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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]

No. 20.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Eine schwarze Kugel.
Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung und Schluß.)


4.

Es war fast zwei Jahre später; im Hochsommer, als auf dem schönen Besitz der Familie Barner eine heitere Festlichkeit ausklang. Die Mutter hatte Nachbarn und Freunde zur Feier des siebenundzwanzigsten Geburtstages ihres Hermann geladen und zugleich das Erntefest begangen. Kurz zuvor war der reiche Getreidesegen welcher sich vom Strome hügelaufwärts zog, glücklich eingebracht worden, und dem Brauche gemäß, den der nun in Gott ruhende Stammherr ein Menschenalter hindurch geübt, ward das Schnitter- und Gutsvolk geladen, am Sonntag, welcher der Arbeitswoche folgte, auf dem grünen Uferplan einen Mittagsschmaus und ein Tänzchen zu genießen.

In diesem gedeihlichen Jahre fiel der Erntesegen so früh, daß die Wiegenfeier des jungen Gutsbesitzers mit dem ländlichen Feste vereinigt werden konnte. Nun war der laute Tag zur Rüste gegangen. Das Zelt aus Laubgewinden, auf dessen improvisirtem Bretterboden Dorf- und Stadtkinder in gleicher Fröhlichkeit getanzt und gesprungen, stand verlassen; die Gäste hatten sich zerstreut. Nur eine dem Hause Barner näher befreundete Familie war auf besondere Einladung der Hausfrau zurückgeblieben, nachdem sich der größere Kreis aufgelöst.

Die Gruppe saß auf der Terrasse, welche Haus und Garten verband und Ausblick nach dem das Grundstück begrenzenden Strome bot, und genoß mehr oder weniger, je nach Stimmung und Individualität, das eigenthümliche Behagen, welches nach geräuschvoller Lust so labend aus der Stille aufgeht. Schon war der Mond emporgestiegen; er stand gerade über dem nahen, dicht am Ufer gelegenen Dorfe, das von Bäumen überhangen wie in Schlummer hingestreckt erschien. Verlassene Nachen lagen am Ufer festgekettet, gegen dessen Böschung die plätschernde Welle leise schlug. Von jenseits des Wassers träumten die mit Gebüsch und Weinlaub umkränzten Berge herüber. Unwillkürlich wurde das Gespräch mit gedämpfter Stimme geführt; kein lauter Ton, kein Auflachen mochte zu den duftdurchströmten Schatten stimmen, die sich rings ergossen, hier und dort von Mondesglanz übersilbert.

Hermanns Nachbarin, ein schönes Mädchen, deren reiches Blondhaar in der schwankenden Beleuchtung der Windlichter wie Gold schimmerte, schien vom Zauber des Ortes und der Stunde ganz umsponnen zu sein; sie erwiderte dem jungen Wirthe nur kurze, vereinzelte Worte. In ihrem blauen Auge glühete jener Funke, der jugendliche Züge so wundersam durchgeistigt.

Als vom Dorfe das Aveläuten herüberklang, stand sie auf und trat bis zum Rande der Terrasse vor. Hermann sah ihr lächelnd nach und folgte ihr, von einem leuchtenden Blicke Frau Barner's begleitet. War es der Stolz der Mutter, der aus diesem Blicke sprach? Die Erscheinung des jungen Mannes, Haltung und Ausdruck hatten wesentlich gewonnen, seit wir ihm zuletzt begegneten. Zur jugendlichen Elasticität und Anmuth hatte sich Kraft gesellt, der schöne Jünglingskopf sich zu dem eines Mannes ausgeprägt. Als er neben dem schlanken Mädchen stand, sie kräftig überragend, erschienen Beide als ein erlesenes, wie für einander geschaffenes Paar. Dieser Gedanke mochte wohl auch in Denen aufsteigen, welche am Tische zurückgeblieben; die Mütter der beiden jungen Leute tauschten einen vielsagenden Blick.

Das Aveläuten, welches im Sommer von Monat zu Monat eine Stunde später erklingt, bis es mit den abnehmenden Tagen wieder aufwärts rückt, hatte an das Verrinnen der Zeit gemahnt, denn die Gäste mußten, um nach Hause zu gelangen, noch ein paar Stunden Nachtfahrt zurücklegen. So ließ man denn einspannen, und bald gaben Barners den Freunden das Geleit; als diese bereits im Wagen saßen, eilte Hermann, einem raschen Impulse folgend, in das Haus und brachte von dort einen der frischen Rosensträuße, welche die Tafel geschmückt hatten. Als die schöne Blondine ihn aus seiner Hand empfing, erröthete sie tiefer als das Herz der Rose, und einer jener Blicke, die aus dem Grunde der Seele empor zu tauchen scheinen, traf den jungen Mann.

Er schritt nachdenklich an der Seite seiner Mutter den kurzen Weg nach der Terrasse zurück, während das Rollen der Räder im Thale verklang. Als sich die Beiden an der vorigen Stelle niederließen, verlöschte ein plötzlicher Lufthauch das Windlicht; sie fachten es nicht wieder an, jedes von ihnen hing eigenen Gedanken nach, bis Frau Barner endlich halblaut sagte: „Hermann?“

Er rückte ihr näher, und strich leise über ihre Hand hin. „Dank für den schönen, stimmungsvollen Tag!“ sagte er herzlich; „nur Du verstehst es, ein Fest zu schaffen, das dem Gemüthe wohlthut.“

„Ein schöner Tag, ja!“ erwiderte sie zögernd; „und doch hat er nicht erfüllt, was ich im Stillen erhoffte: er möchte ein glücklicher Tag werden.“ Indem sie seine Hand erfaßte, fuhr sie wärmer fort: „Es giebt Dinge, so zart, daß man vielleicht nicht daran rühren sollte, aber – das Leben ist so kurz, das Glück so leicht versäumt – warum es nicht festhalten, wenn es dicht neben uns steht, uns so lieb und verheißungsvoll anblickt? Hermann willst Du mir nicht bald eine Tochter geben?“

[326] Er schwieg einen Moment. „Gern möchte ich es, zuweilen auch glaube ich – und doch –“

Der Mond war auf seinem stillen Gange höher gestiegen und wob sein silbernes Gespinnst um Büsche und Bäume. Hermann's Blick hing träumerisch an dem weißen Licht; sein Auge wurde dunkel; er athmete tief. Plötzlich erhob er sich und endete seinen Satz: „Doch fürchte ich, daß ich es nicht kann.“

Die Mutter seufzte: „So ist das Herz Dir immer noch nicht frei? Du weißt, Liebster, wie ich Dich geschont habe, fühlte ich doch, wie Dir die leiseste Berührung neue Schmerzen schuf. Endlich glaubte ich das überwunden, glaubte neues, erreichbares Glück für Dich aufgesproßt und sehe – daß ich mich getäuscht. Drängt sich Vergangenes wirklich noch heute zwischen Gegenwart und Zukunft, dann dünkt es mich an der Zeit diese Geister zu bannen. Ich habe Dich nie mit ausdrücklichem Worte befragt, so schwer ich auch daran trug, Dein tiefstes Fühlen und Kümmern nicht theilen zu dürfen – heute frage ich Dich: Was ist vorgegangen zwischen Dir und dem Mädchen, das Dir nun seit Jahren und Jahren im Sinne liegt? Was war zwischen Euch, daß Du sie weder vergessen noch gewinnen kannst? Erinnerungen mögen das Ende des Lebens füllen, seinen Anfang dürfen sie nicht beherrschen. Du mußt Dich entschließen. Ist es unmöglich zu besitzen, was Dein Herz begehrt, dann wahre Dir eine allzuliebe Gestalt an jenem Ort, wo überwundene Schmerzen, wo unsere Todten ruhen – solche Begräbnißstätte birgt wohl jeder Lebende in sich. Es ist schön sie heilig zu halten, unrecht jedoch das eigene frische Leben mit zu begraben. Ist aber Deiner Sehnsucht Ziel erreichbar, dann wirb um Dein Glück! Haus und Herz stehen ihm offen, wenn es auch andere Züge trägt als die, welche mir und auch Dir eben noch so lieblich erschienen.“

Hermann sah stumm vor sich nieder. „Dränge mich nicht!“ sagte er beklommen. „Vielleicht kommt die Zeit, wo ich Deine Wünsche zu erfüllen vermag – vielleicht ist dort wirklich das Glück. Jetzt – ja, warum sollte ich es Dir verschweigen, jetzt drängt sich noch immer das unvergeßliche Bild zwischen mich und alles Neue, so gut und lieb es sein mag. Hoffnung aber habe ich dort nicht, wie hier – übrigens ist Paula Hollbach auch nicht in der Lage über sich zu verfügen. Ihre Mutter –“

„In diesem Sinne ist sie frei geworden,“ unterbrach ihn Frau Barner lebhaft. „Durch einen Brief Anna Kettler's erfuhr ich, daß Frau Hollbach kürzlich gestorben.“

Hermann fuhr jählings auf. „Du hast Nachricht von Kettlers – endlich – und sagtest mir nichts davon?“

„Der Brief kam heute, als eben die ersten Gäste anfuhren; ich habe ihn nur erst flüchtig überblickt und denke ihn jetzt in Ruhe zu lesen.“

„Der Inhalt des Schreibens ist mir von großem Werthe,“ sagte Hermann sehr bewegt. „Wir hörten lange, lange Nichts von – Allen.“

Er fachte hastig das Licht an; Frau Barner, durch seinen Ton überrascht, fixirte ihn einen Augenblick, nahm dann den Brief aus der Tasche ihres Kleides, entfaltete zwei, drei Bogen und begann zu lesen, während ihr Sohn in lebhafter Erregung auf und nieder schritt. Seine Gedanken irrten zurück in vergangene, stürmische Tage. Es erschien ihm wie ein Wunder, daß jetzt, wo er es nicht mehr erwartete, all seinen stummen Fragen Antwort werden sollte. Ihm däuchte, als schlössen diese Blätter, deren Inhalt er noch nicht kannte, seine Zukunft in ihren Rahmen. – Zukunft? Gab es in der That noch etwas wie Zukunft, das sich an dieses Vergangene knüpfen konnte? Sein Herz schlug ungestüm.

„Lies selbst!“ sagte die Mutter, als er sich ihr näherte, nachdem sie die Bogen zusammengefaltet. Er setzte sich, stützte den Kopf in die Hand und beschattete so seine Augen, während er Seite nach Seite überflog:

„Meine theure Freundin! Als ich heute einen einsamen Abend vor mir sah und in alten Papieren kramte, kamen mir Deine letzten, herzenswarmen Zeilen zur Hand und versetzten mich lebhaft in alte Zeiten. Es drängt mich, endlich wieder zu Dir zu sprechen, von Dir zu hören – weiß ich doch, daß keine Pause, so stumm und lang sie sei, uns auch nur um eines Haares Breite von einander entfernen kann. Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit ich Deinen Brief empfing, und er blieb unbeantwortet, so treu ich Deiner auch gedachte. Dir gegenüber habe ich ja nicht nöthig mein Herz zu vertheidigen. Vieles, unendlich Vieles liegt aber zwischen damals und heute.

