Die Gartenlaube (1877)/Heft 22
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No. 22. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
In den baierischen Bergen – wir wollen den Ort nicht näher bezeichnen – liegt ein kleines reizendes Thal – da heißt es „im Himmelmoos.“
Der Name stammt von einem Moospflänzchen, dessen flachsblaue Blumen an die Farbe des Himmels erinnern und das dort einmal den ganzen Boden so dicht überdeckte, als wäre ein riesiger Teppich ausgebreitet oder als spiegele das Firmament sich auf dem Grunde wieder, wie auf einer Wasserfläche. Heute ist die Pflanze längst verschwunden, aber der Name blieb. Jetzt ist überall fester Boden und üppig grünende Wiese, wo früher der nahe liegende Bergsee sich heran gedrängt. Es ist, als habe das Gebirge absichtlich seine Flanken nach rechts und links wie Arme ausgebreitet, um von den Fruchtbäumen und dem aus ihnen emporragenden Hausgiebel jeden Windstoß oder rauhen Luftzug abzuhalten – darum blühen in dem kleinen Thalwinkel die Kirschbäume früher und tragen süßere Frucht als draußen am See, und wenn gegen das Dorf zu noch der Schnee liegt und kaum der Eisbart an den Dachrinnen zu tropfen beginnt, ist es bei dem Bauern im Himmelmoos schon „awer“ (aper, schneefrei); der Abhang ist wie überschüttet von Schneeglocken, Maßliebchen und Schlüsselblumen.
Der Himmelmooser Hof ist ein schönes, stattliches Bergbauernhaus, um so reiner in der alten Form derselben erhalten, als keine Straße, sondern nur ein durchaus nicht verlockender Feldweg zu ihm führt, er also fern und seitab von der großen Strömung liegt, welche Alles, was ihr im Wege steht, stürzt oder abschleift oder durch Unterspülung von selber fallen macht. Dennoch unterscheidet sich das Gebäude von den Wohnungen der gewöhnlichen Bauern dadurch, daß es an der Ecke der Vorderseite einen runden, erkerartigen Vorbau zeigt, der, bis zum oberen Stockwerke emporsteigend, dort wie ein Thurm mit einem eigenen Kuppeldache abschließt und so dem ganzen Gebäude, zumal von ferne gesehen, die Eigenart einer Capelle oder eines Klösterleins verleiht. Auch die Abgelegenheit des Ortes und seine fast lautlose Stille unterstützen den Eindruck, wer aber, dadurch verlockt, näher kommt, dem werden die Klosterbilder bald verschwinden vor denen einer frischen, allseitigen Thätigkeit, eines lustigen Fleißes, dem die Arbeit nicht eine lästige Nothwendigkeit, sondern ein Bedürfniß der Kraft ist, die sich in ihrem Schaffen erproben und sich selbst genügen will. Wenn auch der vielleicht erwartete weichliche Weihrauchduft verflattert, weht dafür die gesunde kräftige Bergluft, der frische Athemzug einer fest gegründeten und deshalb von Freude und Friede überströmenden Häuslichkeit.
Das war nicht immer so. Als der Himmelmooser, dessen Kopf und Bart bereits aussehen, als wäre er durch den Reif einer kalten Winternacht gewandert, noch einen braunen Krauskopf trug, da war es eine Zeit lang, als sei das Glück und der Friede des Hauses mit den Schwalben auf die Wanderschaft gegangen.
Damals, an einem schönen Spätsommertage, ging es „Im Himmelmoos“ ganz besonders lebhaft her. Wagen um Wagen voll Grummet rollte auf die Tenne, um die Viertel der riesigen Scheune mit ihren duftenden Schätzen zu füllen; im Obstgarten ging es emsig daran, die früher reifenden Arten von Aepfeln und Birnen zu „brocken“, damit sie nicht abfielen und schadhaft würden; an der Hausecke aber stand ein leichtes Baugerüst, und ein paar Maurergesellen waren beschäftigt, den Erkerthurm aufzuführen, mit welchem der Bauer seinen Hof verschönern wollte. Schon stieg die Grundmauer aus dem Boden hervor; große Haufen von Sand und Ziegelsteinen waren daneben aufgeschichtet, und unweit der Seitenthür des Hauses qualmte aus einer großen, mehr als mannstiefen mit Brettern ausgeschlagen und mit einem Bretterrande versehenen Grube der Dampf des gebrannten Kalkes empor, der, mit dem aufgegossenen Wasser kämpfend, seine flammenlosen Gluthen löschte. Von allen Seiten regte und rührte es sich, und als vom Hausdache her das Mittagsglöcklein rief, wollte die Reihe der Ehehalten, der Arbeiter und der für den Obstgarten gedungenen Kinder gar kein Ende nehmen.
An allen Ecken und Enden aber, wo sich etwas regte und rührte, war auch eine hagere kräftige Männergestalt sichtbar, welche von einem Arbeitsplatze zum andern wanderte, um zu überwachen und anzuordnen, was nöthig war oder schien. Die Arme und Hände über dem Rücken zusammengelegt, schritt der Mann meist schweigend hin und wieder; die Blicke, die er herum sandte, schienen für Alle eine genügende Aneiferung zu sein. Wenn er sich nur von ferne zeigte, flogen die Heugabeln mit ihren Bürden noch einmal so schnell, die Obstkörbe füllten sich wie durch Zauber, und das Gemäuer stieg, als ob es von selbst aus der Erde wüchse. Der Anblick des Alten hatte wohl etwas an sich, was diese Erscheinung erklärte. Er war ein hochgewachsener, stattlicher Mann, aber Alles an ihm war knochig und scharf und ward es noch mehr durch die eckige Raschheit seiner Bewegungen. Mit der von Arbeit und Wetter gebräunten Farbe hatte er das Ansehen eines knorrig gewordenen Eichstammes, der, wenn [358] er es jemals gekonnt, die Fähigkeit sich zu beugen doch schon längst verlernt hat. Der Kopf war mit dichtem, aber rauhem Haar bedeckt, und wenn schon dies eine störrische Gemüthsart vermuthen ließ, stimmten damit auch die kohlschwarzen und buschigen Augenbrauen überein, hinter welchen nach dem Sprüchwort Eigensinn und Trutz und wohl auch der Hochmuth zu hausen pflegen. Es war erklärlich, wenn man ihn scheute und wenn es in der Gemeinde und in der ganzen Umgegend hieß, der Himmelmooser sei zwar ein kreuzbraver Mann, auf dessen Wort man bauen könne, wie auf ein Evangelium, wer aber nicht durchaus mit ihm verkehren müsse, der vermeide es, denn bei ihm sei das ganze Jahr hindurch „Sturm im Kalender“.
Eben hatte er seinen Umgang wieder beendet und trat in die große Wohnstube des Erdgeschosses, wo die Hausgenossen und Gäste bereits seiner und des Beginnes der Mahlzeit harrten. Die Stube war gebaut und eingerichtet, wie es in allen größeren Häusern des Gebirges üblich ist, aber die Hauptecke, von welcher man gewöhnlich den zum Hause heranführenden Weg übersieht, bot einen völlig veränderten Anblick dar. Das Kreuzbild und die paar Glastäfelchen, aus welchen der Hausaltar bestand, waren an der Wand daneben aufgehängt, und auch der große Tisch hatte seine schwerfällig gespreizten Beine vom Platze bewegen und mit dem Ofenwinkel vorlieb nehmen müssen, denn die Maurer gingen eben daran, die Ecke durchzubrechen, damit sie mit dem draußen begonnenen Aufbau den beabsichtigten halbrunden Thurmerker bilde. An den Tisch war diesmal eine lange Tafel angestoßen, aus ein paar Schragen und Brettern bestehend, über welche das Tuch gebreitet war; der Bauer nahm seitwärts auf der rings umlaufenden Bank an einem Fenster Platz, dessen tiefe Brüstung ihm zugleich als Tisch dienen mußte. Er grüßte die Anwesenden nur mit einem kurzen mürrischen Nicken und ein paar unverständlich gemurmelten Worten, und auch als sie die Mahlzeit eingenommen hatten, that er, als ob er ihre Entfernung gar nicht gewahre. Bald war die Stube leer, auch die Maurer verließen dieselbe und setzten sich draußen auf ihre Gerüste und Karren, um im Mittagssonnenschein den Rest der Freistunde zu verplaudern.
Der Bauer war allein, nur eine große grüne Fliege summte mit dem Perpendikel der Hänguhr um die Wette und fuhr ihm immer wieder um den Kopf, so ärgerlich und heftig er sie auch stets auf’s Neue von sich abwehrte.
Eine alte Bäuerin mit eisgrauem Haare und einem faltenreichen gutmüthigen Gesichte ging ab und zu, um das Geschirr und die Speisenreste abzuräumen – mehrmals hielt sie an, als ob sie mit dem trotzigen Manne ein Gespräch beginnen wolle, besann sich aber immer wieder und ließ es bei einem fragenden Blicke und mißbilligenden Kopfschütteln bewenden.
Es war Frau Judika, die Häuserin, welche dem seit Jahren verwittweten Bauer die Wirthschaft besorgte.
Den Maurern erging es im Sonnenscheine und in der frischen duftigen Luft, welche durch die Wipfel des Obstgartens säuselte, wie den Vögeln in den Zweigen; sie fingen zu singen an. Der Eine war ein junger Bursche mit rothen Wangen, zu denen die weiße Brustschürze und die Kalkspritzer im Gesichte recht freundlich standen. Der Andere schien nur um einige Jahre älter, aber sein Gesicht war bleich und seine Züge welk, und die Kalkspritzer darauf machten eine ganz entgegengesetzte Wirkung – es sah aus wie eine verwitterte Mauer, von welcher der Bewurf abzubröckeln beginnt. Ein wüstes Leben hatte seine Spuren in der ganzen Erscheinung des Burschen zurückgelassen und dieselbe noch härter und roher gemacht. Auch der Inhalt ihrer Gesänge entsprach dem Wesen der Beiden – während der Eine harmloser Lebenslust einen heitern Ausdruck gab, enthielten die „Gesätzeln“ des Andern nichts als den höhnischen Widerspruch einer ganz entgegengesetzten verbissenen Sinnesart.
Als der Junge sang:
„Kann nichts Trauriger’s geb’n,
Als ein einschichtig’s Leben;
Und jetzt roas’ (reis’) ich halt g’schwind.
Bis mein G’sellin ich find’,“
erwiderte der Andere:
„Und ’s Roasen, i moa (mein’),
Is viel schöner alloa (allein),
Da geht’s frei in die Welt,
Und kost’ ’s halbete Geld.“
Und als der Erstere, dadurch unbeirrt, fortfuhr:
„Und wenn ich sie find’.
Ist die arm’ Seel’ erlöst;
Nacha (nachher) bau’n wir uns schleunig (schnell)
Miteinander ein Nest,“
klang es ihm zur Erwiderung spöttisch entgegen:
„Und der g’scheideste Vogel
Muß der Gugezer (Kukuk) sei’.
Die andern bau’n d’Nester,
Und er setzt sich ’nei’.“
„Ob Du aufhören wirst mit Deiner nichtsnutzigen Singerei?“ unterbrach ihn endlich der Bauer, der aufgesprungen und näher getreten war. „Möchtest es wohl auch machen wie der Kukuk, möchtest unsern Herrgott einen guten Mann sein lassen und von dem leben, was Andere arbeiten? Bei mir ist das nicht der Brauch; wer bei mir ist, muß arbeiten, und Du mußt es auch, so lange Du bei mir bist. Die Zeit zum Feiern ist vorbei; mach’, daß Du wieder an’s Mauern kommst, Du Fazi!“
„Deine Uhr geht stark vor, Himmelmooser,“ erwiderte der Maurer trutzig, indem er durch die Mauerlücke herein den Bauer mit boshaft höhnischen Blicken maß, „aber mit all’ Deinem Geld kannst Du die Sonn’ doch nicht vorrücken, wie einen Uhrzeiger. Es hat noch nicht Zwölfe geläutet drunten im Dorf – bis dahin kann ich thun, was ich mag, und wenn Dir mein Gesang nicht gefällt, kannst Du Dir Werg in die Ohren stopfen. Merk’ Dir das und nimm meinen Namen nicht noch einmal wie ein Schimpfwort in’s Maul, sonst zeig’ ich Dir, daß mein Namenspatron, der heilige Facius, so gut im Kalender steht, wie jeder andere.“
Damit wandte sich der Bursche und schlenderte dem Obstgarten zu, um den Rest seiner Freistunde so recht mit voller Gemächlichkeit auszukosten; der Bauer war von seiner Frechheit so überrascht, daß er trotz sonstiger Kampfesbereitschaft nichts zu erwidern wußte, bis Fazi seinen Augen bereits entschwunden war. „Da hab’ ich ja ein recht schön’s Früchtel aufgeklaubt,“ rief er dann, Judika zugewendet, welche eben im Begriff war, die Schüssel und die Holzteller abzuräumen, und dabei den Wortwechsel mit angehört. „Heut ist Freitag, morgen Samstag – wie die Woch’ gar herum ist, werd’ ich dem Maurermeister sagen, daß er mir einen andern Arbeiter schickt … Kennt die Judika den Menschen?“
Die Angeredete ergriff ohne Zaudern die schon längst erwartete Gelegenheit zu einem Gespräch.
„Ich kenn’ ihn nicht weiter,“ sagte sie, „als daß er ein Maurer ist und wirklich Fazi heißt; er ist ein lediges Kind. Seine Mutter ist eine Tirolerin gewesen, die mit allerhand Geschirr herum Hausiren gezogen ist – einmal hat sie halt den Buben und ihren leeren Karren mitzunehmen vergessen und ist nimmer aufzufinden gewesen … Da hat ihn die Gemeind’ haben müssen, nicht die unsere, sondern die von Seehausen, und dort ist er im Hüthaus aufgewachsen. Man weiß nichts Schlechtes von ihm, aber auch nichts Gutes.“
Der Bauer machte eine abwehrende Geberde. „Es ist schon gut; mehr brauch’ ich nicht zu wissen – Sie kann das Mühlwerk schon wieder stellen. Ich hätt’ aber gute Lust, ich gebet’ dem Fazi auf der Stell’ den Abschied und warte gar nicht, bis ich mit dem Maurermeister geredet hab’ –“
„Das müßt Ihr nicht thun,“ sagte Judika und setzte ihre Geschirrlast einen Augenblick neben der Ofenbank ab. „Der Bursch’ thät' Euch nur wieder auf ein Neues in der Leute Mäulern herumtragen, und das hat’s justament nicht Noth. Es ist ohnedem überall von nichts Anderm die Red’, als von dem besondern Bau da, von dem kein Mensch weiß, was er werden soll.“
Der Alte wandte sich ihr sitzend zu, stemmte beide Hände auf die Kniee und sah ihr mit spöttischem Lachen in’s Gesicht. „So? Geht das Gered’?“ sagte er dann. „Möchten sie’s gern wissen, was der Bau bedeut’? Und der Frau Judika druckt’s [359] auch das Herz ab, daß sie’s nicht weiß – gut, ich will’s Ihr sagen, dann werden’s bald Alle wissen, die statt vor ihrer eigenen Thür vor dem Himmelmooserhof kehren wollen. Ein Thurm soll’s werden, mit einem schönen Erker, in den man sich fein schön bequem hinein setzen kann und kann sich’s wohl sein lassen und hinaus schauen auf die ganze Gegend, die Berg’ und den See, als wenn sie Einem gehören thäten, alle miteinander. Ich hab’s so gesehn, wie ich zuletzt in’s Tirol hinein gereist bin – da giebt’s viel Häuser mit einem solchen Vorsprung; das hat mir gefallen, und drum will ich’s auch haben auf meinem Hof.“
Die Frau schwieg einen Augenblick und schien nach den rechten Worten für ihre Erwiderung zu suchen. „Also ist’s doch so, wie die Leut sagen,“ rief sie. „Das ist’s aber gerade, warum sie die Köpf’ zusammen stecken. Sie sagen, das sei keine Bauerei für einen Bauern – das wär’ nur an den Schlössern der Brauch und an den Häusern von den Edelmännischen, von den Herrn.“
Die Augen des Himmelmoosers funkelten unheimlich unter den schwarzen Brauen hervor.
„Und was bin denn ich?“ rief er aufspringend. „Bin ich etwann mit einem Wanderbündel über’m Rücken in’s Himmelmoos gekommen und haus’ darauf wie ein Pachter oder Fretter? Ich steh’ auf eigenem Grund und Boden und bin so gut und noch besser ein Herr, als ein Baron oder Graf, dem vielleicht kein Stein gehört von seinem Schloß. Wenn ich edelmännisch zahlen kann, darf ich auch edelmännisch bau’n, und wer dagegen was einzuwenden hat, der soll kommen und mir’s sagen – der Himmelmooser wird ihm die Antwort nicht schuldig bleiben.“
Der Zorn des Bauers hätte sich wohl noch lauter und kräftiger Luft gemacht, hätte nicht ein vor dem Hause entstandener Lärm dessen Erguß unterbrochen – ein Aufschrei des Schreckens und ein grober Fluch ließ sich hören, verbunden mit Geräusch wie von brechendem Holze. Frau Judika sprang an’s Fenster.
„Heilige Mutter Anna, das hätt’ ein schönes Unglück geben können,“ rief sie dann zurück. „Der dicke Gerichtsdienergehilf’ ist draußen; er ist auf die Einfassung von der Kalkgruben getreten und wär’ schier hineingefallen – bei einem Haar wär’ das Brett gebrochen.“
„So soll er halt die Augen aufmachen,“ rief der Bauer lachend entgegen, „damit er sieht, wo er hintritt – aber ich glaub’, die Lad’- und Anzeig’sechser schlagen ihm so gut an, daß er über seinen eigenen Schmeerbauch nicht mehr hinüber sieht.“
„Aber das eine Brett von der Einfassung ist auch schon ganz morsch,“ unterbrach ihn Judika, „ich hab’ es Euch neulich schon gesagt, Ihr solltet es ausbessern lassen, eh’s ein Unglück abgiebt.“
„Fällt mir im Schlaf nicht ein,“ schnauzte er sie an, „das Brett ist noch ganz gut, aber bei Allen und bei Ihr heißt es immer nur anschaffen, nur Alles neu machen lassen – natürlich, aus Ihrem Beutel geht es nicht, und der Himmelmooser soll nur blechen. Nichts da – das Brett hält, noch über Jahr’ und Tag. . . . Aber was will denn der Schergenknecht bei mir?“ fuhr er, sich der Thür nähernd fort, „kann ich mir doch um Leben und Sterben nicht einbilden, was der im Himmelmoos zu suchen hat.“
Der so freundlich Erwartete trat ihm bereits auf der Schwelle entgegen. Es war ein kleiner dicker Mann mit stark geröthetem Gesichte, das auch unter dem Einflusse des gehabten[WS 1] Schreckens nicht völlig zu erblassen vermocht hatte; er trug die graue blau eingefaßte Uniform der Gerichtsdiener und den üblichen Schleppsäbel, aber der schwarze Ledergurt schien weniger für den letztern da zu sein, als um, wie der Reifen ein Faß, seinen Körperumfang zusammen zu halten. Er athmete heftig und trocknete sich den Schweiß ab, was ihn aber nicht hinderte, in seinem Fluchen über das Unglück, das ihm beinahe zugestoßen, fortzufahren und dem Bauer mit einer Anzeige zu drohen, daß er seine Kalkgrube so schlecht verwahre.
