein ängstliches Schwanken zeigt. Ich bin mit mir zu Rathe gegangen und bin nicht zweifelhaft, wie ich antworten werde, wenn es zur Entscheidung kommt.“

„Sehr gut! sehr gut! Wenn aber die Folgen schwer auf Ihr Haupt fallen, dann erinnern Sie sich gefälligst, daß Sie gewarnt worden sind!“

„Sie dürfen ruhig sein; ich weiß sehr wohl, daß ich allein für meine Handlungen einzustehen habe.“

„Das klingt sehr schön, ist aber nicht ganz richtig. Wir Alle haben unter Ihrem Starrsinn zu leiden; die ganze Nachbarschaft ist in Gefahr, wenn es zum Aeußersten kommt. Setzen wir den Fall, daß die Kerle aus dem Hinterhalte heraus Ihnen eine Kugel vor Ihren widerspenstigen Kopf schießen – was dann?“

„Dann werde ich ein paar Jahre später dem Schicksal unterlegen sein, das mich schon bei Königgrätz oder Gravelotte hätte ereilen können. Für einen preußischen Soldaten ist eine Kugel kein unbekanntes Schreckbild mehr.“

„Und Sie wollen sie wirklich riskiren, auch wenn Sie durch ein wenig Nachgiebigkeit Alles in’s richtige Geleise bringen könnten?“

„Das ist’s ja eben. Ich kann mich nicht davon überzeugen, daß meine Nachgiebigkeit dies bewerkstelligen würde. Im Gegentheil: sie würde die Krisis nur hinausschieben, nicht beseitigen.“

„Von zwei Uebeln wählt ein gescheidter Mann das kleinere. Bezwingen Sie Ihren stolzen Trotzkopf, treiben Sie durch Ihre Hartnäckigkeit die Sache nicht bis auf die Spitze – seien Sie ein guter Junge! Eine kleine Zulage würde sich auch noch erschwingen lassen – kommen Sie der aufgeregten Menge durch ein solches Anerbieten entgegen! Sie werden sehen, wie beschwichtigend dies auf die Aufsässigen wirken wird.“

„Es wäre Schwäche, ‚beschwichtigen‘ zu wollen, wo man ‚durchgreifen‘ muß. Ich habe Ihnen schon gesagt, Herr Kayser, daß ich meine Lage wohl überdacht habe. Ich zahle so hohe Löhne, wie sie ein Fabrikant in dieser ungünstigen Zeit und bei dem Drucke, der auf allen Geschäften ruht, nur irgend zahlen kann. Kein Billigdenkender wird mehr von mir verlangen. Arbeite ich nicht selbst hart, und was habe ich dafür? Ich sage Ihnen, es ist gewiß Keiner unter allen meinen Arbeitern, der einen so sorgenschweren Kopf hat, wie ich. Blicken Sie um sich in meinem Hause! Ueberall wird Ihnen der ernste, nüchterne, an Arbeit und Selbstbeschränkung gewöhnte Geist meiner Heimath entgegentreten. Erlauben wir – meine Schwester und ich – uns irgend einen Luxus? Nur durch strenge Beschränkung unserer eigenen Bedürfnisse bin ich im Stande, meinen Verpflichtungen gegen Andere – auch gegen Sie, Herr Nachbar – nachzukommen. Wenn ich aber weiß, was ich Anderen zu leisten habe, so weiß ich auch, was ich mir selbst schuldig bin. Und ich erkläre Ihnen, daß ich nicht eine Viertelstunde von der festgesetzten Arbeitszeit herunterzugehen oder um einen Pfennig die Löhne zu erhöhen gedenke.“

„Sie dürfen mir nicht mehr sagen, daß Sie wissen, was Sie sich selbst schuldig sind. Ihr Selbstbewußtsein steht Ihnen auf Ihrer eigensinnigen, eisernen preußischen Stirn geschrieben. Sie kranken nicht an einem Mangel an Selbstgefühl.“

„Kein rechter Mann, der nicht weiß, was er werth ist.“

„Oho, lieber Freund, darüber kann man sich auch täuschen. Aber ich bin nicht gekommen, Ihnen Demuthslehren zu geben – es wären dies in den Wind gesprochene Worte. Ich bin gekommen, Ihnen einen Vorschlag zu machen, auf den Sie eingehen werden, wenn Sie in Wahrheit der gescheidte Bursche sind, für den ich Sie bisher gehalten. Sehen Sie, junger Freund, unser Interesse an dem Fortbestehen und Gedeihen der Fabrik ist ein gleiches: von mir steckt eben so viel Geld darin, wie von Ihnen und Ihrer Schwester. Es liegt auf der Hand, daß wir alle Drei gewinnen, wenn die Arbeiten ruhig und ununterbrochen vorwärts gehen, was voraussichtlich nicht geschehen würde, wenn Sie rücksichtslos Ihrem Eisenkopfe folgten. Nun will ich es aber auf der andern Seite auch nicht leugnen, daß Sie Recht, völlig Recht haben in dem, was Sie von Ihrem eigenen Verhalten und Ihren Bemühungen sagten. Ich weiß Ihre Energie und Ihre Arbeitslust wohl zu schätzen. Ich erkenne es an, daß ich mein Eigenthum an keinen sichereren, reelleren Mann hätte verkaufen können, und weil ich das weiß, bedauere ich es auch doppelt, daß die ungünstigen Zeitverhältnisse Ihnen Schwierigkeiten bereiten, die wir Beide beim Abschlusse des Kaufes nicht vorhersehen konnten. Lassen Sie mich schnell zur Sache kommen! Sowohl als gewissenhafter Geschäftsmann, wie auch als Ihr aufrichtiger [662] Freund erbiete ich mich für die nächsten Jahre, bis sich Ihnen ein gesicherter Absatz Ihrer Tuche eröffnet hat, mit einem geringeren Zinssatze zufrieden zu sein und stelle nur die Bedingung, daß Sie einem heftigen Zusammenstoße mit Ihren Arbeitern vorbeugen und in eine kleine Erhöhung der Löhne einwilligen. Antworten Sie mir jetzt nicht, junger Freund! Erwägen Sie meine Worte – wir wollen erst in einigen Tagen einen Beschluß fassen.“

„Sie sind sehr gütig, Herr Kayser! Glauben Sie mir, es thut meiner Dankbarkeit gegen Sie keinen Abbruch, wenn ich sowohl die Bedenkzeit, wie Ihr gütiges Anerbieten ablehnen muß.“

„Lehnen Sie nicht ab, mein Junge! Tragen Sie den hiesigen Verhältnissen und der augenblicklichen Stimmung der Arbeiter Rechnung!“

„Es geht gegen meine Grundsätze, einer ungerechten Forderung aus feiger Furcht vor den etwaigen unangenehmen Folgen nachzugeben. Sie wissen es ebenso gut wie ich, daß ich eine bedeutende Zulage, selbst wenn ich wollte, nicht gewähren kann. Mit einer Kleinigkeit aber ist den Leuten nicht geholfen – lassen wir es daher beim Alten!“

„Sie werden schon ohnedies als Eindringling betrachtet. Man sieht in Ihnen mehr den preußischen Eroberer, als den ruhigen, gewerbthätigen Bürger. Werden Sie den Zeitverhältnissen gerecht, bewilligen Sie eine Kleinigkeit! Sie zeigen dadurch Ihren guten Willen.“

„Das würde in diesem Falle heißen: Ihre Schwäche. – Wer würde dabei gewinnen? Mein Nachgeben würde die Leute zu neuen Forderungen ermuthigen, und mit Recht. Einem Manne, der einmal schwach und feige gewesen ist, kann man dies auch zum zweiten Male zutrauen. Sehen Sie nicht ein, daß das den Krieg verschieben, nicht auskämpfen hieße?“

„Sie wollen also nicht?“

„Ich kann und will nicht.“

„Gut, so tragen Sie die Folgen, Sie – Sie – Sie – preußischer Stierkopf!“

„Es ist nicht das erste Mal, daß Sie mir sagen, welche gute Meinung Sie von mir haben.“

Der Mann, welcher die letzten Worte mit einem schwachen Lächeln auf seinem ernsten, ausdrucksvollen Gesichte gesprochen hatte, erhob sich von dem Sopha, auf welchem er neben seinem Gaste gesessen hatte, und machte einen Gang durch das Zimmer. Der Andere blieb sitzen und schaute ihm, seine weißen, wohlgepflegten Hände auf den goldenen Knauf seines Stockes gestützt, grimmig nach. Zwischen den beiden Männern bestand eine herzliche Freundschaft, und doch trennten sie sich kaum jemals, ohne einen heftigen Kampf ausgefochten zu haben. Der Aeltere, der ehemalige Fabrikbesitzer Kayser, war ein wohlconservirter, stattlicher Fünfziger. Seine hellen grauen Augen blickten unter buschigen Brauen scharf und klug hervor, und als er sie jetzt auf seinem jüngeren Freunde ruhen ließ, verloren seine Züge allmählich den Ausdruck lebhaften Aergers und nahmen wieder den eines grimmigen Wohlgefallens an. Es lag in dem Aeußeren von Max Reinhard Vieles, was Herrn Kayser als Ausdruck dessen erschien, was er den preußischen Hochmuth und den preußischen Dünkel nannte und was ihm eher antipathisch als anziehend war. Aber die ganze Erscheinung des jungen Mannes – seine hohe, feste Gestalt, seine straffe soldatische Haltung und der ernste, gebietende Blick seines Auges zeugten von Kraft, Muth und Energie – Eigenschaften, die ihn stets zur Bewunderung gezwungen hatten und denen er auch jetzt bei dem jungen Preußen seine Achtung nicht versagen konnte, selbst wenn sie, wie in diesem Augenblicke, dazu gebraucht wurden, seinen Willen zu durchkreuzen.

Es war nach den letzten Worten Reinhard's eine Pause eingetreten, während welcher der Gast seine Auge von dem verdüsterten Gesichte seines Wirthes auf die Gegenstände schweifen ließ, welche ihn umgaben. Das Gemach war hoch, hell und freundlich, aber Alles darin zeigte sich fast bis zur Nüchternheit einfach. Der junge Hausherr hatte augenscheinlich Recht, als er den Ausspruch that, daß man in seinem Hause sich jeden Luxus versage. Aber trotz dieser Einfachheit machte das Zimmer einen behaglichen Eindruck, der zum größten Theile dadurch hervorgebracht wurde, daß ein gebildeter Geschmack und ein Geist peinlichster Ordnung aus jedem Gegenstande sprach.

Die Beobachtungen des Herrn Kayser und die Reflexionen, welche sich ihm zur Entschuldigung für Reinhard's Starrköpfigkeit daran knüpfen wollten, wurden durch das Oeffnen der Thür unterbrochen. Ein zierliches Zimmermädchen steckte ihren wohlfrisirten Kopf herein und meldete, daß der Thee servirt sei.

„Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, so lange zu bleiben,“ sagte Kayser, langsam seinen Sophaplatz verlassend und unentschlossen stehen bleibend.

„Sie werden doch jetzt nicht aufbrechen, lieber Herr Nachbar. Was würde meine Schwester davon denken, wenn ich ohne Sie käme?“

„Wahrscheinlich das Richtige: daß wir uns entzweit haben.“

„Ich behaupte, daß dies gerade das Unrichtige wäre. Zwei Männer können sehr wohl einmal verschiedener Ansicht sein. Wenn sie aber Beide gerecht und billigdenkend sind, so kann dies zu keinem ernstlichen Zerwürfnisse führen. Marie würde sich unnöthiger Weise beunruhigen, wenn Sie nicht kämen.“

Er hatte während dieser Worte die Flügelthür geöffnet, die in das anstoßende Zimmer führte.

„Die und sich beunruhigen!“ murmelte Kayser zwischen den festgeschlossenen Zähnen hervor, während er über die Schwelle spazierte, „ich möchte wohl wissen, ob selbst der Teufel im Stande wäre, die zu beunruhigen.“

Die Worte waren augenscheinlich nicht für das Ohr des Hausherrn bestimmt, und dieser ignorirte sie mit feinem Lächeln.




2.

Im Nebenzimmer, einem hohen luftigen Gartesaale, war der zierlich servirte Theetisch vor die geöffnete Balconthür gerückt. Die Theemaschine brodelte und zischte, die Stühle waren zurecht gestellt – aber die Dame des Hauses fehlte noch. Der Gast warf einen forschenden Blick durch das Gemach. Er kannte den Raum wohl. War es doch erst kurze Zeit her, daß er dieses Haus verlassen und seine nahe gelegene schöne Villa bezogen hatte, aber wie hatte sich hier Alles verändert! Die schadhafte Tapete, die er, der Wittwer, der allein lebende Mann, dem die Bequemlichkeit des Lebens mehr galt als die Anmuth desselben, noch für manches Jahr für gut genug erklärt hatte, war durch eine neue ersetzt worden, deren buntes Blumenmuster auf hellem Grunde dem Gemache ein ungemein freundliches Ansehen gab. Weiße luftige Vorhänge umwallten die hohe Fenster. Kein Stäubchen war auf den glänzenden dunkeln Möbeln oder auf dem in matten Farbentönen gehaltenen Teppich zu sehen. Der Gast streckte die Unterlippe vor und betrachtete Alles mit kaustischem Lächeln.

Auf einem zierlichen Arbeitstischchen an einem der Fenster lagen Bücher und Journale. Lange: „Geschichte des Materialismus“ – Heyse: „Moralische Novellen“ – Lewes: „The life of Goethe“ las er auf den Titeln. Seine buschigen Augenbrauen sanken noch tiefer als gewöhnlich über seine grimmig blickenden Augen herab.

„Ihr Fräulein Schwester ist, wie es scheint, eine gelehrte Dame,“ sagte er in einem Tone, der dieses zweifelhafte Lob noch zweifelhafter machte.

„Behüte!“ entgegnete Reinhard, der ihn mit leisem Lächeln beobachtet hatte. „Sie hat den in unserer Heimath ganz gewöhnlichen Bildungsgang durchgemacht und gerade genug gelernt, um solche Werke“ – er zeigte auf den Büchertisch – „verstehen und würdigen zu können.“

„Wenn ich eine Tochter besäße – ich danke Gott, daß dies nicht der Fall ist –, so würde mir solch unnützer Kram, der ihr nur den Kopf verdreht hätte, niemals in's Haus gekommen sein. Gut kochen, backen, das Haus in Ordnung halten und die Dienstboten beaufsichtigen – das hätte sie lernen müssen. Was darüber ist, das ist vom Uebel.“

„Das sind Ansichten, über die wir nicht streiten wollen, lieber Nachbar,“ entgegnete Reinhard lächelnd. „Ihre Tochter, wenn Sie eine gehabt hätten, würden Sie natürlich nach Ihren Grundsätzen erzogen haben. Niemand hätte Ihnen das Recht dazu bestreiten können. Indessen ist es immerhin fraglich, ob eine solche Erziehung den Ansprüchen genügen würde, die ein Mann heutzutage an seine Gattin stellt.“

„O mein Lieber, hier zu Lande giebt es – Gott sei Dank! – noch Männer, die gleich mir der Ansicht sind, daß das Wenige, [663] was in der Weibernatur des Erhaltens werth ist, durch eine gelehrte Schulbildung gänzlich verdorben wird, Männer, die gleich mir ein Grauen vor Frauenzimmern haben, die sich mit philosophischen Problemen beschäftigen und in fremden Zungen parliren.“

Er hatte im Eifer des Gespräches seine Stimme immer mehr erhoben und die letzten Worte so laut gesprochen, daß die Dame, welche, eben aus dem Garten kommend, die Stufen zum Balcon emporstieg, sie gehört haben mußte. Ein leises Lächeln glitt über ihr Gesicht und ruhte noch darauf, als sie mit einer anmuthigen Verbeugung über die Schwelle trat. Fast in demselben Augenblicke hob die Stutzuhr auf dem Kamine aus und schlug acht Schläge. Ihr antworteten pünktlich andere Uhren draußen auf dem Fabrikhofe und in verschiedenen Zimmern des Hauses in näherer oder weiterer Entfernung.

„Willkommen, Herr Kayser! Ich sehe, ich habe warten lassen,“ sagte Marie Reinhard.

„Unsere Schuld, ganz allein unsere Schuld, mein Fräulein! Sie erscheinen mit dem Glockenschlage, pünktlich wie immer, pünktlich und unfehlbar wie – wie – wie eine Sonnenuhr.“

„Das ist ein zweifelhaftes Lob, mein Herr,“ entgegnete sie lächelnd. „Eine Sonnenuhr ist nur in heiteren Tagen zuverlässig. Ich hoffe, daß ich's auch in trüben bin.“

„Also, wie der beste englische Chronometer, wenn Ihnen das besser gefällt.“

„Wohl, das lasse ich gelten. – Aber bitte, nehmen Sie Platz!“

Sie hatte ihren breitrandigen Strohhut und ihre Gartenhandschuhe abgelegt und trat jetzt an den Theetisch, die Tassen und das Geräth darauf ordnend.

Sie war eine anmuthige Erscheinung, wenn auch nicht mehr in der ersten Blüthe der Jugend stehend. Das helle Sommerkleid umfloß eine schlanke, schöngerundete Gestalt. Ueber einer Stirn, die etwas zu hoch war, um vollkommen schön zu sein, war das glänzende hellbraune Haar schlicht gescheitelt und am Hinterhaupte in zwei dicken Flechten aufgesteckt. Der Ausdruck ihres Antlitzes sprach mehr von geistiger Kraft und Reife, als von mädchenhafter Lieblichkeit und Milde. Aber alle ihre Bewegungen waren leise, ruhig und graziös, und man empfing bei ihrem Anblicke den Eindruck der vollkommenen Harmonie eines schönen Gleichmaßes, aus welchem sie durch äußere Einflüsse nicht leicht herausgeschreckt werden dürfte. Und dennoch, obgleich ihre Stimme ruhig und klar klang und ihr Lächeln seine gewöhnliche Freundlichkeit zeigte, dennoch nahm ihr Bruder die Spur einer Gemüthsbewegung in ihrem Gesichte wahr. Er that jedoch keine Frage und begnügte sich, sie mit einem raschen, forschenden Blick zu betrachten. Dann nahm er seinen Platz neben seinem Gaste am Theetisch ein.

„Ich glaube, Fräulein Reinhard, es ist das dritte Mal in dieser Woche, daß ich Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehme,“ begann Kayser das Gespräch.

„Ich habe Ihre Besuche nicht addirt – wenn es sich aber so verhält, so möchte ich das für ein gutes Zeugniß nehmen, das Sie mir und meinem Theetische ausstellen,“ antwortete sie lächelnd.

„Sie können mir aber glauben, daß ich Ihre kostbare, so vielfach in Anspruch genommene Zeit“ – er warf einen spöttischen Blick nach dem Büchertische – „Ihnen nicht schmälern würde, wenn ich nicht durch Geschäfte dazu gezwungen wäre.“

„Durch diese Erklärung strafen Sie mich für meine vorschnelle Eitelkeit,“ entgegnete sie.

„Herr Kayser ist heute übler Laune, Marie. – Was in aller Welt hat Sie denn so gewaltig verstimmt, Herr Nachbar?“ fragte Reinhard.