„Vielleicht erfuhrst Du, welche neue Wendung unser Leben seit Ida's Verheirathung genommen, und durftest um so mehr erwarten, hierüber Nachricht von mir zu erhalten. Lasse mich nachholen, was in vielfach fordernden Tagen unbesprochen geblieben, was ich Dir auch heute nur in flüchtigen Zügen mittheilen kann! Ja, wäre noch die gute Zeit, wo wir als junge Frauen Haus an Haus wohnten, uns täglich sahen und über Alles, was uns an Freud' und Leid geschah, die Herzen gegen einander entlasteten! Könnte ich wie damals auf dem Schemel zu Deinen Füßen sitzen und Dir, der Weiseren, Erfahreneren, alles Fühlen und Denken beichten – das würde mir oft unendlich wohl gethan haben. Damals verstandest Du mir in den Augen zu lesen – so lies heute zwischen den Zeilen!

Dein Brief, bald nach der Heimkehr Deines Hermann geschrieben, traf mich in großer Sorge. Kettler war in jenen Tagen schwer erkrankt. Ein nervöses Fieber kam plötzlich zum Ausbruche, nachdem es schon lange zuvor in ihm gewühlt haben mochte; es steigerte sich zum Typhus. Laß Dir bekennen, daß sein Erkranken, trotz aller Todesangst, mir in gewisser Hinsicht eine Erleichterung brachte, denn es erklärte die namenlose Veränderung, welche während der letzten Monate zuvor mit meinem Manne vorgegangen war. Er, der allezeit jede Lage und Stimmung beherrscht hatte, war mit einem Male rastlos, erregt, ja launenhaft geworden – dann wieder von einer Weichheit gegen mich und Ida, von einer Schwermuth befangen, die mich noch tiefer ängstigte, als alle Reizbarkeit. Sein schönes Gleichgewicht war dahin. Noch heute durchschauert mich ein unheimliches Gefühl, wenn ich an jenen Sommer denke, wo es Tag und Nacht wie Gewitterschwüle über uns hing. Das Namenlose drückt am schwersten – ich machte mir viel bange Gedanken; die Sorge, daß unser Vermögen bedroht sei, erschien unter all den unbestimmten Befürchtungen noch als die geringste. Kettler wollte mir nicht Rede stehen über den Grund seiner unverkennbaren Beängstigung. Mit einem Worte – als die plötzlich ausbrechende Krankheit mich überzeugte, daß seine Verstörung zweifellos körperliche Ursachen gehabt, lüftete sich die Last trotz aller Sorge.

Monate schlichen zwischen Furcht und Hoffnung langsam hin; eine Erschöpfung, eine Apathie, welche den Arzt fast mehr beunruhigte, als das überwundene acute Leiden, hielt Kettler in langem, schwerem Banne. Auf sein Verlangen wurde Ida's bereits aufgeschobene Verbindung in aller Stille vollzogen; der Beruf unseres Schwiegersohnes führte ihn nach Norddeutschland, und er wollte nicht ohne seine junge Frau gehen. So feierte unsere Einzige einen gar stillen Hochzeitstag, um dann in weite Ferne zu ziehen. Es wurde öde im Hause, doppelt öde, denn auch Ida's Freundin, Paula Hollbach, von der Du weißt, ward durch Pflichten im eigenen Hause dem unsrigen mehr und mehr entfremdet. Das waren sonnenlose Tage, liebe Freundin. Oft überkam mich ein Gefühl trostloser Verlassenheit, und nur die Liebe hielt mich aufrecht.

Da begann Kettler eines Tages, als ich es am wenigsten erwartete, von Zukunftsplänen zu sprechen und über die Zwecklosigkeit seines bisherigen Lebens zu klagen. Er schlug mir endlich vor, wir wollten fort, wollten nach meiner Heimath ziehen. Das Wort labte mich, wie sonnige Tageshelle nach bange durchwachten Nächten. Seit Jahren schon war es mein stiller Wunsch gewesen, wieder nordwärts ziehen zu dürfen, und nun erst, seit die Kinder dort lebten! Ich verhehlte meine Freude nicht – sie mochte auf meinen Mann zurückgewirkt haben, denn von dieser Stunde an ging es bei ihm vorwärts mit Kräften und Stimmung.

So lieb mir unser kleiner Besitz geworden, sah ich ihn doch zufrieden in fremde Hände übergehen. Zu schwer hatte dieses letzte Jahr auf uns gelastet, zu vereinsamt waren Haus und Garten, seit Jugend und Freude von dannen gezogen. Nun zogen wir nach. Zuerst freilich südwärts, nach Bozen, wo wir die letzten Monate des Winters verlebten, wie das Kettler's Arzt gewünscht, dann, im Frühjahre, der alten Heimath zu. Wie schön war es, bei den Kindern, die in Stralsund leben, zu Gaste zu sein! Dort ließ mich Kettler zurück, um sich längs der Küste nach einem unsern Mitteln entsprechenden Gütchen umzusehen. Ungern sah ich ihn von uns gehen; noch immer lag eine Schwere [327] über ihm; seine Wangen waren so blaß, seine Kräfte so leicht ermüdet. Doch sorgte ich mich ohne Not – er kehrte nach ein paar Wochen sichtlich erfrischt und angeregt zurück und sagte, im Falle ich das Opfer bringen wolle, für einige Zeit mit einer Art von Blockhaus als Wohnung vorlieb zu nehmen, sei gefunden, was er sehnlichst wünsche: ein Feld fruchtbarer Thätigkeit für ihn selbst, eine dauernde Heimath für uns.

Das Opfer! O Liebste – der Gedanke, mit ihm, für ihn allein zu leben, ihn wieder Antheil am Dasein nehmen zu sehen, war mir ein Himmel. Du hast Kettler in seiner Jugend gekannt und Dich oft seiner edlen Männlichkeit gefreut – was er in der That ist und bedeutet, habe ich selbst erst jetzt voll begriffen, seit die energische Kraft, welche den Grundzug seines Wesens ausmacht, lebendig wirken kann. Die Strecke, welche er ankaufte, bestand aus meilenweiter Waldung. Ehe er mich dorthin abholte, war bereits ein Theil derselben ausgerottet und auf dem frei gewordenen Platze in der That ein Blockhaus errichtet worden, das für alles Nothwendige, auch für manche Bequemlichkeit, freilich für keinerlei Luxus, Raum bot. Dort richteten wir uns trotz aller Einwendungen der Kinder häuslich ein, sobald das Frühjahr einigermaßen vorgeschritten war. Neues Leben ging mir in diesen Tagen auf; fast besann ich mich wieder auf die längst verklungene Jugend – so reich und inhaltsvoll ward Gegenwart und Zukunft.

Kettler leitete mit fester Hand die Arbeiten, über welche er mit Sachverständigen Rath gepflogen, und zu denen er sich die nöthigen Hülfskräfte herangezogen hatte. Jetzt, im zweiten Sommer unseres Hierseins, hat sich die Wildniß bereits in einen freundlichen und ergiebigen Besitz verwandelt. Von Feld und Wiese umgeben, steht ein geräumiges Wohnhaus, in dessen anstoßendem Garten Blumen und Beeren in Fülle gedeihen. Zum schattigen Walde ist der Weg nicht weit, denn noch umgiebt er uns in dichtgeschlossenem Halbrunde, noch bietet sich der thätigen, schöpferischen Hand Material auf Jahre hinaus. Sogar ein Torflager ist darin entdeckt worden, ein Fund, den sich unser Schwiegersohn mit Befriedigung zuschreibt. In zehn Jahren, sagen die Männer, wird das Gut zu den schönsten und werthvollsten der Provinz zählen. Die Kinder besuchen uns häufig; zuweilen betteln wir uns Ida mit ihrem Söhnchen für eine Woche heraus. Gute Nachbarn haben wir auch.

So glücklich bin ich, liebe Freundin, daß ich kaum Athem zu holen wage, um nur nichts zu stören. Mein geliebter Mann hat sich von dem harten Stoße, welchen seine Gesundheit erlitten, völlig erholt; im schönsten Gleichgewicht körperlicher und geistiger Kraft, ist er zum Mittelpunkte alles Lebens und Strebens ringsum geworden. Mit freudigem Stolze darf ich sagen, daß sich ihm von allen Seiten höchste Schätzung und jede Förderung zugewendet. So besteht denn unsere Geschichte jetzt nur in dem stillen Gebete um Dauer.

Möchtest Du, liebe Seele, mir gleich Gutes von Dir und Deinem Sohne zu berichten haben! Seit langer, allzu langer Zeit ist kein Echo von Haus zu Haus gedrungen. Wie geht es Hermann? Denkt er noch nicht daran, Dir eine Tochter zuzuführen? Einst gaben ihm meine Gedanken eine Gefährtin, aber sie irrten wohl. Dennoch wird es ihn interessiren, von Paula Hollbach zu hören, für die er jedenfalls ein wenig schwärmte.

Das liebe Mädchen ist von der Fessel frei geworden, welche ihr junges Leben band. Zu ihrer tiefen Trauer! Als Ida, mit welcher sie natürlich in Correspondenz geblieben – die Mädchen waren ja unzertrennlich – die Nachricht vom Tode Frau Hollbach's erhielt, lud sie Paula dringend zu sich ein. Diese will sich aber zunächst noch nicht entschließen, ihr stilles Trauerhaus zu verlassen, wo ihr eine alte Verwandte Gesellschaft leistet.

Mein Brief ist lang geworden – dennoch bleibt er nur ein Bruchstück; denn wie viel hätte ich Dir noch zu sagen! Lasse bald und in gleich eingehender Weise von Dir hören! Mit tausend Grüßen von Haus zu Haus
Deine Clara Kettler.“

Hermann faltete die Blätter zusammen und hielt sie noch eine Weile schweigend in der Hand. Dann stand er auf, legte den Arm sanft um die Schulter der stille harrenden Mutter und sagte nach einem tiefen Athemzuge: „Morgen werde ich reisen.“




Paula Hollbach war eben von einem Morgengange nach dem Friedhofe zurückgekommen und setzte sich still an ihren Nähtisch, um zu arbeiten. Eine friedliche, weihevolle Stimmung füllte ihr Gemüth, während ihre Gedanken noch bei Der weilten, auf deren kaum begrüntes Grab sie frische Blumen getragen. Wohl ist es wahr. daß keinerlei Vorbereitung auf den Moment eines schweren Verlustes Einfluß hat – geliebte Augen für immer geschlossen zu sehen, das überwältigt das Herz allezeit mit tödtlichem Schreck. Die Seele fügt sich aber sanfterer Trauer, wenn sie schon Jahre um Jahre auf den Verlust gefaßt sein mußte, wenn ein theures Leben sich nur unter Qual und Entbehrung fortgesponnen. Ist es erloschen, dann freilich erscheinen dem Verlassenen Stunden und Tage trostlos öde; die Pfleger langen Leidens kämpfen schwer mit dem schaurigen Gefühl, daß es fortan auf Erden für sie nichts mehr zu thun gäbe. Dennoch zerreißt die Saite weniger schrill, bleibt der innerliche Zusammenhang ungestörter, als wo ein kräftiges Dasein unerwartet abgeschnitten wird.

Paula hatte ihre Mutter so gut verstanden. Die stumme Lehre ihrer Geduld, welche, in völligem Verzicht auf alle Lust des Lebens, nach höheren Freuden suchte, war auch ihrem jungen Dasein schon begreiflich geworden. Nun war sie ganz von Trauer erfüllt, aber nicht trostlos. Der frühe Morgengang hatte sie erquickt; der liebende Verkehr mit dem Geiste, dessen Nähe sie immer, auf dem stillen Friedhofe aber am ungestörtesten zu fühlen meinte, verklärte ihr Gemüth. Wer Gott sein Liebstes hingegeben, fühlt sich dem Himmel nahe und vertraut.