„Das kann der Herr ja thun,“ unterbrach ihn der Bauer zornig, „wird schon sehen, wie weit er damit kommt. Ich mach’ das Holz nicht, und das Brett an der Gruben ist gut und stark genug; freilich, da müßt’ es von Eisen sein, daß es einen solchen Elephanten tragen könnte,“ setzte er etwas leiser hinzu, indem er dem Gerichtsdiener das Schreiben, das dieser in der Hand hielt, abnahm. „Ist das für mich?“ fragte er. „Was steht denn so Wichtiges in dem Schreiben, daß es nicht einmal bis übermorgen, am Sonntage, Zeit hat, wo ich ohnedem zum Landgerichte hineingekommen wär’?“
„Das haben wir nicht wissen können,“ entgegnete der Gerichtsdiener grob, „auch hat’s pressirt von wegen dem Prinzen – es betrifft den großen Eichbaum drüben an der Haselpoint.“
„Prinzen? Und meine große Eich?“ fragte der Bauer verwundert und begann sich eifrig die Hände zu reiben; die Häuserin, die eben wieder hereingekommen war, kannte das als ein Zeichen, daß ihm der Zorn zu Kopf zu steigen beginne, und fand es rathsam, in der Nähe zu bleiben.
„Was giebt’s schon wieder mit der Eich’?“ wiederholte er mit steigendem Nachdruck.
„Nun, Ihr wißt es ja, Himmelmooser – der Eichbaum ist der größte und älteste in der ganzen Gegend, und nirgends hat man eine so schöne Aussicht über den ganzen See; drum will der Prinz, der am liebsten da hinauf spazieren geht, daß der Baum ja gewiß stehen bleibt und bei Leibe nicht umgehauen wird.“
„Wer red’t denn aber von Umhauen? Der Baum ist ja selber meine Freud’, und so nothig ist der Himmelmooser auch noch nicht, daß er auf die paar Klaftern Holz anstehen sollt. Und ist denn der Prinz nicht selber bei mir gewesen und hat mir gesagt, wie gern er den Baum hat, und hab’ ich ihm nicht mein Wort gegeben für mich und Kinder und Kindeskinder, daß keins den Baum anrühren soll? Was braucht’s denn da noch?“
„Ja, der Prinz!“ entgegnete der Gerichtsdiener mit spöttischem Lachen. „Der Prinz wird wohl gedacht haben: ein doppelter Strick hält besser. Er hat mit dem gestrengen Gnaden Herrn Landrichter gesprochen, und wenn das Bauernwort etwa reißen thät, wird das vom Landgericht desto fester halten.“
Der Bauer hatte seine Brille geholt, aber er war zu erregt, um sie aufzusetzen; sie lag mit dem entfalteten Schreiben vor ihm auf dem großen Eßtische, auf den er sich mit beiden Händen aufstützte, als fühle er ein Bedürfniß nach etwas, was nicht wanke unter ihm. „So?“ stammelte er, „dem Prinzen ist mein Wort nicht genug gewesen? Kennt er mich so schlecht, und weiß er nicht, wenn der Himmelmooser etwas verspricht, wenn er sein Wort giebt für etwas, daß das so gut ist wie Brief und Siegel, und daß kein Mensch auftreten kann und kann sagen, er hat sein Wort nicht gehalten? Aber meinetwegen!“ fuhr er, sich etwas mäßigend fort, „mir kann’s recht sein. Giebt er mein Wort frei, so bin ich auch nicht daran gebunden – und was soll’s jetzt mit dem Landgericht?“
„Das könnt Ihr Euch wohl denken,“ war die Antwort des Gerichtsdieners, der das Schreiben aufnahm und abzulesen begann. „'In Erwägung, daß die auf dem Haselpoint stehende große alte Eiche zu den Zierden der Gegend gehört, deren Erhaltung also im allgemeinen öffentlichen Interesse geboten ist und es angemessen erscheinen läßt, Maßregeln hierfür zu treffen, ergeht an den Quirinus Ottlinger, Bauern im Himmelmoos, der gemessene Auftrag, sich bei schwerer Strafe jeder Beschädigung des erwähnten Baumes zu enthalten und insbesondere sich dessen Entfernung in keiner Weise beigehn zu lassen.'“
Der Bauer wechselte während des Lesens mehrmals die Farbe, und als der Gerichtsdiener ihm den Empfangsschein über den Befehl auf den Tisch legte, setzte er wie unwillkürlich unter denselben die schwerfälligen Buchstaben, die ihm statt der Unterschrift galten. „So,“ sagte der Gerichtsdiener, denselben einsteckend, „jetzt behüt’ Euch Gott bei einander! Jetzt werdet Ihr wissen, was Ihr zu thun habt.“
Er ging; der Bauer machte eine Bewegung, als wolle er demselben nacheilen und den in ihm aufkochenden Groll über den erhaltenen Befehl an dessen Träger auslassen, aber Judika vertrat ihm den Weg zur Thür. „Dein Glück, daß Du gehst, verfluchter Scherg!“ rief er und erhob, ihm nachdrohend, die geballte Faust. „Ja, wohl weiß ich, was ich zu thun habe, und brauche keinen solchen Bauernschinder dazu, daß er mir’s sagt. Geh’ Sie hinauf in die obere Stub’,“ fuhr er fort, indem er sich gegen Judika wendete und zugleich die Jacke auszog und über den Tisch warf. „Geh’ Sie hinauf und hole Sie mir meine gute Joppe herunter und den Sonntagshut! Ich will in’s Dorf hinunter.“
„O mein! rief Judika entgegen. „Was werdet Ihr jetzt [360] so in der Furi davon geh’n? Was habt Ihr denn unten im Dorf zu thun?“
„Das weiß Sie nicht?“ entgegnete er spöttisch. „Sie ist also nicht so gescheidt, wie das gestrenge Landgericht? Dann muß ich Ihr’s halt auseinander setzen. Zum Schäffler im Dorf geh’ ich hinunter; der hat neun große Fässer in’s Bräuhaus zu machen und hat mich neulich schon angeredet, ob ich ihm keine schönen eichenen Dauben aus meinem Holz ablassen wollt’ – ich hab’ ‚Nein‘ gesagt, weil mir jeder von meinen Bäumen an’s Herz gewachsen ist, jetzt aber kann er sie haben, schöner als er sie im ganzen Gebirg’ auftreiben kann.“
„Heilige Mutter Anna,“ schrie die Häuserin entsetzt, „Ihr werdet doch den Eichbaum an der Haselpoint nicht niederschlagen wollen? Jetzt, wo Ihr gerad’ den Befehl bekommen habt?“
Der Bauer richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und trat hart vor sie hin. „Und warum nicht?“ rief er. „Der Baum ist mein; der Grund und Boden, auf dem er steht, ist mein – wer hat mir da was zu befehlen? Der Prinz hat mir mein Wort zurückgegeben, weil es ihm nicht genug gewesen ist. Ich könnt’ blutige Zähren weinen, wenn ich nur daran denk’, daß der prächtige Baum umgeworfen werden soll – aber er muß! In meinem Eigenthum, da bin ich Herr und will ihnen zeigen, daß mir da der König nichts verbieten kann, geschweige denn ein Prinz, oder gar so ein Landrichter, so ein …“
Das Uebrige verlor sich in Gemurmel, Judika aber schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Das giebt ein Unglück,“ jammerte sie, „ein schreckliches Unglück – das sollt Ihr nicht thun, so gerade der Obrigkeit zum Trutz.“
„Was können sie mir denn anhaben?“ fragte der Bauer mit verschmitztem Lächeln. „So gescheidt sie drinnen im Landgericht sind, so gescheidt ist Unsereiner auch. Was haben sie mir denn verboten? Daß ich den Baum nicht beschädigen, nicht entfernen soll – das thu ich auch nicht, aber ich verkauf’ ihn an den Schäffler, das ist mir nicht verboten, und der Schäffler wird schon sorgen, daß der Baum liegt, eh’ sie drinnen was erfahren. Also halt’ Sie mich nicht auf und bring’ Sie mir Hut und Joppe herunter, oder ich hol’ sie mir selber.“
„Ich geh’ ja schon,“ entgegnete die Häuserin, ohne einen Fuß zu regen, „aber Ihr solltet’s Euch doch noch einmal überlegen – das mit dem Schäffler hätt’ ja wohl auch bis morgen Zeit – und nachher,“ fuhr sie etwas hastiger fort, wie erfreut, noch einen Grund für ihre Meinung gefunden zu haben, „nachher solltet Ihr heut’ doch nicht mehr aus dem Hause gehen: Ihr wißt ja, daß er jeden Augenblick kommen kann …“
„Wer kann kommen?“ fragte er und sah sie verwundert an.
„Wie Ihr nur so fragen könnt! Ihr wißt doch, daß er vorgestern geschrieben hat, daß jetzt seine Dienstzeit beim Militär aus ist, daß er sich gleich auf den Weg macht und längstens heut’ Abend daheim eintrifft –“
Der Bauer lachte gleichgültig und beinahe höhnisch auf. „Also der Wildl, mein sauberer Sohn ist gemeint,“ rief er. „Hab’ ich doch wunder gedacht, was für ein großes Thier mir die Ehr’ anthut und in’s Himmelmoos kommt. Und wegen dem Buben soll ich daheim bleiben?“
„Nun, es ist doch nicht mehr als billig,“ entgegnete die Häuserin gereizt, „daß der Vater dem einzigen Sohne, dem einzigen Kinde, nicht aus dem Wege geht, sondern ihm 'Grüß Gott!' sagt, wenn er fast drei Jahre fort gewesen ist und hat den harten, strengen Dienst bei den Kürassieren durchmachen müssen.“
„Soll ich ihm etwa Teppiche legen und Gras aufstreuen lassen wie bei der Antlasprocession?“ unterbrach sie der Bauer. „Als wenn ich dafür könnt’, daß ihn das Loos getroffen und er sich hineingespielt hat!“
„Nein, dafür könnt Ihr nichts,“ war Judika’s Antwort, „wohl aber dafür, daß der reiche Himmelmooser, der das Geld zum Fenster hinauswirft, um aus seinem Bauernhofe ein Schloß zu machen, nicht einmal so viel aufzuwenden gehabt hat, um für seinen einzigen Sohn einen Mann, einen Einsteher zu stellen.“
„Am Können hat es wohl nicht gefehlt, aber am Wollen,“ sagte der Bauer. „Die drei Jahre schaden dem unnützen Buben nicht, und der ‚harte, strenge‘ Dienst wird den baumstarken Burschen auch nicht zu Grund gerichtet haben. Ist er denn nicht, so lang’ er daheim war, überall dabei gewesen, wo’s etwas zu raufen gegeben hat? Ist er nicht überall der Erste gewesen, der d’reingeschlagen hat? Ist er nicht schier mehr Zeit im Arrest gewesen, als in der Freiheit? Hab’ ich nicht mehr Kosten und Strafen bezahlt, als der ganze Bursch’ werth ist? … Nichts da, fortjagen kann ich ihn nicht, weil er doch einmal mein Sohn ist, aber eh’ er ein gutes Gesicht von mir kriegt, muß ich zuvor seh’n, daß er sich ein anderes angeschafft hat – und wenn er heut’ heim kommt, bleibt im Himmelmoos Alles beim Alten und nichts hat sich geändert, als daß ich nun einen Knecht weniger brauche. – Also aus der Bahn oder nieder ’than!“ schloß er, indem er Judika derb an den Schultern faßte und bei Seite schob. „Sie will mir meine Sache’ nicht bringen – also such’ ich selber den Weg.“
Rasch hatte er die Treppe im Hausfletz erreicht und stieg sie hinan. Die Häuserin sah ihm etwas betroffen nach und schien sich zu besinnen, was allenfalls noch in ihrer Macht stände, die Gewitterwolken, die sie über dem Hause sich bilden sah, abzuwenden oder der Heftigkeit ihres Ausbruches Einhalt zu thun – sie kam zu keinem Ergebniß, denn im obern Stockwerk wurde abermals die zürnende Stimme des Bauers laut, vermischt mit dem Schelten einer andern Männerstimme und dem Gepolter sich anstemmender Füße, als ob ein Paar Menschen in heftigem Ringen mit einander begriffen wären. Nach wenigen Augenblicken flog oder stürzte der Hinzueilenden der Maurer Fazi über die Stufen entgegen und taumelte durch die daneben befindliche Thür in’s Freie; ihm nach stürmte der Bauer mit zornglühendem Angesicht, eine kurze Eisenstange in der hocherhobenen Hand. Er wäre unfehlbar dem Fliehenden nachgestürzt, um ihn zu mißhandeln, hätte nicht Judika, den Zusammenhang ahnend, im entscheidenden Augenblicke die Thür vor ihm zugeworfen und den Riegel in die Klammer gestoßen, daß er sich erst damit befassen mußte, diese Hindernisse zu beseitigen.
Er stieß einen schweren Fluch aus und knirschte mit den Zähnen. „Was thut Sie denn, daß Sie mich aufhält?“ schrie er wie außer sich. „Will Sie dem Hallunken durchhelfen? Schau’ Sie hinauf! Während ich nicht anders denk’, als er strolcht draußen im Garten herum, hat er sich von hinten herein in den obern Stock geschlichen, in die gute Stuben und war gerade darüber, das Wandkästel aufzubrechen, wo das Geld liegt … der Kerl muß einen Dietrich haben … ich muß ihm nach und ihm einen Denkzettel geben.“
Endlich war es ihm gelungen, die Thür frei zu machen. Der Flüchtling hatte es für gut befunden, eine zweite Begegnung nicht abzuwarten: in weiter Ferne schon rannte eine kaum mehr erkenntliche Gestalt quer über die Wiesen; es war eine Unmöglichkeit, ihn einzuholen. Gleichwohl glaubte der Bauer im ersten Augenblick nicht daran. „Laßt den Sultan los!“ rief er und that einen gellenden Pfiff auf den Fingern, „lauft, Alles was Füße hat, lauft ihm nach – zehn Kronenthaler, wer ihn einholt!“
Die Aufforderungen waren vergebens; die herbeigeeilten Knechte hielten es nicht für möglich, bei so großem Vorsprung den Dieb zu erreichen, und das Nachhetzen des jungen unerfahrenen Hundes für zwecklos. Der Bauer murrte in sich hinein und hieß sie wieder ihre Wege gehn. „Er kommt mir doch nicht aus,“ sagte er dann, indem er seinen Anzug vollendete und den Hut auf den Kopf stülpte, „und wenn er mir noch einmal auf hundert Schritt an den Hof heran kommt – nieder schieß’ ich ihn, wie einen wüthigen Hund.“
Eiligen Schrittes ging er den Hügelpfad hinunter, dem Dorfe zu. Judika vermochte ihn nicht zu halten und mußte sich auf’s Nachsehn beschränken. Nach einer Weile blieb er stehn, sah, wie sich besinnend, umher und schlug dann einen kleinen Feldweg ein, der seitwärts gegen ein Wäldchen abbog und auf einem Umwege ebenfalls gegen das Dorf führte. „Eisenkopf!“ sagte Judika, den ihren schüttelnd. „Den Umweg macht er nur, damit er nicht etwa dem Buben in die Hände läuft. Heilige Mutter Anna, was wird’s da geben, wenn die zwei aufeinander stoßen!“ –
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Die praktischen Zwecke, welche die Menschheit im Zustande der Kindheit ausschließlich bewegten und zur Entfaltung ihrer Kräfte anspornten, nöthigten vor Allem zu einer bequemen Orientirung in der umgebenden Außenwelt, und damit war, als eine der ersten, die Aufgabe gegeben, die Aufeinanderfolgen in den zahllosen Vorgängen auf eine einzige zurückzuführen, welche das Maß für alle übrigen werden sollte. In all dem bunten Wechsel der Natur und des Lebens war nun die Regelmäßigkeit der Wiederkehr gewisser Ereignisse leicht zu erfassen. So trieb der Baum Blätter und Blüthen, setzte Früchte an und reifte sie, damit einen Höhepunkt in seiner Entwickelung erreichend. Dann weiterhin verwelkten die Blätter, und schmucklos hielt der Baum seinen Winterschlaf, aus dem erwacht, die nämliche Folge von Neuem einsetzte. Doch weit übersichtlicher, regelmäßiger, und dem Menschen sich gleichsam aufdrängend war die ununterbrochene Folge von Tag und Nacht. Frühmorgens entstieg die strahlende Gottheit dem Osten, durchwanderte in gleichmäßigem Laufe den Himmelsbogen und tauchte Abends unter die Berge, der Nacht mit ihren Sternen die Herrschaft überlassend und Menschen und Thiere in willkommenen Schlaf versenkend. Und da nun aller übrige Wechsel in diesen einen gefaßt erschien, ist es da nicht erklärlich, daß ein unmittelbarer Verstand den Inhalt für die Form nahm und aus Tag und Nacht die Zeit erst entstanden dachte?
Muß schon auf dieser Stufe der Entwickelung die Fähigkeit vorausgesetzt werden, einen Vergleich zwischen Ortsveränderungen der Sonne und dem Zeitverlauf anzustellen, so war der nächste Fortschritt, mit dem wir wohl in die historische Periode eintreten, daß man die Zeiteinheit, den Tag, von Mittag zu Mittag zählte, und so die Ungleichheit der Sommer- und Wintertage für jene beseitigte. Als bequemes Mittel, den Höhepunkt der Sonne in ihrem täglichen Laufe, den Mittag, zu bestimmen, bot sich der längere und kürzere Schatten der Gegenstände dar, und von hier war nur noch ein Schritt bis zur Construction der Sonnenuhren, auf deren Ebene der Weg des Schattens in kleinere Einheiten, den Zeitstunden entsprechend, eingetheilt wurde. Aber auch die täglichen Sonnenhöhen veränderten in regelmäßigen Phasen ihren Ort am Himmel, und diesen entsprechend wurde die höhere Zeiteinheit, das Jahr, schon in grauer Vorzeit aus 365 Tagen richtig gebildet. – Mit dem mächtigen Aufschwunge, welchen die Astronomie im Mittelalter nahm, ging Hand in Hand die Vervollkommnung der eigentlichen Uhren, und heutzutage ist die Gleichmäßigkeit und Richtigkeit im Gang der Chronometer auf eine außerordentlich hohe Stufe gesteigert. Mit weit größerer als „minutiöser“ Genauigkeit, dem Laufe der Sonne entsprechend, wandert der Zeiger seine kreisförmige Bahn, und die Regulirung, welche nach längerem Gange eintreten muß, betrifft nur kleine Differenzen.