„Und das fragen Sie – Sie, der alle meine Bemühungen zu Schanden macht, der jedes kluge Vorbeugen von sich weist und uns zwingt, Tag für Tag auf einer Pulvermine zu wandeln, die uns Alle im die Luft sprengen kann?“

„Das ist es nicht, lieber Herr, wenigstens ist es das nicht allein. Ihre Stirn zeigte schon schwere Wolken, ehe sich noch unsere Meinungsverschiedenheit herausgestellt hatte. Ich weiß, daß ich einen Theil der Schuld trage, aber die ganze auf mich zu nehmen, dagegen sträube ich mich mit Recht.“

„Es scheint, als ob sich Alles und Alle gegen mein Behagen und gegen meine Bequemlichkeit verschwören. Von nah und fern werden Angriffe auf meine Ruhe gemacht.“

„Sind Sie etwa wieder auf unbequeme Weise daran erinnert worden, daß Sie Vormund einer reichen Erbin und außerdem Onkel einer jungen Schönheit sind?“

„Schönheit! Das fehlte nur noch. Ich hoffe, sie bildet sich dergleichen Dummheiten nicht ein. Schöne Frauenzimmer, oder solche, die sich einbilden, es zu sein, sind mir stets am unerträglichsten gewesen. Sie wollen immer gestreichelt, immer umschmeichelt werden. Sie setzen voraus, daß man stets Rücksicht auf sie nehmen, stets an ihre Bedürfnisse oder ihr Amüsement denken muß.“

„Rücksichten, Herr Kayser, beanspruchen nicht nur schöne Frauen. Jede Frau ist berechtigt sie von einem gebildeten Manne zu fordern,“ sagte Marie, sich in's Gespräch mischend.

„Ich weiß nicht, geehrtes Fräulein, was Sie unter ‚Rücksichten‘ verstehen. Sind Sie der Meinung, daß ein Mann stets Opfer bringen, stets sein eigenes Behagen dem der Frauen unterordnen soll, so protestire ich dagegen. Ich für meinen Theil werde meine Pflicht gegen meine Nichte für erfüllt halten, wenn ich ihr Wohnung, Nahrung und Kleidung gebe. Im Grunde,“ fügte er nach einer Pause mit ironischem Lächeln hinzu, „im Grunde – was verlangen die Frauen auch mehr? Gut logirt, gut genährt und vor allen Dingen gut angethan zu sein – das ist die Summe ihrer Lebensbedürfnisse.“

Auf Mariens Wange erschien eine leichte Röthe, und in ihrem braunen Auge leuchtete ein Strahl des Unwillens auf.

„Es scheint nicht gerathen, näher auf die Art einzugehen, wie Sie derartige Erfahrungen gesammelt haben,“ sagte sie mit einer stolzen Hebung ihres zierlichen Kopfes. „Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn man den Werth Ihrer weiblichen Bekanntschaften nicht eben hoch anschlägt.“

Er blickte von seinem Teller auf und schaute mit einiger Ueberraschung in ihr Gesicht, das jetzt zum ersten Male den Ausdruck gleichmäßiger Freundlichkeit abgelegt hatte. Ein grimmiges Lächeln flog über seine Züge.

„Ich bin ein dickfelliger Bursche, geehrtes Fräulein, und kann einen Stoß vertragen,“ sagte er behaglich. „Geniren Sie sich nicht! Es gereicht mir zu ganz besonderer Freude, mich Ihnen als Ableiter für jede häusliche Verdrießlichkeit anbieten zu können.“

Es lag, als er so sprach, ganz unverkennbar der Ausdruck einer jovialen Gutmüthigkeit auf seinem Gesichte und in seiner Stimme. Dazu zwinkerten seine Augen so lustig unter seinen buschigen Brauen hervor und bekundeten so deutlich einen raschen Umschwung seiner üblen Laute, daß auch Marie einen Theil ihres Zornes schwinden fühlte. Sie entsann sich plötzlich, schon mehrmals die Bemerkung gemacht zu haben, daß Herr Kayser ganz besonders lustig und umgänglich geworden war, wenn er durch eine seiner cynischen Bemerkungen sie zu einer Aeußerung ihres Unwillens gereizt hatte. Sie gelobte sich, ihm fernerhin diese Freude nicht wieder zu machen.

„Und was war’s, das Sie außer meiner Halsstarrigkeit noch verstimmt hat?“ fragte Reinhard, der ein schweigender, aber sehr belustigter Zuhörer dieses kleinen Wortgefechts gewesen war. „Hat etwa Ihre Mündel wieder Vorschüsse verlangt? Hat sie Ihnen angezeigt, daß sie sich in Baden langweile und zurückzukehren gedenke, oder was ist sonst geschehen?“

„Nein – dem Himmel sei Dank! – von der bin ich für’s Erste erlöst. Die ist gut aufgehoben und amüsirt sich jetzt in der Straßburger Gegend. Das Unheil kommt von einer anderen Seite. Da schreibt mir meine Nichte in einem ganz lächerlichen Briefe, daß sie nicht länger im Institute bleiben könne. Sie hat, wie sie schreibt, schon dreimal den Cursus auf der Selecta durchgemacht und kann dort nichts mehr lernen. Sie will zum Herbste eine Stelle als Lehrerin annehmen. Dieser Unsinn! Als ob sie, weil es dort nichts mehr zu lernen giebt, gleich einen Ort verlassen muß, wo sie zum Heile für mich und sie so gut aufgehoben war! Sie könne mit gutem Gewissen nicht länger das theure Erziehungsgeld von mir annehmen. Als ob ich nicht gern das Doppelte und Dreifache zahlen würde, wenn sie nur bliebe, wo sie ist, und mich mit solch unsinnigen Projecten nicht behelligte!“

„Sie sind kein sehr liebenswürdiger Onkel, Herr Kayser,“ sagte Marie.

„Habe auch durchaus nicht die Absicht, einer zu sein,“ entgegnete der Gast mit verbindlichem Lächeln. „Beabsichtige indessen, [664] nichtsdestoweniger meine Pflicht an dem Kinde meines Bruders zu thun. Ich habe daher den Brief der Institutsvorsteherin – denn auch von der ist ein langes Schreiben eingelaufen, mit der angenehmen Nachricht, daß ein mehrwöchiger Landaufenthalt für den Gesundheitszustand meiner Nichte dringend nothwendig sei – dahin beantwortet, daß sie mir das Kind herschicken soll. Ich hoffe, an meinem Tische wird sie besser zu Fleisch kommen, als bei der gelehrten Pensionskost.“

„Und welche weiteren Absichten haben Sie dann mit Ihrer Nichte?“ fragte Marie.

„Natürlich soll sie zum Herbst in die Pension zurück. Unter Fremden will ich sie in einer dienenden Stellung nicht leben lassen, und sie bei mir zu behalten, das möchte mir auf die Länge unbequem fallen.“

„Ihr vielleicht nicht weniger,“ meinte Marie. „Sie würde sich nach einer nutzbringenden Thätigkeit sehnen. Ein zweck- und berufsloses Leben, und sei es das bequemste, kann auf die Länge Niemand befriedigen.“

„Befriedigen? Natürlich wird es sie nicht befriedigen – aber kann ich es ändern? Es sei denn, daß ich ihr einen Mann schaffte. Denn ich für mein Theil kenne nur einen Beruf, wozu die Natur die Frau bestimmt, nämlich den, zu heirathen und Kinder groß zu ziehen. Verfehlt sie diesen, so muß sie sich unter allen Umständen unbefriedigt und unnütz fühlen.“

Wieder wallte in Marie eine zornige Regung auf, und wieder hob sie das Haupt mit einer zugleich stolzen und anmuthigen Bewegung des schlanken Halses. Als sie aber zu ihrem Gaste hinüberschaute und seinem Auge begegnete, das mit listigem, erwartungsvollem Funkeln zu ihr aufschaute, da kämpfte sie ihren Unwillen nieder.

„Ich begebe mich des Streitens mit Ihnen, mein Herr,“ sagte sie mit ruhiger Würde, „und das um so mehr, als es für mich durchaus kein Interesse hat, ob ich Sie in Ihren Ansichten corrigire oder nicht.“

Sie hatte ihre Mahlzeit beendet und erhob sich vom Tische. „Wollen die Herren mich entschuldigen?“ fuhr sie fort, sich der Thür zuwendend. „Ich lasse an meinen neuen Beeten arbeiten und fürchte, daß man meine Anordnungen nicht befolgt.“

Als sie im Hinausgehen mit flüchtigem Blicke den Gast streifte, nahm sie wahr, daß er sich in seinem Stuhl zurücklehnte mit der behaglichen Miene eines Mannes, der mit seinem Tagewerke zufrieden ist. Und als sie die Stufen hinabschritt, da hörte sie mit wiedererwachendem Zorne, wie er ihre Flucht vom Kampfplatze mit einem hämischen Kichern begleitete.




3.

Als Maria nach einiger Zeit wieder in das Haus zurückkehrte, hatte sich der Gast bereits entfernt. Der Gartensaal war leer, aber sie hörte die Schritte ihres Bruders im Nebenzimmer und sah ihn durch die halbgeöffnete Thür, wie er, die Hände auf dem Rücken mit gesenktem Kopfe langsam auf und nieder schritt. Von Zeit zu Zeit hielt er in seinem Gange an, um an’s Fenster zu treten und die Landstraße entlang zu blicken, die an Haus und Fabrik vorbei nach dem nahe gelegenen Städtchen Elmsleben führte. Wenn er sich so zum Fenster hinausbeugte, lag auf seinem Gesichte der Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit – es schien, als wären Auge und Ohr gleichermaßen beschäftigt, einen erwarteten Gegenstand zu erspähen. Auch kam es dem Mädchen vor, als ob, so oft er seinen monotonen Gang durch’s Zimmer wieder aufnahm, die Sorgenfalte auf seiner Stirn tiefer wurde. Sie wußte, daß ihr Bruder von dem Augenblicke an, wo er die Fabrik übernommen, schwere Sorgen hatte. Der District, in welchem dieselbe lag, bildete erst seit Kurzem einen Theil der deutschen Reichslande. Die Bevölkerung hatte noch nicht Zeit gehabt, sich in diese neue Ordnung der Dinge zu finden. Sie sträubte sich, dieselbe als vollendete Thatsache anzuerkennen und suchte durch eine bis auf’s Aeußerste getriebene oppositionelle Haltung gegen die neue Regierung ihre Mißstimmung an den Tag zu legen. Eine gleich feindselige Stellung nahm man gegen Diejenigen an, die sich in dem neuen Reichslande niedergelassen hatten, und namentlich waren es unter diesen die Preußen, die mit erbittertem Hasse verfolgt wurden.

Max Reinhard hatte wie mancher Andere sich dadurch nicht abschrecken lassen. Er hatte eine der vielen Fabriken gekauft, deren Besitzer, um nicht in Berührung mit den verhaßten Behörden zu kommen, es vorgezogen hatten, ihr Geschäft niederzulegen. Seit dieser Zeit war sein Leben ein beständiger Kampf gegen die Widersetzlichkeit seiner Arbeiter gewesen, welche stets neue Nahrung erhielt durch die ablehnende, fast feindselige Haltung, die auch die höheren Gesellschaftsclassen dem „fremden Eindringling“ gegenüber annahmen. Auch Marie hatte in dieser Beziehung manche unangenehme Erfahrung gemacht. Ueberall war sie auf Kälte und Mißtrauen gestoßen, sodaß sie das Suchen nach einem passenden Umgange bald aufgegeben hatte. Allerdings war dies ihr geringster Kummer. Ihre Hauptsorge bildete stets die Angelegenheit ihres Bruders.

Zwar war es nicht seine Gewohnheit über seine Sorgen zu sprechen, allein sie ahnte es dennoch, daß auch bei ihm, wie schon anderwärts, die Unruhen und Unzufriedenheiten unter den Arbeitern endlich zu offener Widersetzlichkeit ausarten würden. Sie hatte Kunde erhalten, daß in einigen Fabriken des Districts, die gleichfalls in die Hände von Deutschen übergegangen waren, die Arbeiten hatten eingestellt werden müssen, weil die Besitzer die an sie gestellten Forderungen nicht hatten erfüllen können. Die ganze Umgegend war in Schrecken gesetzt durch die Nachricht, daß im benachbarten Wildunger Bezirke die große Kattunfabrik des Herrn Bergentin – gleichfalls eines Deutschen – zerstört und auf ihn in seinem eigenen Hause durch das Fenster seines Arbeitszimmers geschossen worden sei. – Alle diese beängstigenden Thatsachen drängten sich Mariens Geist auf, als sie zögernd auf der Schwelle stand. Sie entsann sich nicht, ihren Bruder jemals so finster, so sorgenvoll gesehen zu haben. Bei der strengen Selbstbeherrschung, die er übte, hatte er sich ihr, wenn auch nicht heiter, so doch stets gleichmäßig ruhig und gefaßt gezeigt. Es mußte irgend ein Unheil im Anzuge sein – diese Ueberzeugung stand plötzlich fest in ihr. Und jetzt fiel ihr ein, daß sie mit der Absicht gekommen war, seine Sorge noch zu vergrößern – unwillkürlich fuhr ihre Hand in die Tasche ihres Kleides. Sie fühlte den Brief darin, der ihr heute Thränen des Kummers entlockt hatte. Aber so dringend er auch Hülfe forderte, sie konnte es nicht über das Herz bringen, ihn in diesem Augenblicke ihrem Bruder zu zeigen.

Schwere Schritte, die sich von der anderen Seite dem Zimmer näherten, machten sie aufhorchen. Es war der Aufseher der Fabrik, der nach beendetem Tagewerke die Schlüssel brachte.

„Nun, Kramer?“ fragte Max.

„Alles in Ordnung, Herr. Sie sind ruhig fortgegangen,“ entgegnete der Mann, in welchem man an der Sprache sogleich den Ostpreußen erkannte. „Ich habe die Runde gemacht durch Hof und Garten – nirgends habe ich etwas Verdächtiges entdecken können. Ich meine, Herr, der Drohbrief hat Sie nur einschüchtern sollen, damit Sie leichter auf ihre Forderungen eingehen.“

„Möglich! – Wir wollen indessen nichts versäumen, was die Vorsicht gebeut. Haus und Fabrik scheinen mir heute noch ungefährdet – aber um die neuen Maschinen trage ich Sorge. Ich wünschte, die Wagen wären erst zurück und sicher im Hofe.“

„Es werden zwei tüchtige Wagenladungen sein, und der Weg geht immer bergauf. Jantzen wird die Pferde schonen wollen.“

„Ich sollte meinen, sie können trotz alledem schon hier sein. – Bleibe im Hofe, Kramer, und halte scharf Wacht! Ich will bis zum Damme hinabgehen – vielleicht daß ich sie auf der Straße sehe.“

„Nehmen Sie mich mit, Herr! Es ist sehr nebelig draußen, auch dunkelt es schon stark. Zudem ist der Damm auf beiden Seiten mit Gebüsch bepflanzt. Es können sich ganz wohl ein halb Dutzend Kerle darin verstecken, die Ihnen nahe sind, ehe Sie irgend Etwas wahrgenommen haben.“

„Wir können das Haus nicht ohne Schutz lassen. – Hast Du die Hunde von der Kette gelöst?“

„Ja, Herr, sie sind auf dem Hofe.“

„So nimm einen mit, wenn Du die Runde machst, und entferne Dich nicht zu weit vom Hause!“

(Fortsetzung folgt.)



[665]
Katze als Entenmutter.

Das liebliche Naturwunder, das wir in unserem heutigen Bilde mittheilen, hat sich in der Ebenrettersmühle bei Hildburgshausen zugetragen und ist von vielen Personen mit Wohlgefallen beobachtet worden. Wir erzählen diesem neue Stückchen Naturgeschichte nach Briefen, denen wir ziemlich wörtlich folgen.

Katze als Entenmutter.
Originalzeichnung von Friedrich Specht.

Eine Henne brütete Enteneier aus. Man nahm die ausgebrüteten kleinen Enten nach und nach hinweg, damit die Henne den übrigen Eiern besser aufsitzen könne, legte sie in einen Korb, bedeckte sie mit einem Tuche und stellte sie in die Kochstube unter den großen Herd. Hier verkehren in Eintracht die Dachshündin Waldmann und drei Katzen. Zwei von den letzteren kamen so jung in diese Gesellschaft, daß sie an den Zitzen Waldmann’s noch saugen wollten, und die gutmüthige Hündin legte sich auch dazu zurecht und hielt still, bis sie die Krallen der Katzen sah und spürte und das Mutterspielen aufgab. Die dritte Katze, die Liese, hat einen selbstständigen Charakter, achtet zwar den Frieden, läßt sich aber nichts gefallen. Sie ist die Heldin unserer Geschichte.

Der kleinen Enten wegen entfernte man die Katzen aus der Kochstube. Aber Liese huschte, sobald die Thür wieder aufging, hinein und unter den Herd, setzte sich neben den Korb, horchte mit gerade in die Höhe stehendem, also gespanntem Ohre auf die Stimmen unter dem Tuche und stellte sich, als sich’s gar drunter regte, wie zum Mausfange bereit. Da hob die Hausherrin, immer die Hand zum Schlage auf die Katze bereit, das Tuch vom Korbe und ließ ein Entchen um das andere herauswatscheln. Liese beroch sie, fing an sie zu belecken und ließ sich geduldig die Beschnäbelung [666] ihres Gesichtes durch die unbeholfenen kleinen Dinger gefallen. Als aber gar die Enten sich zwischen ihre Vorderbeine hineindrängten, als ob sie „unterkriechen“ wollten, siehe, da legte Liese sich auf die Seite, hob das hintere Bein in die Höhe und drehte sich nach und nach so auf den Rücken, daß alle elf Enten an und auf ihr Platz fanden und als ein Häufchen da hockten und ihre Schnäbel in den Pelz der Katze steckten, welche die freie Vorderpfote sanft über sie legte.

So lag die malerische Gruppe da und hielt Schlummerruhe, bis das Jungvolk wieder erwachte und nach Wasser und Futter suchte. In diesem Augenblicke kam Waldmann herbei, offenbar im Gefühle des Hauswächters, der nachzusehen habe, was hier vorgehe. Mit feurigen Blicken verfolgte Liese jede Bewegung des Hundes, und als er sich unterstand. eine der Enten zu beriechen, schoß sie in voller Wuth auf ihn los und ohrfeigte ihn dermaßen, daß er heulend davonlief.

Am Abend wurden die Enten in den Korb gesteckt und die Katze entfernt; sie hielt die ganze Nacht vor der Thür Wacht und war am Morgen sofort, als die Thür geöffnet wurde, wieder bei ihren Pfleglingen und leckte alle nach der Reihe mit größter Zärtlichkeit. Und doch schien ihr heute an den Thierchen Manches nicht zu passen: die Schnäbel und die breiten Schwimmfüße waren ihr nicht recht. Wirklich machte Liese den Versuch, diese sie störendem Auswüchse zu beseitigen. Sie faßte dieselbe mit den Zähne und zog sanft daran, aber sobald das Gepackte schrie, ließ sie es los und miaute in beruhigender Weise. Endlich ließ sie bestehen, was nicht mehr zu ändern war. Desto großer wurde ihr Pflegeeifer. Fiel eines der kleinen Geschöpfe auf den Rücken, so brachte sie es geschickt mit den Pfote in die Höhe, faßte es dann am Halse und trug es vorsichtig in den Korb unter dem Herde. Dadurch hatte sie sich so viel Vertrauen erworben, daß man sie im Korbe mit schlafen ließ.