Auch daheim fand sie wundersame, wohlthuende Stille. Die Tante war ausgegangen, kein Laut zu vernehmen. Im Gärtchen, dessen Glasthüren weit geöffnet waren, lockte die Gluth der höher steigenden Sonne strömenden Duft aus jedem Busch und Beet. Um die Blüthen her wiegten sich Schmetterlinge wie bunte Blumenblätter, die sich vom Stengel gelöst, um über ihm zu schweben. Für Paula's bewegtes Gemüth ward auch das zum Symbol.

Da kam das Dienstmädchen herein und überbrachte ihr eine Visitenkarte mit dem Bemerken: Der Herr warte draußen.

Paula's Wange färbte sich in Ueberraschung. „Ich lasse bitten, einzutreten,“ sagte sie etwas bewegt und ging im nächsten Augenblicke dem Gaste entgegen, welchem sie voll Herzlichkeit die Hand entgegenbot.

„Welcher glückliche Zufall führt Sie hierher, Herr Barner?“ sagte sie freundlich, indem sie ihm einen Sessel neben ihr Tischchen rückte. „Solch liebe Ueberraschung hätte ich mir nicht träumen lassen in so trüben Tagen.“

Er antwortete nicht gleich. Sein Auge mußte sich nach langer Entbehrung erst wieder füllen mit der unvergeßlichen Erscheinung. Das schlichte Trauerkleid zeichnete die jungfräuliche Gestalt in ernster, keuscher Anmuth; blaß und frisch wie eine weiße Rose hob sich das zarte Gesicht mit den sinnenden Augen über der schwarzen Spitzenkrause. Die Ruhe, mit der sie ihn begrüßt, ihr zutrauliches Wort selbst zeigte ihm mit der Helle eines Blitzes, wie wenig er zu hoffen hatte; dennoch hielt er an dem Entschlusse fest, endlich sein innerstes Geschick zum Abschluß zu bringen, und so sprach er bewegt:

„Kein Zufall, Fräulein Paula! Der herbe Verlust, welcher Sie betroffen, gab mir Wunsch und Muth, Sie heute aufzusuchen –“

Eine unwillkürliche, abwehrende Bewegung des jungen Mädchens war ausdrucksvoll genug, doch ließ er sich nicht beirren. „Gönnen Sie mir, wenn nichts weiter, doch ein erlösendes Wort!“ sagte er ernst und innig. „Ich habe Jahre hindurch gewartet – einmal will es zu Tage. Sie müssen es wissen, müssen längst erkannt haben, wie tief ich Ihnen ergeben bin. Der Inhalt Ihres Lebens ist Ihnen verloren gegangen; Sie stehen allein – kann treueste Liebe, kann ein Mutterherz, das sich Ihnen zuneigt, ohne Sie noch zu kennen, kann eine freundliche Heimath Sie beglücken, auch nur Ihr Vertrauen wecken, so nehme Sie uns hin, Paula, liebste Paula!“

„Ich danke Ihnen, tausendmal danke ich Ihnen für die guten Worte,“ sagte sie leise und sah ihn mit warmem Blicke an. „Aber – ich werde mich niemals verheirathen.“

Hermann wechselte die Farbe. „Ist das unwiderruflich? [328] Und wenn es ist, zürnen Sie nicht der Frage, wo für mich Alles, Alles auf dem Spiele steht: ist es das Vergangene, was diesen Entschluß dictirt?“

„Ja!“ sagte sie ruhig.

„Also wäre es dennoch wahr – wäre es möglich – Sie liebten ihn?“

Sie senkte den Kopf und bedeckte einen Moment ihre Augen. „Nun denn – Sie haben mir Ihr ganzes Leben schenken wollen,“ sagte sie dann und blickte ihn ernst an, „ich will so große Gabe vergelten. Was ich keiner Seele gebeichtet, nicht einmal meiner lieben Mutter, lange, o wie lange nicht mir selbst – Sie sollen es erfahren, damit Sie verstehen, weshalb ich einsam bleiben will und muß. In jener Zeit, noch ehe Sie kamen, ahnte ich – mußte ich erkennen, was – – Wie mir dabei zu Muthe war, wüßte ich kaum zu sagen. Ich habe den Vater früh verloren; meine Mutter hat ihn sehr geliebt und füllte meine Seele mit seinem Bilde. So wie den Oberst dachte ich mir als Schulmädchen die Gestalt meines Vaters: hoch über allen Menschen, herrlich, unfehlbar. So erfand ich den Mann allezeit – Keiner reichte je an ihn heran. Diesen nun, der sich in allen Lagen des Lebens so sicher, so unerschütterlich gezeigt, vor mir in tiefster Erschütterung zu sehen, das überwältigte mich. Liebe kam mir dabei nicht in den Sinn – ich hatte mir Liebe und Geliebtwerden so ganz anders gedacht – auch waren Ida’s Augen und die der theuren Frau ja immer neben den seinen. Nur bange ward mir, und ich fand keine Ruhe mehr. An den Abend, der uns Allen verhängnißvoll geworden, denke ich noch heute ohne Furcht und Reue – ich mußte ihm gehorchen, wehrlos wie ein Kind, das gehoben und getragen wird, ohne von eigenem Willen zu wissen. Dann aber, als ich Sie erblickte, den Ausdruck in Ihren Augen sah, nachher Worte von ihm hörte, deren Sinn ich nur zu gut verstand – o Barner! noch heute weiß ich nicht und will auch nicht fragen, was zwischen Euch Männern vorgegangen, aber daß Leben und Tod auf dem Spiele stand, wußte ich so sicher wie daß ich ewig unselig werden müßte, wenn all’ Das eine Folge haben sollte. Gedenken Sie noch der Worte, die Sie hier, an dieser Stelle, zu mir sprachen? Ich begriff Sie, begriff, daß ich mit ihm ringen müsse um sein Leben. Er hat sich überwinden lassen – dafür verlobte ich dem Gedächtnisse dieser Stunde mein eigenes Leben.“

Hermann beugte sich gegen sie vor und sagte bebend: „War das der Preis? Sie mußten ihm versprechen, ewig frei zu bleiben?“

„Nein!“ erwiderte sie und hob den Kopf mit edler Bewegung. „Das würde er weder gefordert noch angenommen haben. Nur ich selbst –“ sie stockte, bis in leisem, erschütterndem Tone die sanfte Stimme weiter klang: „Warum soll ich es leugnen, Ihnen leugnen – seit er meinen Augen entrückt ist, weiß ich, was ich zuvor nicht gewußt. Ja, ich liebe ihn. Von ihm, dem Hohen, Herrlichen, geliebt worden zu sein, ist mir der Gipfel alles Lebens, und ich darf mich diesem Höchsten ohne Schuld ergeben – wir sehen uns niemals wieder.“

„Und so wollen Sie einsam durch das Leben gehen, durch das lange, lange Leben?“ rief Hermann schmerzlich. „Nicht beglücken, noch glücklich sein? Paula, Paula! Dürfen Sie, die Reichbegabte, die Gute, es verantworten, alle Schätze, die Gott Ihnen gab, vergraben ruhen zu lassen, Keinem zu Nutz und Frommen? Auch ihm nicht! Wissen Sie denn, daß er alle diese Stürme überwunden hat, daß sein Leben gegenwärtig reich ausgefüllt ist? Und Sie wollen sich freiwilliger Armuth weihen?“

Ein heller Strahl brach aus ihrem Auge. „Ja!“ sagte sie warm, „ich weiß, daß er sich durch das Stück Nacht, welches ihn bannte, zum Lichte durchgerungen – im Lichte will auch ich gehen, damit er in Stolz und Freude meiner gedenken mag, wie ich sein gedenke. Nichts in mir soll brach liegen, und wenn ich mich zuweilen einsam fühle, so wird es sein, wie man im Tempel einsam ist. Ihr Männer wißt wohl schwerlich, daß es für die Frau nur Eines giebt, durch das sie arm, bettelarm werden müßte; das ist: wenn sie die Treue bräche gegen ihr eigenes Herz. Dieses Gut gewahrt, läßt sich Vieles entbehren. Sind mir wirklich Schätze eigen, so will ich sie in tausend Münzen austheilen an Alle, die mir begegnen; nur den einen Schatz kann ich Keinem geben; Treue muß ich wahren, sonst gehe ich mir selbst verloren. Soll ein großes Geschick nicht zu einem kleinen herabsinken, so muß es sich lebenslang ausklingen dürfen. Daneben bleibt für kein Zweites Raum.“

Hermann sah vor sich nieder. „Ich verstehe Sie,“ sagte er erschüttert nach kurzer Pause, „und Sie haben Recht, weil Sie Paula sind. Bei jeder Andern würde ich solche Entsagung nur als momentane Wahrheit betrachten und die Hoffnung für mich selbst nicht aufgeben. Einem Herzen gleich dem Ihren bringt die Zeit aber keinen Wechsel mit. Ja, ich schaue tief in den Grund dieses entschlossenen Herzens, das um seiner selbst willen festhalten muß, was es so stark erfaßte. Und dennoch – dennoch –“ Er trat einen Schritt zurück und sah sie mit langem Blicke an. „Könnte ich mir nur ein deutliches Bild Ihrer Zukunft zeichnen, sähe ich irgend einen Sonnenstrahl, der auch von außen her auf dieses einsame Leben fallen wird! Daß Sie Ihre Tage fortan nicht müßig hinspinnen, weiß ich ja, was aber werden Sie beginnen, womit die Jahre füllen? Lehrerin von Kindern sein, die Sie gerade dann wieder verlassen müßten, wenn eine Frucht Ihrer Mühen und Sorgen zu ernten wäre? Oder im Hause Verwandter, Befreundeter sich, was man so nennt, nützlich machen? Von Neuem heimathlos, sobald es ein ungünstiger Zufall will? Solche Zukunft, Paula, vermag mein Gedanke nicht zu überwinden – bei dieser Vorstellung taucht mir trotz Allem doch die Möglichkeit auf, daß einmal die Stunde kommen könnte, wo Sie bedauern, keine bleibende Stätte für’s Leben zu haben. Einer Heimath bedürfen wir Alle – die Frau mehr als der Mann.“

„Eine Heimath fehlt mir ja nicht,“ erwiderte sie sanft. „Wir waren stets nur kurze Zeit beisammen, lieber Freund; da ergab sich mir kaum jemals Anlaß, von den abwesenden Gliedern meiner Familie mit Ihnen zu sprechen. Sie wissen nicht, daß mir am Rhein eine Halbschwester lebt, die Tochter meines Vaters, weit älter als ich, eine warme Seele, eine vornehme Natur. Ihr schönes Mädchenbild leuchtet aus den Tagen meiner Kindheit herüber, deren Abgott sie war, bis sie uns verließ. Als mein liebes Mütterchen die Augen schloß, wollte Anna mich sogleich zu sich holen, auch mein Schwager, ein gar freundliches Herz, bot mir das wärmste Willkommen. Ich aber erbat mir, noch ein kurzes Weilchen hier in der Stille trauern zu dürfen, bis die Erinnerung reifer geworden und sich nicht mehr so eigensinnig an äußere Zeichen klammert. Bald ziehe ich dorthin, wo ich gern empfangen und nicht überflüssig bin. Im kinderreichen Hause, im Leben und Weben eines großen Anwesens giebt es für mich freundliche Aufgaben genug, zunächst und künftig.“