Copernicus hatte die Erde aus dem Mittelpunkte des Weltsystems verwiesen und ließ sie gleich den andern Planeten eine kreisförmige Bahn um die Sonne beschreiben. Zugleich mußte damit die Bewegung der Himmelskörper als nur scheinbar erkannt und dafür ein täglicher Umschwung der Erde um ihre Achse in der Richtung von Westen nach Osten gefordert werden, dessen erfahrungsgemäßer Nachweis auch nicht lange auf sich warten ließ. Die Dauer dieser Umdrehung ist nun nicht ganz die gleiche, je nachdem man dieselbe durch den Stand der Sonne oder eines Fixsternes bestimmt. Da nämlich die Erde in jedem Tage eine bestimmte Strecke auf ihrer Bahn um die Sonne wandert, wird der Weg, den ein Beobachter zurückzulegen hat, bis wieder die Sonne für ihn am höchsten steht, ein etwas längerer, als wenn er einen Stern beobachtet, für dessen ungeheuer große Entfernung die Erde als im Himmelsraum stillstehend und sich nur um ihre Achse drehend betrachtet werden muß. So ist denn auch der Sonnentag um beinahe vier Minuten länger als der Sternentag. Legen wir unsern Bestimmungen den Letztern zu Grunde, so ist also derjenige Zeitraum, welcher verfließt, bis die Erde durch ihre Achsendrehung einen Beobachter in dieselbe Lage gegen einen bestimmten Fixstern gebracht hat, unsere Zeiteinheit, nach welcher wir unsere Uhren controliren und welche wir all unsern Zeitbestimmungen zu Grunde legen.
Ist nun aber auch die Zeit zu einmaliger Achsendrehung der Erde stets dieselbe? Ist sie nicht vielleicht je nach Umständen langsamer oder schneller? Denn trifft die Voraussetzung einer gleichen Dauer nicht zu, so hätten wir eine Zeiteinheit gewählt, die bald größer, bald kleiner wäre, und darum eine solche gar nicht sein kann.
Wir sehen hier auf der Erde jede Bewegung, sobald sie längere oder kürzere Zeit angedauert hat, zur Ruhe kommen. Die mit großer Geschwindigkeit aus dem Laufe getriebene Büchsenkugel fällt bald zu Boden. Die Schwingungen des längsten Pendels werden allmählich kleiner, bis auch hier alle Bewegung aufhört. Muß nicht bei der Erde ein Gleiches eintreten? Fragen wir die wissenschaftliche Mechanik um Rath, so belehrt uns diese, daß eine einmal eingetretene Bewegung sich unverändert fortsetzt, so lange nicht Reibung oder sonstige Hindernisse überwunden werden müssen, wie Büchsenkugel und Pendel die Reibung an der Luft zu überwinden haben. Eine solche ist nun bei der Drehung der Erde ausgeschlossen, da unsere ganze Atmosphäre mit Theil an derselben nimmt. Und was sollte sonst etwa noch ein Hinderniß abgeben?
Und doch existirt ein solches und steht in thatsächlicher Beziehung zu unserer Zeiteinheit. Freilich, diese braucht darum eine Kritik vom praktisch-menschlichen Standpunkte, ja selbst von dem des Astronomen noch nicht zu fürchten. Ist sie aber auch für den Kosmophysiker eine constante Größe? Denn wer, wie er, mit ungeheuren Zeiträumen zu rechnen hat, mit Zeiträumen, welche zum Mindesten nach Jahrtausenden zählen, kann unsere Frage nicht gelöst betrachten, wenn die Dauer des Sternentages in diesem Jahrzehnte oder Jahrhundert die nämliche geblieben ist, wie im vorhergehenden.
Für ihn nun gewinnt hier die größte Bedeutung der bekannte Vorgang von Ebbe und Fluth. Es steht diese zu all den tausendfältigen Processen in der uns umgebenden Natur in einem merkwürdigen Gegensatze, denn diese lassen sich auch in ihrer verschlungensten Verschlingung immer auf die Kraft des Sonnenlichtes zurückführen. Sämmtliche meteorologische Erscheinungen entstehen durch ungleiche Erwärmung der festen und flüssigen Oberfläche unseres Planeten; die Pflanzen vermögen nur in der Bestrahlung durch die Sonne sich zu entwickeln und zu gedeihen; Pflanzenstoffe dienen wieder den Thieren zur Nahrung, und die Menschen bedürfen wieder beider zu ihrer Existenz. So ist es nicht allein „der Beherrscher des himmlischen Reiches, welcher sich ein Sohn der Sonne nennen darf“; jeder von uns kann dasselbe mit gleichem Rechte thun, mit uns freilich auch die Spinne und der scheußliche Tausendfuß.
Ebbe und Fluth aber verdankt ihre Entstehung einestheils der Massenanziehung des Mondes und der Sonne auf die beweglichen Theile unseres Planeten, auf das Wasser, anderntheils der Achsendrehung der Erde. Wohl unterliegt auch das Luftmeer einer gleichen Einwirkung, hier aber wird das Resultat durch andere Processe vielfach durchkreuzt, sodaß wir uns nur auf die Ebbe und Fluth des Wassers beschränken wollen. Ebenso können wir auch die Anziehung der Sonne im Allgemeinen außer Acht lassen, da diejenige des Mondes wegen dessen weit geringerer Entfernung eine weit überwiegende ist. Der Anziehung, dem Zuge unseres Trabanten folgen nun die Wassermassen des Oceans eine bestimmte Strecke, und am meisten rücken diejenigen gegen ihn hin, welche ihm am nächsten sind, am wenigsten die entferntesten, auf der abgewendeten Seite der Erdkugel befindlichen. So muß sich an diesen beiden Gegenden der Erdoberfläche ein Wasserberg bilden, also Fluth eintreten, indem auf der dem Monde zugewendeten Seite eine Zusammenströmung und Erhebung des Wassers stattfindet, die Wassermassen der abgewendeten Seite aber bei der auf der ganzen Erdoberfläche allgemeinen Strömung nach dem Monde hin zurückbleiben und so ebenfalls einen Wasserberg bilden müssen. Der Wassergehalt der zwischen diesen beiden Fluthbergen gelegenen Gegenden muß dabei verringert werden, hier also Ebbe eintreten. Es existiren demnach stets zu gleicher Zeit zwei Fluthwellen und dazwischen Ebbe, und da für den nämlichen Beobachtungsort über fünfundzwanzig Stunden vergehen, bis der Mond ihm wieder am nächsten steht, muß Ebbe und Fluth in [363] Perioden von nicht ganz sechseinhalb Stunden aufeinanderfolgen, wie es wirklich der Fall ist.
Die Höhe des Fluthberges steht natürlich unter dem Einfluß localer Verhältnisse und ist, je nach der herrschenden Windrichtung und Windstärken sogar für denselben Ort verschieden. Während im offenen Meere die Fluthhöhe nur etwa einen Meter beträgt, steigert sie sich in Meeresengen und Buchten ganz außerordentlich, und die sogenannten Springfluthen zur Zeit der Neu- und Vollmonde, wo die Richtung der Mond- und Sonnenanziehung zusammenfällt, erreichen an manchen Küsten eine Höhe von zwölf Metern. In der Fundy-Bai, auf der südöstlichen Küste von Britisch-Nordamerika, sollen sogar Springfluthen von dreiundzwanzig Meter Höhe beobachtet worden sein. Die ganze Wassermasse, welche durch die Fluth auf ein Viertel der Erdoberfläche übergeführt wird, welche vorher Ebbe gehabt hat, beträgt nach Berechnungen etwa zweihundert Cubikmeilen, und man kann sich eine Vorstellung von der Mächtigkeit des ganzen Vorganges machen, wenn man bedenkt, daß diese ganze Masse binnen sechseinhalb Stunden auf ein anderes Viertel der Erdoberfläche hinüberströmen muß.
Denn es würde bald ein Zustand des Gleichgewichts, der Ruhe eingetreten sein, wenn nicht die Achsendrehung der Erde den eben gebildeten Wasserberg nach Osten weiterführte, sodaß andere Gegenden dem Monde am nächsten kommen und nun hier durch die ununterbrochen wirkende Anziehung neue Wassermassen zusammen- und emporgezogen werden, wobei zu allernächst der nach Osten gerückte Wellenberg verflacht und zerstört wird. Dieser ganze Vorgang verläuft aber nicht ohne vielfache Reibungen und Widerstände, da sowohl ruhende an in Bewegung gekommenen Wassertheilchen, wie auch letztere untereinander sich reiben, ferner auch die größeren Strömungen an Küsten und Buchten des Festlandes vielfach gehemmt werden. Deshalb tritt die größte Erhebung des Wassers auch erst ein, nachdem sich die Fluthgegend schon während zwei und einer halben Stunde vom Monde ostwärts entfernt hat, und ist dem entsprechend für einen bestimmten Ort die Fluth am höchsten, wenn der Mond von ihm schon zwei und eine halbe Stunde lang in seinem scheinbaren Laufe nach Westen fortgewandert ist.
So ist denn der Wasserstand ostwärts vom Monde allezeit ein höherer als westwärts, und da zugleich die Gewässer dem Monde nachstreben, so müssen sie nothwendig stärker gegen Westen fließen und drängen, als gen Osten. Das heißt: Ebbe und Fluth ruft nicht allein ein fortwährendes Steigen und Fallen des Wassers hervor, sondern auch einen allgemeinen Strom des Oceans gegen Westen.
Derselbe ist übrigens durch die Erfahrung längst nachgewiesen, und zu dessen Erklärung reicht die Einwirkung des Ostpassats, jener regelmäßigen Luftströmung innerhalb der Wendekreise, welche ebenfalls einen Weststrom des Meeres hervorrufen muß, durchaus nicht aus. Denn derselbe findet sich auch in Gegenden, wo kein Passat weht oder gar westliche Winde vorherrschen. Auch müßte nach den Gesetzen über die Strömungen, wie solche durch die ungleiche Erwärmung des Meeres auf der sich drehenden Erde verursacht werden, ein westöstlicher Strom zu constatiren sein. Daß aber trotzdem die Richtung desselben eine entgegengesetzte ist, beweist unzweifelhaft den überwiegenden Einfluß von Ebbe und Fluth.
Dieser Weststrom des Oceans übt aber einen Druck gegen die Drehung der Erde aus. Es wird dies anschaulicher, wenn man sich vorstellt, wie z. B. der Strom des atlantischen Oceans sich an den Ostküsten Nordamerikas aufstauen und gegen ihre Bewegung nach Osten sich anstemmen muß, oder wenn man sich die Erde unter dem Bilde eines Schwungrades denkt, welches die widerstrebenden Wassermassen mit sich fortführt, wobei aber ein bestimmter Theil der Rotationskraft aufgewendet werden muß. Dies heißt aber nichts Anderes, als: Ebbe und Fluth führt eine Verlangsamung der Rotationsgeschwindigkeit der Erde herbei.
Während jetzt der regelmäßige Verlauf der Ebbe und Fluth durch das Festland, welches ungefähr ein Drittel der Erdoberfläche ausmacht, mannigfach gestört wird, war solches nicht der Fall, als die Erde noch ein feurig-flüssiger Ball war. Auch der Mond war einst eine geschmolzene, sich um ihre Achse drehende Masse, so daß auch auf ihm ein Ebben und Fluthen von Gluthwellen stattgefunden hat, nur wegen der größeren Masse der anziehenden Erde in so großer Mächtigkeit, daß die Rotationskraft des Mondes bald aufgezehrt werden mußte. Wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, wenn uns unser Trabant stets dasselbe Gesicht zudreht.
Aber die Betrachtung jener Perioden, in welchen auch unsere Erde geschmolzen war, führt zu einer wichtigen Überlegung. Ist nämlich auch jetzt die unzweifelhaft fortschreitende Abkühlung des Erdballs zu einem kaum nennenswerthen Grade herabgesunken, so mußte dieselbe doch eine weit raschere sein, als derselbe noch glühend war. Wie nun jeder erkaltende Körper sich zusammenzieht, so hat auch eine Verminderung des Umfangs der Erdkugel eintreten müssen. Nach mechanischen Gesetzen erfährt nun aber die Umdrehungsgeschwindigkeit eines Körpers eine Beschleunigung, wenn sein Volumen sich vermindert, und so hat in jenen Zeiten einer rasch fortschreitenden Erkaltung auch die Erde sich rascher und rascher drehen müssen. Es müßte dies auch in unsern historischen Zeiten noch immer der Fall sein, wenn nicht mit Eintritt der Ebbe und Fluth des entstandenen Oceans ein verzögerndes Moment sich geltend gemacht hätte, welches nicht nur die Beschleunigung allmählich aufheben, sondern auch fernerhin die Geschwindigkeit der Achsendrehung vermindern muß.
Wir können zur bequemern Uebersicht des ganzen Verlaufs drei Perioden bezüglich der Drehung unserer Erde unterscheiden: eine erste mit wachsender, eine zweite mit gleichbleibender, eine dritte mit abnehmender Geschwindigkeit. Dem entsprechend ist die Dauer des Sternentags eine sich vermindernde, eine gleichbleibende und eine zunehmende. Wir sehen also, mit dem absolut guten und richtigen Gange unserer Weltuhr sieht es mißlich aus, denn sie läuft anfangs vor, dann ein Weilchen richtig, dann mehr und mehr nach. Wer aber Angesichts der fatalen letzten Phase mit Bangen fragt, ob sie nicht noch gar stehen bliebe, dem müssen wir antworten: Leider nur zu wahrscheinlich! Es müßte denn das Meer einfrieren und damit Ebbe und Fluth unmöglich werden. Aber es wäre dann unsern Nachkommen ganz gleichgültig, ob die Weltuhr noch ginge oder nicht, denn das Eis würde ihnen dann im wahren Sinne des Wortes über den Kopf gewachsen sein und allem organischen Leben ein kaltes Grab bereitet haben.
Der Druck, welcher durch Ebbe und Fluth des Meeres der Drehung der Erde entgegengesetzt wird und in jedem Augenblicke überwunden werden muß, kann selbstverständlich seiner Größe nach nur annähernd bestimmt werden, wegen der durchgreifenden Verschiedenheiten in den localen Verhältnissen. Er beträgt bei niedrigster Schätzung die Kleinigkeit von 6000 Millionen Pferdekräften, gleich einer Kraft, welche in jeder Secunde eine Last von 464,000 Millionen Kilogramm Gewicht einen Meter hoch zu heben vermag! So ungeheuer auch diese Größe, nach menschlichem Maße gemessen, erscheinen mag, so ist sie doch in der That eine Kleinigkeit gegen die Kraft, welche die sich drehende Erde repräsentirt. Denn durch diese vermöchte man 25,840 Quadrillionen Kilogramm in jeder Secunde einen Meter hoch zu heben. Es ist diese Größe im Vergleich zur erstern wieder so ungeheuer, daß sie durch den Gegendruck von Ebbe und Fluth in einem Zeitraume von 2500 Jahren erst um etwa den siebenhunderttausendsten Theil vermindert wird.
Es ist offenbar von großem Interesse zu bestimmen, in welcher der oben aufgestellten Perioden der Achsendrehung unserer Erde wir uns befinden. Man hat erst in neuerer Zeit diese Frage beantworten können: wir sind schon eingetreten in die dritte und letzte Phase, in welcher durch die Wirkung der Ebbe und Fluth die Rotationsgeschwindigkeit thatsächlich verlangsamt wird. Es hat sich in den letzten 2500 Jahren die Dauer des Sternentags um mindestens 1/81 Secunde vermehrt, und so würden unsere Chronometer im Laufe eines Jahrhunderts um 22 Secunden der Weltuhr vorauseilen.
So gehören denn Millionen von Jahren dazu, ehe durch jene Gegenkraft die Erde ihre Drehung verlieren wird, um dann nur noch ihre Bahn um die Sonne zu wandern. Wie uns jetzt schon der Mond dieselbe Hälfte zukehrt, wird dann die Erde dasselbe der Sonne gegenüber thun. Die eine Erdhälfte hat dann fortwährend Tag, die andere bleibt in ewige Nacht gehüllt. Das Menschengeschlecht ist dann, wenn seine Existenz auch noch denkbar wäre, wohl längst schlafen gegangen, und andere Lebensformen sind an seine Stelle getreten.
Aber unerbittliche physikalische Gesetze weisen ferner darauf [364]
hin, daß auch die Kraft, mit welcher unser Planet sich um die Sonne bewegt, einst aufgezehrt werden wird und dann eine Wiedervereinigung desselben mit dem Centralkörper, von dem er einst ausgegangen, eine Nothwendigkeit wird. Ist dann mit dem Sturze in die Sonne die Todesstunde unserer Erde gekommen – oder wird das ganze All mit Zeit und Raum zurückgeschleudert werden in „das Ueberseiende, welches alles Seiende ist“ – wer vermöchte es zu sagen?!
Nachstehende Mittheilungen sind nach den Erzählungen eines Verstorbenen niedergeschrieben, welcher früher als Officier in dem Husarenregimente diente, das zum Theil in Grebenstein, zum Theil in Hofgeismar bei Kassel in Garnison lag.
Man konnte wohl sagen, begann die Erzählung des genannten Gewährsmannes, daß der erste Agitator für die Einverleibung Kurhessens in den preußischen Staat der Kurfürst selbst war. Die kurhessische Armee war im Grunde nur eine Division des westphälischen oder rheinischen Armeecorps. Uniformirung, Reglement, alle Militäreinrichtungen waren fast dieselben, wie in Preußen, und hier war kein Knopf angesetzt worden, der nicht bei den Truppen des Kurfürsten seine Nachahmung gefunden hätte. In seinem Innern – darauf deuteten mannigfache Aeußerungen hin – hatte der Kurfürst sich bereits in den Gedanken ergeben, daß er der Letzte sein würde, der über das Kattenland herrsche. Die künftigen Ereignisse waren solchergestalt angebahnt, als ein Umschlag eintrat. Das war die Sendung des preußischen Feldjägers an den Kurfürsten. Mit seinem Fürsten empfand das Volk diese Herabwürdigung sehr tief – Preußen hatte, was Verfassungskämpfe anbelangte, genug vor seiner eigenen Thür zu kehren. Gesetzt aber auch, daß man ihm eine Berechtigung, sich in die inneren Verhältnisse des Nachbarstaates zu mischen, zuerkennen wollte, so war die Form doch eine so wenig den diplomatischen Gebräuchen entsprechende, daß darüber namentlich in der Armee sich eine offenkundige Mißstimmung gegen Preußen fühlbar machte.
Es gab damals in Kassel um den Kurfürsten eine Partei, welche diese Verstimmung für ihre Zwecke auszubeuten suchte. Diese bestand aus den Leuten, welche sich um die Fürstin von Hanau und deren Descendenz gruppirten und zu Oesterreich hinneigten. Durch den Kaiser von Oesterreich war die frühere Gattin des Postmeisters Lehmann in den Fürstenstand erhoben worden; der Kurfürst hatte aus seinen Mitteln in Bosnien große Güterankäufe gemacht, um daraus einen Familienbesitz für seine nicht successionsfähigen Söhne zu bilden; Oesterreich war zudem nie eine Gefahr für den politischen Fortbestand von Kurhessen, während diese Gefahr von Seite Preußens eine durch die Verhältnisse gegebene war – kurz, der österreichische Gesandte in Kassel, Graf Karnicki, wußte diese Situation zu Gunsten seines Staates sehr wohl auszubeuten und behielt seine Fühlung mit seinem Collegen in Hannover, dem Grafen von Ingelheim. So standen in Kassel die Dinge, als die Gewitterwolken zwischen Berlin und Wien im Heraufziehen waren.