Am fünften Tage dieses gemüthlichen Zusammenlebens sollte die Henne, von ihrem Ausbrütegeschäft befreit, bei den Enten in ihre Mutterrechte eintreten. Man entfernte die Katze, setzte die Enten in einen viereckige Behälter im Garten und ließ die Henne zu ihnen. Sie eilte mit denn freudigsten Lauten zu ihrer Schaar, gluckste und lockte, – aber vergeblich! Die Enten fürchteten sich anfangs vor ihr und schienen erst nach und nach zutraulicher zu werden. Als man aber gegen Mittag wieder nach der Gesellschaft sah, lag Liese, die kläglich miauend nach ihren Lieblingen herumgesucht hatte, mit ihnen in einer Ecke des Gartens, und die Henne saß ganz allein in einer andere Ecke.

Um diese mit ihrer Brut allein zusammen zu bringen und letztere an sie zu gewöhnen, brachte man sie in die Schneidemühle jenseits des Mühlgrabens. Liese, welche nachlief, wurde zurückgejagt. Da erhob sie aber ein so klägliches Jammergeschrei, daß die Hausherrin ihr doch die Thür öffnete. Die schlimme Folge davon zeigte sich freilich am andern Morgen. An den herumliegenden Federn sah man, daß Katze und Henne gekämpft hatten; die Enten waren auseinander gestoben und eine derselben fehlte. Natürlich kam Liese in den schlimmsten Verdacht und wurde sofort hinausgeprügelt. Bald aber mußte man ihr Abbitte thun, denn nach kurzer Zeit hatte sie die fehlende kleine Ente gefunden, trug sie im Maule die Treppe herauf und setzte sie in der Kochstube nieder.

Noch am neunten Tage war es der Henne nicht gelungen, die Zuneigung ihrer Brutkinder zu gewinnen. Wenn man Liese von ihnen getrennt hatte, so hockten sie alle an der inneren Seite der Thür, so lange bis die Katze vor derselben miaute. Endlich entdeckte Liese zwischen Thür und Schwelle einen Spalt von ein paar Zoll Weite. Durch diesen lockte sie die ganze Schaar heraus, um sie über den Steg in’s Haus herüber zu führen. Die Treppe herunter kollernd fielen drei davon in’s Wasser. In diesem Augenblicke zeigte Liese wahrhaft menschliche Ueberlegung. Sie sprang nicht gleich den Dreien nach, die anderen ihrem Schicksale überlassend, sondern sie brachte erst die acht kleinen Enten in Sicherheit und lief dann den dreien zu Hülfe. Schreiend rannte sie am Ufer hin und her, bis die Enten zu ihr hinruderten und sich, eines um das andere, von ihr forttragen ließen.

Die Zeit änderte und endete auch dieses seltsame Verhältniß. Thatsache ist’s, daß Liese die Henne nie mehr in die Nähe ließ und oft den ganzen Trupp der Hühner sammt dem Hahne davonjagte, wenn sie das Futter ihrer Pfleglinge benaschen wollten. Ein köstlicher Anblick war es, wenn sie mit ihrer Schaar durch den Garten zog und an schmutzige Stellen gerieth, wo es den Enten am besten gefiel. Welche Mühe mit Zunge und Pfote gab sich das reinliche Thier, um sie zu säubern! Und folgten sie gar ihrem Triebe in’s Wasser des Mühlbachs, so lief sie, ängstlich schreiend, am Ufer hin und her und lief ein kleines Stück hinein, um die jungen Thiere heraus zu ziehen. Bis sie halbwüchsig wurden, ließen sie sich auch ihr absonderliches Spiel mit ihnen gefallen, denn Liese nahm sie wie Bälle in die Pfote und kollerte sie herum. Dann aber sperrten sie schon die Schnäbel gegen sie auf und zischten sie an, wenn Liese dieses Spiel mit ihnen treiben wollte.

Jetzt sind aus den Entchen große, prachtvolle Enten geworden, und das ist ohne Frage hauptsächlich Liese’s Verdienst, welche sie gegen jeden Feind und jede Unbill gewissenhaft und tapfer beschützt hat. Ganz kann sie noch heute diese schöne Zeit ihrer Muttersorgen nicht vergessen, denn noch heute sucht sie mit Vorliebe ihre Ruhestätte auf dem Entenstall auf.


An der Gnadenstätte von Marpingen.


„Station St. Wendel!“ erscholl die Stimme des Schaffners, auf dessen Ruf eine gewaltige Menschenmenge aus den geöffneten Waggons des endlos langen von Bingerbrück kommenden Zuges strömte. Während eine gleich große Volksmasse auf dem Perron des Bahnhofes wartete, um in der Richtung nach Saarbrücken weiter befördert zu werden. Ein Blick auf die Rosenkränze und zahlreichen zur Aufbewahrung des Wunderwassers bestimmten Blechgefäße läßt uns nicht in Zweifel, daß es Wallfahrer seien, welche nach dem in der frommen Welt so schnell berühmt gewordenen Marpingen wollen oder von da zurückkehren. Wie aus den verschiedenen Trachten zu ersehen ist, haben sämmtliche benachbarte Länder: Frankreich, Lothringen, Pfalz, selbst Altbaiern, Württemberg und Baden ihr Contingent gestellt. Den Kenner würde diese Musterkarte von Volkstrachten: hirschlederne Unaussprechliche des Schwarzwälders neben der Blouse des Franzosen, zierliche weiße Lothringer- und bunte Elsässer-Häubchen neben gewaltigen schwäbischen Gimphauben und einem halben Dutzend anderer Nationaltrachten entzücken, wenn sie nicht fast durchweg von Leuten getragen würden, deren stupides Aussehen sofort verräth, daß sie den untersten Ständen und zwar nicht dem intelligenteren Theile derselben angehören. Städtisch Gekleidete waren etwa fünfzig bis sechszig zu bemerken, und zwar gehörten diese fast ausschließlich dem schöneren Geschlechte in dem Alter an, in dem man „zu alt ist, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein“. Da sich diese bald naserümpfend von dem „Pöbel“ absonderten und sich instinctmäßig zueinander gesellten, so entstand eine hübsche Collection schnatternder alter Jungfern, wie ich sie in solcher Reichhaltigkeit noch nie an einem Punkte vereinigt gesehen hatte.

Der dichte schreiende und lärmende Knäuel löste sich endlich auf. Die an dem früher so einsamen Bahnhof in großer Anzahl aufgestellten äußerst zudringlichen Rosselenker nahmen den kleineren Theil der angekommenen Reisenden in ihre aus weiß Gott welch alten Rumpelkammern hervorgezogenen antediluvianischen[WS 1] Gefährte auf und humpelten gemächlich die Anhöhe hinauf, während die übrigen Wallfahrer zu Fuß die Richtung nach Marpingen einschlugen, zum Theil von schwarzberockten Geistlichen geführt, deren wachsames Auge jeden Abstecher, den etwa einzelne durstige Seelen in die benachbarten Kneipen machen wollten, zu vereiteln wußten. Aus dem etwas unsicheren Gange und dem lauten Gespräche mancher Pilger und Pilgerinnen konnte man unschwer den Schluß ziehen, daß sie bereits tüchtig gefrühstückt hatten. Ich überzeugte mich bald, wie dies gekommen sei, nämlich daß die frommen Wallfahrer in ihren Blechkannen erhebliche Quantitäten Wein und verschiedene Schnäpse zur Stärkung mit sich führten und, so oft das Auge des gestrengen Seelsorgers sich zur Seite [667] wandte, einen tüchtigen Schluck hinter die Binde gossen. Mußte man ja doch die Gefäße leeren, um sie als Rückfracht mit dem heilkräftigen Marpinger Wasser füllen zu können.

Ich selbst schloß mich einem alten Weiblein an, das neben einem Kropfe von bemerkenswerther Größe und einer äußerst beweglichen Zunge die für mich schätzenswerthe Eigenschaft besaß, des Weges kundig zu sein. Im Verlaufe des Gespräches vertraute mir meine Begleiterin an, daß sie schon zweiundzwanzig Mal in Marpingen, sieben Mal in Mariaeinsiedeln, zwölf Mal in Alt-Oetting und unzählige Male in verschiedenen kleineren Wallfahrtsorten gewesen sei. Ein Compliment über ihren frommen Eifer lehnte sie aber mit pfiffigem Lächeln und der Bemerkung ab, daß sie nicht für sich, sondern ausschließlich im Auftrage Anderer wallfahre und zwar schon seit mehr als dreißig Jahren, daß sie also das Wallfahren handwerksmäßig betreibe. Ihr Mann habe sich, erzählte sie weiter, dem Trunke ergeben und sei jung gestorben. Um die gleiche Zeit sei in ihrem Dorfe die frühere Wallfahrtsbesorgerin, die Heiliggeist-Margreth – so genannt, weil sie neben dem Wallfahren in ihrer freien Zeit sich mit der Anfertigung und dem Verkaufe von Bildern des heiligen Geistes beschäftigte – durch einen bösen Fall dienstuntüchtig geworden; sie sei dann in ihre Fußstapfen getreten und befinde sich ganz wohl dabei. Von ihren Auftraggebern, die ruhig zu Hause bleiben und doch aller Gnadenschätze theilhaftig werden können, ohne sich im geringsten anstrengen zu müssen, werde sie reichlich mit Lebensmitteln für die Reise versehen und erhalte überdies noch eine Baarsumme, die sich nach der Größe der Entfernung richte, sowie auch darnach, ob sie die Eisenbahn benutze oder zu Fuß gehe. Die mit letzterer Reiseweise verbundenen Strapazen geben dem Auftraggeber natürlich ein Anrecht auf erhöhte Verdienste, und es ist daher nur billig, wenn er dafür eine höhere Taxe bezahlen muß. Am meisten trage ihr das Wunderwasser ein, mit dem sie sich jedes Mal befrachte und nach dem überall große Nachfrage sei, da es sich bei Menschen und Thieren in den verschiedenartigsten Krankheiten bewährt habe, wenn nur der rechte Glaube an die Wunderkraft bei den Betreffenden vorhanden sei. Auch der Handel mit Amuletten, Kreuzen, Medaillen, Rosenkränzen, Heiligenbildern etc. gewähre ihr eine hübsche Nebeneinnahme.

Unterdessen waren wir, häufig unterbrochen durch singende und betende Pilgerzüge, welche uns begegneten, auf der Höhe angelangt, von der aus man das anmuthig in einem Thalkessel gelegene stattliche Dorf Marpingen, das neue Lourdes, überblicken kann. Die umliegenden sich sanft abdachenden Anhöhen sind theils bewaldet, theils angebaut. Das Dorf selbst ist fast ganz in einem Walde von Obstbäumen versteckt. Die inmitten des Kirchhofes gelegene Ortskirche mit plumpem Thurme befindet sich am jenseitigen Thalabhange. Links vom Beschauer, einige hundert Schritte hinter dem Dorfe, zieht sich der Härtelwald hin, in dem die Muttergotteserscheinungen statthatten und der daher das erste Ziel sämmtlicher Pilger bildet. Auch ich wendete zuerst meine Schritte dahin.

Das Betreten des Waldes ist in Folge der Aufläufe, die sich darin sammelten und des daselbst getriebenen Unfugs verboten. Gensdarmen sind beständig neben dem Walde postirt und bewachen den Platz Tag und Nacht. Doch kann man sich auf einem Umwege von wenigen Schritten der dicht am Walde gelegenen sogenannten Erscheinungsstelle bis auf eine kleine Entfernung nähern. Von da aus bemerkt man drei Kiefern, welche sich neben einer kleinen Schlucht erheben und die von der Menge andächtig angestarrt werden, ohne daß sich aber etwas Außerordentliches ereignete. Zwischen diesen drei Kiefern wollen die drei achtjährigen Kinder Margaretha Kunz, Susanna Leist und Katharina Hubertus aus Marpingen die Muttergottes am 3. Juli vorigen Jahres, dem Tage, an welchem in Lourdes die Krönungsfeierlichkeit des dortigen Muttergottesbildes stattfand, wahrgenommen haben. Auch an den folgenden Tagen hatten die Kinder dieselbe Vision; später wurden auch vier pensionirte Bergleute mit der Erscheinung begnadigt. Hier war es auch, wo im Juli vorigen Jahres durchschnittlich jeden Tag fünfzehn- bis zwanzigtausend Pilger aus Nah und Fern versammelt waren und tumultuarische Scenen vorkamen, die aller Beschreibung spotten. Alle Höhenwege wimmelten von Pilgern, welche zu Fuß und zu Wagen angezogen kamen. Unter Stoßen, Schreien und Schlagen suchte sich Jeder dem Erscheinungsplatze, auf dem übrigens außer einer Anzahl brennender Kerzen nichts zu sehen war, zu nähern und die andern davon wegzudrängen; schwächliche und kranke Personen geriethen in Gefahr, erdrückt zu werden. Manche kletterten auf Bäume, um bequemer sehen zu können. Auf weite Entfernung konnte man das Toben der Menge von Sonnenaufgang bis tief in die Nacht hinein wahrnehmen. Dazwischen hörte man einzelne Gruppen Wallfahrtslieder singen und immer lauter und lauter wiederholen, da die Muttergottes sich hartnäckig weigerte vor der Menge zu erscheinen. Einzelne warfen sich auf den Boden und zerrauften sich die Haare – alles vergebens. Andere schlugen sogar im Walde ihr Nachtquartier auf. Von Seiten der Geistlichkeit geschah nichts, um diesem Tollhäuslertreiben ein Ende zu machen.

Im Dorfe selbst waren alle Bande der Ordnung gelöst; Niemand wollte mehr seinen täglichen Arbeiten nachgehen, Niemand mehr gehorchen. Der Bürgermeister konnte der fanatischen Menge gegenüber unter solchen Umständen nichts mehr ausrichten, und es blieb nichts anderes übrig, als eine Compagnie Soldaten zur Wiederherstellung der Ordnung zu requiriren. Diese traf am 13. Juli Abends ein und säuberte mit vieler Mühe den Wald. Hierbei zeigten sich die Wallfahrer in solch fanatischer Aufregung, daß sie erst wichen, nachdem die Soldaten vor ihren Augen die Gewehre geladen und die Bajonnette aufgepflanzt hatten. Einige Heißsporne, welche sich thätlich widersetzten, konnten erst entfernt werden, nachdem von Kolben und Bajonnetten Gebrauch gemacht worden war. Nur dem besonnenen Vorgehen der Truppen ist es zu verdanken, daß größeres Blutvergießen vermieden wurde. Erst nach vierzehn Tagen war die Ordnung so weit wieder hergestellt, daß die Soldaten, welche bei der Bürgerschaft einquartiert worden waren, wieder abziehen konnten.

Wäre die bis heute aufrecht erhaltene Absperrung des Waldes nicht erfolgt, so würde jetzt wohl kaum mehr eine Spur von ihm vorhanden sein, da die Gläubigen in ihrer frommen Wuth allerlei Andenken, einen Baumzweig, einige Blätter, ein Stückchen Holz oder Rinde mit nach Hause nehmen wollten. Das in der Nähe des Erscheinungsplatzes befindliche Gesträuch, sowie sämmtliches Gras in weitem Umkreise ist bis auf die Wurzeln verschwunden. Eine Anzahl von Kiefern ist dem Absterben nahe, weil man sie bis über Manneshöhe der Rinde beraubt hat. Ja sogar die Erde war vor den frommen Leuten nicht sicher. Ist es doch gebräuchlich geworden, den von den Schuhen so vieler Tausende weichgekneteten Koth auf Brod zu streichen, das dann von den Kranken gegessen werden mußte. Diesem unappetitlichen Gebrauch trat zwar die Geistlichkeit entgegen, aber ohne Erfolg. Sie begünstigte anfänglich das ganze Treiben, ist aber jetzt einfach nicht mehr Herr der Bewegung, die ihr längst über den Kopf gewachsen ist; sie sieht sich auch außer Stande, sonstige Ausschreitungen des rohesten Fanatismus, der unter Anderem jeden an der Echtheit der Wunder Zweifelnden thätlich bedroht, zu verhüten.

Eine Zeit lang hatte der Zuzug der Pilger etwas nachgelassen. Es war nämlich die ebenfalls im Härtelwald befindliche wunderthätige Quelle von den Truppen verschüttet und der Zutritt dem Publicum verwehrt worden. Schon schien es, als ob die Sache im Sande verlaufen werde, als plötzlich zur rechten Zeit ein neues Wunder eintrat und den frommen Eifer wieder belebte. Etwa fünfzig Schritte von der Ortskirche befindet sich nämlich ein Brunnen, neben dem unter einer Baumgruppe ein Muttergottesbild steht. Das Wasser dieses früher gar nicht beachteten Brunnens zeigte sich nun auf einmal heilkräftig und wirkte ganz so, wie das der unzugänglich gemachten ursprünglichen Gnadenquelle. Die Wunderkraft der letztern war – so erklärte man die Sache – durch das Zuschütten entwichen und auf die neue Quelle übergegangen, welcher, nach den daselbst geopferten Beinen, Armen, Herzen und Kindern aus Wachs zu schließen, bereits außerordentliche Wunder zu verdanken sind.

Noch mehr. Man sandte Wasser und Blätter aus dem Marpinger Wald nach Bois d'Haine und erhielt die jeden Zweifel an der Echtheit der Marpinger Wunder niederschlagende Mittheilung, daß der dortige Pfarrer Niels der stigmatisirten Louise Lateau die obigen Gegenstände während einer Verzückung in die Hand gegeben und daß sie dabei freudig gelächelt habe, gerade [668] so, wie sie es bei Berührung von Lourder Wasser thue. Schon bei der bloßen Nennung des Namens Marpingen habe sie gelächelt. Wen erinnert dies nicht an die römischen Auguren, welche, wenn sie einem Collegen begegneten, das Lachen nicht verbeißen konnten!

Dazu kam noch, daß die Visionen der Kinder immer zahlreicher und mannigfaltiger wurden. Da der Wald nicht mehr betreten werden durfte, so ließ man die Muttergottes einfach an anderen Orten erscheinen. Bald sahen die Kinder dieselbe im elterlichen Hause, bald in der Kirche und Schule und hielten förmliche Gespräche mit ihr. Schließlich begnügen sie sich nicht mehr mit Madonnenerscheinungen; zur Abwechselung erblicken sie die heilige Dreifaltigkeit, den heiligen Geist, glänzende Sterne und eine Unzahl von fliegenden Engeln, die merkwürdiger Weise dieselben Lieder singen, welche die Kinder in der Schule gelernt haben. Die Luft bevölkert sich förmlich mit allerlei Gestalten; hoch am Himmel sehen sie schwarze und weiße Männer, Engelprocessionen, ganze Leichenzüge mit Hunderten von Personen. Zuguterletzt bemerken sie auch noch in ihren Visionen den leibhaftigen Gottseibeiuns in höchst eigener Person mit Hörnern und Schweif. Auf geistliches Anrathen wird die Erscheinung mit geweihtem Wasser besprengt, worauf sie alsbald verduftet, nicht ohne den bekannten diabolischen Gestank zu hinterlassen.

Man sollte meinen, daß jetzt der Menge die Augen aufgegangen wären, doch war gerade das Gegentheil der Fall. Der Ruf der Marpinger Wunder drang in immer weitere Kreise. Hausirende Händler trugen das Wunderwasser und die phantastisch ausgeschmückten Erzählungen von angeblichen Heilungen in alle Welt hinaus. Aus allen Richtungen der Windrose strömten Andächtige herbei, und das ist bis heute so geblieben.