Sie hielt einen Augenblick inne, legte die zarten Hände im Schooße übereinander und sann. „Dort besuchen Sie mich vielleicht einmal – nach Jahren,“ sagte sie lächelnd und blickte mit den großen Augen hell zu Hermann auf. „Schon heute kann ich Ihnen sagen, wie Sie es finden werden. Vom grünumrankten Erkerstübchen, wo ich vordem zu Gast gewesen und das mir wieder bestimmt ist, blickt man weit hinaus auf den Rhein, auf Berg und Thal. Dort sitze ich in der Fensternische, an dem alten trautgewöhnten Nähtisch, denn jedes Stück, das mir erinnerungswerth, soll mir folgen. Ueber dem Sopha hängt der lieben Mutter Bild, mit dem Kranz von Erika umgeben, welche auf jenen Höhen so üppig wuchert wie hier und mich an unsere Waldberge, an Sie mahnen soll, der mir so manche Haideblüthe gepflückt. Ein Blondköpfchen sitzt dann wohl neben mir auf niederem Schemel, buchstabirt aus seinem Bilderbuche die Lection, und wenn es sich müde studirt hat, kommt es zum Arbeitskörbchen, um das Stück Naschwerk zu finden, das den Fleiß belohnt – dabei zerknittert es mir das Briefblatt, welches dort gelegen, inmitten aller Siebensachen, und die Gedanken wandern bei dem Knistern aus freundlicher Nähe in freundliche Ferne. Das Blättchen hat Nachricht gebracht von einem lieben Freunde – denn, nicht wahr, Sie lassen zuweilen von sich hören, und Gutes?“ Sie erhob sich, legte ihre Hand auf Hermann’s Arm und sagte warm: „Versprechen Sie mir, daß Sie Ihr Herz nicht eigensinnig sein lassen wollen! Der Mann ist sich in jedem Sinne dem Leben schuldig; ich wünsche, hoffe von ganzer Seele, daß Ihnen schöne Häuslichkeit aufblühen möge früher oder später. Bedarf ich je des Beistandes eines Freundes, dann rufe ich Sie, denn ich habe Sie lieb, und – vergessen werden wir uns nicht.“

Er beugte sich sprachlos über ihre Hand und drückte seine feuchten Augen dagegen. „Gott segne Sie!“ Kein weiteres

[329]

In der Künstlerwerkstatt.
Nach dem Oelgemälde von A. de Courten.

[330] Wort kam über seine Lippen; noch ein letzter Blick und dann – geschieden!

Als sich die Thür hinter ihm schloß und die theuerste Gestalt seinem Auge barg, wohl für immer, da barg er selbst sie in jene Stätte, von welcher ihm seine Mutter gesprochen: die Begräbnißstätte, wo unsere Todten und überwundene Schmerzen ruhen.

Paula saß mit leicht in einander gefalteten Händen und sann lange, lange. Dann beugte sie sich still über ihr Arbeitstischchen, nahm aus dessen innerstem Gefach ein flaches Kästchen und öffnete es.

Neben einer langen Locke der Mutter lag darin die schwarze Kugel.

Sie neigte sich, nahm die verhängnißvolle Kugel heraus und drückte voll Innigkeit ihre Lippen darauf.


In der Künstlerwerkstatt.

Wo im Pinienhain durch kühle Schatten
Silbern gleiten des Ilissos Wellen,
Ragt im Abendschimmer säulenprächtig
Eine Künstlerwerkstatt durch die Wipfel.
– In die Halle tritt mein Fuß. Aus Nischen
Schau’n der Kunst erhabene Gestalten
Groß und hoheitsvoll auf mich hernieder.
Alles schweigt. Wie Nähe einer Gottheit
Hör’ ich’s durch die menschenleeren Räume
Heimlich wehen – da – am Marmorsockel
Rauscht es weich wie wallende Gewänder,
Und als ob vom tragenden Gerüste
Sacht des Künstlers herrlichstes Gebilde,
Lebenathmend, sei herabgestiegen,
Wandelt – holdes Maß in Gang und Gliedern! –
Durch den Porticus ein Mädchenpaar hin,
Ernst und mild in jungfräulicher Schönheit,
Hehr wie eine Königin die Eine,
Doch vom Kuß des Lebens unberührt noch,
Schelmisch und libellenhaft die Andre.

Leicht, im flüsternden Gespräch, durchschreiten,
Arm in Arm geschmiegt, sie die Arcaden,
Und beim kleinen Gott mit Pfeil und Bogen
Hemmen sie den Schritt. „O, sag’ Evadne,“
Spricht die Schelmische mit list’gem Lächeln,
„Sag’ mir, ewig Ernste, wie thut Liebe,
Wenn sie leise – singen’s nicht die Dichter? –
Fällt in’s Mädchenherz, wie Thau des Maien?“
Und in sanfter Wehmuth spricht die Andre:
„Bist Du in der Lenznacht je, Melissa,
Auf der Uferhöh’ am Meer gestanden?
Dir zu Häupten leuchten rings die Sterne
Still und ruhig aus den Aethertiefen,
Und, ein schwimmend Spiegelbild, zu Füßen
Grüßt des Himmels Abgrund Dich noch einmal.
Nach dem Höchsten dürstet Dir die Seele,
Doch wer faßt es je? Wer greift die Sterne?

Ach, ihr zitternd Bild, so menschlich nah Dir,
Heute lockt’s aus Wellen Dich vertraulich,
‚Komm’ hernieder!‘ ruft es machtvoll schmeichelnd;
‚Komm’, o komm’ doch!‘ ruft es süß bestrickend,
Und es jauchzt das Herz Dir – doch Du zögerst;
Denn das Unermess’ne schreckt die Seele,
Und im höchsten Glücke schläft das Grauen.
Sieh, nun aus den Wassern blinkt und winkt es,
Näher, stürmischer, dämonenmächtig.
Siehst den Stern Du, heller als die andern,
Schmerzlich bittend, wie ein Menschenauge?
Deiner ist es, Deiner – da erfaßt Dich
Süßen Selbstverlorenseins Entzücken,
Und ein zärtlich Wort auf heißen Lippen
Stürzest Du, wie vom Leukad’schen Felsen
Sappho einst – und jauchzend in den Fluthen
Sinkst Du unter – Welt und Zeit versinkt Dir.
– So in’s Mädchenherz o traute Unschuld,
Fällt die Liebe – Schrecken halb, halb Wonne.“

Und Evadne schweigt; es schweigt Melissa.

Nun den stillen Säulengang hernieder
Wandeln sie bis wo sich wölbt die Pforte,
Wo herein in’s Dämmerlicht der Halle
Um’s Getäfel spielt des Himmels Bläue.
Flüsternd hör’ ich fragen hier Evadne:
„O, warum nur, heitere Gespielin,
Senkst Du, plötzlich ernst, die seid’ne Wimper?“
Doch Melissa schweigt; es schweigt Evadne.

Draußen athmet lind der Abend. Sinnend
Schreiten durch die Pinien die Beiden,
Und im grünen Zwielichtschein verschwinden
Endlich ihre wallenden Gewänder,
Schimmernd, schwanenweiß. – Ich bin allein nun – –

Heimlich, wie der Sehnsucht süße Stimme,
Tönt von fern die Flöte eines Hirten.

Ernst Ziel.


Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.
Aus den Erinnerungen eines russischen Publicisten.
Von Friedrich Meyer von Waldeck.
3. Der Deutschenhaß.

Kaiser Nikolai der Erste hatte beim Antritt seiner Regierung mit dem Niederschlagen eines blutigen Aufstandes zu beginnen. Er machte die traurige Erfahrung, daß ihn in seinem Kriegsheere wie in den höchsten Schichten der russischen Gesellschaft treulose und unzuverlässige Elemente umgaben. Es war demnach nicht zu verwundern, daß er während der Zeit seines Regiments denjenigen Volksstamm besonders gern mit verantwortlichen und hervorragenden Aemtern betraute, der sich ihm allezeit als treu und zuverlässig erwiesen und das waren die Deutschen, vorzugsweise der deutsche Adel der Ostseeprovinzen. Wenn nun diese wohlbegründete Neigung des Regenten dazu angethan war, in den Herzen der national-russischen Aristokratie ein gewisses Gefühl des Neides und der Unzufriedenheit zu erwecken, so kann doch zu jener Frist von einem eigentlichen Hasse gegen die Deutschen keineswegs die Rede sein. Das Gefühl der Zurücksetzung machte sich unter den vornehmen Russen in der Form harmloser und häufig witziger Satire Luft. So gab Fürst Wjäsemski, ein bekannter Dichter der nikolaitischen Periode und ein Freund Puschkin’s, diesen Empfindungen Ausdruck, indem er in seinem, übrigens nie gedruckten, Gedichte „Der russische Gott“ die letzte Strophe mit den Worten schließt, der russische Gott sei denn doch vorzugsweise ein Gott für die Deutschen.

Ein solches unbehagliches Gefühl fand sich, wie gesagt, nur vereinzelt in den höchsten Regionen der russischen Gesellschaft, die, vielfach verwandt und verschwägert mit jenen vom Kaiser protegirten Deutschen, friedfertig und harmonisch mit ihnen lebten und sie keineswegs die Vorliebe des Herrschers und den eigenen nicht aus dem Gebiete der Harmlosigkeit heraustretenden Neid entgelten ließen. Die mittleren und unteren Bevölkerungsschichten blieben davon völlig unberührt und beugten sich gern und willig unter die Superiorität deutschen Geistes, deutschen Fleißes und deutscher Redlichkeit. Das russische Sprüchwort: „Die Deutschen haben die Affen erdacht“, wurde als eine offene Anerkennung der deutschen Geistesgewandtheit mit gutmüthigem Humor oft angewandt, und wenn der russische Krämer, der schon nach den Worten Peter des Großen an Schlauheit und Pfiffigkeit Juden und Tataren weit hinter sich ließ, seine Waare ganz besonders anpreisen wollte, bezeichnete er sie, wie noch heute, als „deutsche Arbeit, njemezkaja rabota“.

Es kam der Krimkrieg mit den unglücklichen Ereignissen für Russland in seinem Gefolge. Er weckte in den Bessern das Bewußtsein der Nothwendigkeit, in allen Gebieten des nationalen Lebens gründliche Reformen anzubahnen; in schwachen Gemüthern erzeugte die erlittene Schmach eine verbissene Wuth gegen das ausländische Europa.