Man wußte, daß die erste Entladung vom Sitze des Bundestages geschehen würde, und wie nahe wir dem ersten Zusammenstoße waren, davon überzeugte mich der Auftrag eines bei den Bonner Husaren stehenden preußischen Cameraden, der dahin ging, ihm zwei feldtüchtige Pferde anzukaufen. Das war ein Symptom. Einige Wochen darauf erhielt ich von demselben Officier eine telegraphische Depesche, deren Inhalt noch vielsagender war, als der erste Auftrag. Das Regiment, auf der westphälischen Bahn nach dem Südosten der Monarchie dirigirt, passirte Hofgeismar; hier wollten die Officiere ein Frühstück finden für sich und auch für die Mannschaften. Das der Inhalt der Depesche, der denn doch zu überlegen – zu bedenken gab. Commandeur des Regiments war der spätere Generalmajor v. B. Mit diesem ging der Empfänger der Depesche und mit ihm das gesammte Officiercorps in Berathung ein, was zu thun sei. Die Cameraden wie Freunde zu behandeln, war das Resultat. Denn noch war politisch nichts geschehen, was Kurhessen von Preußen schied. Im Gegentheile, wir Alle waren überzeugt, daß im Falle eines Bruches zwischen Preußen und Oesterreich der Kurfürst sich für den ihm durch Nachbarschaft wie durch Familienbande eng verbündeten Staat erklären würde. „Ihr kommt bald nach!“ rief mir mein braver Camerad, Prinz W., bei der Abfahrt des Regiments, sich aus dem Waggonfenster legend, zu. Ich glaube, es war unter uns kein Einziger, der Dem nicht zugestimmt hätte – das Zusammensein mit den preußischen Cameraden war das herzlichste gewesen; das Frühstück, das wir ihnen gaben, war zudem vortrefflich, die Stimmung die gehobenste. Wie hätte es anders sein können, als daß wir sie sehr natürlich fanden, diese Andeutung: Ihr kommt bald nach.
Aber dann kam die Abstimmung beim Bundestage in Frankfurt am Main vom 14. Juni, die Kurhessen, Hannover, Sachsen etc. in den Strudel des Verderbens riß, der Antrag Oesterreichs auf Mobilisirung des Bundesheeres mit Ausnahme der zur preußischen Armee gehörigen Armeecorps. Das war der Krieg zwischen den beiden größten deutschen Staaten. Wir bekamen noch an demselben Abende davon Kenntniß. Die preußischen Truppenzüge von Westphalen her hatten immer fortgedauert; jeder Tag brachte Infanterie, Cavallerie, Artillerie, Munition. Alles ging nach dem Südosten der preußischen Monarchie. Mit jedem Tage wurde unter uns die Spannung größer – die Unruhe merkbarer. Wir bewillkommneten die preußischen Cameraden; wir sprachen von den künftigen Eventualitäten mit ihnen, aber so ganz geheuer war es uns doch nicht – wir ahnten ein Verhängniß – und dieses kündigte sich in einem Extrablatt der „Hessischen Morgenzeitung“, wenn ich nicht irre, an. Durch dieses wurde uns die Nachricht von der Frankfurter Abstimmung zuerst bekannt. Ein preußischer Artilleriehauptmann reichte es mir aus dem Waggon.
Der Kurfürst hatte sich für Oesterreich erklärt, die österreichische Partei am Hofe gesiegt oder vielmehr das Hanau-Schoburg’sche Familieninteresse über den gesunden politischen Gedanken den Sieg davongetragen. Wie man sich erzählt, habe man den Kurfürsten durch Drohung mit Requisition gegen seine böhmischen Besitzungen Seitens der österreichischen Regierung eingeschüchtert. An seinen Herrschaften Horowitz und Jinec war ihm mehr gelegen, als an dem uralten Besitze seines Hauses, an einem Volke, das stets mit blinder Treue zu ihm und seinen Vorfahren gehalten hatte. Freilich, Land und Volk gingen auf seinen Geschlechtsvetter, den jetzigen Landgrafen Friedrich Wilhelm über, nicht an seine nur morganatischer Ehe entsprossenen Söhne. Durch diese Abstimmung hatte der Kurfürst sein Schicksal besiegelt, mit dem seinen auch das seines Landes. „Wenn er springt,“ habe Herr von Bismarck geäußert, eines seiner beliebten Gleichnisse aus dem Jagdleben und speciell vom Fuchse gebrauchend, „wenn er springt, ist er verloren.“ Er kannte vielleicht besser als der Kurfürst die Verblendung der Umgebung desselben. Vor der Abstimmung soll der Kurfürst noch einmal beim damaligen preußischen Gesandten in Kassel, dem General von Röder, vorgefahren sein. Vielleicht wäre dieser Besuch im Stande gewesen, noch in der elften Stunde den Dingen eine andere Wendung zu geben – möglich. Aber Herr von Röder war nicht zu Hause. Er hatte von seinem Vorgesetzten in der Berliner Wilhelmstraße Weisung erhalten, sich an den Tagen unmittelbar vor dem 14. Juni nicht mehr sehen zu lassen – der Antrag Oesterreichs war vom 11. Juni. – So erzählte man sich damals, und wenn es wahr ist, so beweist es eben nur wieder den diplomatischen Blick des späteren Reichskanzlers – kurz, der Kurfürst sprang, und der kühne Jäger war seiner Beute gewiß.
Wir standen vom 14. Juni an mit Preußen auf dem Kriegsfuße.
Hofgeismar lag dicht an der preußischen Grenze; unser Regiment war die Truppe, die am meisten exponirt war.
In Anbetracht dieser Verhältnisse entsandte der Commandeur am andern Morgen einen jüngern Officier, den Lieutenant von G., nach Wilhelmshöhe. Hier hielt der Kurfürst seine Sommerresidenz. Von ihm erbat sich der Commandeur Verhaltungsbefehle.
Aus der Meldung, die der dazu commandirte Officier dem [365] Obersten von B. bei seiner Rücklehr abstattete, ist mir noch Folgendes erinnerlich.
In vorschriftsmäßiger Uniform hatte er den Weg durch den Wald nach dem Lustschlosse genommen. Man reitet von Hofgeismar nach Wilhelmshöhe etwa drei Stunden; der Weg geht fast ununterbrochen durch den Wald.
Die Morgenfrühe athmete Ruhe und Frieden; in der Natur war nichts von dem Rumor zu spüren, der draußen in der Welt sich zusammenzog. Das meldete aber Lieutenant von G. nicht; es ist Zuthat des Erzählers. Gegen sechseinhalb Uhr traf der Officier auf Wilhelmshöhe ein und stieg bei Meister Schombart ab, um sich etwas in Stand zu setzen, ehe er drüben im Schlosse vor seinem Landesfürsten erschien. Aber hier erfuhr er, daß dieser schon um sechs Uhr nach Kassel gefahren war. „Ihm nach!“ war der Gedanke des Commandirten. Er hatte einen kleinen Imbiß genommen und war eben im Begriffe, sich wieder auf das Pferd zu schwingen, als ein Lakai drüben vom Schlosse erschien und ihn hinüber zur Gemahlin des Kurfürsten, zur Fürstin von Hanau, beschied. In Morgentoilette, wie sie war, kam sie dem Eintretenden entgegen, ihm bemerkend, daß man ihn durch den Wald habe kommen sehen und ihr dies sogleich gemeldet.
„Hängt Ihr Erscheinen mit irgend einem Ereigniß zusammen? Was ist geschehen? O, wir werden einem großen Unglück entgegengehen, und um so trauriger ist es, als man die Frage, ob es denn sein mußte, nur verneinen kann.“
Lieutenant von G. suchte die aufgeregte Dame zu beruhigen, indem er ihr versicherte, daß noch nichts geschehen sei, daß man aber nach der augenblicklichen Situation jeden Augenblick auf Alles gefaßt sein müsse. Schließlich theilte er ihr mit, in welcher Sendung er zum Kurfürsten käme.
„Der Kurfürst ist nach Kassel, um mit den Ministern zu berathen, überhaupt um am Platze zu sein. Sie werden gut thun, ihm sogleich dahin zu folgen.“
Auf dem Wege zur Residenz überlegte der Officier, daß im gegebenen Moment sein Erscheinen in Kassel eine ungerechtfertigte Beunruhigung hervorrufen oder zum Mindesten großes Aufsehen erregen würde. Er hielt es demnach für gerathener, auf Umwegen durch abgelegene Straßen in das Palais am Friedrichsplatze zu gelangen, wo der Kurfürst damals residirte. An dem Seiteneingange desselben saß er ab, und nachdem er sein Pferd der Sorge eines Lakaien übergeben hatte, stieg er das erste Geschoß zu den Gemächern des Kurfürsten hinan. Dieser mußte aber schon vorher sein Kommen bemerkt haben, denn als Lieutenant von G. die Hälfte der Stufen erstiegen hatte, bemerkte er oben die über das Geländer gebeugte Figur des Kurfürsten. Ohne ein Wort zu sagen, faßte dieser den jungen Officier, als er das Ende der Treppe erreicht hatte, vorn an der Uniform und zog ihn in seine Gemächer.
„Sind sie da?“ (nämlich die Preußen). Diese fast stoßartig hervorgebrachte Frage war von dem entsprechenden Mienenspiel begleitet.
„Nein, königliche Hoheit,“ war die Antwort des Officiers, „da sind sie noch nicht, aber sie können jeden Augenblick kommen und deshalb sendet mich der Obrist von B., um sich für den eintretenden Fall von Ew. königlichen Hoheit allerunterthänigst Verhaltungsmaßregeln zu erbitten.“
„Wie soll ich Instructionen ertheilen, wo ich selbst keine habe?“ jammerte der Kurfürst. „Ich bin ohne jede Nachricht über das, was nun geschehen soll. In Frankfurt scheint eine arge Verwirrung zu herrschen.“
„Aber was soll Obrist von B. thun, wenn die Preußen die Grenzen des Kurfürstenthums überschreiten?“ drängte fragend der Officier, auf den Zweck seiner Sendung zurückkommend.
Der Kurfürst ging rasch einige Mal im Zimmer auf und ab und schien zu überlegen.
„Wenn sie kommen,“ wandte sich der Monarch zu dem Husarenofficier, „dann – dann soll Obrist von B. ihnen entgegenreiten und Protest einlegen.“
„Protest?“ fragte überrascht der junge Officier.
„Nun ja, verstehen Sie das nicht?“
„Zu Befehl, Ew. königliche Hoheit, aber wenn ich, erlaube ich mir allerunterthänigst zu bemerken, an der Spitze einer Truppe als Feind die Grenzen eines Landes zu überschreiten hätte und es käme mir Einer mit einem Protest entgegen, dann würde ich ihn einfach gefangen nehmen lassen; das wäre der Protest gegen den Protest.“
Da wurde der Kurfürst fast heftig, und seine Stimme bekam einen Ausdruck, den man in der militärischen Sprache mit „Anpusten“ bezeichnet.
„Das verstehen Sie nicht,“ war seine Rede. „Das sind Fragen des Völkerrechts, und was von Preußen geschehen, ist gegen jedes Völkerrecht. Preußen ist die revolutionäre Macht. Aber was hilft alles das Reden? Vorläufig sind sie noch nicht da, können auch noch nicht da sein. Nicht einen einzigen Mann haben sie an meiner Grenze stehen.“
Das wußte er ganz genau.
Der Officier kam wieder auf den Zweck seiner Sendung zurück.
„Bleiben Sie hier, warten Sie! Ich würde Ihnen sagen, gehen Sie hinunter und lassen Sie sich Frühstück geben, wenn ich selbst etwas hätte. Es ist ja Alles in Wilhelmshöh'. Aber gehen Sie in den ‚König von Preußen‘!“
Das war damals der erste Gasthof Kassels.
„Wird aber dort, erlaube ich mir Ew. königlichen Hoheit allerunterthänigst zu bemerken, meine Anwesenheit nicht Aufsehen erregen, und müßte man nicht Alles vermeiden, was die Angst und Unruhe der Bevölkerung vermehren könnte?“
„Ja, ja, Sie haben Recht – das ist zu bedenken,“ bemerkte der Kurfürst nach einer Weile. „Es ist das Beste, Sie reiten nach Hofgeismar zurück. Ich sende die Befehle dorthin. Es müssen jede Stunde Nachrichten aus Frankfurt anlangen. Ich muß doch mein Verhalten mit dem meiner Verbündeten in Einklang bringen.“
„Das ist also der Bescheid, den ich unserm Commandeur überbringen soll?“
„Vorläufig, vorläufig,“ versetzte der Kurfürst.
„Und die Befehle Eurer Königlichen Hoheit werden sicher folgen?“
„Ja, ja! Reiten Sie nur!“ – –
Dem Regimente gingen keine Befehle zu, dagegen patrouillirten wir sehr eifrig an der Grenze, jeden Augenblick des Zusammenstoßes mit preußischen Truppen gewärtig.
Eines Tages waren wieder sehr starke Patrouillen vorgegangen, um die nach Westphalen und in das Fürstenthum Waldeck führenden Straßen zu beobachten. (Der Fürst von Waldeck hielt sich bekanntlich zur preußischen Truppe.) Da bemerkte denn der die Mannschaft führende Officier plötzlich einen hochbepackten, mit sehr schönen Pferden angeschirrten Reisewagen, der von Kassel kam und die Richtung nach der preußischen Grenze nahm. Der Officier ritt an den Schlag, um sich über die Persönlichkeit der Insassen zu informiren. Es waren deren zwei: der Fürst von Waldeck, der nach Kassel gekommen war, um sich von den Verhältnissen durch den Augenschein zu überzeugen, und, wie man sagt, beim Kurfürsten einen letzten Versuch zu machen, ihn vom österreichischen Interesse loszulösen; der zweite war der preußische Gesandte Herr von Röder. Der Officier kannte die beiden Herren persönlich, hatte bei Herrn von Röder oft getanzt und erklärte ihnen, daß er sich durch die officielle Eigenschaft ihrer Persönlichkeiten in die Lage versetzt sehe, sie zu Gefangenen zu machen. Darob große Entrüstung der Beiden, langes Parlamentiren von Seiten des Gesandten, der in diesem Acte eine flagrante Verletzung internationaler Gewährleistungen sah, von Seiten des Fürsten von Waldeck energischer Protest, Berufung auf sein persönliches Verhältniß zum Kurfürsten, und zum Schluß recht drastische Ergießungen über „das verfl… Land“. Unterdeß war eine Meldung an den Commandeur des Regiments zurückgegangen und von diesem, was zur Begegnung aller diplomatischen Weiterungen auch das Klügste war, der Befehl ergangen, die Herren ihres Weges ziehen zu lassen.
Nach einigen Tagen erhielt unser Regiment Befehl zu den Bundestruppen zu stoßen. Ich glaube nicht, daß der Kurfürst und seine höchsten militärische Rathgeber großes Vertrauen zu dem Erfolg der Operationen des Bundesheeres hatten. Man kannte in Kurhessen die Straffheiten der preußischen militärischen Organisation zu genau, um nicht die Zerfahrenheit, die Rathlosigkeit und Unentschlossenheit im jenseitigen Lager zu erkennen. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnt die Verfügung des damaligen kurhessischen Kriegsministers, Generals von Loßberg, an voraussehender Bedeutung, daß die kurhessische Armee vorläufig nach [366] Mainz verlegt ward, wo sie dann mit eingeschlossen wurde. Von unserem Regimente hat nur eine Schwadron am Kampfe theilgenommen. Es war dieselbe, die bei Aschaffenburg den Rückzug der Oesterreicher über die Brücke deckte. Sie war von den preußischen Truppen wegen der Aehnlichkeit der Uniform für eine preußische Schwadron gehalten worden.
Die Gefangennehmung des Landesherrn hatte das Kurfürstenthum Hessen dem Ende seiner politischen Selbstständigkeit entgegengeführt. Sie erfolgte auf Wilhelmshöhe, und die Details erzählte man sich unter uns folgendermaßen. Ob sie durch die historische Wahrheit beglaubigt werden können, bleibt dahingestellt.
Der preußische Hauptmann, der zu des Kurfürsten Gefangennehmung beordert war, hatte das Schloß mit seinen Jägern, wenn ich nicht irre, umstellen lassen. Er trat in das Gemach des Regenten und trug ihm vor, weshalb er komme.
Dieser hörte ihn an, völlig stumm und ohne Regung, als ob er die Botschaft, die er soeben gehört, nicht verstünde. Als der Officier die Aufforderung, ihm zu folgen, in angemessener Weise wiederholte, erklärte der Kurfürst, daß er dieser Weisung nicht Folge leisten würde. Eine peinliche Pause trat ein. Da trat der Hauptmann auf ihn zu und legte die Hand auf seinen Arm. Der Kurfürst wurde todtenbleich, dann wieder drängte sich ihm alles Blut in das Gesicht und mit zornbebender Stimme rief er dem Beauftragten entgegen:
„Herr, wenn Sie es noch einmal wagen, meine geheiligte Person zu berühren, dann stoße ich Sie wie einen gemeinen Verbrecher zu Boden.“
Ein energischer Charakter wie er war, legte er, wie zur Erfüllung seiner Drohung, die Hand an das Degengefäß. Es war aber nur ein Moment – dann folgte er ohne Widerstreben.
Von Stettin aus entband er uns unseres militärischen Eides. Wir waren keine kurhessischen Truppen mehr, aber auch noch keine preußischen. Während einer Anzahl von Wochen hingen wir sozusagen in der Luft. Wir waren nach Hofgeismar zurückgekehrt und hätten, losgelöst von jedem politischen Verbande, uns dem Freibeuterthum des Mittelalters überlassen können, wenn nicht die militärische Disciplin ihre Macht hinab bis zum letzten Mann erwiesen hätte. Im Herbste waren wir preußische Soldaten. –
Als König Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen in den fünfziger Jahren seinem rechten Vetter, dem Kurfürsten, einen Besuch abstattete, führte dieser seinen königlichen Gast in den Habichtswald hinauf, bis zum Hercules. Der König war über die Aussicht entzückt und äußerte in gehobener Stimmung zum Kurfürsten:
„Fritz, Dein Kassel ist zu schön.“ Dann fügte er scherzweise hinzu. „Ich muß es doch noch 'mal haben.“
Friedrich Wilhelm der Vierte bekam es nicht, aber sein Nachfolger.
Bei einer Vergnügungspartie, welche einige befreundete Berliner Schriftsteller im Sommer des Jahres 1862 unternahmen, wurde im Lauf der lebhaften Unterhaltung über den Mangel an Collegialität geklagt und zur Beseitigung dieses anerkannten Uebelstandes die Bildung eines Vereins vorgeschlagen, der hauptsächlich die persönliche Bekanntschaft und das gesellschaftliche Zusammensein der Betheiligten ohne Rücksicht auf die politische Stellung und Lebensrichtung vermitteln und befördern sollte.
Der glückliche Gedanke fand allgemeinen Anklang, und es bildete sich sogleich ein provisorisches Comité, welches einen Aufruf an alle namhaften Berliner Schriftsteller erließ und ein vorläufiges Statut entwarf. Schon am 20. August desselben Jahres traten zweiunddreißig Vertreter der Presse im Café Belvedere zusammen, fast sämmtliche Redacteure der größeren Zeitungen, verschiedene Dichter, Novellisten, Kritiker und Männer der Wissenschaft.
In kurzer Zeit wuchs die Zahl um das Doppelte, und die Gesellschaft blühte schnell empor. Die ersten Namen und die besten Kräfte, Männer wie Auerbach, Brachvogel, Frenzel, Glaßbrenner, Fontane, Rodenberg, Lindau, Julian Schmidt, Bernstein, Weiß und Zabel, Nationalökonomen und Statistiker wie Prince-Smith und Geheimrath Engel, Schulze-Delitzsch, der Vater der deutschen Genossenschaften, die Abgeordneten Duncker und Lasker, der leider zu früh verstorbene, hochbegabte Otto Lindner und der in Paris verunglückte Assessor Fischel. nächst Gneist der bedeutendste Kenner des englischen Rechts, zählten zu den hervorragenden Mitgliedern und Stiftern des Vereins der „Berliner Presse“.