Gegenwärtig beträgt die Zahl der Wallfahrer täglich im Durchschnitt fünf bis sechs Tausend. Von Seiten der Bevölkerung glaubt man, daß für die nächsten Jahre diese Ziffer sich nicht vermindern, sondern eher vergrößern werde, ja man hofft bald die Concurrenz mit Lourdes aufnehmen zu können. Die erforderlichen Mittel zu einer Kirche – eine solche soll auf ausdrücklichen Wunsch der heiligen Jungfrau durch Beiträge der Pilger erbaut werden – dürften wohl bald zusammen sein, da die aufgestellten Opferstöcke Tag für Tag einen schönen Ertrag abwerfen. Wie in einem in Mode kommenden Badeorte werden Hôtels ersten Ranges, elegante Verkaufsmagazine und hübsche Anlagen wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein industrieller Kopf hat bereits den Plan gefaßt, in der Nähe des Härtelwaldes ein Hôtel „mit Aussicht auf die Erscheinungsstelle“ zu erbauen. Wie in den Badeorten von einer guten oder schlechten „Cur“, so wird auch hier von guter oder schlechter „Wallfahrtssaison“ gesprochen werden.

Uebrigens profitirt jetzt schon das ganze Dorf bedeutend von dem starken Fremdenzudrang, was den festen Wunderglauben der Bevölkerung einigermaßen erklärt. In einer großen Anzahl von Privathäusern beschränken sich die Besitzer auf ein paar Gelasse und vermiethen den übrigen Theil der Wohnung an die Fremden. Eine Anzahl von Bürgern des sonst so fleißigen Marpingens hat den früheren geringen und mühsamen Verdienst mit einem einträglicheren und dabei weniger mühsamen vertauscht. Statt auf dem Felde oder in der Werkstätte im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten, lungern sie auf der Straße herum, um sich den Fremden als „Führer“ anzubieten. Andere sind Lohnkutscher geworden, während wieder andere sich auf den Handel verlegen und in zahlreichen längs den Straßen aufgestellten Buden den christlichen Wallfahrern zu ganz unchristlichen Preisen Madonnenbilder, Kerzen, Rosenkränze, Blechgefäße für das Wunderwasser und ähnlichen Kram verkaufen. Knaben fallen die Fremden mit Wunderwasser und heiliger Erde an. Am meisten Ursache, in's Fäustchen zu lachen, haben übrigens die Wirthe, welche bei den von ihnen verlangten Preisen bald ihr Schäfchen im Trockenen haben werden, zumal der Durst der Pilger ein nicht geringer zu sein scheint. Hat mir doch einer der Wirthe schmunzelnd erzählt, daß gegenwärtig in einem Tage mehr Bier vertilgt werde, als er früher im ganzen Jahre verzapft habe.

Ich stattete auch den „Gnadenkindern“, wie man sie im Dorfe nennt, einen Besuch ab. Eines derselben, das gerade aus der Schule kam, war mir bereits auf der Straße begegnet. Ein anderes liegt seit längerer Zeit krank; das massenhaft getrunkene Gnadenwasser scheint bei dem Kinde nicht helfen zu wollen. Aus ihm war nichts herauszubringen; vielmehr drehte es sich mit dem Bemerken, daß man es doch endlich in Ruhe lassen solle, mürrisch herum und zeigte den im Zimmer Anwesenden in nicht sehr höflicher Weise den Rücken.

Mehr Glück hatte ich bei dem dritten „Gnadenkinde“, Susanna Leist. Ich fand sie in der Küche sitzend und vergnüglich an einem Stück Kuchen kauend, das ihr einer der fromme Wallfahrer geschenkt haben mochte. Letztere starrten theilweise das Kind an, wie man etwa ein merkwürdiges Thier in einer Menagerie besichtigt, theils blickten sie in inbrünstiger Andacht zu dem begnadeten Wesen auf. Susanna Leist, welche derartige Scenen gewohnt sein mochte und daher vollständig unbefangen dreinschaute, zählte etwa neun Jahre und ist klein und schmächtig von Gestalt. Ihr Gesicht zeigt viel Intelligenz; vorübergehend macht sich ein gewisser Grad von Verschmitztheit bemerklich. Der Vater, ein Mann in den mittleren Jahren, schaute, aus einer langen Pfeife qualmend, mit Stolz auf sein Kind, dem schon in so zartem Alter in der frommen Welt Ehren angethan werden, wie einer Heiligen, während die prosaischer angelegte Mutter ab- und zuging und mich mit etwas mißtrauischen Augen musterte. Doch hinderte sie mich nicht, mehrere Fragen an das Mädchen zu richten.

„Also Susanna,“ fragte ich unter Anderem, „woher hast Du denn gewußt, daß die Erscheinung die Muttergottes sei?“

„Ich habe sie gefragt: 'Wäschen wer bint Ihr?' (Frauchen, wer seid Ihr?) und da hat sie mir geantwortet: 'Ich bin die unbefleckt Empfangene. Ihr sollt beten und nicht sündigen.'“

Und dann erzählte das Mädchen in einem Tone, der erkennen ließ, daß es dieselbe Geschichte schon hundertmal wiedergegeben habe, die ersten Visionen.

Ich stellte die weitere Frage: „Hat die Muttergottes auf alle eure Fragen geantwortet?“

„Nein, wir haben einmal gefragt, wann es regne und wann die Soldaten wieder fortgehen, und da hat sie nichts gesagt.“

Bei der Beschreibung der Kleidung der Muttergottes verwickelte sich das Kind nach verschiedenen Zwischenfragen sofort in Widersprüche. Es sagte auf die bezügliche Frage, daß das Kleid bis auf den Boden herabgegangen sei, sodaß es die Füße bedeckt habe, und kurz darauf gab es die Farbe der Strümpfe, die es also jedenfalls nicht wahrnehmen konnte, als weiß an. Die Umstehenden suchten zwar den offenbaren Widerspruch dadurch zu entschuldigen, daß die Kinder so viele Erscheinungen gehabt haben, bei denen die Kleidung fast jedesmal eine andere gewesen sei. Ich hatte jedoch nach diesen Proben genug und entfernte mich, um mich noch nach einigen der angeblich Geheilten zu erkundigen. Aber auch hier mußte ich die Ueberzeugung gewinnen, daß sämmtliche „Wunder“ sich nach der oberflächlichsten Prüfung sofort als die gröbsten Täuschungen herausstellten.

Eine der erste „Heilungen“ war die des Bergmannes Rektenwald aus Marpingen. Derselbe litt an Rheumatismus und gastrischem Fieber. Letzteres hat sich nach und nach verloren, nachdem auch noch nach dem „Wunder“ ärztliche Hülfe in Anspruch genommen worden war. Der Rheumatismus dagegen ist geblieben und quält den armen Mann nach wie vor bei jedem Witterungswechsel. Auch in Brust und Magen ist nach seiner eigenen Angabe ein Krankheitsrest zurückgeblieben. Das Aussehen des Mannes ist äußerst krankhaft, und unter solchen Umständen spricht man von „wunderbarer“ und „vollständiger“ Heilung.

Aehnlich verhält es sich mit dem achtjährigen Mädchen Magdalena Kirsch, ebenfalls aus Marpingen. Ein Arzt untersuchte das Kind nach der angeblichen „Heilung“ und constatirte, „es sei ein schwaches, kränkliches Kind mit einem Kartoffelleibe, den die schwachen Beinchen kaum zu tragen vermögen“.

Ich habe absichtlich diese beiden Fälle herausgegriffen, weil sie in den ultramontanen Blättern als die „hervorragendsten“ ausposaunt werden. Wie es mit den übrigen weniger „hervorragenden“ Wundern steht, läßt sich nach diesen Pröbchen denken. Verspürt unter tausend Kranken zufällig einer kürzere oder längere Zeit nach dem Besuche Marpingens einige, wenn auch nur vorübergehende Besserung, so schreit man in alle Welt hinaus von einem stattgehabten Mirakel. Von den anderen [669] neunhundertneunundneunzig Nichtgeheilten schweigt man oder beschuldigt sie gar, nicht die nothwendige Glaubensfestigkeit gehabt zu haben.

Bei meinem Besuche in Marpingen ist mir nur etwas als ein wirkliches Wunder erschienen: Die gerichtliche Untersuchung vor dem Landgerichte zu St. Wendel hat, nachdem Herr von Hüllesem aus Berlin als Geheimpolizist nach mehrwöchentlichem Aufenthalte in Marpingen hinlängliches Material beigebracht hatte, auf's Evidenteste ergeben, daß die Kinder nur am 3. und 4. Juli vorigen Jahres einen Schein oder eine weiße Frau gesehen haben wollen, während sie eingestanden, alles Uebrige erfunden, erlogen und erdacht zu haben; ebenso ist die Thatsache bekannt, daß, seit man in Krankheitsfällen nicht mehr die Hülfe des Arztes in Anspruch zu nehmen pflegt, sich die Sterblichkeit in Marpingen und Umgegend bedeutend erhöht hat. Trotz alledem – und das darf mit Recht als wunderbar bezeichnet werden – glaubt der große Haufe nach wie vor an die jedem auch nur einigermaßen vernünftigen Menschen in die Augen fallende Täuschung, die mindestens so groß ist, wie die der Lourder Erscheinung zu Grunde liegende Geschichte, in der eine hübsche Schloßfrau und ein Zollinspector, die sich manchmal in der jetzt wunderthätigen Grotte trafen, bis sich der Lockenkopf der kleinen Bernadette in das süße Geheimniß drängte, eine hervorragende Rolle spielen.

Wie lange wird es noch dauern, bis unter dem Einflusse einer gesunden Volksbildung die Vernunft den Sieg über den in den finstersten Zeiten des Mittelalters nicht crasser aufgetretenen Aber- und Wunderglauben davon getragen haben wird?

„Licht, mehr Licht!“ rief ich mit Goethe, als ich mit anbrechender Nacht das „deutsche Lourdes“ verließ, aus dem noch lange das Lärmen und Rufen der Nachtquartiere suchenden Wallfahrer in die friedliche Mondnacht hinausschallte.

     Metz.
M. L.




Das Rigigespenst.
Von Moritz Busch.


„Wenn Einer eine Reise thut, so kann er was erzählen“, sagt tiefsinnig der Poet, – „und wenn man bei seinen Reisen Glück hat, kann man auch von solchen Dingen berichten, die Andere nicht erzählen können“, füge ich nicht minder tiefsinnig hinzu. Ein Paar gute Augen und ein treues Gedächtniß thun viel dazu, das Beste aber muß immer das Glück oder, wenn man will, der Zufall leisten. Ich spreche aus Erfahrung; denn ich bin viel von Hause weg gewesen, und das Glück hat mir dabei ziemlich wohl gewollt. Abenteuer erheblicher Art zwar hat es mir, obschon der Ort zuweilen dergleichen erwarten ließ, nicht in den Weg gestellt, dagegen hat es mich sowohl im Bereiche des Menschenlebens, wie auf dem Gebiete der Natur eine Anzahl Dinge sehen lassen, die mancher Andere nicht leicht zu Gesicht bekommt.

Ich war schon in vier Welttheilen gewesen, als ich das erste Mal nach Berlin kam, und in zweien davon ganz entschieden nach dem Willen des Glückes. Ich durchstreifte das Land zwischen Hudson und Mississippi, und dreimal trugen mich die Dampfer des österreichischen Lloyd nach den Gestaden des Orients. Ich habe im Eriesee und im Nil gebadet, im lebendigen Alpheios, im Todten Meere und selbstverständlich auch in der heiligen Fluth des Jordan, habe in Ohio dem Gottesdienste der tanzenden Shaker, in Kassim Pascha am Goldenen Horne dem der tanzenden Derwische und nicht minder dem der heulenden Derwische von Masr Atikah mit gebührender Andacht beigewohnt, habe wiederholt mit langbärtigen Tunkern disputirt, mehrmals mit Staunen und gelindem Grauen beobachtet, was verzückte Methodisten-Campmeetings in religiöser Schwelgerei zu leisten und zu vertragen im Stande sind, und mehr als einmal mit Mormonen gebetet und gesungen, wobei mir fast immer mehr oder minder ein wohlwollender Zufall den Weg wies und die betreffende Thür öffnete. Ich war in St. Louis, und derselbe hülfreiche Zufall führte Kinkel dahin und ermöglichte mir dadurch, Blicke in das Leben und Treiben der damaligen deutschen Flüchtlingswelt zu thun, wie sie sich so ergötzlich und so lehrreich nicht alle Tage boten. Wieder derselbe mich freundlich begleitende Zufall zeigte mir Amerikas größtes Naturwunder unter Umständen, wie sie europäische Freunde des Landschaftlich-Erhabenen selten erlebt haben werden: er ließ mich den Niagarafall im Wintergewande, verbrämt mit bereiftem Ufer- und Inselgebüsch und behangen mit dem Schmuck riesiger Eiszapfen, bewundern und für alle Zeit in der Erinnerung mit heimnehmen.

In New-York mußte man vor etwa fünfundzwanzig Jahren, wenn man die schwärzeste Stelle an der Nachtseite der Stadt gesehen haben wollte, die Five Points und namentlich die „Old Brewery“ besucht haben, ein altes gichtbrüchiges, windschiefes Gebäude, in dem Alles, was die Diebsnester der Manhattaninsel von Seitenstücken zu den Scheusalen der „Geheimnisse von Paris“ und den Verbrechergestalten der Ainsworth'schen Muse aufzuweisen hatten, in den ruchlosesten Exemplaren hauste. Als Liebhaber der Vollständigkeit wollte ich das Nest sehen, und zwar bei Nacht, wo sich Dergleichen besonders gut ausnehmen sollte. Aber es war schon am hellen Tage für Leute, die auf eine heile Haut halten und ihr Geld lieber in der eigenen Tasche, als in fremder sehen, dort nicht geheuer. Da sandte mir das Glück den Bootsmann des Schiffes, mit dem ich herüber gekommen, in den Gasthof; der kannte den „French Lewis“, einen der Loafercapitaine der Stadt, den alles böse Volk derselben mehr als die Polizei respectirte und der uns bereitwillig durch das unheimliche Viertel begleitete, und siehe da, die Expedition wurde ohne Schaden und zu großer Bereicherung meiner Kenntniß von menschlicher Teufelei ausgeführt.

Fünf Jahre später befand ich mich in Triest auf dem Wege nach Aegypten. Die Abfahrt verzögerte sich, und ich ärgerte mich nicht wenig darüber. Aber das Glück hatte es gut damit gemeint. Man rieth mir, inzwischen einen Abstecher nach Venedig zu machen. Ich folgte dem Rathe, und wahrhaftig, wieder hatte Dame Fortuna mir eine Ueberraschung bereitet, wie ein Fremder sie schwerlich oft zu begrüßen haben wird: sie hatte es, als ich früh in der „Luna“ erwachte, schneien lassen, und sie hatte – es war in der Weihnachtszeit des Jahres 1856 – dem Kaiser Franz Josef den Gedanken eingegeben, gerade jetzt der Königin der Adria einen Besuch abzustatten, die ihn dafür durch eine glänzende Illumination ehrte. Man denke sich: die Marcuskirche, der Dogenpalast, der Campanile, die Procurazien in Schnee und von hunderttausend Flämmchen, Pechpfannen und bengalischem Feuer strahlend! Noch heute sehe ich deutlich die Spiegelbilder all dieser Herrlichkeit auf den dunkeln Wassern des Canale Grande gaukeln.

In Aegypten pilgerte ich in der Nacht nach dem Fuße der großen Pyramide, aus deren Spitze die romantische Laune eines Reisegefährten am nächsten Morgen die Sonne aufgehen zu sehen wünschte, und war dort dringend einer Schlafstelle bedürftig. Beim Lichte des Mondes fand ich sie in einer Höhle am Felsrande, dicht unter Chufu's Riesenbau, und als ich mir diese bei Tagwerden genauer betrachtete, hatte ich in einem mit Hieroglyphen verzierten Mumiengrabe geschlafen – wenn der rothe Murray Recht hatte, war es das letzte Bett eines altägyptischen Hofraths, oder gar eines Geheimen Hofraths gewesen, in das mich der Zufall gewiesen. Es lag[1] sich allerliebst darin.

In Jerusalem gab es 1859 allerlei hochverwundersame Raritäten zu sehen, z. B. die Steine, so da geschrieen haben würden, wenn die Menschen geschwiegen hätten, das Haus des reichen Mannes – im Gleichniß, und an einer Mauer auf der Via Dolorosa, nicht weit von der Thür, wo der Ewige Jude dem Heilande das Ausruhen verwehrte, den tiefen Abdruck der Schulter des Erlösers, den er zurückgelassen, als er unter der Last des Kreuzes gestrauchelt war. Ich habe diese Wunder allesammt gewissenhaft besucht und noch ein Dutzend beinahe ebenso erstaunliche. Auf eine andere große Sehenswürdigkeit dagegen, die Manchem bedeutender erscheinen wird, meinte ich verzichten zu müssen. Vor dem Eingange zum Haram Esch [670] Sherif, der ummauerten Hochebene des Moriah, auf der einst der salomonische, dann der herodianische Tempel stand und wo sich jetzt neben der Aksa-Dschamie das zweitgrößte Heiligthum des Islam, die Kuppelmoschee mit dem Felsblocke erhebt, von dem Muhamed gen Himmel gefahren ist, wies mich, als ich in meiner Unschuld hinein wollte, wie der Engel mit dem Flammenschwerte am Thore des Paradieses, ein barscher Muslim, den krummen Säbel erhebend, als unreinen Giaur zurück, und ich erfuhr dann bei Consul Rosen, daß kein Franke dort Zutritt habe. Aber mein gutes Glück ließ sich nicht werfen. Es wußte auch hier Rath. Was macht es? Zwei Tage nachher schickt mir's den veritabeln Großfürsten Konstantin aus Petersburg und in dessen Begleitung den jetzt verstorbenen Professor Tischendorf aus Leipzig zu Hülfe, und vor diesen Celebritäten thut sich das verschlossene Sacrosanctum so weit auf, daß auch ich mit hinein schlüpfen und alles behaglich betrachten kann, wonach mein Herz begehrt.

Ich habe ferner einige Reisen nach Schleswig-Holstein gemacht, auf deren letzter der mir immer gewogene Zufall – oder war's diesmal vielleicht etwas Anderes? – es so einzurichten wußte, daß ich tief in das Hauptquartier der Augustenburgischen hinein gelangte. Aeltere Leser der „Gartenlaube“ und der „Preußischen Jahrbücher“ wissen sich vielleicht zu erinnern, daß mein Stern mir auch da in einige Winkel und Winkelzüge hineinleuchtete, zu denen ich mich ohne ihn nicht hingefunden hätte.

Ich bereiste endlich Frankreich nach dem Willen eines gütigen Geschickes unter höchst eigenthümlichen und gewissen Beobachtungen ungewöhnlich günstigen Umständen. Es war während der großen Völkerwanderung des Jahres Siebenzig, und ich hatte – Salz in die Augen des Neidischen! – die Ehre, die Tour von Saarbrücken bis Sedan und von da nach Versailles in der unmittelbaren Umgebung des Grafen von Bismarck zu machen und während des ganzen Krieges, drei oder vier Tage ausgenommen, in denselben Häusern mit ihm zu wohnen, mit ihm zu speisen, beim Thee seine Aeußerungen zu hören und überhaupt täglich direct mit ihm verkehren zu dürfen.