Es folgten nun die ersten Regierungsjahre Alexander’s des Zweiten, und die Presse konnte aufathmen. Die „Moskauer Zeitung“, Eigenthum der dortigen Universität, früher von einem [331] der edelsten und gesinnungstüchtigsten russischen Literaten, Valentin Korsch, herausgegeben, ging bei einem neuen Verpachtungstermine in die Hände der Herren Michael Katkow und Paul Leontjew über. Beide waren Professoren der Moskauer Universität und nach russischen Begriffen Männer von hervorragender Bildung und Gelehrsamkeit. Als Publicist war Leontjew der bei Weitem Unbedeutendere, während Katkow sich berufen fühlte, eine hervorragende politische Rolle zu spielen.[1] Beide hatten sich auf deutschen Hochschulen umgesehen und von deutscher Geistesbildung erheblichen Nutzen gezogen. Wenn ich nicht sehr irre, saß ich im Anfange der vierziger Jahre bei Professor Werder in Berlin neben Michael Katkow im sonntäglichen philosophischen Disputatorium, und so haben wir, die wir uns später als die entschiedensten politischen Feinde gegenüber standen, die philosophische Schwertleite aus ein und derselben Hand empfangen. Es ist eine bekannte Thatsache, daß Michael Katkow eine der hervorragendsten Stellen in der neueren Geschichte Russlands gebührt, daß seine Zeitung in den sechsziger Jahren für die Mehrzahl der russischen Bevölkerung gewissermaßen das politische Evangelium war, daß ihr Herausgeber als Führer der sogenannten nationalen Partei an Kühnheit und Rücksichtslosigkeit der Sprache wie an Festigkeit und Trotz seiner Haltung Alles übertraf, was man bislang in Russland gekannt hatte, daß er in dem Gefühle, den größten Theil der Nation geistig zu beherrschen, selbst den Kampf mit den obersten Regierungsgewalten nicht scheute, daß er mit einem Worte eine Erscheinung darstellt, wie wir deren nur spärlich in der Publicistik der Culturvölker begegnen, und daß er erst in neuerer Zeit in das Gebiet der überwundenen Standpunkte für Russland eingetreten ist, wenn auch noch einzelne Persönlichkeiten, ja sogar einzelne Verwaltungszweige, auf seine Worte schwören.

Katkow besaß - ich bin am weitesten davon entfernt das zu leugnen - in eminenter Weise die Gaben eines Volkstribuns, aber zwei Dinge fehlten ihm, deren Mangel seine Größe nur als eine künstlich gemachte und zufällige erscheinen lassen: Ehrlichkeit der Gesinnung und Rechtschaffenheit im Kampfe.

Bei all seiner politischen Bedeutung wohnte in Katkow durchaus nicht jene ehrliche Gesinnung, die aus einer felsenfesten, durch harte geistige Arbeit erworbenen Ueberzeugung entspringt. Sein Ziel war, Stimmführer und Leiter der Menge und dadurch mächtig, vielleicht auch reich zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen und das Errungene festzuhalten, war ihm jedes Mittel recht. So begegnen wir während der letzten fünfzehn Jahre in seiner Zeitung, die, wie wenig andere Blätter, das Geistesprodukt eines einzigen Mannes darstellt, den allerentgegengesetztesten Urtheilen über eine und dieselbe Sache, die sich eben modificiren mußten, wie es die allgemeine Windrichtung verlangte, und wie es der großen Menge am erfolgreichsten schmeicheln und behagen durfte. Und das war nicht etwa eine Wandlung der Ansichten, wie sie häufig die politische Erfahrung mit sich bringt, wie wir sie z. B. in Bismarck und in der Meinung über ihn der Mehrzahl nach selbst erlebt haben; Katkow erhob heute, was er gestern mit Füßen getreten hatte, um es morgen abermals, wenn es dem großen Haufen gefallen konnte, mit dem ganzen Gift einer zügellosen Invective zu überschütten. So hat er es mit Völkern, mit Volksstämmen, mit Regierungszweigen, mit einzelnen Persönlichkeiten und mit politischen Principien gehalten, und Beispiele dafür ohne Zahl sind in die Spalten der Moskauer Zeitung niedergelegt. Am entschiedensten schlug er seiner ganzen politischen Vergangenheit in’s Gesicht, als er in der denkwürdigen Unterhaltung mit dem Prinzen Friedrich Karl alle seine Angriffe gegen Deutschland und das deutsche Volk mit eiserner Stirn ableugnete.

Stand es so mit Katkow’s Gesinnungstreue, so läßt sich daraus der Schluß ziehen, wie seine politische Kampfesweise beschaffen war. Dem Feind gegenüber war ihm kein Mittel zu schlecht. Von der Entstellung der Worte des Gegners bis zur völlig freien Erfindung der eigenen Phantasie, von der einfachen Verleumdung bis zur hinterlistigsten Angeberei, von den gemeinsten Ausdrücken des Hasses bis zur Aufstachelung der Volkswuth gegen die Verfolgten, spielt er in seiner glücklichsten Zeit fast in jeder Nummer der „Moskauer Zeitung“ alle Tonleitern eines unehrlichen Kampfes ab, bei dem selbstverständlich Berichtigungen und Entgegnungen der anderen Partei seinen Lesern ein undurchdringliches Geheimniß blieben.

Eine minder bedeutende Persönlichkeit, die aber in der nationalen Partei eine bemerkenswerthe Rolle spielte, war Iwan Akssakow, aus einer alten Adelsfamilie, dessen Hauptstütze bei der unverschämtesten Opposition gegen die Regierung seine Gemahlin, eine frühere Hofdame der Kaiserin, war. Nachdem er die Zeitschrift „Djen“ in St. Petersburg herausgegeben, gründete er den „Moskwitanin“ in Moskau, und als ihm die Zeitung verboten wurde, gab er unverzüglich dasselbe Blatt unter einem anderen ähnlichen Titel (Moskwitsch, Moskwa) heraus. Ehrlicher als Katkow, war er in seinem politischen Auftreten ungezügelter und fanatischer.

Der polnische Aufstand, der lange Zeit hindurch wie ein unterirdisches Feuer unter dünner Decke geglommen hatte, brach in hellen Flammen aus und Russland sandte seine Heere gegen die Empörer. Es war meine Zeitung, die St. Petersburger „Deutsche Zeitung“, welche zuerst das russische Volk mahnte, sein Nationalbewußtsein aus dem lethargischen Schlummer, in dem es ruhte, aufzurütteln. Das Organ Katkow’s kam mit derselben Idee hinterher und sah sich, indem es den fremden Ursprung derselben natürlich ignorirte, in der Lage, den Begriff des Nationalbewußtseins in ganz anderer Weise zu interpretiren, als es von meiner Seite war gethan und beabsichtigt worden. Der verbissene Grimm gegen das Ausland, der vom Krimkriege herstammte, und die offene Wuth gegen die aufständigen Polen, welche sich theoretisch in Katkow, praktisch in Murawjew personificirte, brachte den Gedanken der Nationaleinheit zur Geburt und öffnete der Idee des Panslavismus die Thore.

Das „Italia fara da se“ wurde jetzt in’s Russische übersetzt und „Russland für und durch die Russen“ wurde die Parole der Moskauer Presse. Unter der Nationaleinheit, welche Katkow predigte, verstand er die Entnationalisirung und vollständige Russificirung aller Landstriche, welche im russischen Reiche von nichtrussischen Völkerstämmen bewohnt werde. Religion, Sprache, Gesetze, Sitten und Gewohnheiten, alles was sich diese Völkerreste von ihrem theuersten Eigenthum mit Mühe und Noth zu erhalten gewußt hatten, sollte nun in der allgemeine Mischung des einigen und einförmigen russischen Staates aufgehen und verschwinden.

Einen weniger schädlichen, dafür aber belustigenden Charakter hatte der Panslavismus. Diese Idee erreichte den Gipfel des Komischen auf dem Moskauer Slavencongresse im Jahre 1867, wo es sich plötzlich herausstellte, daß die zur Verbrüderung herbeigeeilten slavischen Volksstämme, die Czechen, Ruthenen, Serben, Bulgaren, Wenden etc. sich weder untereinander noch mit den Russen verständigen konnten und daß man, wollte man es nicht bei stummer Freundschaft bewenden lassen, zu derjenigen Sprache seine Zuflucht nehmen mußte, die alle am grimmigste haßten, aber am besten handhabten – der deutschen. Wo Vorsicht nothwendig war, wurde natürlich nur von einer geistigen Verbrüderung der slavischen Stämme gesprochen, und dergleichen platonische Liebesäußerungen fanden ihre praktische Bethätigung in sehr bedeutenden Summen, welche von den Slavenfreunden Russlands gesammelt und für ein czechisches Theater nach Prag, für ein russisches nach Lemberg und ähnliche Zwecke in’s Ausland gesandt wurden, während das russische Volk selbst von einer schrecklichen Hungersnoth heimgesucht war. In Wirklichkeit dachten die Herren Panslavisten an nichts anderes, als die Vereinigung aller slavischen Volksstämme einstweilen unter dem Protectorat, schließlich unter dem Scepter Russlands. So wurde im Herzen des russischen Reichs von Herrn Polit, einem Serben und österreichischen Unterthan, in öffentlicher Rede feierlich erklärt, Russlands Aufgabe liege im Osten Europas und bestehe darin, der Herrschaft der einen Nationalität über die andere ein Ende zu machen. In dem rauschenden Jubel, der solche Expectorationen folgte, übersah man, daß Russland selbst über deutsche, schwedische, lettische, estnische, finnische, tatarische, mongolische, kaukasische und andre Volksstämme herrscht, daß also Russland, wenn es in dem Sinne des Herrn Polit hätte vorgehen wollen, den Spieß in unangenehmster Weise gegen sich selbst gekehrt hätte.

Die Nationaleinheit und der Panslavismus führten die [332] Moskauer Presse in einfacher Consequenz zum Hasse und zur Fehde gegen Alles, was im Reiche nicht russisch, respective nicht slavisch war, und dieser Groll erstreckte sich bald über die Grenzen des Landes hinaus. Natürlich ist es, daß dieser Haß sich ganz besonders auf denjenigen nichtlavischen Volksstamm warf, welcher, schon durch seine Zahl bedeutend, durch seine geistige Potenz die hervorragendste Stellung im Staate inne hatte. Das Gefühl der niedrigen geistigen Rangstellung, das – ich gebe es zu – immer etwas Niederdrückendes hat, das aber früher den Deutschen gegenüber von der russischen Nation mit liebenswürdiger Offenheit eingestanden und mit leichtem Sinne ertragen wurde, wandelte sich jetzt in ungezügelte Wuth, die ihre rücksichtslosen Angriffe gegen alles Deutsche richtete. Sie traf zunächst und mit den derbsten Stößen die baltischen Provinzen, in denen der lettische und estnische Volksstamm zwar den Grundstock der Bevölkerung bilden, die Cultur aber bis dahin ausnahmslos in den Händen der deutschen Insassen ruhte; sie ging dann nicht minder heftig auf alle in Russland wohnenden Deutschen über und verschonte schließlich ebenso wenig Deutschland, wie das Mutterland und die Quelle aller jener hassenswerthen Objecte.

Um gerecht zu sein, darf ich hier nicht unerwähnt lassen, daß die Deutschen, vor allen aber die Deutschen der Ostseeprovinzen, den Russen gegenüber ihre geistige Ueberlegenheit häufig in plumper Weise hervorkehrten und in eben nicht liebenswürdiger Form verächtlich auf ihre russischen Staatsgenossen herabsahen. Sie gaben dadurch nur allzu häufig Veranlassung zu der Abneigung, die von der russischen Presse zum blindesten Hasse angefacht wurde.