Trotz der politischen und socialen Gegensätze waltete die schönste Eintracht, so daß man an demselben Tische die Mitarbeiter der conservativen „Kreuzzeitung“, den frommen Beuthner, den gemüthlichen Hesekiel neben dem Redacteur der „Volkszeitung“, dem geistvollen Bernstein und neben dem demokratischen Guido Weiß an den dazu bestimmten Abenden bei einem Glase Bier in freundschaftlichem Gespräche fand, nachdem sie sich am Tage tapfer angegriffen und rücksichtslos bekämpft hatten. Man freute sich der friedlichen Begegnung auf neutralem Boden, lernte sich persönlich kennen und rückte sich menschlich näher.
Leider wurde dieser paradiesische Zustand der ersten Monate, wo noch der Löwe friedlich neben dem Lamm weidete, nur zu bald gestört, indem die Feier zu Ehren des verstorbenen Uhland, welche von dem Vereine veranstaltet wurde, wegen der demokratischen Gesinnung des unsterblichen Dichters auf den Widerstand der feudalen Redacteure der „Kreuzzeitung“ stieß, weshalb auch die Mehrzahl derselben ausschied, obgleich sie der Gesellschaft ein durchaus freundliches Andenken bewahrte.
Auch sonst blieben vorübergehende Conflicte nicht aus, besonders hervorgerufen durch die verschiedenen Ansichten über die Zwecke und Ziele des Vereins, da viele Mitglieder außer der Förderung der collegialischen Geselligkeit mit Recht eine regere Wahrung der Standesinteressen und gegenseitige Hülfe und Unterstützung dringend verlangten. Die zu diesem Behufe gemachten Vorschläge einer unter dem Vorsitze des Geheimraths Engel ernannten Finanzcommission wurden zwar leider in ihrem zu weit gehenden Umfange nicht angenommen, legten aber, nachdem sie einige wesentliche, den Verhältnissen angepaßte Beschränkungen erlitten, den Grund zu einer wahrhaft segensreichen Thätigkeit des Vereins.
Zunächst wurde aus den Ueberschüssen der monatlichen Beiträge ein eiserner Fond für die Darlehns- und Unterstützungscasse gebildet, welche den in augenblicklicher Noth befindlichen Mitgliedern bei Krankheitsfällen und anderen Verlegenheiten eine willkommene Hülfe gewährten. Auch eine Sterbecasse wurde in der Weise begründet, daß jedes Mitglied bei eintretenden Sterbefällen einen Thaler zahlte, um die hinterbliebene Familie vor momentanen Sorgen zu bewahren.
In Anerkennung dieser wohlthätigen Zwecke des Vereins sah sich der frühere Besitzer der Modezeitung „Bazar“, Herr von Schäffer-Voit, bewogen, eine Summe von tausend Thalern der Unterstützungscasse des Vereins zuzuwenden und außerdem noch einen Jahresbeitrag von zweihundert Thalern fortlaufend zu zahlen. Auch Herr Verlagsbuchhändler A. Hofmann überwies dem Vereine bei dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des „Kladderadatsch“ ein Geschenk von fünfhundert Thalern. In derselben Absicht veranstaltete die Berliner Presse jährlich dramatische Vorstellungen, wobei die hiesigen Bühnenleiter, vor Allem aber der königliche General-Intendant Herr von Hülsen, sich durch ihre humane Bereitwilligkeit und freundliches Entgegenkommen ein unvergängliches Verdienst erworben haben.
Durch die von allen Seiten ihm so reichlich zufließenden Geldmittel sah sich der Verein in den Stand gesetzt, nicht nur seine Mitgliedern, sondern auch fremden verdienstvollen Schriftstellern, unter Anderen dem durch langjährige Krankheit gelähmten Beta und der Familie des genialen Otto Ludwig ansehnliche Summen zukommen zu lassen, so wie sich an den Sammlungen für mehrere, besonders hervorragende noch lebende Dichter mit bedeutenden Gaben zu betheiligen.
Zugleich beschäftigte sich der Verein mit all den wichtigen Fragen und Angelegenheiten, welche die Standesinteressen, besonders [367] die Freiheit der Presse, betrafen, indem er direct und indirect theils durch die ihm zu Gebote stehenden Organe der Oeffentlichkeit, theils durch seine Eingaben und Petitionen bei dem Bundeskanzleramt und dem Reichstag auf die Gesetzgebung einzuwirken suchte. In demselben Sinn wurde, hauptsächlich auf Auerbach’s Anregung, ein Glückwunschschreiben zur Inauguration des Präsidenten der Vereinigten Staaten, an den General Grant erlassen und derselbe darin zum Schutz des geistigen Eigenthums aufgefordert.
Außerdem ließ der Verein keine Gelegenheit vorübergehen, um die Koryphäen der Kunst zu feiern. Dem dänischen Dichter Andersen und dem Sänger inniger Lieder, Dr. Kletke, wurde zu ihren Jubiläen, Gutzkow zu seinem Geburtstag gratulirt, das Grab Kaulbach’s mit Blumen geschmückt und auf die Särge Freiligrath’s und Anastasius Grün’s der wohlverdiente Lorbeer niedergelegt.
In demselben Maße, wie sich seine innere und äußere Thätigkeit entwickelte, wuchs auch die Bedeutung und das Ansehen des Vereins „Berliner Presse“. Gegenwärtig zählt dieselbe über hundert Mitglieder; an der Spitze steht ein Vorstand, der aus dem ersten und zweiten Präsidenten, dem jedesmaligen Cassirer und Schriftführer gebildet wird. Derselbe leitet die laufenden Geschäfte, beruft die Versammlungen, bewilligt kleinere Unterstützungen und verwaltet das Vermögen des Vereins, das bereits auf fünfundvierzigtausend Mark angewachsen ist. Die Sitzungen finden wöchentlich am Mittwoch in dem Local des Berliner Künstlervereins statt, mit dem die Presse im innigsten Cartel steht und ein freundschaftliches Abkommen wegen Ueberlassung der demselben gehörigen Räumlichkeiten getroffen hat.
In diesen regelmäßigen Sitzungen wird die jedesmalige Tagesordnung erledigt, über die sich zur Aufnahme meldenden Candidaten eine oft recht lebhafte Debatte geführt und den Anwesenden die Gelegenheit zu einer freundlichen Annäherung und gemüthlichen Unterhaltung geboten. Ungefähr alle vier Wochen versammeln sich die Mitglieder des Vereins zu einem gemeinschaftlichen Abendessen, woran auch Gäste Theil nehmen dürfen. Bei diesen meist stark besuchten Zusammenkünften herrscht, trotz der unvermeidlichen Discussionen und des Zusammenprallens der Geister, eine erfreuliche Collegialität und gemüthliche Heiterkeit.
Neben manchem ernsten, gediegenen Worte fehlt es auch nicht an Witz und Humor, wie sich das in einer Gesellschaft von selbst versteht, wo die Ritter des Geistes Auerbach und Gutzkow, ferner Karl Frenzel und Paul Lindau, Stettenheim und Löwenstein zuweilen eine Lanze brechen.
Von Zeit zu Zeit veranstaltet auch die Berliner Presse sogenannte Festabende, welche durch die Anwesenheit der Damen einen besonderen Reiz erhalten. Ein solches Fest stellt das Bild unseres Zeichners dar, das die hervorragendsten Mitglieder des Vereins mit möglichster Portraitähnlichkeit wiedergiebt. In dem eleganten, hell erleuchteten Saal des „Hôtel de Rome“ erblicken wir die Vertreter der Berliner Literatur, wenn auch nicht in gewünschter Vollständigkeit, da wir aus verschiedenen Gründen manches theuere Haupt, vor Allen Karl Frenzel, den geistvollsten Essayisten und Dichter mit seiner liebenswürdigen Gattin, Fontane, den Sänger der Mark, und den augenblicklich in Marokko für maurische Schönheiten schwärmenden Ludwig Pietsch vermissen.
Unter den Anwesenden macht sich zunächst Berthold Auerbach, der berühmte Dichter der Dorfgeschichten, bemerkbar. An der gedrungenen Gestalt, und dem gebräunten Gesicht scheinen die Jahre spurlos vorübergegangen zu sein und ihm weder die Frische des wie ein unerschöpflicher Quell sprudelnden Geistes, noch seine dichterische Schöpferkraft und seine gesellschaftliche Liebenswürdigkeit geraubt zu haben. Noch immer verschwendet er in der Unterhaltung Schätze, von denen andere Schriftsteller ein Jahr leben und aus denen sie dicke Bücher machen würden. Mit Recht preist Friedrich Spielhagen in seinem prächtigen Gedicht zum fünfundsechszigsten Geburtstage Auerbach’s die ewige Jugend des Poeten:
Und zählt man fünfundsechszig Jahr,
Gehört man zu den Alten.
Nun, Alter Du mit grauem Haar,
Du hast Dich gut gehalten;
Das Aug’ so frei, der Sinn so frisch
Wie Vogelsingen im Gebüsch –
Du magst noch lange walten.“
In Auerbach’s Nähe unterhält sich Julius Stettenheim, der witzige Redacteur der Berliner „Wespen“, mit einigen schönen Damen so harmlos und liebenswürdig, als ob er kein Wässerchen trüben könnte, obgleich er den Schalk im Nacken hat. So leicht wird kein Mensch an dem feinen, zierlichen und galanten Herrn den scharfen Stachel der Wespen heute entdecken, den er übrigens an der rechten Stelle mit großer Grazie und vielem Tact zu gebrauchen versteht. – Dicht neben Stettenheim hat der freundliche Zeichner dem Verfasser zahlreicher Romane und auch dieses Artikels einen unverdienten Platz im Vordergrund angewiesen. In einiger Entfernung von ihm lehnt sich Schmidt-Cabanis, der Redacteur der Glaßbrennerschen „Montagszeitung“ und humoristische Dichter „zoolyrischer Ergüsse“, an eine Säule, im Begriff, die reizende Frau eines bekannten Collegen zu einer Quadrille zu engagiren, während Rudolf Löwenstein, der würdige Vertreter des Kladderadatsch und Dichter reizender Lieder, über einen geistvollen Toast nachzudenken scheint, den er sicher unter allgemeinem Beifall und schallendem Gelächter bei Tisch ausbringen wird.
Der Herr an seiner Seite mit dem gelockten Haar, dem blonden Schnurrbarte und dem charakteristischen Gesicht ist Brachvogel-Narciß, der beim Anblick seines holdseligen Töchterleins die geschminkte Pompadour vergißt und sich nur als glücklicher Vater fühlt. Da sitzt auch Albert Traeger, der Dichter der „Gartenlaube“, als Gast der Presse, in der er sich durch sein poetisches Talent und seine persönliche Liebenswürdigkeit schon längst das literarische und gesellschaftliche Bürgerrecht Berlins erworben hat. Hinter ihm steht Guido Weiß, einer der bedeutendsten Publicisten und Herausgeber der „Wage“, der Freund und geistige Erbe Johann Jacoby’s, dessen Grundsätze und ehrenhafte Ueberzeugungstreue er theilt, gefürchtet wegen seines scharfen Sarkasmus, geachtet wegen seines festen Charakters und geliebt von seinen Freunden und Collegen wegen seiner Gutmüthigkeit. Sein Nachbar mit den langen Haaren und dem grauen Barte ist der einflußreiche Redacteur der „Vossischen Zeitung“, Dr. Hermann Kletke, der in seiner Person den gefeierten Lyriker und geistreichen Publicisten vereint. Die zwischen den beiden alten Freunden hervorblickende Dame schreibt unter dem Namen Veronika von G. von den Leserinnen des „Bazar“, bewunderte Artikel über die Mode, welche sich durch Grazie und Feinheit vortheilhaft auszeichnen.
Im Hintergrunde bewegt sich Julius Schweitzer von der „National-Zeitung“, die unersetzliche Stütze und der Cassirer des Vereins, der das Vermögen der „Presse“ mit ebenso großer Umsicht wie echter Humanität bei allen Unterstützungen verwaltet. Unter dem flammenden Kronleuchter sieht man den bescheidenen Liebetreu, den Verfasser kleiner, anmuthiger Genrebilder, den frühern Redacteur des „Sonntagsblattes“, jetzt bei der „Post“ beschäftigt, in Gesellschaft des Redacteurs der „Romanzeitung“, Robert Schweichel, dessen „Bildschnitzer vom Achensee“ zu den besten Erzählungen der Gegenwart gezählt wird, wie die drei schnell auf einander folgenden Auflagen zeigen.
Mitten in dem Gewühle der Tänzer ragt die hohe männliche Gestalt Elcho’s hervor, der das Feuilleton der „Volkszeitung“ mit Geschick redigirt und seine genaue Kenntniß Amerikas, wo er längere Zeit gelebt, in einer Reihe interessanter Artikel, Skizzen und Romane zu verwerthen weiß. Still vergnügt, beobachtet Dr. Klee von der „Post“ die an ihm vorüberschwebenden Paare, froh, wenigstens für den Abend die schwere Last abwerfen zu dürfen, die auf seinen tüchtigen Schultern ruht.
Vor Allen aber tritt aus dem Bilde heraus Paul Lindau, der Mann der „Gegenwart“ und des „Erfolges“, der hier an der Seite seiner reizenden Frau, der Tochter des unvergeßlichen Kalisch, so freundlich erscheint, daß Niemand dem heitern, wirklich von Herzen höchst gutmüthigen Collegen die so gefürchteten „literarischen Rücksichtslosigkeiten“ zutraut, wenn auch das kluge Gesicht, die hinter dem goldenen Kneifer scharf beobachtenden Augen und der feine, zuweilen ironisch lächelnde Mund den geborenen Satiriker unwillkürlich verrathen. Hart daneben erscheint Georg Hiltl, ebenso geschätzt als Schauspieler wie als Romanschriftsteller und Historiker, dessen Vielseitigkeit überall gerechte Anerkennung findet. Die drei Herren, welche die letzte Gruppe abschließen, sind Max Remy, der unparteiische und gediegene Kritiker der „Vossischen Zeitung“, der beliebte Erzähler
[368][369] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [370]
und Stadtverordnete Streckfuß, und last but not least Julius Rodenberg, der Redacteur der so rasch emporblühenden „Deutschen Revue“. Den Schluß bilden die drei geistreichen Damen, Frau Remy, Schweichel und Glaßbrenner-Peroni[WS 2], die berühmte Lehrerin der dramatischen Kunst, aus deren Schule die ersten Talente unserer Zeit, Frau Charlotte Wolter, Seebach, Gabillon etc. hervorgegangen sind.
Der Polizeicommissar kam.
„Herr Geheimrath?“
„Haben Sie einige Leute zur Hand?“
„Ein paar Wachtmeister.“
„Wenn Herr Hornemann, den ich hierher gebeten habe, bei seinem Weggange ohne meine Begleitung den Corridor draußen betritt, so verhaften Sie ihn und halten ihn bis zum Eintritte der Dämmerung“ – er sah nach der Uhr –, „also eine Stunde etwa, hier zurück! Bewachen Sie ihn im Sitzungszimmer! Später schaffen Sie ihn ohne Aufsehen in’s Polizeigefängniß hinüber!“ –
Karl Hornemann befand sich mit einem der Stadtdiener auf dem Wege zum Rathhause. Wo der Weg vom Canal abbog, holte ihn ein Mann in Bauernkleidung ein, keuchend vom Lauf, die hohen Stiefel mit Koth bespritzt.
„Ich habe etwas an Sie abzugeben, Herr Hornemann.“
„Ah!“ sagte der Pascha, der den Mann zu kennen schien. „Was giebt es denn?“
Er brach ein Schreiben auf und erblickte die großen Schriftzüge Harro’s:
„Hurrah! die Drachenköpfe sind billig wie die Brombeeren. Wenn Du noch einen Funken Liebe für mich hast, so lade mich zu Eurem Tanze! Es zuckt mir in den Beinen. Hier bin ich; ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen! Grüße Deine wunderschöne Schwester und sage ihr, die Zigeuner wären auch wieder da. Gegeben im Hospitium der Erlenfuhrt. H…o.“
Der Pascha, dachte nach.
„Einen Gruß von mir, und das Weitere würde sich finden.“
Er riß, während der Bote sich entfernte, das Schreiben in Streifen und Stückchen, that die paar Schritte zum Wasser und warf die Papierstückchen in den Canal. Der feuchte Thauwind streute sie wie einen Schwarm weißer Tauben aus einander, ehe sie niederfielen.
Die beiden Löwen zu den Seiten der breiten Rathhaustreppe glotzten ihn tückisch an, und als er durch den Säulenschmuck des Vestibüls der inneren Treppe zusteuerte, begegnete er Donner, der ihn mit zweideutigem Lächeln begrüßte. Desto verbindlicher war der Empfang, den er bei dem Geheimrath fand. Der Gegensatz der beiden Männer, die in dem schon nicht mehr ganz hellen Raume Aug’ in Auge einander gegenüber saßen, war interessant genug, – hier der Volksmann mit seiner zwanglos originellen Erscheinung, der diesmal jedoch gegen seine sonstige Art das Käppchen in der Hand hielt, dort der weltmännisch feine, tadellos modern gekleidete Vertreter der Regierung.
„Wir sind in gewissem Sinne Gegner, Herr Hornemann,“ begann der Geheimrath lächelnd, „obwohl unsre Ziele im Grunde auf das Nämliche hinauslaufen: das Wohl unsres gemeinsamen Vaterlandes. Mir persönlich scheint dasselbe am besten verbürgt durch die größtmöglichste Achtung vor den staatlichen Einrichtungen und Gesetzen, einen starken einheitlichen Staatswillen, der in der Person des Herrschers verkörpert ist, ein tüchtiges Beamtenthum und ein gut geschultes, schlagfertiges Heer. Sie dagegen suchen das Heil vielleicht in einer deutschen oder preußischen Republik, in einem steten Ringkampf aller Individuen, um ihrem Eigenwillen die möglichste Geltung zu verschaffen –“
„Erlauben Sie mir, den Gegensatz schärfer zu präcisiren!“ fiel der Pascha wie unwillkürlich ein; „Sie unterscheiden anders oder sollten es wenigstens correcter Weise thun; sie haben hier einen Herrscher, der zum Befehlen geboren ist und dessen Werkzeuge eine Militärmacht und ein Beamtenthum bilden, und dort so und so viel Unterthanen, welche zum Gehorsam geboren sind; ich dagegen kenne nur eine Summe freier Staatsbürger, welche kraft angebornen Menschenrechts sich selbst befehlen und sich selbst gehorchen. Uebrigens bin ich mit einem Bunde constitutioneller deutscher Staaten zufrieden. Für das Ideal einer Republik sind wir weder intellektuell noch moralisch reif; die Republik würde die Unordnung sein.“
Wieder lächelte der Geheimrath, fein, wie ein Diplomat lächelt.