Nach diesen Erinnerungen darf ich wohl sagen, daß ich dem Glücke einigen Dank schulde und mich vor dem Neide fürchte. Die französische Reise war die höchste Begünstigung, deren ich gewürdigt wurde. Ich gedenke von ihr demnächst in der „Gartenlaube“ einiges Mittheilbare zu berichten. Heute will ich nur von dem wunderbarsten unter den Naturspielen erzählen, die mir der Zufall auf meinen Wanderungen vor die Augen führte. Da es kaum schon von Vielen in der Gestalt und Farbe, in der ich es vor mir schweben sah, beobachtet worden ist, so schildere ich es mit aller Ausführlichkeit.

Man hat oft vom Brockengespenste gehört, jener Luftspiegelung im Nebel, welche, mit der Fata Morgana verwandt, dem Reisenden als sein eigenes riesengroßes Schattenbild entgegentritt. Aehnliche barocke Phantasien der atmosphärischen Welt spuken auch an anderen Orten in allen Welttheilen, in den Wüsten Asiens und Afrikas, an den Küsten verschiedener Meere und in den Bergen sowie auf den Steppen der westlichen Hemisphäre. Auch der Rigi hat sein Gespenst, welches in seiner gewöhnliche Gestalt und Tracht dem des Brocken im Wesentlichen gleichen soll, aber auch noch eine andere, gewissermaßen eine Sonntagstracht hat. Auch in jener selten, scheint es in dieser nur ganz besonders Bevorzugten sich zu zeigen, und ein solcher Fall, der im Sommer des Jahres 1865 vorkam, soll im Folgenden mitgetheilt werden. Physiker mögen die Bedingungen erklären, unter denen das höchst eigenthümliche Phänomen sich bildet. Ich berichte lediglich, was ich gesehen und seitdem in lebendigster Erinnerung bewahrt habe, und schicke nur noch voraus, daß dabei die Rolle des Zufalls diesmal der vor Kurzem verstorbene Leipziger Buchhändler Hirzel übernommen hatte.

Im Spätsommer 1865 also besuchte ich Heinrich von Treitschke zu Freiburg im Breisgau, der damals dort als außerordentlicher (oder war's als ordentlicher) Professor wirkte. Eben wollte ich mich wieder auf den Heimweg begeben, da jener eine Reise durch die Schweiz nach Lyon vorhatte, als ein Brief von Hirzel eintraf, der unter andern spaßhaften Dingen die Aufforderung an Treitschke enthielt, mich unter allen Umständen – zur Noth mit Anwendung von Gewalt – mit nach der Schweiz zu nehmen und mich wenigstens ein Stück davon sehen zu lassen. Ich hatte daran nicht entfernt gedacht, wollte nicht, konnte nicht, gab aber doch zuletzt nach, und der nächste Tag sah uns über Basel nach Zürich dampfen. Von dort ging's später an den Zugersee und hinüber nach Arth am Fuße des Rigi und dann zu Fuße den Berg hinauf.

Der Tag war schwül; Wolken zogen sich zusammen, und auf der Strecke zwischen Rigi-Klösterli und Rigi-Staffel brach ein ziemlich heftiges Gewitter los, das dicht über uns hing und uns trotz Treitschke's Schirm und Plaid ganz artig durchnäßte, sonst aber ohne Unglimpf und Harm bis auf einige leichte Wolkenweben vorüberzog.

Als wir den Gasthof auf Rigi-Staffel erreicht, Unterkunft gefunden und uns, so gut es ging, gesäubert und umgezogen hatten, begaben wir uns eilig hinaus, um uns den Gästen beizugesellen, welche die Pracht des Spätnachmittagslichts drunten auf der Ebene nach Küßnacht hin bewunderten. Es war ein unvergleichlich schönes Bild. Die Dörfer, die einzelnen Gehöfte, die Capellen, die Wiesen und Büsche lagen, mit brennendem Tiefgelb übergossen, wie ein erhaben gearbeiteter Teppich vor uns. Alle Einzelnheiten waren zu erkennen; alle Ferne war verschwunden; ein gutes Auge unterschied deutlich viertausend Fuß unter uns Menschen und Thiere, Fenster und Thüren, und Alles trat uns plastisch entgegen. Aber während hier und auf einem kleinen Theile des Vierwaldstättersees die Sonne aus blauem Himmel ihre vollste reichste Lichtfülle ausgeströmt hatte, war hinter uns und zur Linken über uns Alles ein einziges fahles Grau, und unter den schweren Wolken lag die Gegend in tiefem melancholischem Schatten. Hier und da flog durch das Halbdunkel, wie ein langer weißer Schleier, ein dünner lichter Dunststreifen über die Wipfel der Waldschluchten hin.

Nach dem Pilatus zu war es heller, und man gewahrte hier in der Ferne die Gletscher und die schneebedeckten Felspyramiden des Hochgebirges. Um sie und den See besser sehen zu können, begaben wir uns auf den Weg nach einer kleinen Erhöhung am Ende der Matte hin, an welcher unser Gasthof lag. Diese Erhöhung, Rigi-Rothstock genannt und mit einem Geländer und einer Bank versehen, befindet sich nach meiner Erinnerung einige hundert Schritte vom Hôtel, und der Weg dahin führt über eine Wiese mit kurzem Grase. Wir waren, als wir uns nach ihr aufmachten, allein. Auch vor uns war Niemand zu bemerken. Nur einer von jenen weißen Wolkenschleiern schwebte langsam, von der Gegend des Sees herkommend, dicht über dem Boden hin. Wir hatten ihn zur Linken, und er mochte etwas mehr als doppelte Mannshöhe haben und sich zwanzig bis fünfundzwanzig Schritte von uns hinbewegen. Wir waren nicht fern mehr von der Erhöhung mit der Bank, als ich plötzlich an einer Stelle in dem wandernden Wölkchen ein Phänomen bemerkte, das erst bleich, dann heller und zuletzt brennend, wie ein Rad ohne Speichen und Nabe aussah. Es war ein Kreis in den Farben des Regenbogens, der unverrückt in dem dahinziehenden Nebelgewebe stehen blieb. Der Kreis schien circa vier Fuß im Durchmesser zu haben, die bunte Peripherie zwei Hände breit zu sein; das von ihr Eingeschlossene war weiß. Alles war still und einsam um uns. Ich machte meinen Begleiter auf das Wundergebilde aufmerksam und wir betrachteten es ein Weilchen. Dann stiegen wir von der Matte den Hügel mit der Bank hinauf, und als ich mich hier umdrehte, war das Phänomen noch immer vorhanden; nur hatte es eine andere Gestalt angenommen. Es war jetzt unten auseinander gegangen und zu einer regenbogenfarbenen Nische von der Form eines stark gestreckten Hufeisens oder eines Rundbogenfensters geworden.

Diese Nische oder Thür schien mit ihren beiden Pfosten auf dem Erdboden zu ruhen. In der Mitte aber, zwischen diesen, standen zwei Schatten. Es waren die Silhouetten von Menschen und, als ich genau hinsah – unsere Schatten. Sie hatten ungefähr die Größe von dreijährigen Kindern. Sonst waren sie entschieden unsere Abbilder: die breitrandigen Hüte, Treitschke's Plaid und Schirm, mein Stock, Alles scharf umrissen, nichts nebelhaft, nichts schwankend. Ich meinte einer Augentäuschung zu unterliegen und fragte Treitschke, ob er das wunderliche Gebilde auch noch sehe. Er bejahte es. Zu größerer Sicherheit nahm ich ihm den Regenschirm, schwenkte ihn und winkte dem [671] Gespenste damit, und siehe da, mein schwarzer Doppelgänger hatte jetzt ebenfalls einen Schirm und schwang ihn ebenfalls. Noch nicht völlig sicher und zufrieden, rief ich einem Manne, der jetzt mit zwei halbwüchsigen Mädchen (er war, wenn ich mich recht entsinne, aus Appenzell oder Schaffhausen) über die Matte auf die Erhöhung zukam, die Frage entgegen, ob er in dem Wolkenstreifen etwas sehe. Auch er sah die Regenbogennische und die Schatten. Ich ersuchte dann das eine der Mädchen, statt Treitschke’s, den ich bei Seite zu gehen bat, neben mich zu treten, und richtig stand, wie ich erwartet, jetzt der Schatten einer weiblichen Gestalt in dem bunten Rahmen.

Die Erscheinung mochte nahezu vier Minuten gedauert haben, und sie war während dieser Zeit mehrmals bald blaß, bald brennend geworden, als sie allmählich wieder erbleichte, ganz undeutlich wurde und verschwand, während der weiße Wolkenstreifen fortfuhr, lautlos und langsam über die Matte hinzuschweben.

Als wir später unser Erlebniß an der Wirthstafel erzählten, sagte man uns: „Sie haben das Rigigespenst gesehen.“

Wir hätten das Phänomen vielleicht genauer untersuchen, dem Gespenste zu Leibe gehen, mehrmals den Ort wechseln, hinter die Nische treten sollen und dergleichen. Aber wie das bei solchen Fällen wohl immer zu gehen pflegt, die Erscheinung war im eigentlichsten Sinne fesselnd; sie heftete den Zuschauer an den Boden. Man wagte eine Zeit lang kaum zu athmen, geschweige denn sich zu rühren. Man war überdies nicht gewillt, das zarte Gebilde zu stören. Man genoß es ohne das Bedürfniß, es zu kritisiren und zu analysiren, und so blieb Vieles daran für uns Laien in der Physik ein Räthsel. Warum veränderte das Phänomen nicht seinen Stand? Warum sah man nicht auch den Schatten des Schweizers in dem Regenbogenrahmen? Wie geschah es, daß der Kreis sich in eine Nische verwandelte? Daß die Erscheinung eine theils mit der Fata Morgana, theils mit dem Regenbogen verwandte war, lag auf der Hand. Namentlich die Verwandtschaft mit dem letzteren war nicht zu verkennen. Denn lange noch, nachdem unser Gespenst verschwunden war, sahen wir in der Ferne, da, wo die Wolkenschatten den Boden verdunkelten, ähnliche Strahlenbrechungen. Auf abgeschrägtem Lande jenseits des Sees brannte mitten im Schwarz der Beschattung eine Fläche Landes, dem Anschein nach etwa hundert Quadratruthen groß, wie ein mit Regenbogensamen besäetes Feldstück, und die Myten bei Schwyz starrten, von denselben glühenden Farben überlaufen, wie ein paar ungeheuere Steinbockshörner oder Mammuthszähne aus der sie umgebenden Nacht empor.

Ich habe erzählt, was ich gesehen, nichts dazu gethan und nichts weggelassen, nichts verschönert und nirgendwo höhere Lichter aufgesetzt. Ich denke, so müßte es die Wissenschaft brauchen können, und vielleicht kommt nun einer von ihren Leuten und macht für die „Gartenlaube“ einen Vers daraus.




Teuerdank’s Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.
Von Gustav von Meyern.
(Fortsetzung.)


4. Teuerdank und Ehrenreich.

Der Apriltag, der seit dem Mittag in hellem Sonnenschein lachte, zeigte selbst am späten Nachmittag noch die Spuren der Schneeschauer, mit denen frühmorgens ein scharfer Nordwind über Gent hinweggestrichen war und Knospen aller Art aus ihrem frühlingsseligen Traume gerissen hatte.

Am erkennbarsten war dies in den kleinen Wäldern in der Umgegend der Stadt. An dem schon grünenden Unterholz von Buchen und Eichen wurde auf der Nordseite der braune Anhang des Vorjahres, der sich nur mit Mühe gegen die unaufhaltsam verbrechenden jungen Knospen wehrte, noch von tropfendem Schnee niedergebogen, und die zähen alten Blätter fielen mit leiser Klage unter dem doppelten Angriff. Auf dem feuchten Grunde, der mit Ginster, Jelängerjelieber, Zwergstechpalmen und Buchenschößlingen schon fast in Grün gehüllt war, schimmerte in Vertiefungen noch blendendes Weiß, oft seltsam abstechend gegen das Violett der wilden Veilchen und anderer Erstlinge des Lenzes, während die kahlen Aeste bemooster Hochstämme wie Denkmäler abgestorbenen Lebens in die Luft starrten.

Es war im kleinen Rahmen der Natur ein Spiegelbild der stürmischen Uebergangszeit, in welcher sich das Jahrhundert selbst von langem Winterschlafe zum Völkerfrühling befand.

Ein solches Wäldchen lag auch eine halbe Stunde Weges östlich von Gent, da wo sich die Heerstraße nordöstlich nach Mecheln und südöstlich nach Brüssel theilte, in dem Winkel zwischen beiden Straßen. Dasselbe würde die Gestalt eines Dreiecks gehabt haben, wenn sich nicht auf seiner breiteren Ostseite wieder zwei Flügelstreifen neben den Straßen hingezogen hätten, so daß es dort die Form annahm, die man bezeichnend genug mit dem Namen Schwalbenschwanz benennt. Ein Verbindungsweg zog sich von Süden nach Norden mitten hindurch. Kaum hundert Schritte von demselben, schon in der Nähe der Flügel, öffnete sich eine lichtere Stelle mit den Ueberbleibseln einer alten flamländischen Burg, oder vielmehr einer Warte mit Umfassungsmauern, die einst zum Auslug nach Osten bestimmt gewesen sein mochte, jetzt aber nur noch einen kleinen, mit Trümmerstücken eingefaßten Hofraum und dahinter den Rundbogen der früheren Eingangsthür aufzuweisen hatte. Das Ganze war mit Epheu und Schlinggewächsen aller Art überwuchert; nur das Portal zeichnete sich dadurch aus, daß durch irgend wie und wann herübergewehten Samen drei Zwergföhren auf demselben gewachsen waren und ihm jetzt eine natürliche Krone verliehen.

Ein breiter Fußpfad wand sich von dem Verbindungswege her dicht an der Ruine vorüber, um bald durch eine zweite Lichtung zwischen den beiden Flügelstreifen auf eine schmale Ebene hinauszutreten, über welche hinweg sich die Aussicht auf das Hauptgebäude einer stattlichen alten Abtei öffnete.

Mit seinen zwei Reihen kleiner, von Säulen eingefaßter Rundbogenfenster über dem großen runden Einfahrtsthor und den Eckthürmen mit den kurzen, spitzen Ziegeldächern zeigte das Gebäude sich von dieser Seite wie in einen Rahmen eingefaßt. Die schmale Ebene zwischen den Waldstreifen war kurzer Rasen, der seine Benutzung zur Fohlenweide in zahllosen Abdrücken kleiner Pferdehufe kenntlich machte. Ein Spazierweg von der Abtei führte den oberen Waldstreifen entlang zur Ruine. Das Wäldchen hieß von dieser der Burgwald, und die Abtei war das Kloster Allerseelen.

Eben klang von dort die Vesperglocke herüber, als auf dem Hofraume der Ruine ein Fußgänger auftauchte. Mit dem letzten Glockenschlage stand er unter dem Rundbogen und sah sich vorsichtig spähend um. Seiner Kleidung nach schien er nicht mehr als ein Knecht zu sein, aber ein großes Bund Schlüssel, das ihm am Ledergurt hing, und ein weinseliges Gesicht mit einem gewissen launigen Blick deuteten an, daß seine gewöhnliche Beschäftigung nicht unter freiem Himmel, sondern in jenen unterirdischen Gewölben zu suchen war, mit denen es der böse Feind verstanden hat, selbst die Klöster zu unterwühlen, um in lockendster Gestalt auf fromme Opfer zu lauern – woher es denn auch kommen mag, daß selbst der Tugendhafteste nur in seltenen Fällen aus solchen Räumen ohne Gewissenspein und schweres Kopfleid an die freie Luft zu treten vermag.

In die Tugend Bastian’s, des Kellerknechtes vom Kloster – denn das war er –, würde man freilich gerechtes Mißtrauen haben setzen können, auch wenn er sich nicht selbst eben darüber ausgesprochen hätte.

„Die Vesperglocke, und noch Niemand da,“ sagte er. „Um so besser! Da kann ich mich erst zauberfest machen. Habe mir mit der Wünschelruthe hier das rechte Kräutlein dazu gehoben.“ Dabei fuhr seine Hand vom Schlüsselbunde unter den faltigen Rock und zog ein gefülltes Fläschlein hervor. Er hielt es mit Wohlgefallen gegen die Sonne. „Malvasier nennen es die frommen Frauen,“ lachte er still vor sich hin. „Es glänzt wie Gold und wächst in Griechenland – ich weiß es für gewiß, wenn auch Ihre Gnaden, die Frau Aebtissin, sagt, es komme aus

[672]

Kaiser Alexander von Rußland.
Originalzeichnung von Professor W. Camphausen in Düsseldorf.

[673]

Großfürst Nikolaus von Rußland.
Originalzeichnung von Professor W. Camphausen in Düsseldorf.

[674] dem gelobten Lande. ... Um so besser! Dann muß es Wunder thun.“ ... Er that einen langen, langen Zug. „Weibermäßig süß, aber hält Leib und Seele zusammen! So! ... Nun mag der Spuk losgehen! Hier soll ich den Fiedler erwarten beim Zorne des 'Hugh'. Hu ... das ist der Waldteufel. Wer ihm nicht gehorcht, dem dreht er den Hals um.“

„Holla!“ rief es, als er die Flasche wieder einsteckte, leise hinter denn Portal hervor.

Trotz des Zaubertrankes wäre er vor Schrecken fast niedergesunken. „Das ist der Hugh,“ murmelte er zitternd.

„Parole!“ rief es leise zum zweiten Male – die französische Sprache mischte sich mit der flämisch-deutschen schon stark auch im gemeinen Volk.

„Teuerdank!“ antwortete Bastian, allen seinen Muth zusammennehmend.

„Gut!“ flüsterte es, und eine graue Gestalt trat plötzlich hinter der Ruine aus dem Gebüsch.

Bastian sprang, sie anstarrend, einen Schritt zurück. Sie folgte ihm in den Hofraum und trat dicht vor den Entsetzten, ihn mit großen Augen messend.

„Beim heiligen Sebastian, seh' ich recht?“ rief er plötzlich.

„Pst!“ mahnte der Graue.

„Das ist ja,“ lachte er leise, „Jan der Fiedler, der lustige Fiedler aus Geldern. ... Aber ... aber seid Ihr alt geworden in acht Tagen!“

„Kummer und Sorge, Bast!“ seufzte der Graue, seine Nasenflügel bewegend. „Oder auch nicht!“ Und den falschen grauen Bart ein wenig lüpfend, lachte er leise: „Kennst Du mich jetzt besser?“

„Mein Seel', das ist der echte Jan, mit dem Bart, wie ein burgundischer Junker. Wenn nur der ... der Berg auf der Nase nicht wäre!“

„Ein böser Schlag, Bast! ... Oder auch nicht!“ ... Und mit einer einzigen Handbewegung hob er vor dem Erstaunten auch dieses Hinderniß.

„Gottes Wunder! Aber was soll das? Was habt Ihr vor?“

„Vorerst melde schnell: Wie steht es in der Abtei?“

„Ihre Gnaden und unser gnädiges Fräulein beten drinnen, die Cleveschen draußen.“

„Die beten auch?“

„Zu ihrem Gott!“ bestätigte Bast, die hohle Hand an die Lippen haltend.