Die Moskauer Zeitungen hatten die Melodie angestimmt und fanden damit jauchzenden Beifall, besonders in den mittleren Schichten des russischen Volkes, bei Literaten und niederen Beamten, in denen plötzlich jenes ätzende Gefühl geistiger und moralischer Unterordnung auf das Heftigste entbrannte und reagirte. Die Moskauer Presse hatte die Melodie angestimmt und der Beifall, den sie fand, bewog die Petersburger Zeitungen zu getreuer Nachahmung, welche häufig in Uebertreibung ausartete. Die oberen und untersten Schichten des Volkes blieben im Allgemeinen von jenen extremen Stimmungen und ihren Ausbrüchen frei. In den höchsten Regionen der russischen Beamtenwelt und Aristokratie hat man sich nur vorübergehend mit den Ideen der Katkow’schen Nationaleinheit, die nicht einmal neu, sondern bereits von Kaiser Nikolai dem Ersten (ein Kaiser, ein Glaube, eine Sprache) intendirt wurde, befreunden mögen; die panslavistischen Träumereien fanden in den maßgebenden Kreisen nur wenig Beifall und sind nur hie und da in der Diplomatie als zarte Pressionsmittel benutzt worden.

Und bei alledem gehörte das Verdienst des nun allgemein wie schnödes Unkraut auswuchernden Hasses gegen die Deutschen nicht einmal Herrn Katkow und seinen Gesinnungsgenossen allein an; gar viele ehrliche Russen wurden in diese feindselige Stimmung hinein verführt und verleitet von keiner andern Seite als – den Polen. „Theile und herrsche!“ war das Princip der polnischen Aufwiegler, schon vor dem Ausbruche des Aufstandes, und sie hatten in diesem Sinne tüchtig gewühlt und vorgearbeitet. Den schlagendsten Beweis dafür liefert der revolutionäre polnische Katechismus, welcher, von den russischen Sicherheitsbehörden aufgefunden und bereits im Jahre 1863 veröffentlicht, doch nur wenigen der Getäuschten die Augen verschlossen hat. Es heißt dort § 11: „Bist du unter Russen, so schildere stets die Deutschen als die Hauptfeinde der Russen und Polen und sage, daß sie um politischer Zwecke willen das freundschaftliche Verhältniß zwischen jenen beiden Völkern stören. Der Russe haßt den Deutschen und glaubt das gern. Es ist dies das beste Mittel, um dein eigenes Treiben zu verdecken, und du schläferst den Feind ein, indem du ihn deiner aufrichtigen Freundschaft versicherst. In allen Fällen, wo deine Pläne an den Tag kommen, wälze die Schuld auf Deutsche! Dadurch giebst du dem Schlage eine andere Richtung, vernichtest den einen Feind durch den andern und lenkst den Verdacht von dir ab.“ Und ferner im § 13: „Hast du es mit einem starken und schlauen Feinde zu thun, der dich erräth, so strebe auf alle Weise danach, ihn zu vernichten, und wähle zu diesem Zwecke das zuverlässigste Werkzeug: einen einflußreichen Deutschen. Der Deutsche wird dir bei seinem Widerwillen gegen das russische Element helfen. Dein Feind fällt und glaubt, daß deutscher Einfluß seinen Fall bewirkt habe. Hiermit beweisest du noch deutlicher, daß der wahre Feind der Russen der Deutsche ist. Du selbst bleibst unverdächtig und machst dir aus dem Feinde einen Freund und eifrigen Beförderer deiner Pläne.“

Der Ausbruch des eigentlichen, brutalen Deutschenhasses in der russischen Presse datirt vom Jahre 1865 und fällt mit einer wahren Parforcehetze zusammen, welche die russischen Zeitungen insgesammt, von Katkow bis zum ärmlichsten Winkelblättchen, gegen meine geringe Person anstellten. Im Anfang jenes Jahres erschien in der „Gartenlaube“ ein Artikel, welcher mich zum Gegenstand hatte und mir ein wesentliches Verdienst um die Weckung des nationalen Bewußtseins der Deutschen in Russland zuschrieb. Russische Redactionen lasen dazumal kaum die politischen deutschen Blätter, Journale wie die „Gartenlaube“ aber gewiß nicht. Einer meiner guten Freunde an der Petersburger Universität – er wurde mir später von einem russischen Journalisten deutlich genug bezeichnet – einer der hervorragendsten Führer des Panslavismus, der sich über meine Artikel gegen diesen wahnwitzigen Schwindel grimmig zu ärgern pflegte, eilte von einer russischer Redaction zur anderen und hetzte die Meute. Derselbe Mann hat sich mehrere Jahre später auf eigenthümliche Weise einen Namen gemacht, indem er einen harmlosen deutschen Kaufmann in St. Petersburg bei der geheimen Polizei denuncirte, weil dessen Kinder mit Armbrüsten nach einem hölzernen Adler geschossen hatten, der von dem Spielwaarenfabrikanten unglücklicher Weise zum russischen gemacht worden war.

Jetzt erhob sich in der russischen Presse ein wahrhaft gigantisches Wuth- und Zetergeschrei über jenen Artikel und meine Person. In der russischen St. Petersburger Zeitung nahm es seinen unbedeutenden Anfang und erstieg in der Moskauer den höchsten Gipfel journalistischer Gemeinheit. Ein Buch ließe sich füllen mit allen den Invectiven, mit denen ich überschüttet wurde. Alles, was in der „Gartenlaube“ gestanden, wurde als lügnerisches Selbstlob erklärt. Man gefiel sich lange genug in dem Schmutz dieser Brutalität, und nachdem endlich meine Person als Thema langweilig geworden und man darauf sinnen mußte, dem Leser etwas Neues, Pikantes zu bieten, begann die Hetzjagd in derselben Gassenmanier gegen die Deutschen und alles deutsche Wesen. Ich war, als man mich damals mit Schmähungen verfolgte, zu stolz, um auf dergleichen persönliche Angriffe zu antworten, und ließ mich ruhig mit Koth bewerfen. Aber ich hatte Unrecht. Ich hätte antworten sollen, wie ich später auf keinen Angriff den Gegenschlag schuldig geblieben bin. Der russische Journalist hatte damals und hat zum Theil auch noch jetzt nur Respect, wenn ein starker Druck auf ihn geübt wird; das Schweigen des Anstandsgefühls ist in seinen Augen das Eingeständniß des Unrechts oder der Schwäche.

Die in den Ostseeprovinzen erscheinenden deutschen Zeitungen, vielleicht durch mein Schweigen irregeleitet, sahen dem Skandal, so lange er mich persönlich betraf, ruhig und müßig, wie von sicherer Schaubühne aus, zu. Während[WS 1] die Rüden den Hirsch stellten und in die Schenkel bissen, hatten diese gleichgültigen Gäste noch keine Ahnung, wie bald sie selbst zum gejagten Wild werden sollten.

Der Moskauer Presse schwoll indessen der Kamm immer höher und höher. Die Muskulatur ihrer nationalen Ueberhebung kräftigte sich zusehends in der beständigen gymnastischen Uebung zuerst gegen die aufrührerischen Polen, gegen mich und meine Zeitung und zuletzt gegen die Deutschen überhaupt. Die Angriffe gegen die letzteren mehrten sich in überraschender Weise, und es wohnte eine solche Gehässigkeit in den aus der Luft gegriffenen Beschuldigungen, eine solche Unsauberkeit in den Ausdrücken, eine solche Perfidie in dem elenden Bestreben, bald diese, bald jene Persönlichkeit, Corporation, Gemeinde oder Genossenschaft an hoher Stelle anzuschwärzen und zu verdächtigen, und die russischen Zeitungen beider Residenzen entwickelten bald darin eine solche Gemeinsamkeit der Action, daß man nur zu schnell einsehen mußte, man befinde sich einer überlegenen Kraft gegenüber, gegen die man sich wohl bis zum letzten Athemzug wehren, die man aber unter keiner Bedingung zu Boden schlagen könne, wie man denn im Kampfe mit einer Schaar von Wanzen stets der Unterliegende bleibt.

(Schluß folgt.)

[333]

Eine drückende Frage.


„Bitte um ein Paar gute Tanzstiefel, selbstverständlich Lack!“ Mit diesen Worten führte ich mich vor wenigen Wochen in ein modernes Schuhwaarenlager in L. ein.

„Hier, mein Herr! Ausgezeichnetes Leder, äußerst haltbar, bricht nie!“

Mit Erstaunen betrachte ich das auf den Ladentisch gestellte Zwillingspaar; endlich ermannt sich meine angeborene Schüchternheit zu der Frage: „Sie entschuldigen – die haben wohl zwei Jahre gestanden?“

„Was, gestanden?“ entgegnete fast grob der Nachkomme von Hans Sachs, mich verwundert anblickend.

„Ja, wenigstens meinen Kenntnissen nach sind wir seit längerer Zeit glücklich soweit gelangt, die Gegend der Fußzehen zu verbreitern, während die mir Angebotenen wieder schnabelförmig nach vorn spitz zulaufen.“

„Bedaure sehr, neueste Mode, directes Wiener Modell!“

„Ja, aber,“ warf ich entrüstet ein, „da sind wir ganz auf dem alten Flecke: die Zehen werden auf das Furchtbarste zusammengequetscht.“

„Ach, mein Herr, so arg ist es nicht; etwas eng können sie zusammenliegen, und – das Leder giebt nach.“

Das Leder giebt nach! Herrliche Phrase, welche wir Armen von unseren Stiefeltyrannen mehr als einmal jährlich zu hören bekommen! Wenn es nur immer nachgäbe! „O tempora! o mores! Quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? (In freier Uebersetzung: „Wie lange, Schuhmacher, gedenkt Ihr unsere Geduld durch Hühneraugen noch ferner zu mißbrauchen?“)

Ueberall Fortschritt, hier nicht nur Stillstand, nein, sogar Rückschritt, nur hervorgerufen durch einen ganz verdorbenen Schönheitssinn. Der Kampf um eine gute Fußbekleidung ist so alt wie die Menschheit – versteht sich: die nicht mehr barfuß gehende Menschheit. Mehrfach haben Einzelne allgemein gültige Regeln festzustellen versucht – sie wurden vergessen. Aus diesem gerade bei den jetzigen militärischen Verhältnissen wichtigen Gebiete kann nur auf einem Wege eine Verbesserung ermöglicht werden, und diesen hat ein Land herausgefunden, welches wir kürzlich schon um eine Einrichtung beneiden mußten („Gartenlaube“ 1876 Nr. 48, Briefmappe), nämlich die Schweiz.

Die Nachtheile, welche unser wenigstens etwas verbessertes Schuhwerk mit sich bringt, wurden schon im Jahre 1857 von dem kürzlich verstorbenen Professor Eberh. Richter unseren Lesern vorgeführt. Ein Vergleich mit dem Fuße eines kleinen Kindes, der noch nicht durch die lederne Zwangsjacke verunstaltet wurde, zeigt zur Genüge, wie der Bau des Fußes bei unserer Stiefelfabrikation eine nur geringe Berücksichtigung findet. Der in Form eines flachen Gewölbes gebaute Fuß berührt den Boden als Stützpunkt vorzüglich mit Großzehenballen und Hacke. Die äußere Begrenzung der zur Erhaltung des Gleichgewichtes dienenden Zehen geht schief, aber breit von der Spitze der großen nach der kleinen Zehe und die längste Fußlinie von der großen Zehe durch die Mitte der Hacke. Die innere Fußseite, auf welche das Schienbein etwas stärker drückt, ist höher und schroffer als der äußere Fußrand.