„Ich halte mich an Ihre letzte Aeußerung; Sie sind ein Freund der Ordnung: reichen Sie mir Ihre Hand und helfen Sie mir, Unordnung zu verhüten! Das Schicksal der schwebenden Fragen wird jedenfalls nicht hier, sondern in Berlin entschieden, und es würde nicht das Mindeste zu dieser Entscheidung beitragen, wenn hier durch einen öffentlichen Tumult für die eine oder andere Anschauung plaidirt würde. Wir haben die Macht, die Ordnung wieder herzustellen; der ganze Ertrag wäre Blut, Leichen, volle Gefängnisse, Familienunglück, dessen Spuren erst eine lange Reihe von Jahren verwischen würde. Sie sind ein verständiger und gemäßigter Mann, kein demagogischer Brausekopf, und ich weiß, daß Ihr Einfluß auf Ihre Partei groß ist; wollen wir Beide uns verbinden, um die Ruhe dieser Stadt zu schützen?“
Er hielt dem Pascha die Hand hin.
Der Ton, welchen der Geheimrath angeschlagen, konnte dem Pascha gegenüber nicht bestrickender gewählt werden. Er wirkte süß benebelnd wie Opium. Aber Karl Hornemann war bei aller Gemüthstiefe ein zu fester Charakter, um sich länger als ein paar Secunden dem ersten Eindruck zu überlassen; seine Hand zuckte, aber sie ließ das Käppchen mit der Troddel nicht los.
„Ich könnte nicht einschlagen, wenn ich auch für meine Person nicht abgeneigt wäre es zu thun. Ich stehe nicht über der Partei, sondern in der Partei; ich bin nur einer der Nervenknoten, in denen das geistige Streben einer großen Menge sich concentrirt. Mehr zu sein, wäre undemokratisch. Will meine Partei die Revolution, so werden Sie mich auf den Barricaden sehen; nur werde ich nach Kräften zu verhindern suchen, daß man zur Unzeit aufsteht. Jeder andere Weg muß zuvor abgeschnitten und das Resultat voraussichtlich ein Erfolg sein.“
Der Geheimrath erhob sich.
„Sie können mir Ihr Ehrenwort nicht geben, daß Sie mit allen Kräften für die Verhütung von Excessen auf Seiten Ihrer Partei einstehen wollen?“ fragte der Beamte ein wenig kühler.
„Nein,“ sagte der Pascha fest.
„Dann bedaure ich, Sie bemüht zu haben.“
Der Geheimrath winkte verabschiedend, und Karl Hornemann verneigte sich ein wenig steif und verließ das Cabinet.
Draußen auf dem Corridore empfing ihn Donner.
„Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen, Herr Hornemann?“ sagte er spöttisch.
Der Pascha warf ihm einen langen Blick zu, in dem sich Ueberraschung malte.
„War es so gemeint?“ versetzte er endlich. „Wohlan, ich will Ihnen Ihren Triumph durchaus nicht trüben.“, Und er schritt an dem Commissar vorüber in die Thür, welche dieser aufstieß.
Einige Minuten später übergab der Geheimrath einem der Schreiber einen Brief mit der Weisung, ihn auf die Post zu schaffen.
„An das königliche Militärkommando zu X.“ las der Schreiber, als er den Corridor hinunter ging.
Die Verhaftung Karl Hornemann’s hatte eine Wirkung, wie sie der Geheimrath Rehling so überraschend und so mächtig nicht erwartet hatte.
Der Zufall wollte es, daß eine Anzahl Arbeiter im Vorbeigehen an der Tracht den Mann erkannte, vor welchem der [371] Commissar Donner in der späten Dämmerung die Thür des „Fuchseisens“ öffnete. Zwei dieser Arbeiter waren alte Mitglieder des Clubs.
Unter dem Schleier der Nacht wurde es in den Arbeiterquartieren auf dem „Windbuckel“ und am Flusse drunten lebendig. Zornige Reden, Lärm und Gelächter schollen. Kleinere und größere Trupps von Männern jedes Alters, meist in der blauen Arbeiterblouse, bewegten sich, einander begegnend und sich vereinigend, zum Mittelpunkte der Stadt hin. Hier und da wurde dumpf an einen Laden geklopft; Hausthüren öffneten sich; ein paar Worte wurden gewechselt und eine oder einige Personen vermehrten den Zug. Es war, als brächen allüberall Quellen aus der Erde und strömten, begierig den Zusammenfluß suchend, ineinander, um Bäche und endlich einen Strom zu bilden. Es kamen weit mehr Leute zusammen, als je zu den Anhängern der städtischen Demagogie gehört hatten; die Männer der Arbeiterquartiere waren ein rauflustiges Geschlecht, dem das Wort locker auf der Zunge und das Messer lose in der Tasche saß.
Eine Stunde vor Mitternacht schimmerten die Fenster des Jenny-Lind-Zimmers sanft vom Scheine einer Lampe, bei welchem der Geheimrath Rehling unruhig im Sopha saß. Von der Canalstraße herauf drang das Geräusch, welches eine durcheinander wirrende Menschenmenge verursacht, ein Gemurmel von Stimmen und das Rascheln und Scharren von Tritten in’s Zimmer.
Der Geheimrath erhob sich und schritt die Wand entlang in eine Zimmerecke; eine Gardine lüftend, blickte er hinab: auf dem Trottoir jenseits des Canals drängten sich viele Menschen.
Es klopfte an der Thür, und er trat rasch zurück und rief: „Herein!“
Der Eintretende war der alte Schoner. „Herr Geheimrath,“ sagte er ruhig, das gilt Ihnen. Sie wollen Karl Hornemann frei haben; es werden wohl gleich ein paar von ihnen herauf kommen.“
„So schließen Sie die Hausthür zu!“
„Was soll das nützen?“ meinte achselzuckend der Wirth. „Sie werden sie aufbrechen und nur desto wüthender werden.“
„An’s Fenster kommen!“ rief eine Stentorstimme in der Straße, und „an’s Fenster!“ donnerten ein paar hundert Stimmen nach.
Der Geheimrath schwankte, ob er dem Rufe folgen sollte. „Es widerstrebt mir, mit dem Gesindel zu pactiren,“ murmelte er halblaut. Der Wirth hatte die Worte verstanden.
„Es ist eine unruhige Zeit jetzt,“ sagte er. „Aber die Leute meinen es ehrlich und verdienen eigentlich nicht, Gesindel zu heißen.“
„An’s Fenster! Hornemann freigeben!“ dröhnte es von Neuem.
Eine Fensterscheibe sprang klirrend entzwei, und ein Stein rollte in’s Zimmer; Hurrahruf und spottendes Gelächter folgte dem Wurfe. Des Geheimraths Gesicht überzog sich mit leichenhafter Blässe. Er ging an den Tisch, löschte die Lampe und drängte den Wirth auf den spärlich beleuchteten Corridor hinaus.
Ein Sturm des Unwillens brauste auf der Straße, und wieder klirrten Fensterscheiben, zwei kurz hintereinander; man, hörte die Steine gegen Möbel poltern und dann auf die Diele rollen.
„Sie ruiniren mein Zimmer,“ meinte der Wirth finster.
„Sie sollen Ersatz haben,“ sagte der Beamte, mit nervöser Hast die Hände reibend. „Ihr Haus hat ja wohl einen Nebenausgang?“
„Den haben sie längst besetzt.“
„Hm! So gehen Sie denn und beruhigen Sie die Leute! Ich will mit ein paar Zeilen die Freilassung des Herrn Hornemann verfügen.“
„Das ist das Einzige, wozu ich Ihnen rathen kann,“ versetzte Schoner und ging.
Der Geheimrath wartete noch eine Weile, bis er an dem Jubelruf der Menge erkannte, daß die Botschaft des Wirthes ausgerichtet war. „Hätte ich früher Militär kommen lassen!“ knirschte er, als er das Zimmer wieder betrat. „Man ist viel zu vertrauensselig gegen die Canaille.“
Er zündete die Lampe wieder an und warf ein paar Zeilen auf das Papier; der alte Schoner kam zurück, um die Verfügung in Empfang zu nehmen.
Eine Viertelstunde später stand der Geheimrath auf der Treppe des Locals der Union und zog die Schelle. Es war dort bereits leer von Gästen, da die Mitglieder aus Furcht vor Insulten das nächtlich-späte Nachhausegehen scheuten, seit die Aufregung einen so aggressiven Charakter angenommen hatte. Ein Diener öffnete. Der Hausflur, in welchen der Geheimrath trat, war noch beleuchtet.
„Wollen Sie mir gefälligst sagen, wie weit der nächste Ort entfernt ist, den die Straße nach X. berührt?’“ fragte der Beamte.
„Zwei Stunden zu gehen, Herr Geheimrath. Es ist die Erlenfuhrt.“
„Lassen Sie sofort einen Wagen anspannen. Es giebt doch ein Wirthshaus in dieser Erlenfuhrt, in dem man sich zwölf Stunden aufhalten kann! wenn es sein muß?“
„Eine Bauernwirthschaft, Herr Geheimrath.“
„Nun gut; so eilen Sie!“
Kurz nachher fuhr der Wagen aus dem Thorweg und rollte der Chaussee zu. Der Geheimrath war schon im Hofe eingestiegen.
Inzwischen hatte sich die johlende, erhitzte Menge dem „Fuchseisen“ zu bewegt. Als das Gros derselben vor dem hohen, dunklen Bau mit den vergitterten Fenstern ankam, stand der Pascha bereits auf der Schwelle der Hausthür; ein paar Mitglieder des „kleinen Rathes“ befanden sich neben ihm. Schnellfüßige Vorläufer hatten den Schließer Marquardt aus dem Schlafe gedonnert, und der alte Mann hatte auf ihr drohendes Gebahren hin und da er die Menge vor dem Hause rasch anschwellen sah, mit wankenden Knieen sich treppauf begeben und die Zelle des Gefangenen geöffnet. Polizei war nirgends zu erblicken.
„Ein Hurrah für Herrn Hornemann!“ Die Straße dröhnte von dem betäubenden Ruf; es klang wie das Rasseln vieler zusammengeschlagener Gewehre. Der Pascha nahm das Käppchen in die Hand und überblickte ernst und mit tiefer Rührung die Scene, welche nur von ein paar Straßenlaternen schwach beleuchtet war.
„Ruhe!“ scholl es. „Er will reden.“
Lautlose Stille lagerte sich über die Menschenmenge, deren Endpunkte sich rechts und links weit in die Straße hinein verloren.
„Ich danke Euch, Bürger, für den Beweis Eures Vertrauens,“ erklang vernehmlich die ein wenig bebende Stimme des Pascha. „Leider kann ich mich eines Zweifels nicht erwehren, ob Ihr mir und Euch einen Gefallen erzeigt habt, indem Ihr meine Befreiung erzwangt. Morgen werden wir die Klingen der Cavallerie und vielleicht auch ein paar Kanonen in der Stadt haben, und man wird Euch und mich für diese Liebesthat büßen lassen.“
„Wir lassen sie nicht herein; wir bauen Barricaden,“ schrie, eine Stimme. Ein unbeschreiblicher Lärm folgte, aus welchem man nur das Wort „Barricaden“ deutlich heraus hören konnte. Die nächste Umgebung des Pascha sprach lebhaft auf denselben ein, während sein Auge noch unentschlossen über die Menge schweifte. Endlich winkte er mit beiden Händen, und der Aufruhr legte sich, bis auch die letzten Stimmen im Gemurmel erstarben.
„So mag es denn sein. Wenn Ihr Muth habt; Eure Leiber den Klingen und Kugeln auszusetzen, um Euch und Eurem Volke die Rechte freier Menschen, die versprochenen und verbrieften, erstreiten zu helfen, wenn Ihr geloben wollt, Euch wie Soldaten zu schlagen, fest auf dem Posten und gehorsam dem Commando, dann werden wir an Eure Spitze treten, so wahr es ist, daß die Besetzung unserer Stadt durch Militär für uns die Ohnmacht, die Unfreiheit, die Verfolgung bedeutet.“
Neuer Lärm und Zuruf. Arme erhoben sich in die Luft, und Mützen wurden geschwenkt. Karl Hornemann stieg die Stufen hinab, und man drängte sich um ihn und drückte ihm die Hände. Ein Enthusiasmus hatte sich der Menge bemächtigt, welcher die Sorge gerechtfertigt erscheinen ließ, ob die Herstellung einer festen Ordnung möglich sein würde. Aber die Organisation, welche man dem Club gegeben hatte, bewährte sich in der Aufgabe, die unklare Mischung zu krystallisiren. Als man auseinander ging, um sich zu bewaffnen, waren die Dispositionen im Allgemeinen zur Genüge getroffen.
Die Nacht war dunkel; feuchte Luft strich mit leisem Wehen durch die Straßen, von welchen der Koth des Thauwetters nicht völlig verschwunden war. Ein paar Männer zwangen dem [372] Küster der katholischen Kirche, den man aus dem Schlafe weckte, die Thurmschlüssel ab und begannen die Sturmglocken zu läuten, deren mächtige Stimme die Kunde vom Beginn des Aufruhrs heulend über die Stadt hin trug. Handlaternen fackelten da und dort in den Straßen; das Metall von Waffen und Geräthen blitzte auf, und dunkle Trupps von Männern eilten der Kaiserstraße zu. Auf der Chaussee draußen, an der engen Wegstelle vor der Schmiede, wo links eine steile, tiefe Böschung in den Fluß hinab fiel, rechts der Bergrest ein für Pferde unüberwindliches Hinderniß bildete, flammte ein Riesenfeuer auf; an den benachbarten Pappeln arbeiteten schrille Sägen; Wagen wurden herangefahren, und auf der Seite nach der Schmiede zu grub man den Chausseedamm aus. Eine zweite Barricade erhob sich vor der Brücke, welche zum Bahnhofe über dem Flusse drüben führte; an den beiden kleineren Brücken, bloßen Holzbauten, wirthschafteten Säge und Axt, um sie unpassirbar zu machen. Man konnte mit dem Vortheil rechnen, daß in der nächsten Garnisonstadt nur Cavallerie und Artillerie lag.
Der Pascha machte zwei Gänge, bevor er sich zu den Arbeiten begab; der erste galt seiner Mutter. Er gab sich alle Mühe, die aufgeregte alte Frau zu beruhigen, welche der Lärm vor dem Wiedenhofe wach gehalten und gleichzeitig mit der Einkerkerung des Sohnes bekannt gemacht hatte. Er sprach warme und begeisterte Worte von seiner Mission, seinen politischen Idealen, von der Freiheit, welche ein echter Patriot im äußersten Falle bereit sein müsse, mit dem eigenen Herzblute vor gänzlichem Verschmachten zu bewahren, wie der Pelikan der Sage die dürstenden Jungen. Aber Frau Hornemann hatte kein Verständniß für politische Ideale, wie die meisten Frauen. „Ich werde Dich verlieren, mein Sohn,“ sagte sie; „wenn Du am Leben bleibst, was Gott gebe, so werden sie Dich für lange Jahre in’s Gefängniß schleppen, und ich alte Frau werde einsam zurückbleiben in dem alten Hause – das ist Alles, was ich begreife.“
„Emilie bleibt Ihnen, Mutter. Ich werde zu ihr gehen und mit ihr reden.“
Frau Hornemann lächelte ein wenig bitter. Ihre Lippen zitterten, als sie den Sohn küßte. „Gott sei mit Dir!“ sagte sie und fuhr sich über die gerötheten Augen, denen das Weinen so schwer wurde.
Auch die Schwester fand der Pascha noch munter, und sie sah gar nicht so kühl und zurückhaltend aus, wie er erwartet hatte; ihr ganzes Wesen war lebhaft bewegt, und als er ihr beim Lampenscheine in’s Gesicht blickte, kam es ihm etwas verstört vor. Sie trat ihm mit der Frage wegen der plötzlichen Abreise Zehren’s entgegen, indem sie die Vermuthung aussprach, daß der Bruder die Veranlassung zu derselben wisse. Im Moment, da Karl Hornemann seine gänzliche Unkenntniß betheuert hatte, brachen dröhnend die ersten Klänge der Sturmglocke aus den Schalllöchern, und die junge Frau horchte erblassend auf.
„Was ist das, Karl?“
In den treuen, braunen Augen des Pascha leuchtete es schwärmerisch. „Die Stimme des Schicksals, Milli; Tod oder Freiheit, Nichts oder Alles – hörst Du das Herüber und Hinüber? In einigen Stunden sind ein paar tüchtige Barricaden fertig.“
„Allmächtiger! Wie ist das gekommen?“
„Wie die meisten großen Katastrophen – Blitze aus heiterem Himmel.“ Er berichtete ihr in fliegender Eile das jüngst Erlebte, und sie neigte sich vor und hörte athemlos zu. „Willst Du nicht zur Mutter gehen?“ schloß er; „die Einsame wird sich in den nächsten Stunden doppelt einsam fühlen.“
„Ich darf nicht, Karl; ich kann das Haus nicht gänzlich ohne Aufsicht lassen. Warum auch heute gerade dieser unselige Zufall, welcher Zehren zum Reisen nöthigt!“
„Du hast Recht,“ meinte er und blickte nachdenklich zur Seite. Als er ihr das Gesicht wieder zuwandte, lag ein leiser Ausdruck von schüchterner Beklommenheit in seinen Zügen. „Wir werden morgen wohl schon das Militär uns gegenüber haben, Milli,“ sprach er, „und es könnte geschehen, daß mir etwas Menschliches passirt. Nimm Dich alsdann der Mutter an! Und noch etwas, Milli! Du hast mir lange gezürnt, weil ich andrer Ansicht war über das, was zu Deinem Glücke diente, als Du. Vielleicht daß ich im Irrthum war; wenigstens ist Eure Ehe keine vollkommen glückliche –“
„Woher weißt Du das?“ unterbrach sie ihn hastig, und über ihr Antlitz flammte ein brennendes Roth. „Was hat Dir Zehren gesagt?“
Er sah sie betroffen an. „Nichts hat er mir gesagt; ich dachte nur, wenn Ihr glücklich wäret, würde ich nicht so lange Deine Verzeihung entbehrt haben. Es ist so hart, zu lieben vor kalten Augen und kaltem Herzen; meine Liebe zu Dir war eine zitternde Rose in Herbstfrosttagen, Milli, und der Frost hat ihr weh gethan. Zürne mir wenigstens dann nicht mehr, wenn ich sterben sollte; willst Du mir das versprechen?“
Sie warf sich mit leidenschaflicher Heftigkeit an seine Brust, und ihre Thränen rannen und mischten sich in ihre Küsse. „Ich habe Dich immer lieb gehabt, Karl, mein süßer Bruder; Du weißt nicht, wie schwer es ist, künstliches Eis um ein brennendes Herz zu legen.“
Er preßte sie einen Augenblick fest an sich. „Leb wohl!“ sagte er dann und löste sich sanft von ihrer Brust. „Vielleicht daß Du doch noch glücklich wirst. Grüße Deinen Gatten, wenn ich ihn nicht wiedersehen sollte!“
Als er drunten den Canal entlang ging, fühlte er, wie sein Herz tief wund war und wie der Nebel einer bangen Ahnung bleiern darauf lagerte. „Vorwärts!“ sagte er für sich und ballte die Fäuste; „jetzt bin ich Soldat.“ – –
Streifzüge bei den Kriegsführenden.