„Wer führt sie?“

„Der Prinz von Cleve.“

„Jetzt paß auf, Bast!“ nahm der Graue ernsthaft das Wort. „Wir sind hier halbwegs nach Gent. Der 'Hugh' – hörst Du? – der 'Hugh' hat mir zu wissen gethan, daß die Herzogin mit der Aebtissin zu Fuß hierher kommen wird, und daß sie später dort“ – er deutete westlich auf den Verbindungsweg – „aufsitzet und mit den Cleveschen heimreitet. Ich aber muß vor ihr nach Gent. Ist der Weg besetzt?“

Bast stieß mit dem Zeigefinger nach rechts oben und links unten aus. „Stechpalmen die ganze Straße entlang. Spitzen oben und Spitzen unten!“ flüsterte er.

„Clevesche?“

„Freilich. Und tausend Berittene sind heute auf der Straße nach Brüssel.“

„Gut! Recht weit weg!“ lachte Jan leise vor sich hin. „Auf die Fährte habe ich sie gesetzt.“

Plötzlich lauschte Bastian auf. „Hört, da rasseln die Stechpalmen wieder.“

„Die müssen fort,“ sagte Jan. „Haben wir auch hübsche Jungens mit schönen grünen Zweigen, wie ich, um uns her, so muß doch diese Ruine hier eine Weile ungestört bleiben, und ich selbst will nun einmal nach Gent.“

Bastian schüttelte den Kopf. „Sie lassen Keinen passiren, bis sie den Rechten haben. Und Bart und Nase nutzen Euch nichts. Sie trauen keiner Verkleidung. Haben sie doch um Mittag erst ein altes Weib durchsucht, ob kein Prinz drinn stecke. Die Alte hat mir's selbst geklagt.“

„Nicht so dumm!“ lachte Jan. „Steckt manchmal in einem Prinzen ein altes Weib – warum nicht auch einmal umgekehrt? Aber hinter's Licht geführt werden sie doch. Sind Ausländer, die Clever! Nun höre, Bast, was der Hugh ... verstehst Du? ...“ – und er ließ seine Augen rollen, aber die Nasenflügel zuckten – „was der Hugh Dir durch mich befehlen läßt!“

Bastian schauerte. Jan sprach feierlich:

„Ein fremder Ritter, ein Gesandter von einem großen König, dem Weißkönig, darf hier nicht überrascht werden. Würde sonst groß Spectakel in der Welt geben. Verstehst?“

Bastian nickte mit dummen Augen.

„Bist zu großen Dingen ausersehen. Sollst Welthistorie machen helfen.“

„Welthistorie? Danke für mein Part! Dabei geht's dem Kleinen an den Kragen.“

„Aber wenn's glückt, sollst im Genter Schlosse Kellermeister werden, verspricht der Hugh.“

„Kellermeister? Ah, das nennt Ihr Welthistorie? Ist ein Anderes. Ich bin dabei. Was muß ich thun?“

„Hingehen und Dich greifen lassen, ob sie in Dir auch vielleicht einen Prinzen suchen. Und wenn sie dumm genug dazu sind ...“

„Ja sagen?“ fiel Bast mit entschlossener Miene ein.

„Nein, Bast. Niemals gelogen. Merke Dir das ein für alle Mal! Erstlich ist's eine Sünde, und zweitens hilft es doch nichts. Nein, Du giebst Dir nur so eine gewisse Haltung und sagst nicht Nein ... Glauben“ – Jan's Nasenflügel zuckten – „thun sie Dir's doch nicht. Aber sie geben Dir sicher so einen artigen Rippenstoß oder dergleichen. Dann thust Du jämmerlich, schlotterst ein Weniges mit den Knieen, zum Beispiel so“ – er zeigte es; Bast machte es nach – „und bittest um Gotteswillen, sie möchten Dich nur laufen lassen. Du wüßtest auch etwas. Das gehen sie ein und dann sagst Du leise: es folge Dir Einer, der sich für Jan den Fiedler ausgebe und doch hier und hier“ – er faßte an Nase und Bart – „ganz anders aussehe. Das ist genug gesagt und wiederum nicht gelogen. Hernach komme ich an die Reihe, und wenn sie weit genug mit mir fort sein werden, rufst Du dort unter dem Thurm leise 'Teuerdank!' Der Ritter mit zwei Begleitern wird erscheinen. Dem sagst Du einen Gruß vom Fiedler, und hier solle er den 'Hugh' erwarten.“

Bastian nickte mechanisch, aber ihm grauste.

„So! Nun stelle Dich auf den Fußweg und klirre mit Deinen Pfropfenziehern da, als drohte Dir die Hölle mit allen den Flaschen, die Du schon sündhafter Weise getrunken hast!“

Leise vor sich hinlachend, verschwand er.

Bastian blieb einen Augenblick nachdenklich stehen.

„Sündhafte Weine?“ fragte er sich. „Das sind Frauenweine. Hab's ja immer gewußt, ich bin für bessere geboren. Im herzoglichen Keller, da liegen sie. Ich klirre.“

Er trat auf den Fußpfad und klirrte.“

„Halt! Werda?“ erklang es sofort vom Verbindungswege her, und mit gedämpfter Stimme rief es nach rechts und links. „Herbei, herbei! Waffengeklirr!“

Auf zwei Seiten brach man durch die Büsche, daß sie rauschten. Dann wurde es stiller, als ob man sich genöthigt sehe, in dem dichten Unterholze zu schleichen. Amseln flogen mit ängstlichem Glucktone auf.

„Solch ein schwarzer Vogel ist immer eine böse Vorbedeutung,“ murmelte Bast, zusammenfahrend. Da flog ein noch größeres Wesen aus dem feuchten Grunde empor, arbeitete sich flügelklatschend durch das Gezweige und schoß, den langen Schnabel vorgestreckt, in unregelmäßigem Fluge wie aus gewundenem Rohre geblasen, schattenhaft über die Ruine hin. Mit Bastian's Muth war es zu Ende. Die böse Vorbedeutung, die Aufregung, das geisterhafte Flügelthier, die sündhaften Flaschen – es fiel ihm auf die Glieder, und als jetzt auf zwei Seiten zugleich die Büsche auseinander gerissen wurden und die Cleveschen „bunten Krähen“ auf ihn einstürmten, sank er vor Schrecken in die Kniee.

„Nur Einer!“ rief dumm verwundert der Vorderste einem Andern zu, der ein spöttisches Wesen zur Schau trug.

„Und das nennst Du Waffengeklirr?“ höhnte dieser, auf Bastian's Schlüsselbund weisend.

Die Andern lachten. Bast richtete sich auf; das Lachen gab ihm seine Fassung wieder.

„Wer bist Du?“ schrie man auf ihn ein.

Er suchte sich eine Haltung zu geben.

„Seht mich an!“

[675] Gelächter war die Antwort.

„Könnte doch ein Prinz sein,“ meinte der Erste.

„Das ein Prinz?“ sagte verächtlich der Spöttische. „Bin viel in der Welt herumgekommen und habe schon manchen Prinzen gesehen – die sahen aber anders aus.“

„Wer kann’s wissen?“ entgegnete der Erste mit der Zähigkeit des Dummen. „Der Hauptmann sagte: Vorsicht! Und Jeden scharf in’s Auge gefaßt! Adlernase, kühne Augen, fürstliche Haltung.“

„Richtig!“ bestätigte der Spöttische, auf Bastian deutend. „Stimmt genau.“

Die Andern lachten; der Erste schämte sich und ließ es Bast durch einen derben Stoß entgelten.

„Du Esel, warum klirrtest Du denn?“

„Gnade, Ihr Herren!“ jammerte dieser, mit den Knieen schlotternd. „Ihr seht es ja, ich bin der Kellerknecht vom Kloster. Lasset ab von mir! Das Geklirre galt einem Andern.“

„Einem Andern? Welchem Andern? Sprich!“

„Wenn Ihr mich um Gotteswillen laufen lassen wollt.“

„Nun ja doch! Sprich!“

„Pst! Es folgt mir Einer. ... Bald muß er hier sein. ... Einer, der sich für Jan den Fiedler ausgiebt. Aber der Jan sieht anders aus, ganz anders. Alles falsch hier, Nase falsch, Bart falsch!“ ...

„Aha!“ riefen, bedeutungsvolle Blicke tauschend, die Andern. „Gut! Lock’ ihn uns und dann lauf’!“

Alle verbargen sich. Bast klirrte und verschwand in den Büschen. Hinter der Ruine trat der Graue hervor. Seine Gestalt mit einem Anstriche von Vornehmheit in die Höhe reckend, schritt er aus dem Hofraume heraus, hakte die Fiedel ab, entlockte einer Saite mit dem Finger einen Ton, horchte, sie wieder einhakend, auf und rief leise, wie im Zorne:

„Bast, wo bist Du? Ist Alles sicher?“

„Halt, ergebt Euch!“ war die Antwort, und im Nu hatten ihn die Cleveschen umringt.

„Holla, was ist das?“ rief der Fiedler, stolz an die linke Hüfte greifend.

„Ihr verrathet Euch, Herr!“ höhnte der Spötter.

„Was wollet Ihr Leute von Jan dem Fiedler?“

„Zuvörderst ihm den Bart abnehmen,“ erwiderte Jener und riß ihm den Bart herunter.

„Ah!“ staunten Alle.

„Und dann ihm die Nase putzen!“ ... Auch der Höcker flog davon.

„Das ist der Prinz,“ riefen jubelnd Alle. „So sieht ein Prinz aus,“ bestätigte der Spötter.

„Laßt erst einmal sehen!“ meinte prüfend der Dumme, der seine Ehre wieder herstellen wollte. „Kühnes Auge? Paßt. Fürstliche Haltung? Paßt. Adlernase ...?“ Er blickte zweifelnd die Andern an. Die Andern schienen ungläubig. Die Gefahr für des Fiedlers Plan lag nahe. Aber auch hier wußte sich dieser zu helfen.

„Adlernase!“ rief er verächtlich. „Habt Ihr je eine Nase an einem Adler gesehen?“

„Das ist der Schnabel,“ rief der Dumme.

„Und was ist das, wenn ich Dir sage: Halt den Schnabel?“ fragte der Fiedler.

„Das ist der Mund.“

Gelächter war die Antwort.

„Folglich ist der Schnabel ein Mund und nicht eine Nase, und es giebt keine Adlernase – das sagt Eurem Hauptmann!“

„Ei was Nase, Schnabel oder Mund! Ihr habt Mummerei getrieben. Ihr seid als Prinz verdächtig und unser Gefangener,“ rief der Spöttische, und die Andern stimmten bei.

„Gut denn! Wenn ich ein Prinz sein soll, so führt mich nach Gent! Denn ein Prinz kann sein Schwert nur einem anderen Prinzen übergeben.“

Mit diesen stolzen Worten griff Jan, wie aus Gewohnheit, wieder an die Hüfte und zog den Fiedelbogen.

Unmäßiges Gelächter folgte.

„Den Fiedelbogen! Er verräth sich wieder. Es ist der Prinz. Wir haben ihn. Herrlicher Fang, große Belohnung! Zum Herzog mit ihm nach Gent! Nach Gent, nach Gent!“ rief es und lachte es und jubelte es durch einander, und Jan der Fiedler wurde auf dem Fußpfade westwärts geführt.

So lange noch die Schritte der Davoneilenden zu hören waren, blieb vor der Ruine Alles stumm. Als aber die letzten Laute verhallten, lugte der Kopf Bastian’s hinter dem Portale hervor. Nachdem er sich versichert hatte, daß die Luft rein sei, drehte er sich rückwärts und rief leise:

„Teuerdank!“

Man hörte ganz nahe hinter der Ruine Geräusch in den Büschen. Unter schweren Tritten brach trockenes Gezweige am Boden. Die Büsche theilten sich. Eine jugendlich klangvolle, nur mäßig gedämpfte Stimme rief, abwärts gewandt: „Die Pferde lasset zurück!“

Bast zog sich mit tiefer Verbeugung in den Hofraum. Der alte Ritter, der Junker und Maximilian traten durch das Portal.

Wahrlich, das Wagniß des Fiedlers, für diesen gelten zu wollen, war nur da möglich, wo man ihn niemals gesehen. Denn wie er jetzt, in einfacher Waidmannstracht, statt im Purpur des Kaisersohnes, und unter der Tannenkrone der verwilderten Ruine, statt unter dem Thronbaldachin, dastand, zweifelte selbst Bastian, der doch die Abstufungen der Menschen nur nach ihrer Weinzunge zu bemessen gewohnt war, keinen Augenblick, an wen er das Wort zu richten habe.

„Einen Gruß vom Fiedler, und Ihr sollet hier den – den 'Hugh' erwarten, Herr,“ brachte er stammelnd hervor.

„Den 'Hugh'? Ich weiß von keinem 'Hugh'. Aber wo ist der Fiedler? Ich hörte Lärmen,“ fragte Maximilian, mit den Augen suchend.

„Der ist ein Prinz geworden, Herr Ritter, und hat sich fangen lassen,“ erwiderte schlau lächelnd Bast. „Jetzt führen sie ihn nach Gent.“

„Welche neue Kriegslist, Ehrenhold?“ wandte sich Maximilian an den Alten. „Wußtet Ihr darum?“

„Gerade so viel, als um das, was nun geschehen soll,“ brummte der Ritter. „Nur das weiß ich, daß wir jetzt führerlos sind. Hab’s ja immer gesagt: Fremder Schutz, schlechter Schutz.“

„Und wer ist der 'Hugh', den ich erwarten soll?“ fragte Max, wie Jemand, der das Peinliche der Lage empfindet und es doch nicht eingestehen möchte.

„Pst, Herr Ritter! Leise – leise!“ flüsterte Bastian. „Das ist ein mächtiger Waldgeist, der allen Franzosen den Hals umdreht.“

„Ah!“ rief Max in höchster Freude. „Ist es der? Ich wußte es ja. Dann sind wir in den besten Händen. Du aber, Freund, sag’ an, wer bist Du?“

„Nur der Kellerknecht vom Kloster, Eure Gnaden. Nicht der Rede werth! Wenn ich aber Welthistorie machen helfe, sagt der Fiedler, dann will 'Er' – Ihr wißt ja – mich zum herzoglichen Kellermeister machen.“

„Dann denke, Du wärest es schon!“ lachte der Junker.

„Nicht vorlaut, Fürwittig!“ strafte Maximilian, aber er mußte selbst lächeln. „Spaßhafter Kauz!“ sagte er, „gut denn, kannst sogleich Dein neues Amt beginnen. In dieser Ruine sollen wir rasten. Der Ritt durch die Wälder, der erste fast am hellen Tage, hat uns Durst gemacht. Geh’, Kellermeister, und bringe uns Wein vom Packthier!“

Bastian verschwand hinter der Ruine. Maximilian suchte mit den Augen nach einem bequemen Platze, sich niederzulassen. Diensteifrig breitete ihm der Junker den Reitermantel über eine Stelle, wo ein epheuumranktes Mauerstück eine Stütze für den Kopf bot. Jener streckte sich der Länge nach nieder, legte die Hände unter den Kopf, daß ihm das Goldhaar über die Schultern quoll, und richtete das blaue Auge zum Himmel, daß er sich darin wiederzuspiegeln schien.

„Räthsel rings umher!“ sagte er träumerisch. „Aber der Himmel über mir mit seinem ewigen Geheimniß, und der Himmel in mir mit seinem süßen, sie rufen mir zu: Vertraue auf Gott und sie, Teuerdank!“

Dann, wie wenn ihn der Name wieder auf die Erde zurückzöge, wendete er sich lächelnd den beiden Anderen zu, die ihm gegenüber Platz genommen hatten.

„Beim heiligen Maximilian, der meinem Vater im Traume erschienen, ehe denn man mich taufte – besser als mein Taufname taugt für mich der Name, den ich mir selbst gegeben. [676] Und auch Ihr, Ehrenhold und Fürwittig, möget die Eurigen nun behalten für alle Zeiten! ... Wisset, 'Teuerdank' nannte ich mich schon als Knabe, wenn ich im Garten der Hofburg mit meinem jungen Freunde Abenteuer träumte und Märchen und Ritterspiele erfand. Hugo von Geldern war's – dient jetzt in Welschland nach dem Falle seines Hauses. Dann gaben wir uns Heldennamen und vollführten Fahrten und Fahrnisse aller Art. Wie hätte ich ahnen können, daß die Spiele der Kinderzeit mich im Ernste schon so früh in's Leben begleiten würden. ... Wahrlich, ist das eine Fahrt! Zieht ein Königssohn hinaus mit zwei Getreuen, um die Krone der Jungfrauen zu gewinnen. Aber mir ist fröhlich zu Muthe. Meine Ehrenreich soll ich wieder sehen. Schon athme ich ihre Luft. Der eine Gedanke macht nach glücklich und läßt mich jedem Unfall trotzen.“

„Aber die Klugheit rechnet mit ihm, Herr, und was nützet Euch die Luft, die Ihr athmet? Euer Königskind ist in aufrührerischer Stadt und in fremder Gewalt.“

„Ich kann es noch nicht glauben, Ehrenhold. Wie hätte sie mir dann eine solche Bedeckung, ein halbes Tausend Mann entgegensenden können?“

„Wundersames Geleite das!“ brummte der Alte. „Habt Ihr, außer den fünfzig Reitern um uns, die anderen je bei Tage gesehen, Herr? Warum scheuen sie das Licht? Vergebens habe ich in der Dämmerung nach ihnen ausgespähet. Huschte aber ja einmal einer unvermerkt über den Waldweg, so sah er einem von der wilden Jagd ähnlicher, als einem ehrlichen Reitersmann. Und ihre Hauptleute, die sich Euch an der Grenze Namens der Herzogin vorstellten, glichen sie in ihren langen Bärten unter den Filzkappen mit grünem Gezweig nicht unheimlichem Waldgezücht eher, als christlichen Kriegsleuten?“

„Alle guten Geister ...“ spottete der gereizte Junker.

„Und beantworteten sie nicht jede Frage mit stummem Achselzucken oder mit Nichtwissen?“ fuhr Jener, ohne den Pagen einer Antwort zu würdigen, fort.

„Sie sind von der holländischen Grenze, Ehrenhold!“ warf Maximilian ein. „Was sollen sie da wissen? Kaum daß wir ihr Deutsch verstanden. Aber sei es drum! Unser Führer durch die Wälder, der lustige Fiedler, war jedenfalls von Fleisch und Blut und hat uns auf der Fahrt weidlich ergötzt.“

„Um zu verschwinden, wo wir seiner am nöthigsten bedürfen. Wahrlich, Prinz, Ihr gehabt Euch, als lebten wir in tiefster Sicherheit, und doch wisset Ihr, daß wir verfolgt sind und jede Minute überrascht werden können. O, ich hörte wohl die besorgten Meldungen von der Nachhut an den Hauptmann. Leichte Reiter, die rückwärts gestreift waren, brachten sie. Es war von dem Rothbärtigen die Rede und von dem buckligen Bäuerlein, das uns bei Eupen überraschte. Die Spürhunde haben trotz des Fiedlers Künsten unsere Fährte gefunden und müssen von Lüttich aus versucht haben, uns auf kürzerem Wege den Vorsprung abzugewinnen.“

„Haben ihn aber nicht gewonnen, Alter. Unsere Südschwenkung in letzter Nacht hat sie getäuscht. Ihr Haufe folgt der Brüsseler Straße nach, und Ihr seht es, wir sind durch die Wälder längs der Mechelner Straße vor ihnen hier. Noch meldeten die Streifwachen nichts Verdächtiges, und selbst von der Cleveschen Postenkette vor uns scheint uns des Fiedlers List befreit zu haben.“

„Desto mehr thäte Eile Noth, statt müßigen Harrens.“

„Geduld, Ehrenhold! Glaubet mir, hier waltet eine mächtigere Hand. Längst ahne ich sie, ohne sie zu erkennen, aber Eines weiß ich: der Spielmann ist ihr Werkzeug, und was er thut, geschieht zu unserem Besten. Lasset uns darum treulich befolgen, was er uns geheißen, und uns einstweilen stärken für die entscheidende Stunde. – He, Kellermeister, kommt Ihr endlich?“ rief er dann Bastian entgegen, der mit gefülltem Trinkhorn nahte, nahm ihm den Becher ab und ließ ihn die Runde machen.