Wie paßt sich unser Schuhwerk nun dieser anatomischen Grundlage an? So wenig wie möglich. Trotz der jetzt üblichen Breite betrug die Differenz der Zehen und Schuhbreite zwischen einem Abdruck des Fußes und meinen breitesten von dem Schuhmacher nur auf dringende Ermahnung hergestellten Stiefeln 10 : 8 Centimeter und zwischen dem Abdruck und den oben erwähnten Tanzstiefeln gar 10 : 5 Centimeter; die Zehen mußten sich also auf die Hälfte des Raumes zusammendrücken. Die sich anschließenden Uebel, von denen Ausrenkung der großen Zehe, Frostballen, Hühneraugen, Verdrehungen der Fußwurzelknochen noch als mildeste zu bezeichnen sind, wurden schon öfter besprochen; die beliebten Stöckelschuhe können bei jungen Mädchen die nachtheiligsten Folgen bedingen.

Um wenigstens den Beginn einer Verbesserung zu ermöglichen, veranstaltete der Canton Bern auf medicinische Anregung in den Räumen der neuen Entbindungsanstalt eine allgemeine Schuhausstellung, welche im Sommer 1876 eröffnet wurde. Wir schließen uns bei deren Schilderung an die vorzügliche Abhandlung an, welche Professor Hoffmann aus Basel in dem Schweizer ärztlichen Correspondenzblatte darüber veröffentlichte. Nach derselben war es zuerst Meyer in Zürich, welcher als Basis für eine naturgemäße Schuhform 1856 („Gartenlaube“ 1857, S. 373) verlangte:

„1. Die Fußsohle muß vollständig auf der Sohle ausruhen können.

2. Das der Fußform entsprechende Oberleder besitzt an der inneren Zehenseite eine größere Höhe.

3. Fester Schluß über der Spanne.

4. Mäßiger, aber breiter Absatz mit schwacher Erhöhung auf der Innenseite.“

Die durch die Chicanen der Berner Schuhmacher beinahe verhinderte Ausstellung sollte darlegen, inwieweit sich unser modernes Schuhwerk diesem Normalschuh anpaßt. Von den sechs Abtheilungen zeigte die erste Gypsabgüsse von gesunden und durch Schuhwerk verunstalteten Füßen. Die zweite enthielt Leisten der verschiedensten Formen, die dritte Stoffe, die vierte Werkzeuge und Maschinen für die Herstellung des Schuhzeuges. Die beiden letzten Abtheilungen boten für den Zuschauer das größte Interesse. In der fünften befand sich jetzt im Handel vorhandenes Schuhwerk von Nord und Süd. Während von dem Inhalte vieles den gestellten Anforderungen entsprach, suchte doch im Allgemeinen die liebe Mode immer noch vor allen durch Schönheit zu glänzen, so daß von dem gesammten ausgestellten, äußerst elegant gearbeiteten Wiener Waaren nur ein Paar den Normalschuh erreichte. Welche Wichtigkeit der Ausstellung beigelegt ward, ging aus der letzten Gruppe hervor, die getragenes Schuhwerk zusammenfaßte und eine historische Darstellung verschiedener Schuhformen und Verbesserungen bildete. Zu derselben hatten die Kriegsministerien von Deutschland, Rußland, Spanien, Schweden, Italien und der Schweiz getragene Militärschuhe zur Verfügung gestellt. Die gleichmäßigste Abnützung der Sohle, also auch den gleichmäßigsten Tritt fand man an den Schuhen des italienischen und schweizer Militärs, auch Deutschland und Rußland führen die naturgemäße Form ein. Daß Letztere in ihrer Vollkommenheit immer noch ein frommer Wunsch bleibt, konnte man an den angestrebten Verbesserungen erkennen.

Von der Ansicht ausgehend, daß Schnürschuhe ein schnelles Anziehen nicht gestatten, an Stiefeletten der Gummieinsatz sich schnell abnutzt, bei beiden auch das Wasser schnell durchdringt, hatte man den Schaftstiefel, welchem freilich wiederum der feste Schluß oberhalb der Spanne mangelt, zu vervollkommnen gesucht. Schweizer Fabrikanten spalteten den Schaft; die hintere größere Hälfte umfaßte die vordere und wurde nach vorn durch Riemen mit Schnallen befestigt. Ein Wiener hatte den weiten Schaft zum Einfalten mittelst zuzuziehender Schnüre eingerichtet; beide zwar geistreiche Systeme dürften den Armeen einen bedeutenden Kostenzuwachs verursachen. Professor Hoffmann schlägt vor, um einen guten Schluß zu ermöglichen, die seitlichen Nähte der Schaftstiefel bis etwa 4 bis 5 Cent. oberhalb der Sohle auf eine Höhe von 15 bis 18 Cent. so auszuschneiden, daß eine ovale Lücke von etwa 6 Cent. Breite zwischen den beiden Blättern des Schaftes entsteht, welche man durch ein mit Kautschuklösung überstrichenes Elastiquegewebe ausfüllt.

Unsere Leser sehen, daß der Erfindung noch ein weiter Spielraum übrig gelassen ist. Unseres Erachtens kommt gerade bei dem Militär die specielle Fußform vor Allem mit in Betracht, sodaß auch dem Schnürstiefel bei hoher leicht entzündlicher Spanne seine volle Berechtigung gebührt. Das französische Militär erhält sich z. B. durch eine an dem Schnürschuhe angebrachte sehr einfache Einrichtung, den sogenannten Plattfußriemen, jährlich eine Anzahl tüchtiger Kräfte. Der circa 5 Cent. breite Riemen hebt im Innern des Schuhes den innern Fußrand etwas in die Höhe und verhindert so das bei dem Plattfuße häufige Eintreten entzündlicher Processe.

Schuld an dem Stillstande auf dem Gebiete der Schuhmacherkunst tragen wir zu einem großen Theile selbst. Einer geringen Ersparniß und der schnelleren Erlangung wegen kauft man in der Neuzeit fast allgemein fertige Waare und zwingt dadurch den Schuhmacher, seine Verbesserung nach dem hölzernen Leisten, nicht aber nach dem lebenden Fuße zu erdenken. Wer [334] einen guten Stiefel haben will, kann ihn nur dann erhalten, wenn er sich bei einem Leistenschneider nach einem Gypsabgusse einen eigenen Leisten anfertigen läßt; die geringen Kosten werden durch das sich anschließende Wohlbefinden mehr als ausgeglichen. Von den Meistern der Zunft ist aber zu fordern, daß sie ihrer Maßkunst eine größere Ausdehnung geben. Außer der Fußlänge und -Breite muß der Schuhmacher die innere seitliche Höhe der großen Zehe und der Gegend der Spanne durchaus genau kennen, dann aber auch einen durch Färbepapier leicht herzustellenden Abdruck der Fußsohle anfertigen, um die Breite der Zehen und die Höhlung des Gewölbes genau festzustellen. Ferner fordert die verschiedene Bauart eine einzelne Messung der beiden Füße. –

Nun noch am Schlusse eine Bitte an die Mütter! Selbst die beste Schuhform wird ihren Zweck nur halb erreichen, wenn die Frauen nicht am Ende des Strumpfes etwas langsamer abnehmen, damit derselbe nicht spitz, sondern rund endigt. Merkwürdiger Weise ist dieser Punkt bisher, wahrscheinlich durch den Glauben an die Nachgiebigkeit des Gewebes, der Aufmerksamkeit entgangen, doch geht die Ausdehnungsfähigkeit nur bis zu einem bestimmten Grade, dann aber reicht der Druck immer noch aus, ein Zusammenpressen der Zehen zu bewirken. Möge Jungdeutschland in Zukunft diesen drückenden Verhältnissen entrissen werden! Ueber der Mode, nicht von ihr beherrscht, stehe fest eine naturgemäße Fußbekleidung!
Dr. – a –




Streifzüge bei den Kriegführenden.
1. Erste friedliche Station.
Von Köln zur russischen Grenze. – Russischer Zoll, russische Küche. – Auf dem Wege. – Eine reisende Menagerie. – Die Brasilianerin und der tapfere Serbe. – Ankunft in St. Petersburg. – Die Droskys. – Russisch-deutsche Gastfreundschaft. – Die Sterletsuppe. – Ein geheimer Polizist. – Eine Gastvorstellung des Winters.


Im Schlafwagen des Kölner Zuges, mit dem ich meine Reise antrat, um der „Gartenlaube“ vom Kriegsschauplatze aus meine hiermit eröffneten „Streifzüge“ zugehen zu lassen gab es schon einen kleinen Vorgeschmack kriegerischer Reibungen. Zwei biedere Spießbürger, der eine aus Düsseldorf, der andere aus Frankfurt, geriethen, als sie Beide bereits auf ihrer Hängematte – einer gegenüber dem andern – ausgestreckt lagen, in eine lebhafte politische Kannegießerei. Der Philister Nr. 1, eine stattliche Figur mit wohlgepflegten Cotelettes, entpuppte sich als warmer Russenfreund, sein Widerpart, ein dickes, glattrasirtes Männchen mit imponirendem Schmeerbauch, war guter Türke. – Sehr unterrichtet über die Tagespolitik waren die Herren nicht, denn sie stritten sich vierundzwanzig Stunden vor dem Einmarsch der Russen in Rumänien noch darüber, ob – Montenegro den Waffenstillstand annehmen würde oder nicht. Ein dritter Reisender, der im dritten Stockwerk oberhalb der Hängematte des Türkenfreundes sich in Morpheus’ Armen zu wälzen versuchte, mischte sich in das Gespräch und gab demselben als nach Rußland zurückkehrender Russe eine reellere Wendung. Als nachher in Erquelins ausgestiegen werden mußte, näherte sich der Philister Nr. 1, der mit den wohlgepflegten Cotelettes, meiner Wenigkeit. „Entschuldigen Sie,“ raunte er mir in's Ohr, „daß ich Sie aufmerksam mache: Sie setzen sich großen Gefahren aus. Der ‚Russe‘ da hat Sie schon, als Sie schliefen, mit ganz verdächtigen Blicken angeschaut. Wenn man heutzutage das Unglück hat, ein Türke zu sein, braucht man es doch nicht aller Welt zu zeigen.“

Ich blickte den Anti-Türken groß an. „Mein Herr! ich habe ja nicht das ‚Unglück‘, wie Sie behaupten, dem Stamme Osman’s anzugehören.“

Der Spießbürger mit den wohlgepflegten Cotelettes wies jedoch mit dem Zeigefinger auf mein Haupt und zuckte mitleidig die Achsel. Richtig! Ich trug ja als bequeme Reisekopfbedeckung meinen guten im Stambuler Bazar gekauften Fez, und in den Augen meines Begleiters machte offenbar die rothe Mütze mit der schwarzen Quaste den Osmanen aus. Ich lachte hell auf, und der Russe, der das kurze Zwiegespräch mit angehört, stimmte ein. Von diesem Augenblicke an benahm sich der Reisegefährte – feindselig-brummig, aber auch schweigsam, sodaß die politische Controverse verstummte.