Unten auf dem Kriegsschauplatze rücken Infanteristen und Kosaken in langen, sackähnlichen Kitteln und in der sonstigen mehr zweckmäßigen als eleganten Kriegsausrüstung ihrem Ziele, der Ueberschreitung der Donau, näher. Hier aber in der russischen Reichshauptstadt konnte man sich die ganze soeben verlebte Woche hindurch an den prunkvollen, verschwenderisch ausgestatteten Galauniformen, an dem goldenen Funkeln und dem albernen Blinzeln der Elite der russischen Armee gar nicht satt sehen. Bei drei rasch aufeinander folgenden Anlässen war es uns vergönnt, die russische Garde in voller Parade ausrücken zu sehen und beinahe hätten wir – wenn uns der Himmel zu einem Schnellrechner gnädigst ausgestattet haben würde – Gelegenheit gehabt, bis auf etliche Kopeken die Unsummen zu berechnen, welche die Ausrüstung eines solchen Regiments oder einer derartigen Schwadron verschlingt. Die drei erwähnten Anlässe waren folgende: Die Rückkehr des Kaisers aus Kischineff, die große Mai-Parade und die Mündigkeitserklärung des Großfürsten Sergius.
Nachdem Alexander der Zweite von Kischineff aus den Türken als Czar und als Rechtgläubiger den Handschuh hingeworfen, nachdem diese Reise eine historische, weltbewegende Bedeutung erhalten, nachdem die Moskauer Slavenfreunde durch ihren dröhnenden Jubel die Luft um den Kreml herum erschüttert hatten, konnte die Landeshauptstadt den Kaiser nicht phlegmatisch und kühl wieder innerhalb ihrer Mauern begrüßen. Kühl? Nun, wenn die Gefühle der Petersburger von Wärme überströmten, so hatte das Wetter zu Ehren Seiner Majestät nicht mildere Saiten aufgezogen. Wir schrieben den siebenten Mai, und der Polarwind drang noch immer bis in’s Mark, als wir [373] ahnungslosen, pelzentbehrenden Mitteleuropäer in dem pfeilschnellen Drosky über die Perspective rasten, dem Nicolai-(Moskauer) Bahnhofe zueilend, wo die Ankunft der Majestäten für punkt zehn Uhr angesagt war. Viele hatten den nämlichen Weg genommen, und die Evastöchter legten, um den Kaiser und sein glänzendes Gefolge zu sehen, die nämliche löbliche Neugierde an den Tag – wie die Männer. Einzelne der Schönen, die unter ihren rothen Pelzmänteln die anmuthigsten Pariser Sommertoiletten bargen, brachten es bis in den für die officielle Suite der Generalität bestimmten Wartesalon, wo die Spitzen der Generalität und die höchst ehrbar aussehenden Vertreter der Dumba (Stadtverordnete) sich eingefunden hatten.
Man mag über Rußland denken wie man will, dem schönen kräftigen Menschenschlage, der da im hohen Norden gebietet, kann man die Anerkennung nicht versagen. Aber nicht allein die adeligen Gardeofficiere dürfen sich als Muster von schmucker, hochaufgeschossener, aber doch geschmeidiger Eleganz qualificiren, die einfachen Gensd’armen die sich bemühen, unter dem herandrängenden Publicum ein wenig Ordnung aufrecht zu erhalten, sind wirkliche Prachtstücke. Ständen sie nicht in des Czaren wohlnährenden Diensten, sie könnten sich auf Jahrmärkten dreist als „Riesen“ für mäßiges Entrée bewundern lassen. Daß die blendend weißen Tunikas, mit Sternen und Orden bedeckt, die vielen silbernen Tressen und die großen blanken Helme mit den goldenen Adlern und den weißen Federbüschen zu den Gestalten und Physiognomien vortrefflich paßten, versteht sich von selbst.
Militärische Präcision war von jeher am Petersburger Hofe unumgängliches Gebot; die peinliche Beobachtung der für einen bestimmten Zweck angesetzten Minute stammt noch aus der Zeitepoche Nicolaus’; diese Eigenschaft ging nun vollständig auf den Sohn über, der ja durch väterliche Anlagen und Erziehung durch und durch Militär ist. Der Kaiser wartet auf Niemanden, läßt aber auch Niemanden auf sich warten – das wußten recht gut die Führer des Hofkreises. Wie der kleine Zeiger der Bahnhofuhr Zehn markirte, rollte auch der Zug in die Halle. Es war ein stattlicher Train, aus etwa acht bis zehn Salonwagen und ungefähr vier Packwagen bestehend. Voran befanden sich der eigentliche Salonwagen des Kaisers und jener der Kaiserin. Die beiden Waggons sind Musterexemplare des Comforts und fürstlichen Luxus auf Schienen. Wenn man durch das äußere Gebäude, welches ein zierliches Gitter aus vortrefflich gearbeitetem Gußstahl umgiebt, in das Innere des Raumes tritt, so kann man sich in den schönsten Salon eines Lustschlosses versetzt glauben. Schwere seidene Gardinen rauschen um die hohen Thürfenster; den Boden bedeckt ein kostbarer Aubusson-Teppich, auf welchem dem Klima zu Liebe die blendend weißen Felle von Polar-Bären ausgebreitet liegen. Die Tische und Chiffonièren sind aus dem schönsten Ebenholze und in ausgesuchtester Weise gearbeitet, die Fauteuils, Touffs und Canapés aus Repsstoff, jener goldmatten bräunlichen Farbe, welche die Pariser eine Zeit lang, man weiß nicht recht warum, Couleur Bismarck nannten. Die Wände schmücken Bilder und venetianische Spiegel, und aus allen Ecken duften die seltensten Tropenpflanzen, ebenso wie auf dem Tische, der in der Mitte des Waggons steht, ein weißes Bouquet niemals fehlen darf. Dies der Hauptsalon; das Schlafzimmer, mit anstoßender Toilettekammer, und der kleine Speisesalon, wo zur Noth ein Tisch von zehn Couverts gedeckt werden kann, entspricht dieser Ausstattung.
Außerdem haben aber diese fahrenden Prachträume eine historische Bedeutung. Sie gehörten früher dem Herrscher der Franzosen, ehe sie von dem Gebieter Rußlands erstanden wurden. In diesem Salonwagen eilte Napoleon, kurz nach dessen Herstellung, dem italienischen Kriegsschauplatze zu, um Lorbeerernte zu halten; in diesem Wagen durchfuhr er fast alljährlich [374] das Land, welches heute sein Andenken dem Fluche oder der Vergessenheit geweiht und welches ihn damals mit schwelgenden Ovationen aufnahm und die kleinste Reise zu einem Triumphzuge gestaltete. Diese Waggons führten von der Grenze nach Paris und von Paris bis zur Grenze sämmtliche Fürsten Europas, die dem großen und blendenden Jahrmarkt von 1867 mit ihrem Besuch den Glanz einer Apotheose des Napoleonismus verleihen sollten, und zum letzten Mal fuhr der Hofzug den französischen Grenzmarken zu an jenem Julimorgen, wo der Kaiser ziemlich incognito, ohne die Hauptstadt zu berühren, von Saint Cloud aus direct sich zur Armee verfügte. Man kennt das Uebrige.
Der Kaiser war gefangen, und der Hofzug kam unter den Hammer, mit dem Silberzeug, mit der Tischwäsche, mit den schönen Porcellan-Services der Tuilerien, mit den feurigen Weinen des Schloßkellers, die heute auf den Weinkarten der maison dorée und des Café Anglais neben Cliquot und Chateau Lafitte verzeichnet sind. Der Kaiser von Rußland hatte, als er zur Ausstellung nach Paris kam, die zweckmäßige und gleichzeitig prachtvolle Einrichtung des kaiserlichen Hofzugs gewürdigt. Er ließ die Waggons ankaufen, seine Mittel gestatteten es ihm ja, und setzt nun darin den Lauf der Weltgeschichte, die sich in unserem Zeitalter auf Schienen bewegen muß, fort. Denn es war eine historische Fahrt, von welcher er da zurück kam, eine Fahrt, welche, wie Lord Derby in seiner Berliner Depesche erwähnte, Folgen nach sich ziehen könnte, die Niemand im Stande ist voraus zu sehen. Vielleicht mochte der Herrscher aller Reußen während der langen Fahrt nachgedacht haben über Heil und Unheil, welches die Kriegsmächte, wenn sie einmal entfesselt werden, zu bringen im Stande sind, denn als er die drei mit Teppichen belegten Stufen des Waggons herab ging, da lagerte eine Wolke auf dem ausdrucksvollen und echt mannhaften Gesicht des Czaren. Ein russischer College, mit dem ich mich auf dem Bahnhofe befand, hatte mich gewarnt, ich möchte, im Falle man eine dicht neben uns stehende Deputation in den Empfangssalon hineinführen sollte, mich derselben ja nicht anschließen, weil ich sonst der Gefahr ausgesetzt gewesen wäre, dem Kaiser mit der Deputation zusammen vorgestellt zu werden. Ich horchte auf diesen Wink - aber in dem Sinne des Reporters, der darauf verzichtet Weltmann zu sein und vor Indiscretion nicht zurückschreckt, wenn seine Dreistigkeit belohnt zu werden Aussicht hat. Und dem Menschen, auf dessen Geheiß Millionen und abermals Millionen bereit sind sich in den Kampf zu stürzen, in diesem Augenblicke recht nahe zu sein, das lohnte sich. Ich entging übrigens auch der Gefahr einer unberufenen Vorstellung und kann behaupten, daß Seine Majestät keine Gelegenheit hatte sich um meine Person zu kümmern, worüber man nicht klagen darf, wenn das alte russische Sprüchwort nicht trügt: „Je näher dem Czaren, desto näher dem Tode.“
Die eingehende Beschreibung der Physiognomie des Kaisers Alexander darf mir wohl erspart bleiben; er ist ja als alljährlich wiederkehrender Badegast in Deutschland hinlänglich bekannt, und dann sorgen ja die illustrirten Blätter und die Auslagekästen der „Kunsthändler“ gerade jetzt für die Popularisirung dieser mit den Ereignissen so mächtig und eng verknüpften Physiognomie. Man weiß, daß seit drei Generationen das Haus Romanow die Eigenthümlichkeit besitzt, für den Thron lauter schöne Männer zu stellen. Der erste Alexander, derjenige, welchen der napoleonische Senat nach erhaltener Zusage, daß ihm seine Renten nach wie vor gesichert blieben, als den „modernen Trajan“ begrüßte, fiel durch den schwärmerisch-mystischen Anflug, der auf seinem regelmäßigen, sympathischen Gesichte lagerte, auf. Sein Bruder Nicolaus, den ein deutscher Hofschriftsteller, der den Weihrauch zu schwingen versteht, in einem Werke über die Kaiserin Alexandra Feodorowna (Prinzessin Charlotte von Preußen) „den schönsten Mann der Welt“ nennt, war in der That der vollkommenste Typus classischer altgriechischer Plastik.
Kaiser Alexander der Zweite vereinigt den mystisch-schwärmerischen Zug seines Oheims mit der künstlerischen Vollkommenheit der Formen seines Vaters: man hat den Denker vor sich, aber man fühlt gleich, daß er den Degen an der Seite führt, und die prägnante militärische Physiognomie wird durch einen sanften, leisen Hauch von Schwärmerei in gefälliger Weise gedämpft. Der Kaiser, der eben seinen neunundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hat, sieht kaum so alt aus – kaum laufen einige weiße Fäden zwischen den einst dicht-dunklen Backenbart; die hohe schlanke Erscheinung ist ungebeugt, die Haltung sowie der Tritt voll starken Selbstbewußtseins. Wie erwähnt, lag auf dem Antlitz des Herrschers, als er in dunkler Uniform, das Ordensband um den Hals, den Helm auf dem Kopfe, dem Wartesalon zuschritt, eine Wolke, als er aber der glänzenden Generalität ansichtig wurde – all dieser Recken in scharlachrothe, grüne, blaue Uniformen gehüllt, mit Gold und Silber bedeckt, die mächtige Wehr an der Seite, welche in lautes Hurrah ausbrachen und die Helme mit Begeisterung über ihre Häupter schwangen – da verschwand die Wolke von der kaiserlichen Stirn; das Gesicht hellte sich auf. Bei dem Anblick solcher Stützen seiner Macht mochte der Czar alle Sorgen und Befürchtungen verscheuchen – hatte er doch alle Mittel, um seine Größe und die Größe des Reiches zu vertheidigen, die Mittel, selbst der Tücke des Schicksals Paroli zu biegen. Der Kaiser erwiderte den Gruß der Officiere und richtete nun an einzelne derselben einige Worte.
Ich hatte schon öfters Gelegenheit, solche „Empfange“ auf Bahnhöfen mitzumachen. Ich sah in Venedig Victor Emanuel, diese Bärenfigur mit den hervorleuchtenden Augen, mit der Gräfin Wimpffen vertraulich plaudern, während er auf den Zug, der den Kaiser Franz Joseph mitbrachte, wartete; ich sah diesen mit ungezwungener, einfacher Eleganz sich in natürlichster Weise mit dem Einen oder Andern unterhalten; ich wohnte auch der Begrüßung des Marschalls Mac Mahon auf seiner Lyoner Reise ganz in der Nähe bei. Nun, das Ceremoniell mag hier wie da so ziemlich dasselbe sein und sich blos durch die Farbe der Uniformen unterscheiden – es ist doch nicht dasselbe, ob ein constitutioneller Souverain, auch wohl das Staatsoberhaupt einer Republik, sich mit seinen Untergebenen unterhält, oder ob ein Autokrat von noch so milden Umgangsformen und liberalem Sinn einige Worte an hohe Officiere und Beamte richtet. Da kleidet sich der Verkehr in die steifsten Formen der theatralischen Etiquette aus jeder Mundbewegung des Monarchen spricht die Machtfülle, aus der Haltung der Angeredeten die absolute Unterwürfigkeit. Wie hoch er auch gestellt sein mag, es steckt in jedem Russen sehr viel von jenem Gefühl des Muschik, der den Czaren als ein höheres, gewissermaßen überirdisches Wesen betrachtet, welches nie fehlen, nie irren kann, und dieses Gefühl tritt im Mienenspiel desjenigen, der vor dem Czaren steht, zum Vorschein.
Die Vorstellungen dauerten nicht lange – nach etwa fünf Minuten trat ein Adjutant auf den Perron des Bahnhofes, über den zum Schutze gegen etwaige Unbill des Wetters ein breites Zelt von bunter Leinewand ausgespannt war, und winkte mit der Hand dem Kutscher eines der zahllosen Wagen, welche in dem Vorhofe des Bahnhofes harrten. Es war eine einfache viersitzige Equipage, auf deren Bock durchaus nicht etwa reichbetreßte Lakaien saßen, sondern ein Pferdelenker in dem höchst einfachen russischen Costüm, die lange dunkelgrüne, bis an die Fersen reichende, mit einem hellfarbigen Gurt zugeschnürte Kutte um den Leib und auf dem Kopfe den zierlosen niedrigen Filzhut mit schmaler Krempe. Dieser Anzug – eine Livrée kann man das nicht nennen – ist der nämliche für den gewöhnlichen Lohnkutscher, den sogenannten Istvoschik (fünfzehn Kopeken für die Fahrt), wie für den Leibkutscher des Kaisers. Der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Fuhrmann und dem Stallbediensteten aus vornehmen Hause liegt in dem Körperumfang und dem blühenden, wohlgepflegten Aussehen des letzteren.
Das kaiserliche Haus geht hier mit gutem Beispiele voran, und die Last des imponirenden Körperbaues des Leibkutschers des Czaren erdrückt fast den Bocksitz. Um den Wagen des Kaisers, den zwei feurige Orloffs-Traber zogen (edle Thiere, die per Stück ihre fünftausend Rubel werth sein mögen), drängte sich nun ein Knäuel von Officieren, die das Gefährt sechs- oder siebenfach umringten und und lautem Hurrahgeschrei vor, hinter, um den Wagen liefen, als dieser sich in Bewegung setzte und auf dem Pflaster des Newski Prospects zu rollen begann.
Hier war der Anblick noch lebhafter als zuvor. Es hatten mehrere Häuser Flaggen herausgesteckt; an Balcone waren Teppiche befestigt, ja, selbst von den „Imperiales“ der Tramway-Stellwagen wehten kleine tricolore Standarten. Und der ganzen Länge des breiten Newski entlang war Mann dicht neben Mann aufgestellt, die Gardegrenadiere, jedes Regiment mit [375] der hellaufgeputzten Musikbande, sehr schön uniformirt, aber im Spiele sehr mittelmäßig, daneben die Garde-Reiter, deren Montur lebhaft an die weißen Kürassiere in Deutschland erinnert, Husaren in allen möglichen Farben des Regenbogens, die man dem Schnitte ihrer Kleidung gemäß für ungarische Honveds halten könnte, und neben diesen wieder die sagenhaften Söhne des Don und des Dnieper, die Kosaken. Wie tönt dieses Wort durch alle Gaue und Gefilde! Der Kosak ist in den volksthümlichen Begriffen jener wilde Centaur mit den beutegierigen, räuberischen Augen, dessen Name gleichbedeutend ist mit Plünderung. Es thut mir leid, eine Illusion zerstören zu müssen, aber die Reiter in der hellblauen oder rothen Uniform, die neben ihren Cameraden auf der Perspective Aufstellung genommen, sahen in der That nicht mord- und raublustiger aus als deutsche Husaren oder französische Chaffeurs d’Afrique. Im Gegentheil, vielen sprach aus dem Gesicht der ein wenig übermüthige, aber gutmüthige Zug, der dem slavischen Typus eigen ist. Als der Kaiser und hinter ihm das großfürstliche und militärische Gefolge an den Schaaren der Krieger, die, nebenbei bemerkt, ohne Gewehre ausgerückt waren, vorüberfuhr, da erdröhnte die Luft von den mit kräftiger Stimme ausgestoßenen Hurrahs, und das Getöse pflanzte sich fort, von Stelle zu Stelle, bis der Zug unter der doppelten Triumphpforte, die zum Winterpalast führt, eingebogen war.
Aber vorher wurde eine ergreifende Pause vor der Kasanskirche gemacht. Dieses Gotteshaus, eine Nachahmung der San Pietro Basilica in Rom, ist die ältere Kathedrale Petersburgs, während heute die Isaakskirche die erste Stelle einnimmt. Jedoch bleibt die Kasanskirche mit ihren Trophäen von schwedischen, türkischen, polnischen und französischen, im Rauche der Schlachten geschwärzten Standarten, mit dem unter einem Glasrahmen sorgsam verwahrten Marschallsstabe Davoust’s ein historischer Ort. Auf der großartigen steinernen Treppe, welche mit Teppichen bedeckt und mit Blumen bestreut war, hielt der Metropolit mit dem schimmernden Gepränge seiner Popen.