„Da ist gut Kellermeister sein,“ nickte Bastian still für sich. „Diese Fremden trinken noch, wenn es rings von Schwertern blitzt. Aus welchem Lande die wohl sein mögen?“

Plötzlich aber horchte er auf.

„Man kommt. Schnell hinter die Ruine, Ihr Herren!“ Und er entriß dem Pagen das Trinkhorn und entschlüpfte durch das Portal. Die Anderen folgten.

Auf dem breiten Fußpfade vom Kloster her nahten der Prinz von Cleve und Hugo von Huy in eifrigem Gespräche. Hugo, der unter dem lang nach rückwärts fallenden Reitermantel ein silbernes Horn am Gürtel und am Barrett einen grünen Zweig trug, blieb etwa zwanzig Schritte vom Hofraum stehen und sprach mit auffallend lauter Stimme.

„Ich sage Euch, Prinz,“ gab er diesem eben zur Antwort, „Euer friesischer Hengst hätte mich überholt, aber der umgestürzte Baumstamm am Waldstreifen war für ihn zu hoch. Meine Stute ist leichter; sie nahm ihn noch.“

„Nein, nein, Huy,“ entgegnete heftig der Prinz. „Eure Stute hat gesiegt – abgemacht: aber ich sage Euch, mein Hengst setzt spielend über das Hinderniß; er scheute nur und wich seitwärts aus, weil in demselben Augenblick ein Mann, der darunter verborgen lag, aufsprang und wie der Blitz im Walde verschwand.“

„Ein Mann?“

„Mit einem grünen Zweige am Hute, wie Ihr da. Er kam mir fast verdächtig vor.“

„Wird wohl ein Waldhüter gewesen sein, der im Schatten geschlafen haben mochte.“

„Mag sein.“

„Aber der Stamm liegt doch zu hoch für ein so schweres Thier, mit Eurem Gewichte dazu. Ah, fünf Fuß, es ist nicht möglich. Ich möchte meine Stute gegen Euren Hengst wetten.“

„Ihr wolltet?“ rief mit großen Augen der Prinz. „Wenn ich nur die Herzogin einen Augenblick verlassen dürfte, Ihr solltet Eure Stute die längste Zeit geritten haben.“

„Sind ja keine fünfhundert Schritte von hier zur Fohlenwiese,“ warf Hugo leicht hin. „Und die Herzogin?“ Er drehte sich rückwärts und hob sich auf den Fußspitzen, um durch eine lichte Stelle des Unterholzes zu sehen. „Dort hinter der Krümmung des Weges folgt sie im Gespräche mit der Aebtissin; fragt sie nur um Erlaubniß, Prinz! Nach fünf Minuten ist die Wette entschieden und Euer Hengst mein.“

Wieder blickte er, wie ungeduldig, rückwärts.

„Sehet, dort sitzen Eure Leute eben in der Lichtung ab. Ah, Fräulein von Helwin! ... So allein?“

Adelheid, durch die Krümmung des Weges bis dahin verdeckt, stand plötzlich vor ihnen. –

(Fortsetzung folgt.)




Capitel für Clavierspieler.


Von allen Musen ist keine so allgemein umschwärmt wie die Muse der Tonkunst. Es läßt sich nicht leugnen, die Pflege der Musik ist – Modesache geworden. Wie man heutzutage etwas Englisch und Französisch gelernt haben muß, um nicht gegen den guten Ton zu verstoßen, so treibt man auch ein wenig Musik. Dagegen ließe sich auch gar nichts einwenden, wollte man nur mehr dahin streben, sich in Sachen der Kunst genuß-, das heißt urtheilsfähiger zu machen. Leider ist dieser Zweck gerade der letzte, der verfolgt wird. Statt nach einer möglichst allgemeinen musikalischen Bildung zu streben, begnügt man sich mit der meist sehr oberflächlichen Bekanntschaft mit einem einzigen Instrument, einem Instrument, das neben seinen großen Vorzügen auch seine Schwächen hat, und bringt dadurch sich selbst um den rechten Kunstgenuß, die Kunst aber um den Vortheil, den sie im anderen Falle aus ihrer vielumworbenen Stellung ziehen könnte.

Von all der vielen Zeit, die gegenwärtig auf die Musik verwandt wird, gilt der bei weitem größte Theil dem Clavier. Nicht weil das Clavier am ersten geeignet ist, musikalisch zu machen, sondern weil es die wenigsten Ansprüche an den Spieler stellt. Indem nämlich das Clavier den Ton in Bezug auf Tonhöhe fix und fertig stellt, erspart es dem Spieler das eigene Hören, Vergleichen und Abwägen, eine Thätigkeit, die entweder

[677]

In der Weinlese am Rhein.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von J. F. Engel.

[678] ein angeborenes Talent oder große Uebung voraussetzt, und die beim Geiger z. B. allein schon eine Kunst ausmacht. Ueberdies hat das Clavier auch die angenehme Eigenheit, durch leicht zu bewirkenden harmonischen Wohlklang über das eigentliche Können des Spielers zu täuschen, natürlich zum Vortheile des Letzteren.

Bei solchen Vorzügen des Instrumentes fallen die ersten Fortschritte in der Behandlung desselben nicht schwer. Mit ein wenig Verstand, der dazu gehört, um die Kenntniß der Notenschrift zu ermöglichen, und einiger Geschicklichkeit der Hand lernt der Schüler bald sein „Stückchen“ spielen. Aus den Stückchen werden mit der Zeit „Stücke“ von vielklingendem Namen und nicht ohne eine gewisse elementare Klangwirkung – und damit ist erreicht, was die Mode beansprucht, ein angenehmer Zeitvertreib, der zugleich den kleinen Vortheil bietet, sich in gesellschaftlichen Kreisen Eingang und ein besonderes Ansehen zu verschaffen. Der größere Theil aller Clavierspieler kommt über diese niedere Region der „Salonmusik“ nicht hinaus. Wie viele lernen ein Mendelssohn’sches Lied ohne Worte gut spielen? Wie viele erreichen Beethoven? Von Schumann, Chopin, Liszt etc. gar nicht zu reden. Aber das ist nicht das Beklagenswertheste an der gegenwärtigen musikalischen Erziehung der Jugend, daß speciell in der Kunst des Clavierspiels, der doch so viel Zeit gewidmet wird, so wenig erreicht wird. Sofern jene Leute nicht öffentlich spielen (Spielen bei offenen Fenstern ist ein gelinder Grad von Oeffentlichkeit), ist ihr Können oder Nichtkönnen ihre Sache. Aber das wird man mit Recht beklagen dürfen, daß sie nicht musikalischer dabei geworden sind. Denn eben dieselben Leute gehen in’s Concerthaus und in die Oper und fühlen sich berufen, über eine Kunst zu urtheilen, von deren innerstem Wesen sie kaum eine Ahnung haben. Und die Halbgebildeten werden auch hier die schlimmsten Richter sein.

Ich habe nichts gegen das Clavierspiel überhaupt einzuwenden. Soll dasselbe aber Grundlage einer allgemeinen musikalischen Bildung werden, so ist zu wünschen, daß der Clavierunterricht weniger einseitig mechanische Zwecke verfolge, als es im Allgemeinen noch der Fall ist. Wollte man sich erst daran gewöhnen, den Clavierunterricht mehr als Mittel zum Zweck (einer auf das ganze Gebiet der Tonkunst gerichteten musikalischen Beurtheilungs- und Auffassungskraft), denn als Selbstzweck zu betrachten, man würde gar bald erkennen, wie wenig der zu lösenden Aufgabe mit einer wenn auch noch so vollkommenen Ausbildung der Hand gedient ist, wenn etwas viel Wichtigeres darüber vergessen wird, das Ohr. Ich weiß nicht, ob man die Pflege des Gehörs für überflüssig hält, oder ob man glaubt, sie dem Zufalle überlassen zu können, Thatsache ist, daß für die Pflege des Gehörs beim Clavierunterrichte wenig oder gar nichts geschieht. An diesem Uebelstande werden einige neuerdings erschienene Unterrichtswerke, die der Pflege des Gehörs wenigstens die ihr gebührende Beachtung schenken, vor der Hand nichts ändern. Denn es ist bekannt, wie schwer sich ein neues Lehrverfahren Bahn bricht, wenn es nur den Vorzug hat, gründlicher zu sein, nicht aber leichter. Vielleicht daß es der „Gartenlaube“ gelingt, die Nachfrage nach einem eine mehr allgemein musikalische Ausbildung bezweckenden Clavierunterricht zu steigern.

Bekanntlich hat der musikalische Ton dreierlei Eigenschaften: er ist von bestimmter Höhe, Dauer und Stärke. Die Fähigkeit, einen Ton nach diesen drei Beziehungen hin richtig auffassen resp. wiedergeben zu können, ist die erste Bedingung für jeden auf das Allgemeine gerichteten musikalischen Bildungsversuch. Manchem Menschen ist dieselbe wie angeboren, anderen fehlt sie entweder ganz oder doch theilweise. Nicht immer findet sich nämlich der Sinn für alle drei Eigenschaften des Tones in gleichem Maße ausgeprägt. Am allgemeinsten empfunden wird wohl der Unterschied von stark und schwach, denn dazu gehört nicht mehr als ein überhaupt gesundes Gehör. Feinere dynamische Schattirungen werden dem ungeübten Ohre freilich auch unzugänglich bleiben. Schwieriger schon ist es, der den Tönen in Folge ihrer verschiedenen Dauer eigenthümlichen rhythmischen Bewegung zu folgen. Mehr als die äußeren Umrisse derselben, den Tact, das ist die regelmäßig wiederkehrende Betonung, wird der Uneingeweihte in dieser Beziehung kaum empfinden. Dieses sogenannte Tactgefühl, welches sich bei dem Musikhörenden durch entsprechendes Wiegen mit dem Kopfe oder Treten mit dem Fuße (nebenbei gesagt: eine üble Angewohnheit) bemerklich macht, findet auch außerhalb der musikalischen Kunst Uebung und Anwendung, z. B. beim Tanzen und bei verschiedenen mechanischen Beschäftigungen, als dem Schmieden, Dreschen etc., und ist weit mehr Sache des Gefühls, als des Gehörs.

Eine speciell musikalische Gabe aber ist das Unterscheidungsvermögen für die dritte Eigenschaft des Tones, für Höhe und Tiefe oder für das melodische Element der Musik. Sie wird lediglich durch das Gehör bewirkt und auch in der Regel schlechthin als „musikalisches Gehör“ bezeichnet. Was uns das „musikalische Gehör“ von einem Tonstücke vermittelt, das ist das Wichtigste, das Tonmaterial. Dem gegenüber sind die durch den Rhythmus und die dynamischen Schattirungen bewirkten Modificationen so untergeordneter Natur, daß sie von Vielen kaum als etwas Besonderes, sondern mit jenem zugleich empfunden werden. Kein Wunder, daß man „musikalisches Gehör haben“ und „Anlagen zur Musik besitzen“ so ziemlich für eins hält.

Es bedarf wohl kaum eines Beweises, daß der Mensch auch in Rücksicht auf seine musikalischen Anlagen bildungsfähig ist. Zwar wird das „musikalische Gehör“ (im engeren Sinne) fast allgemein für angeboren gehalten. Indeß dürfte der Beweis des Angeborenseins schwer zu führen sein. Der eben ankommende Weltbürger hat in der Regel Wichtigeres zu thun, als sich musikalischen Untersuchungen zu unterwerfen. Später angestellte Versuche aber sind unzuverlässig, denn inzwischen können Mutter und Geschwister längst angefangen haben, den Kleinen mittelst ihrer Wiegenlieder musikalisch zu bearbeiten. Oder glaubt man etwa, daß das nicht möglich sei? Es wäre doch wunderbar, wenn das Kind, das für alle anderen Einflüsse um sich her empfänglich ist, gerade für die musikalischen unzugänglich wäre. So wenig ich daher auch dem Schriftwort von den „mancherlei Gaben und Kräften“, die uns angeboren sein sollen, zu nahe treten möchte, so glaube ich doch, daß sich der bei Beginn des Unterrichtes zuweilen schon vorhandene musikalische Fonds der Kinder in den meisten Fällen auf eine frühzeitige musikalische Beeinflussung derselben zurückführen läßt.

Fragen wir nun, inwiefern der Clavierunterricht geeignet ist, die musikalischen Anlagen des Schülers zu bilden, so ist zu sagen, daß dieselben nach Seite des als relativ nebensächlich erkannten dynamischen und rhythmischen Gefühls jedenfalls in hervorragender Weise gepflegt werden, daß aber gerade das Wichtigste, das „musikalische Gehör“, sich selbst überlassen bleibt. Denn indem das Clavier die Bildung des Tones in Bezug auf Tonhöhe selbst übernimmt, entzieht es dem Spieler nach dieser Seite hin alle Uebung. Der Clavierspieler muß wissen, wie eine Terz oder Quarte gegriffen wird, aber er braucht nicht zu wissen, wie sie klingt – wenn er nicht will, denn das Klingen besorgt ja das Instrument.

Gerade der Unfähige wird aber am wenigsten wollen, denn wofür man keine innere Neigung besitzt, dafür pflegt man sich auch nicht zu interessiren, am allerwenigsten aber zu bemühen. Die Folge davon kann nur die sein, daß der von Hause aus unbegabte Schüler in Bezug auf das melodische Element der Töne ohne alle Auffassungskraft bleibt. Dieser Mangel wird sich beim Clavierunterrichte dadurch fühlbar machen, daß der Schüler die gröbsten Fehlgriffe nicht hört und nicht das Geringste behalten, folglich auch nie etwas auswendig spielen kann, eine Fähigkeit, die bis zu einem gewissen Grade zu jeder guten musikalischen Leistung gehört. Daß aber ein Clavierspieler ohne „musikalisches Gehör“ mit seiner ganzen Musikmacherei vollständig isolirt und jeder anderen musikalischen Bethätigung gegenüber gerade so gut ein Fremder bleibt wie der Laie, das ist die schlimmste Erfahrung, die er an sich selbst machen muß. Denn dadurch entgeht ihm auch zugleich jeder Anspruch auf musikalische Bildung. Wenn ein solcher Mensch ehrlich sein will, so wird er gestehen müssen, daß er nicht zu unterscheiden vermag, ob Jemand in dur oder in moll spielt, folglich auch nicht, ob er rein oder nicht rein gespielt hat. Wie kann aber Jemand, der das Wesen der Harmonie noch gar nicht erkannt hat, reden wollen von einem besonderen Genusse, der ihm aus der künstlerischen Anwendung derselben erwächst?

Darum aber sollte jeder Clavierlehrer als seine erste und nächste Sorge die betrachten, das Gehör seines Schülers zu bilden. Daß auch der wenigst begabte Mensch in dieser Beziehung bildungsfähig ist, das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung [679] auf das Bestimmteste versichern. Der Erfolg des Unterrichts wird, abgesehen von der eingeschlagenen Methode, lediglich davon abhängen, ob auch früh genug angefangen worden ist. Die Jugend, und zwar die früheste, ist auch hier die Zeit, da man säen muß, wovon man später ernten will. Natürlich wird durch Geduld und Zeit aufgewogen werden müssen, was an Begabung fehlt. Als das beste Bildungsmittel für das Gehör aber empfiehlt sich der Gesang. Abgesehen von dem besonderen Vortheile, der durch die gleichzeitig bewirkte Ausbildung der Stimme erzielt wird, ist dieser Weg auch der sicherste. Die Wiedergabe eines Intervalles durch die Stimme ist gewissermaßen die Probe, ob dasselbe auch verstanden und aufgefaßt worden ist. Nur bei Erwachsenen und Kindern im reiferen Alter, denen die zum Singen nöthige Naivetät fehlt, begnüge man sich daher mit stummen Gehörübungen, die Kleinen veranlasse man aber zum Singen, und sie thun es gern, besonders die Mädchen. Gewährt doch der Gesang beim Clavierunterrichte die interessanteste Abwechselung. Es versteht sich von selbst, daß ein bloßes Singen nach dem Gehöre unserem Zwecke nicht dienen kann. Der Schüler muß nach Noten singen lernen und sich auf diesem Wege zugleich die zum Clavierspiele erforderlichen harmonischen Kenntnisse aneignen. Vermag er erst von der Note auf den Klang zu schließen, so wird sich mit der Zeit auch das Umgekehrte einstellen. Das wäre allerdings die höchste Potenz musikalischen Gehöres, die aber auch viel Vortheile gewährt. Wie dieses Ziel am besten zu erreichen ist, das ist Sache des Lehrers und gehört nicht hierher.

Mancher, der im Principe mit mir einverstanden ist, wird vielleicht einen zu großen Zeitaufwand befürchten und aus diesem Grunde gegen eine Verbindung von Clavier- und Gesangunterricht sein. Solchem Zweifler möge Folgendes zur Beruhigung dienen! Ich verlange keinen zeitraubenden Gesangunterricht. Ich bin nicht einmal dafür, daß dem Schüler neben dem Clavierunterricht noch ein besonderer Gesangunterricht zu Theil werde. Der Gesangunterricht bilde einfach einen Theil des Clavierunterrichtes, der auch in den ungünstigsten Fällen nicht mehr als etwa zehn Minuten Zeit in Anspruch zu nehmen braucht. Gesetzt, der Schüler wäre so unfähig, daß er nicht vermöchte, einen einzelnen Ton richtig nachzusingen, was bleibt dann weiter zu thun übrig, als immer wieder beim Gehör anzuklopfen? Denn bevor diese erste, allerdings größte Schwierigkeit nicht überwunden ist, kann von einem Weiterschreiten zur Verbindung von zwei Tönen keine Rede sein. Solche Versuche können aber nicht stundenlang fortgesetzt werden. Gerade, daß der Gesangunterricht als Nebensache, anscheinend als Spielerei betrieben wird, das gewährt die Möglichkeit, jene Uebungen recht oft, auch mitten in der Clavierstunde, zu wiederholen, ohne den Schüler zu ermüden. Später werden natürlich die Zwecke des Gesangunterrichtes klarer zu Tage treten, indeß wird es auch dann noch lediglich Sache des Lehrers sein, sich die im Interesse des Clavierunterrichts nöthige Beschränkung aufzuerlegen. Wenn man erwägt, daß der Clavierunterricht meist sechs bis acht Jahre Zeit in Anspruch nimmt, so braucht sich der Gesangunterricht, um sein Pensum mit jenem zugleich zu vollenden, eben nicht zu beeilen. Sollte sich mit der Zeit vielleicht beim Schüler eine besondere Neigung zum Gesange ausbilden, so würde ich mich nicht dazu berufen fühlen, dem zu widerstreben. Denn auch bei der alleroberflächlichsten Auffassung wird man die musikalische Erziehung der Jugend doch wenigstens vom Standpunkte der eigenen Befriedigung aus betrachten müssen. Auf welchem Wege dieses Ziel erreicht wird, müßte eigentlich doch gleich sein. Ich beabsichtige nicht, dem Claviere die Herrschaft streitig zu machen, wenn aber jener oft so faden, gefühl- und gedankenlosen Clavierspielerei, wie sie besonders die Bewohner großer Städte plagt, zu Gunsten des Gesanges etwas Abbruch geschähe, so würde ich es nicht bedauern.