Die byzantinische Kirche übertrifft an Reichthum und Ueberladung der Ornate um ein Bedeutendes die katholische, ebenso wie der Ritus ein viel ceremoniöserer und umständlicherer ist. So strotzt das weiße Obergewand des Metropoliten von Diamanten, die vermöge ihrer Seltenheit, der Reinheit ihres Wassers und ihrer Größe ein ungeheueres Capital repräsentiren. Auch die Popen sind mit Edelsteinen wie übersäet. Sämmtliche Geistliche tragen sehr langes, in der Mitte abgetheiltes Haar, sodaß man sie, von rückwärts betrachtet, recht wohl für Damen, die im Begriffe sind, sich zu frisiren, halten könnte. Warum aber dieser Aufzug auf der Treppe des Tempels? Geduld! Der kaiserliche Zug hält in dem Moment stille, als er auf dem weiten runden Platz vor der Kirche erscheint. Als rechtgläubiger Christ kann der Czar seine Hauptstadt nicht wieder betreten, ohne sofort sein Angesicht vor Gott in den Staub zu beugen. Der Czar schreitet die Treppe hinauf; der Metropolit streckt beide Arme zum Segen aus und begiebt sich in die Kirche. Die Popen folgen ihm nach. Eine gewaltige Menge füllt den ungeheuern Raum, und man kann bei der Gelegenheit die überschwengliche Frömmigkeit beobachten, die dem russischen Bauern wie dem russischen Bürger eigen ist. Zehnmal wirft sich mit automatischer Regelmäßigkeit der Muschik zu Boden und bekreuzigt sich wohl drei oder vier mal dazwischen. Dann schleppt er sich auf den Knieen bis zu einem heiligen Bilde und sucht, immer knieend, mit dem Munde einen Kuß bis wenigstens an den Rahmen hinauf zu reichen. Während des Gebets wirft er sich plötzlich auf die Kniee und küßt den Boden, aber mit einer clownartigen Gewandtheit. Er erinnert durch diese brüske Gymnastik viel mehr an das Wesen der orthodoxen Juden, als an die kalte, steife, gewissermaßen salonfähige Liturgie der katholischen Kirche, die doch ebenfalls Kniebeugungen und Bekreuzigungen vorschreibt. Nur kurze Zeit blieb der Kaiser in der Mitte der knieenden und flehenden Gläubigen – er verrichtete mit ernster Miene ein kurzes Gebet, und bald setzte sich der Zug wieder in Bewegung, der unter dem breiten Portale des Winterdienstes verschwand.
Abends sollte es „große Illumination“ geben, aber nach französischen, deutschen oder italienischen Begriffen fiel die Beleuchtung recht dürftig aus. Kaum waren einige der öffentlichen Gebäude mit Gasflammen und venetianischen Lämpchen versehen; die Privathäuser waren stockfinster.
Der zweitnächste Tag brachte die „Mai-Parade“. Es ist dies ein alljährlich wiederkehrendes militärisches Fest, dem aber jetzt die besondere Weihe der kriegerischen Ereignisse verliehen wurde. Die Einzelheiten der Mai-Parade sind zu bekannt, als daß eine Schilderung derselben hier noch von Interesse sein könnte.
Das dritte Fest endlich, welches die Woche abschloß, die Mündigkeitserklärung des Herzogs Sergius von Leuchtenberg, war nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt. Die Stadt feierte dasselbe allerdings durch ein erneuertes Beflaggen der Häuser und Abends durch die Wiederholung der „Illumination“. Aber der Wind und der Regen spielten diesmal arg mit und bliesen die Gasflammen aus. Die Ceremonie fand im großen Saale des Winterpalastes statt und besteht bekanntlich darin, daß der mündig gewordene, das heißt in’s siebenzehnte Jahr getretene Kronprinz den Eid leistet, die Selbstherrschaft beizubehalten, für das Evangelium und das Kreuz einzustehen und die Integrität des Reiches zu wahren. Dieser Eid wird in Gegenwart der Granden des Reiches abgenommen, zu welchen sich auch der gesetzgebende Körper gesellt. Wie schon bekannt sein dürfte, besteht der größte Theil des diplomatischen Corps aus Generälen. Wenigstens sind drei Großmächte, Deutschland, Frankreich und Oesterreich, durch Kriegsoberste vertreten. Die originellste Figur darunter ist wohl jene des französischen Botschafters, General Leflô. Denken Sie sich einen weißen Fuchs mit kahlem Scheitel und einem artig vorspringenden Schnäuzlein. Dazu das leibhaftige perpetuum mobile, unfähig einen einzigen Augenblick an der nämlichen Stelle zu beharren, immer springend und tändelnd, dabei aber voller „Esprit“ und ein gewaltiger Jäger, was dem russischen Kaiser sehr gefällt. Das Diplomatische des Generals Leflô besteht wohl darin, daß er seinen französischen Landsleuten die Ueberzeugung beibrachte, daß er in St. Petersburg unentbehrlich sei, weil er sich durch seine Witze und seine Tüchtigkeit als Waidmann beim Czaren sehr beliebt gemacht hätte.
Bekanntlich hatte der Vorgänger Leflô’s, General Fleury, einst nach Paris gemeldet, er stehe sich mit dem Kaiser so gut, daß er mit demselben in einem Schlitten fahre, in welchem Jeder der beiden Passagiere nur mit einer Hälfte seines Postamentes zu sitzen käme. Die Franzosen glauben Alles, und Leflô bleibt Hahn im Korbe, erscheint bei jeder Revue in seinem Generalsrocke und bei allen Festlichkeiten im schwarzen Fracke, mit weißer Weste und taubengrauen Hosen. Es ist ungefähr das Costüm, welches er vor siebenundzwanzig Jahren als Quästor der Nationalversammlung trug, als die Häscher Napoleon’s sich seiner bemächtigten. Er wurde damals nach Vincennes abgeführt. Und heute – liegt jener, der ihn verhaften ließ, im Grabe und er, der es unter der Achtundvierziger Republik bloß zum Quästor der Kammer gebracht, ist wohlbestallter und reichbesoldeter Gesandter am glanzvollsten Hofe Europas. Es war auch ein Stück Zeitgeschichte, das an meinen Augen vorüberfuhr, als der Gesandte mit dem schlauen Fuchsgesichte aus dem Palais d’Hiver fuhr und den reichbordirten Hut nach allen Seiten lüftete, zugleich verbindlich und mit theatralischer Beweglichkeit grüßend.
Leicht Gepäck. Wenige Wochen noch, und es beginnt die Zeit der Ferien, der Sommerfrischen und Badereisen. Der Arzt verordnet Erholung, frische Bergluft und vernunftgemäße Diät, Ausruhen des Gehirns von winterlichen Geistesarbeiten, den wirklich Kranken auch wohl böhmische oder süddeutsche Heilquellen, und der abgespannte unterleibskranke Patient zieht endlich hinaus, wo die salzigen Quellen und Sprudel springen oder die himmelanstrebenden Föhren und Tannen auf harzduftenden Höhen ihm verlockende Sirenenlieder von der „Freiheit auf den Bergen“ singen. In berauschender Lust wirft er alle Geschäfts- und Amtssorgen hinter sich und saugt in der stärkenden Luft neues, frisches Leben auf – er, der so lange nur Maschine war und selten nur Mensch sein durfte. Dann kommen jene Stunden und Tage über uns, an deren Erinnerung wir wieder einen ganzen Winter zehren und die uns für den Augenblick so unendlich glücklich machen, weil sich die [376] Freude am Leben so voll und rein auf uns herniedersenkt, wie ein heiterer sonniger Traum – so lange eben die Sonne lacht. Ja, so lange die Sonne lacht und die waldigen Höhen zu fröhlichen Bergfahrten einladen oder auf den Badepromenaden sich ein buntes Kaleidoskop frisch pulsirenden Lebens entwickelt, das uns auf Schritt und Tritt in wallenden Locken, freundlichen Grüßen und vielsagenden Blicken aus allen Gängen der Anlagen entgegenblitzt.
Aber wenn eines Morgens die Sonne nicht mehr lacht, wenn am Nachmittage der Himmel erst sanft und leise einige Tropfen herniedersendet aus seiner Höhe, um dann in Strömen herabzugießen, was er an Wasserüberfluß besitzt – zwei – drei und vier Tage lang, daß man keinen Hund hinausjagt in die sonst prächtigen Berge, und wenn man Tag für Tag auf das enge Stübchen beschränkt ist mit dem wackligen Schreibtische und der stets eingetrockneten Tinte, und die Briefe der Angehörigen von Hause oder die Zeitungen zum zweiten und dritten Male durchlesen sind und schließlich die Langeweile aus allen Ecken und Enden der vier Wände grinsend auf uns herniederschaut – was dann – was dann?
Für diese langathmigen und deprimirenden Stunden giebt es nur ein Mittel das Gespenst des Ennuyirtseins zu vertreiben – eine gute, anregende Lectüre. Eine Reihe passender Schriften dazu vorzuschlagen, ist der Zweck dieser Zeilen. Aber der Arzt hat ausdrücklich – auch bei geistiger Speise – nur leichte Kost für die Zeit der Cur verordnet, und so wollen wir dieser Ordre gemäß auch nur leichte, aber frische und wohlschmeckende Speisen auftischen.
Das novellenlesende Publicum machen wir zuvörderst auf die bekannte Brigl’sche Reisebibliothek aufmerksam, welche in reicher Auswahl und zu dem billigen Preise von ein Mark per Band kürzere abgeschlossene Erzählungen bringt, deren Verfasser zu den gerngelesenen Novellisten der Neuzeit gehören. Mützelburg, Friedrich Friedrich, Schlägel, Streckfuß und viele Andere lieferten Beiträge. Auch die kleine, jüngst entstandene humoristische Bibliothek: Tutti-Frutti von Siegmey liefert mancherlei Frisches und Pikantes.
Den Reisenden, welche ihre Sommerfrische in den österreichischen Bädern und Alpen abhalten und zum Schlusse die schöne Kaiserstadt an der Donau besuchen, möchten wir die „Wiener Spaziergänge“ von Spitzer dringend empfehlen. Spitzer ist – neben Stettenheim und den Gelehrten des Kladderadatsches – augenblicklich unbestritten der feinste Satiriker und Humorist und sein Witz von einer wahrhaft ätzenden und vernichtenden Schärfe. Wer davon getroffen wird, kann seine Knöchelchen im Schnupftuche nach Hause tragen. Keiner hat die Thorheiten der Zeit und namentlich die Wiener Zustände mit so viel Talent und geistiger Ueberlegenheit gegeißelt, wie dieser Autor, dessen scharfer Blick für alles Lächerliche, dessen Rücksichtslosigkeit, wo er Schlechtes findet, dessen trockener Humor und urkomische Vergleiche einen Reiz auf die Lachmuskeln ausüben, dem man unmöglich widerstehen kann. Ein herzliches Lachen aber soll ja schon halbe Gesundheit bedeuten, „also, meine Herrschaften – ein wenig Spitzer“.
Eine Specialität – wie Karlsbad selbst – ist der in der Nähe des dortigen Sprudels lebende Arzt Dr. Fleckles jun., den Lesern der „Gartenlaube“ und der Leserwelt überhaupt als pseudonymer Julius Walter hinlänglich bekannt. Auch er gebietet bei einem sprudelnden Humor über eine geistreiche Schalkhaftigkeit, die äußerst ergötzliche Pikanterien zu Tage fördert, und seine „Sprudelsteine“, die wir den zwanzig- bis dreißigtausend Badegästen, die jährlich die Tepelstadt besuchen, zur Animirung einer fröhlichen Badestimmung warm empfehlen möchten, enthalten wahrhaft blendende Skizzen und Schilderungen. Man lese nur die „Polnischen Juden im Bade“, „Die sterbende Saison“, „Karlsbad im Schnee“ etc.
Sein Witz und Humor aber werden noch überboten durch die feine Beobachtungsgabe, mit der er das Karlsbader Leben und die dortigen Gesellschaftsgruppen schildert, oder wie ein guter Maler mit flüchtigen Strichen wunderbar ähnliche Portraits der dort flanirenden Persönlichkeiten auf das Papier wirft. Hier tritt nicht nur der Humorist und Satiriker zu Tage – mit sittlichem Ernst und einer oft warmen, liebevollen Gestaltungsgabe werden uns Figuren vorgeführt, die in Körper und Geist mit photographischer Treue und scharf und plastisch wie in Erz gegossene Kunstwerke uns entgegentreten. Sein „Erinnerungsblatt an Dawison“, seine „Karlsbader Photographien“ und die in den neuen Sprudelsteinen abgedruckten „Todte und Lebende in Karlsbad“ sind nach dieser Richtung kleine Meisterstücke. – Für die hoffentlich wenigen Regentage der nächsten Zeit wird das vorläufig genug sein.
Der Krieg. III. (Mit Landkarte S. 373.) Es wird nun an der Zeit sein, einen Blick auf die Schauplätze zu werfen, auf denen die kommenden Ereignisse zunächst ihren Verlauf nehmen werden. An der Donau, und zwar an ihrem untersten Theile, wo, etwa zwanzig deutsche Meilen von der Pontus-Küste, die weitläufigen Delta-Landschaften mit ihren Sumpfflächen, Binsenwäldern und Dünenhügeln sich ausdehnen, trafen, wie in Nr. I. und II. berichtet ist, bereits am Tage nach der Kriegserklärung die ersten russischen Truppen ein. Galatz und Braila waren die Objecte dieser Vorrückung. Hier bildet die Donau, nach ihrer Schwenkung von Czernawoda ab, ihre nördlichste Ausbuchtung, indem sie kurz zuvor den Sereth und etwas weiter stromab den Pruth aufnimmt. Alles Land ringsum ist mehr oder weniger sumpfige Niederung, zumal zur Zeit der Hochwässer, wo der gewaltige Strom sich über die niedrige Lehmstufe des walachischen Ufers erhebt und das Tiefland stundenweit überschwemmt. In solchem Falle sind die rumänischen Uferstädte, wie Kalarasch, Oltenitza, Giurgewo u. A. m., übel daran, und daß diese Gefahr eine alljährliche sei, beweisen schon die eigenthümlichen Pfahlbauten – Wächterhütten auf hohen Pfeilern –, die sich aus dem Weidengebüsch erheben.
Weit günstiger gelegen ist die bulgarische Uferseite. Nur die Dobrudscha trägt ein kahles, ödes Gepräge – eine Landschaft ohne Bäume, nur meilenweite Grasung und darauf die Kegelhütten tatarischer Colonisten. Silistria selbst liegt auf flachem Gestade, dahinter aber trifft der Blick allenthalben bebuschte oder sonst im üppigsten Grün prangende Hügel, gekrönt von den verschiedenen Außenforts, von denen namentlich die Arab-Tabia einen guten Klang in der Kriegsgeschichte hat. Stromauf wird die Uferstufe immer höher. Im Allgemeinen ist sie kahl; die geradlinige Silhouette wird nur von Windmühlen in ganzen Reihen oder von türkischen Wachthäusern unterbrochen, die Städte und Ortschaften selbst aber tauchen stets aus dem bezauberndsten Gartengrün auf. Dies gilt namentlich von Rustschuk, mit seinen schimmernden Häuserterrassen, welche zwischen schattenden Laubkronen die Lehmböschung hinanklettern bis zur Höhe des „Sary Bair“, dem stark befestigten Castellberge.
Nicht minder pittoresk liegt Swistow mit seinem verfallenen Castellthurme, Nikopoli mit seinem dominirenden Uferkegel, dessen Rückenschanze weithin in’s walachische Tiefland auslugt. Widdin bietet bei weitem weniger Reize, ja die Stadt selbst, die im Uebrigen winkelig und in hohem Grade verwahrlost ist, wird durch den Donauwall und seine Bastionen nahezu ganz maskirt. Während nun das walachische Tiefland bis zum Gebirgswall der Karpathen nur mäßig aber constant ansteigt, baut sich die bulgarische Uferstufe rasch zu einer hohen Löß-Terrasse auf, tief durchfurcht von den niederströmenden Bergwässern des dahinter liegenden Balkan. Nahezu auf halbem Wege zwischen Strom und Kettenzug erstreckt sich eine dichtbevölkerte Vorzone mit den Städten Lowatz, Selwi, Tirnowa, Schumla und Bazardschik. Sie sind gewerbfleißige Orte, meist von Bulgaren bewohnt, und besitzen eine mehr oder minder interessante Geschichte. Tirnowa, die alte bulgarische Czarenstadt, war das einstige Bollwerk des Landes, Schumla ist das moderne. Auf dem Wege von Tirnowa durch den Felsenpaß von Jeniköj über die große bulgarische Meßstadt Eski-Dschumaija, trifft man auf den genannten Waffenplatz, dort, wo sich der große Balkanzug in zwei Aeste spaltet (in den Kudschuk- und Emineh-Balkan), eigentlich etwas östlicher und nördlicher hiervon, in einer weitläufigen Thalmulde.
Schumla ist keine Festung nach den gangbaren militärischen Begriffen, sondern ein Waffenplatz. Ein ganzer Kranz von Erdwerken und casemattirten Redouten umgiebt die offene Stadt, die namentlich von den umliegenden Höhen vortheilhaft vertheidigt zu werden vermag. Von hier führt auch der noch relativ gangbarste Paß über den Gebirgswall des Balkan, während sich die meisten der übrigen Communicationen in wilden Felslabyrinthen oder pfadlosem Waldesdickicht verlieren, bis zum jenseitigen Steilhange, von dessen Kante man nahezu allerorts auf die weiten Thal- und Plateaulandschaften Thraciens hinabblickt. Von Schumla ostwärts, der heutigen Bahnlinie entlang, gelangt man, anfangs durch wilde Thalschlucht, später durch sumpfige Niederung, nach Varna, dem zweitwichtigsten Punkte des sogenannten bulgarischen Festungsviereckes Silistria-Rustschuk-Schumla-Varna.
Was heute in Varna, der Küstenstadt, fortificatorischen Werth hat, ist das Werk Blum Paschas, eines Preußen, der gleich seinen hochgestellten Cameraden Grunewald Pascha, Strecker, Malinowski etc. sich für die Entwickelung des türkischen Artillerie- und Geniewesens sehr verdient gemacht hat. Varna liegt überdies von Constantinopel nur vierzehn Stunden Seefahrtzeit entfernt, und da die Türkei durch ihr Flottenmaterial das Schwarze Meer vollkommen beherrscht, ist dieser Seeweg eine Nachschubslinie von keineswegs zu unterschätzendem Werthe. Freilich würde eine strategische Bahn, etwa zwischen Schumla und Adrianopel, die heute nur bis Jamboli am Südfuße des Balkan zieht, ungleich werthvoller sein, aber die Pforte hat so lange an den ausgeführten Tracirungsplänen gemäkelt, bis es zu spät wurde und es vorderhand bei den unwirthlichen Karawanenwegen bleiben mußte.
„Von dieser Stelle sagt die Mär’,
Daß hier der See so tief,
Ja, daß er unergründlich wär’,
Weil dort der Seegott schlief’.
Auffährt er dann und grollt und schreckt.
So sagt die Mär’. Geliebte, sprich
Macht Dir die Tiefe bang?“
„Wohl ist der Abgrund fürchterlich,
Wie leicht man solche Tiefe mißt
Und Eins nur unergründlich ist.“
Da schauen sie einander an
Und wissen’s ganz genau:
So heilig wie die Frau.
Das tiefste Meer ist nirgendwärts
So unergründlich wie das Herz.
Kriegsbilder. Wir können unsern Lesern zum Schluß noch die angenehme Mittheilung machen, daß Original-Aufnahmen vom Kriegsschauplatze nunmehr von unsern Zeichnern eingetroffen sind, und werden wir die Veröffentlichung der interessanten Illustrationen in nächster Nummer beginnen.
- ↑ Da die Adresse des Herrn Verfassers uns augenblicklich nicht bekannt ist, so bitten wir ihn an an dieser Stelle, uns Petersburger Erlebnisse und Ereignisse etc. von jetzt ab nicht mehr zu schildern, uns vielmehr nur vom Kriegsschauplatze selbst aus seine Berichte zugehen zu lassen.D. Red.