M. Vogel.




Blätter und Blüthen.


Der Kaiser und der Oberfeldherr Rußlands. (Mit Abbildungen Seite 672 und 673.) Alexander der Zweite, der russische Kaiser, und Großfürst Nikolaus, dessen Bruder, der russische Heerführer in der Türkei, sind in diesem Augenblicke die beiden am meisten genannten und am wenigsten beneideten Männer Europas.

Die Lebens- und Regierungsgeschichte des russischen Kaisers, von dessen Herzensgüte und reinmenschlicher Leutseligkeit auch deutsche Blätter manchen wohlthuenden Zug erzählen, ist ohne Zweifel unseren Lesern genügend bekannt. Er bestieg den Thron, als sein Vater, der eiserne „Selbstherrscher“ Nikolaus, am Unglück des Krimkrieges gestorben war, und erhob sofort an des alten Nesselrode Stelle zum Reichskanzler den Fürsten Gortschakoff. Der Ausspruch desselben: „Rußland schmollt nicht, sondern es sammelt sich,“ deutete zugleich das Programm der nächsten Regierungszeit Alexanders an und wies auf die nothwendige „Stärkung des Staats durch Reformen“ hin. Zu den wichtigsten derselben gehört die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Reorganisation der Armee. Sogar zur constitutionellen Verfassung wurde ein Anlauf genommen, der jedoch vor der Hand bei einer sehr beschränkten Provinzialrepräsentation stehen blieb. Dagegen fanden andere kaiserliche Maßregeln, wie die Russificirung Polens in Sprache und Glauben, desto energischere Durchführung.

Offenbar kam das Gefühl des „Gesammeltseins“ in den maßgebenden Kreisen jetzt um so mächtiger zum Durchbruche, als die deutschen Siege in Frankreich zur Nachahmung reizten und die Rücken und Flanken-Sicherheit zur Krafterprobung in einer alten Richtung einlud. Es waren gerade zwanzig Jahre vergangen seit dem Krönungsmonat des Kaisers Alexander, wo er durch ein Circulair Europa verkündet hatte, „daß Rußland die Thatsache der Auflösung der ‚Heiligen Allianz‘ anerkenne“ – da sah dasselbe Europa dieselben drei Großmächte der einstigen „Heiligen Allianz“ zu einem neuen Bunde zusammentreten: dem „Dreikaiserbund“. Daß derselbe im Zusammenhange mit dem Entwickelungsgange der orientalischen Frage stehe, bezweifelt Niemand, sollte auch der Einfluß des neuen deutschen Reiches nur in der Versöhnung Oesterreichs und Rußlands und in der dermaligen Beschränkung des orientalischen Krieges auf die zwei erbfeindlichen Kämpfer bestehen.

Es wird versichert, daß Kaiser Alexander sich schwer zu diesem Kriege entschlossen habe. Macht dies seinem Herzen Ehre, so wissen wir auch, daß zur Erneuerung eines Kampfes, welcher Rußland schon wiederholt verhängnißvoll geworden war, ihn mehr seine Doppelmacht der Politik und des Glaubens, als der Einfluß seiner Umgebung bewegen konnte. Das Gefühl des „Gesammeltseins“ mochte dazu beitragen und nicht weniger ein verführerischer Vergleich: wenn es den deutschen Bundestruppen möglich war, die gefürchtetste Militärmacht Europas in noch nie dagewesener Weise zu besiegen, was sollte dann dem Heere der russischen Weltmacht gegen den „kranken Mann“ unmöglich sein?

Wir haben unseren Lesern den bisherigen Verlauf des Kriegs, soweit dies von einem Familien-Wochenblatt geschehen kann, erzählt; sie wissen, daß Kaiser Alexander persönlich Theil an demselben nimmt.

Schon im September des vorigen Jahres verweilte der Kaiser längere Zeit in Livadia auf der Krim, offenbar um in der Nähe „den politischen Wellenschlag am Bosporus“ zu beobachten. Außer seinem Sohne, dem damals einunddreißigjährigen Thronfolger Großfürsten Alexander, der während des deutsch-französischen Kriegs französische Sympathien zeigte, und seinem Bruder, dem Großfürsten Nikolaus, welcher Chef des Petersburger Militärbezirks und des Geniewesens unter General von Tottleben’s Leitung war, standen dem Kaiser hier mit ihrem Rath die drei Männer nahe, welche „die Fäden der russischen Orientpolitik in ihren Händen haben“: Fürst Alexander Gortschakow, General Nikolaus Ignatiew und Graf Peter Schuwalow, letzterer wegen seines Einflusses von seinen Hoffeinden „Peter der Vierte“ genannt.

Nach Livadia richteten die Serben in ihrer Kriegsnoth ihren Hülferuf. Alexander dictirte am 30. October seinen Willen an Ignatiew in Constantinopel, und am 31. October unterzeichnete die Pforte das Waffenstillstandsdecret mit Serbien. Wenn auch die Türkei eine gleiche Nachgiebigkeit nicht dem europäischen Großmachts-Diplomatencongreß zu Constantinopel gegenüber bewies, so fiel derselbe doch schließlich zu Gunsten der russischen Kriegspläne aus. Der Kern von Alexander’s Ansprüchen an die Pforte war: „Entweder Garantien oder Krieg!“ Letzterer war bereits vorbereitet. Am 13. November 1876 war die Mobilisirungsordre erlassen; der Kaiser ernannte seinen Bruder Nikolaus zum „Oberbefehlshaber der Südarmee“, und dieser ging schon am 1. December nach Kischeneff ab, wo das russische große Hauptquartier war. Ebendahin begab sich am 20. April 1877 auch der Kaiser, erließ von dort am 24. April das Kriegsmanifest und befahl an demselben Tag den Einmarsch in Rumänien, mit welchem er schon am 16. April eine Convention abgeschlossen hatte. Nach kurzem Aufenthalt in Moskau und Petersburg finden wir ihn im großen Hauptquartier, das von Kischeneff nach Jassy und von da nach Plojesti, Dradscha, Simnitza und, nach dem Donauübergang Ende Juni, nach Sistowa vorgeschoben wurde. Waren dies Tage freudiger Siege und großer Hoffnungen, in welchen sogar der Schipkapaß genommen und Adrianopel in Furcht und Schrecken versetzt wurde, so kam plötzlich zu dem russischen Mißgeschick in Asien der furchtbare Tag von Plewna sammt der Flucht des Hauptquartiers von der Balkan- zur Donau-Nähe zurück. Seitdem sind Plewna und Schipkapaß, Schipkapaß und Plewna in den beiderseitigen Kriegsberichten endlos die Stätten von Siegen und Niederlagen, deren eine, welche Tausende von Opfern fraß, des Kaisers Namenstag in einen furchtbaren Tag der Trauer verwandelte. Doch – für unsere Leser bedarf’s hier keiner Erzählung dessen, was sie ja Alle mit erlebt haben.

Der Großfürst Nikolaus, dessen Reiterbild wir auf Seite 673 mittheilen, ist der dritte Sohn des Kaisers Nikolaus und am 8. August 1831 geboren. Erst das Ende des Krieges wird über seine militärische Befähigung ein gerechtes Urtheil gestatten.


[680]


Meine süßen kleinen Lämmer.

Meine süßen kleinen Lämmer,
Meine lieben Herzensschäfchen
Tummeln lustig sich im Garten,
Eine übermüth’ge Heerde.
Meine Aelteste mit blauen
Himmelstiefen Märchenaugen –:
Jahre hat sie noch nicht viere,
Doch ein holdes Plappermäulchen,
Gold’ne seidenweiche Haare
Und zwei elfenflinke Füßchen.
Und zu commandiren weiß sie;
Halb in Jubel halb in Thränen
Muß die zweite Schwester folgen,
Die mit ängstlich süßen Blicken,
Mit dem feinen Angesichtchen
Und der dunkelblonden Haarfluth.
Ach, und erst mein kleiner Tolpatsch,
Meine Jüngste, meine Dümmste,
Mit dem selbstbewußten Lächeln,
Mit den dicken Wackelbeinchen
Wackelt nach den ältern Schwestern
Voller Fürwitz, bis sie daliegt
Auf dem allerliebsten Näschen,
Oder rückwärts gar sich hinsetzt,
Wie sich große Leute setzen.

Meine süßen kleinen Lämmer,
Euer Spiel ist Euer Alles,
Aber wenn der Vater heimkommt,
Wie so schnell ist’s doch vergessen!
Ihm entgegen jauchzt das Völkchen,
Streckt nach ihm die lieben Händchen,
Schmiegt an ihn sich um die Wette,
Schaut ihn fragend an und sinnend
Mit den großen Kinderaugen.
Aber meinen kleinen Tolpatsch,
Meine Jüngste, meine Dümmste
Nehm’ ich selber auf die Kniee,
Und sie schlingt die runden Aermchen
Um den Hals mir fest und fester -
Ach, so lieb hat sie den Vater!

Meine kleinen süßen Lämmer,
Theurer, als der Erde Schätze
Eurem Vater, Eurem Hirten!

Könnt’ er doch die Güter alle
Eures Paradieses wahren,
Eurer Wange lichte Rosen,
Eure Taubenunschuld hüten,
Daß Ihr wachset, frisch und fröhlich,
Schön an Leib, am Geiste schöner!
Könnt’ er fern von Euch das Böse,
Wie das Leid des Lebens wenden,
Daß kein Schmerzenshauch die holden
Ahnungslosen Züge trübte!

Daß, wenn einst der Stab des Führers
Gleitet aus den müden Händen,
Wenn der Erde letzte Schatten
Weh’n um Eures Vaters Stirne,
Eure lichten Bilder treten
Zwischen ihn und alle Schrecken,
Sanfter sich die Seele löse
In der ruhigen Gewißheit
Eures Friedens, Eures Glückes,
Meine süßen kleinen Lämmer!

Gustav Weck.




Die Vernunft, in Theile getheilt. Die Betrachtungen, die sich an die von einem gelehrten Philosophen neuerdings vorgeschlagene Eintheilung der Vernunft in acht Achtel knüpfen lassen, ergeben das überraschende Resultat, daß der normale und tüchtige Mensch nur zur Hälfte vernünftig, zur anderen Hälfte aber unvernünftig ist. Schon die ganz allgemeine Ansicht, daß, wo Licht ist, auch Schatten sein müsse, legt einen Beweis dafür ab, daß man absolute Vollkommenheit Niemandem zutraut. Dasjenige Wesen, dem man sie zuschreiben könnte, Christus, wird in Folge dessen auch für Gottes Sohn gehalten. Gestehen wir diesem also acht Achtel Vernunft, das heißt den absoluten und ungetheilten Besitz dessen, was das Göttliche im Menschen ausmacht, zu und sehen uns nach der Kategorie um, der wir sieben Achtel Vernunft beimessen können! In diese Classe würden etwa die größten Geister aller Nationen unterzubringen sein: Sokrates, Sophokles und Shakespeare, Goethe und Schiller, Gesetzgeber wie Moses, Gelehrte wie Kant. In die nächste Classe, sechs Achtel, kämen etwa Feldherren wie Alexander der Große und Cäsar, Friedrich der Große und Napoleon der Erste, Staatsmänner wie Richelieu und Bismarck, ferner ausgezeichnete Gelehrte, die alle nur in gegebenen Verhältnissen, ihren Zeitgeist verstehend, Geistesgröße entwickeln, nicht, wie die vorige Classe, außerhalb ihres Zeitgeistes, diesem voranschreitend. Die nächste Classe würde Leute enthalten, die noch über dem Niveau gewöhnlicher geistiger Tüchtigkeit stehen, Leute, die neben sonstiger Tüchtigkeit sich noch durch ein Talent, eine Fähigkeit von den anderen brauchbare Menschen unterscheiden: bewährte Schriftsteller, wie etwa Charles Dickens, Karl Gutzkow, Walter Scott und Andere, bedeutende Musiker und Componisten, Maler, Künstler etc.

Die folgende Classe, also zur Hälfte absolute Vernunft, würde mithin tüchtige brauchbare Kräfte, sowohl auf materiellem wie auf geistigem Gebiet enthalten, das heißt den normalen Menschen. Darauf folgt drei Achtel Vernunft; auch hier sind noch ganz tüchtige Leute zu finden, von denen Niemand sagen wird, sie seien unverständig, sie haben aber schon etwas an sich, das ein wenig anstößt, etwas Sonderbares, Eckiges, auffällige Antipathien oder Sympathien. In die Classe von zwei Achtel gehören dagegen solche, mit denen man schon nicht gern zu thun hat, bei denen man im Zweifel ist, ob sie nicht wirklich geisteskrank seien – schon ein Theil dieser, sowie die ganze Classe mit ein Achtel Vernunft, machen die Bevölkerung der Irrenhäuser aus. Die nächste Classe 0/8, würde also die absolute Unvernunft repräsentiren, sie entzieht sich aber unserem Verständniß, da selbst im äußersten Wahnsinn der göttliche Funke nicht ganz erloschen ist.

Daß viele Geisteskranke einzelne überaus geniale Ideen haben, ist kein Beweis dafür, daß sie mehr als zwei bis drei Achtel Vernunft hätten: sie haben aber vielleicht das sechste ober siebente Achtel, ohne die ersten zu haben. Und hierauf ist auch der Umstand zurückzuführen, daß so viele geniale Menschen zu Grunde gehen: sie, die vollauf Eigenschaften höherer Kategorien haben, verderben, weil ihnen die für das Leben nothwendigen Eigenschaften des Drei- oder Vier-Achtel-Menschen fehlen.

J. R.




Zur Weinlese im Rheinland. (Mit Abbildung S. 677.) Das goldene Maß der Traube ist ein Schalk: schon mancher fröhliche Mann hat davon eine gelinde Schwindeligkeit auf ebenem Wege verspürt. Derselbe hätte nicht mit der Winzerin gehen dürfen, welche die feinsten Zugaben zum rothen Labsal von steiler Höhe zu Thal bringt. Wir befinden uns vor unserem Bildchen im Ahrthal, der romantischen Quelle des berühmten Ahrbleichert; denn so wurde dieser Wein nach seiner blaßrothen Farbe genannt, wie sie ehedem durch das Keltern vor der Gährung erzeugt wurde. Jetzt ist er durch die Kelterung nach der Gährung dunkler geworden, läßt sich aber seinen alten Namen noch gefallen. Das ganze Thal giebt in guten Jahren etwa zwanzigtausend Ohm Ahrbleichert; die große Masse Weines desselben Namens, welche mehr getrunken, als gebaut wird, soll zum Theil in den schönen Wäldern wachsen, wo die Heidelbeeren gedeihen.

Wer den Rhein in Remagen verließ, sucht eiligst bis Ahrweiler zu gelangen, wo die wilde Herrlichkeit des Ahrthals erst beginnt. Die felszackenreichen Berge treten an beiden Gestaden des Ahrflüßchens immer enger zusammen und bieten dem Maler manchen Stoff. Noch freundlicher besorgen dies die Wirthsmädel. Aber auch Sage und Geschichte lassen ihn nicht leer ausgehen von der Landskron bis Walporzheim und von Altenahr bis zur Hohen Acht der Eifel, welche die Mutter der Ahr ist.

In diesem Thal hebt man von selbst die Blicke in die Höhe, und bei dieser Gelegenheit fällt Einem nicht nur manches der riesigen Firmenschilde der Weinbergsbesitzer an den Felswänden, sondern hie und da auch ein Fleckchen Weinberg in’s Auge, das wie an den Schieferfels angeklebt erscheint. Man staunt, wie ein Menschenkind dahinauf kommen soll, um dort den Weinstock zu pflegen, und fragt sich, wie dasselbe von da droben die Frucht herunter bringen will. Unser Bild giebt die Antwort. Solche hohe kleine „Wingerten“ werden oft mit großer Mühe erhalten. Man baut Mauern und Strebepfeiler auf, um dem wenigen Erdreich festen Halt zu geben, und läßt sich keine Mühe verdrießen, das hohe Gut zu pflegen, dafür lohnt es aber auch, wenn der Herbst gnädig ist, denn die hier gewonnenen Trauben gehören zu den besten und werden vorzugsweise zur Veredelung der Weine von den tieferen guten Lagen verwendet, falls sie nicht als Tafeltrauben ihr näheres Ziel erreichen. Bewundernswerth ist die Fertigkeit, welche die Winzerinnen in dem Tragen ihrer Körbe entfalten; der steilste Pfad bringt sie nicht aus der Balance; ja, oft tragen sie mehrere derlei Körbe über einander auf dem Kopfkissen und bringen sie mit ihrem elastischen und vorsichtigen Schritt wohlbehalten an’s Ziel.

Welcher Bursche wohl dieses Jahr unser Winzermädchen ersteigert hat? Denn im Ahrthal werden in den Dörfern von den Burschen unter dem Vorsitz eines Schöffen alle Mädchen an je die Meistbietenden verauctionirt. Dies geschieht am Vorabend des 1. Mai; jeder Bursche errichtet dem von ihm ersteigerten Mädchen einen Maibaum und ist bis zur neuen Versteigerung ihr Tänzer und Gesellschafter. Und wenn’s „der Rechte“ ist, der unsere Winzermaid angesteigert hat im Mailehen, dann wissen wir wenigstens sicherlich, daß sie auf ihrem gefährlichen Pfad rechts die Traube für den festhält, den sie links im Herzen trägt.



Kleiner Briefkasten.

B. T. in Metz. Sie irren. Noch nicht alle Lützow’schen Officiere sind zum großen Appell versammelt worden. Wenigstens bewahrt Thüringen noch einen und wohl den ältesten Waffenbruder Theodor Körner’s. Das ist derselbe Langethal aus Berlin, von welchem wir schon im Jahrgang 1867 der „Gartenlaube“ (S. 581) erzählt haben, daß er, freudig Verzicht leistend auf glänzendere Aussichten, es vorzog, sich seinen Freunden und Kampfgenossen Friedrich Fröbel und Wilhelm Middendorf zur Gründung der berühmten Erziehungsanstalt Keilhau bei Rudolstadt (1817) anzuschließen. Nach längerem Aufenthalte auswärts führte ihn doch die Sehnsucht zu seiner lieben Schule in Thüringen zurück, und hier ist der siebenundachtzigjährige Greis, obwohl des Augenlichts beraubt, noch heute, nach sechszig Jahren, als Lehrer thätig. Wer ihm dort die Hand drücken oder ihm brieflich seinen Gruß bieten will, der findet den alten Helden als den Herrn Archivdiaconus Langethal.


  1. Vorlage: „ag“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: antidiluvianischen