Ich vertiefte mich in die Zeitung, die „Kölnische“, die ich vom Orte ihres Erscheinens mitgenommen; sie enthielt zweierlei Wichtiges, den Uebergang über den Pruth und Moltke’s Rede. Indem ich las, brauste der Schnellzug durch Deutschlands Gefilde. Ein Rasttag in Berlin, ein paar Freunden die Hand gedrückt, eine Flasche Sect bei Dressel geleert – und weiter, weiter geht es mit der Ostbahn dem rauhen Norden zu. Vollgepfropft ist das Coupé: Unser acht Stück lebende Colli, wie einst ein französischer Verwaltungsrath die Passagiere bezeichnete. Eine recht ungemüthliche schlaflose Nacht, durch einige Stationen auf fünf Minuten unterbrochen. In Schneidemühl begrüßt uns endlich der anbrechende Morgen – und als ein Vorbote des Nordens ein Pelz, in welchem irgend ein Grundbesitzer der Gegend steckt. „Herr Schaffner, der Waggon ist ja ganz leer.“

„Soll auch leer bleiben,“ antwortet mit ausgesprochenem polnischem Accente der Angeredete. Nun – es giebt auch Mittel und Wege, einen Zugbegleiter sarmatischer Abstammung mürbe zu machen. Ein bedeutsamer, inhaltschwerer Händedruck bewirkte das „Sesam, öffne dich!“ und bei der Abfahrt streckten wir mit Wohlbehagen die müden Glieder auf die Kissen der leer bleiben sollenden Coupés. Das müde Auge umfaßt, ehe es sich schließt, die eintönige Landschaftsdecoration – die rechts und links sich hinziehenden halb grauen, halb okerfarbigen Aecker mit den plötzlich auftauchenden Waldungen, und im Hintergrunde als schwarze Grenzlinie der Forst. Hier und da eine Gruppe wohlhabend aussehender Bauernhäuser, dazwischen eine Wirthschaft, groß angelegt mit Herrncastell, und manchmal eine Fabrik nebenan.

Obwohl es heller Tag ist, lächelt noch der Mond schalkhaft auf die ländliche Scenerie herab, aber als wir rechtzeitig aufwachen, um das Pracht- und Riesenwerk der Dirschauer Brücke über die Weichsel zu bewundern, haben wir eine angenehme Reisegesellschaft gefunden, einen seiner Heimath zueilenden Kaufmann aus Riga, der Verlockendes über das Treiben und Leben in den Ostseeprovinzen zu erzählen weiß. Meinem Gewährsmann zufolge, wäre bei allem angeborenen und beibehaltenen echt deutschen Wesen die politische Tendenz seiner engeren Landsleute aus dem Fundament russisch-patriotisch. Der Kaiser Alexander wird in Liefland, Curland etc. geradezu auf den Händen getragen, und der Krieg gegen die Türken erregt dort ebenso großen Enthusiasmus, wie in dem slavischen Rußland. Man zweifelt auch nicht, daß der Krieg mit einem Siege Rußlands endigen müsse, wenn er auch ungeheuere Opfer an Menschen erfordern wird. „Aber,“ betheuerte mein Liefländer Reisegenosse, „Rußland hat ja Menschen genug und den Willen, so viele davon zu opfern, bis das Endziel erreicht ist.“ Die Opfer werden übrigens in Rußland bei weitem nicht so schmerzhaft empfunden werden, wie in einem anderen Lande, weil es in Rußland nur von der Regierung abhängt, daß ja Niemand etwas von Verlusten erfahre. Der Czar ist Selbstherrscher; seine Minister schulden Niemandem außer ihm Rechenschaft; es können neue Truppen immer ausgehoben und neue Steuern eingetrieben werden, ohne daß darüber auch nur eine Rede gehalten wird. Der einzige Strich, welcher den Russen durch die Rechnung gezogen werden könnte – und das gestand auch mein neuer Rigaer Freund – wäre die Intervention anderer Mächte zu Gunsten der Türken.

„Königsberg, dreißig Minuten Aufenthalt!“ Zeit zum Gabelfrühstück! Auf dem Quai des Bahnhofs hat sich eine elegante Gesellschaft eingefunden, die Herren kräftige, durch ihre Lebhaftigkeit imponirende bewegliche Gestalten, die Damen und jungen Mädchen nach dem feinsten Pariser Schnitt gekleidet. Den Mittelpunkt der Gesellschaft aber bildet eine ältliche Dame mit vergilbter, fast pergamentähnlicher Gesichtsfarbe und sehr lebhaften Zügen. Ihre schmächtige Gestalt ist in einen üppigen Pelzmantel gehüllt, und um den Kopf hat sie einen Spitzenschleier nach der Methode der spanischen und creolischen Señoritas geworfen. Ein Diener in Galalivrée, der sich in angemessener Entfernung der Gruppe hält, trägt in der einen Hand ein Felleisen und in der anderen einen länglichen Käfig, der in drei vergitterte Abtheilungen getheilt ist. Darin befinden sich Kammer Nr. 1 ein niedlicher Uistitiaffe, [335] Kammer Nr. 2 ein großer weißbefiederter Kakadu mit rothem Busch auf dem Kopfe und in Kammer Nr. 3 zwei herumkriechende Schildkröten. Nachdem vielfach Adieu gesagt worden, hebt einer der Herren die Dame in’s Coupé; der Diener legt das Felleisen und die kleine Menagerie zurecht; unter Hüte- und Taschentuchschwenken geht es weiter.

Gegen vier Uhr Nachmittags war Wirballen erreicht, die erste russische Station. Der Paß ist beim Eintritt in das heilige Czarenreich ebenso unerläßlich, wie der Coupon einer Loge oder eines Sperrsitzes, wenn man als Fremder in’s Theater will. Das Reisedocument wird zunächst von einem sechs Fuß hohen Gensd’arm in Empfang genommen. Dieser untergeordnete Diener der Gerechtigkeit scheint sich übrigens um die Sache nicht besonders zu kümmern; er faltet, ohne hineinzusehen, den Paß phlegmatisch zusammen und weist mit kurzer Geberde den Passagier in den Gepäcksaal. Dieser ist ein ungeheurer, übrigens auch architektonisch tadelloser Raum, wie überhaupt die russischen Bahnhöfe der für den Verkehr wichtigen Stationen einen monumentalen Anstrich haben. Die Reisenden stellen sich um die Schranken herum auf, welche ein riesiges Viereck bilden. In der Mitte dieses Quadrats befindet sich ein Amtstisch; hier sitzen fünf bis sechs Beamte in langem, grünlichem Capotrocke, auf dem Kopfe die betreßte blaue Mütze. Die Pässe werden da gesichtet und abgeschrieben; dann steht einer der sehr höflichen und vornehm aussehenden Herren in grünem Capotrocke auf, um aus der Schaar der Reisenden den Besitzer des eben revidirten Passes auszuforschen. Nun wird zur zollamtlichen Behandlung des Gepäcks geschritten. Man hat viel, sehr viel von der Ungemüthlichkeit der moskowitischen Zollbeamten gesprochen, und ich selber kam mit gewaltigem Respect in den großen viereckigen Saal. Mir war für einige Lectüre bange, die ich vorsichtig mitgebracht hatte, als probates Mittel gegen Langeweile. Nun, der betreffende Beamte muß gut aufgelegt gewesen sein, denn er ließ Alles passiren; überhaupt hatte nur die Papagei-, Affen- und Schildkröten-Dame Schwierigkeiten; der Käfig wurde nach dem Amtstische gebracht; die Dame selbst mit der Spitzencapuze folgte; einer der Beamten stand auf und bot ihr seinen Stuhl an, bis man mit der Erledigung der Frage fertig war, ob dergleichen Thier-Import steuerpflichtig wäre oder nicht. Schließlich wurde zwar kein Zoll erhoben, aber die Dame angewiesen, die niedlichen Thiere in dem Gepäckwagen zu deponiren. Sie seufzte – freilich blieb ihr als Trost das Schooßhündchen, das sie im Arme trug und alle fünf Minuten verliebt anstierte.

Da der Aufenthalt in Wirballen wohl eine ganze Stunde in Anspruch nahm, gönnten wir uns eine Probe russischer Küche. Die National-Kräutersuppe, der sogenannte „Tschi“, bestand dieselbe vortheilhaft, und man mußte sich ordentlich Zwang auferlegen, um nicht in jede der etlichen Dutzend Sorten Imbisse, die, an ein ganzes Bataillon Wein- und Schnapsflaschen als Zubehör gelehnt, sich appetitlich den Blicken der hungrigen Reisenden darboten, „hineinzubeißen“. Von der gastronomischen Seite läßt sich Rußland nicht übel an. Auf dem ganzen weiten Wege von Wirballen bis St. Petersburg sind die Büffets weit reichhaltiger und weit besser dotirt, als auf den Bahnlinien so manches Culturstaates. Auffallend ist vor Allem die tadellose Balltoillete der Aufwärter mit blendend weißer Weste, elegantem Salonfrack, frischer Wäsche und weißer Binde. Manchmal lugt aus dieser Gentlemen-Uniform ein unverfälschtes gelbliches Tatarengesicht hervor; die extremsten Theile des russischen Reiches, Mingrelien und die an China grenzenden Districte, liefern ein ansehnliches Contingent von dienstfertigen Geistern in jedem Fache.

Lang ist die Route von der lithauischen Grenze nach der Hauptstadt Peter’s des Großen. Der Anblick der Landschaft bietet uns keine Zerstreuung; bald bricht die Eintönigkeit der Steppe herein mit der noch stark zurückgebliebenen zwergähnlichen Vegetation, den winzigen verkrüppelten Buchholzgestrüppen, den Morästen und den von elenden Bauern und schmierigen polnischen Juden bewohnten, mit Stroh bedeckten Hütten. Das Herz schnürt sich zusammen beim Anblick dieser trostlosen Oede, dieses harten unwirthlichen Bodens, der dem Menschen – der doch hier nicht schlechter ist, als anderswo – Steine bietet statt Brodes. Man vertieft sich hinter den hermetisch geschlossenen Doppelfenstern des Winterwaggons am liebsten in ein Buch.

Vom Kriege selbst bis jetzt keine Spur, mit Ausnahme etwa eines sehr bramarbasirend dreinschauenden wettergebräunten serbischen Officiers, der einen riesigen „Handschar“ mit kostbarem Griff und Gürtel trägt und bei jeder Station die Front des Zuges auf und ab patrouillirt. Da steckte auch die gelbfarbige Dame, die mit der Menagerie nämlich, den Kopf zum Fenster heraus; der Serbe mit dem Handschar hielt bei dem Anblick der Reisenden inne; er warf mit sichtlich staunender Erregung das von einem schwarzen Bart umrahmte Haupt zurück, und sein feuriges Auge ruhte auf dem Gesicht der Dame. Aber auch sie war betroffen. „Pablo! Pablo!“ rief sie und kicherte einige spanische Worte. „Señora! Señora!“ entgegnete mit großer Achtung der Handscharmann. Auf einen Wink der Dame stieg der Serbe in das reservirte Coupé, und nun klärte es sich auf. Der Streiter für den Fürsten Milan war eigentlich gar kein Serbe, sondern ein Montevideoner; die Dame, eine Deutsche – so erzählte sie uns später – in Königsberg geboren, aber durch einen mehr als dreißigjährigen Aufenthalt in Südamerika zur Creolin vergilbt, hatte den heutigen serbischen Capitain jahrelang in ihrem Dienste gehabt. Eines Tages war Pablo plötzlich verschwunden und nach manchen Reisläufereien im Hafen Milan’scher Kriegsdienste eingelaufen. – Die Episode schien nicht nur unsere Gemüther, sondern auch den bis dahin bleiernen Himmel aufgeheitert zu haben. Es war bereits acht Uhr Abends, der Tag aber schien nicht Anstalten zum Schlafengehen treffen zu wollen, wie es sich Anfang Mai um diese Stunde für einen biedern deutschen Tag geziemen würde. Es war aber eben kein biederer gewöhnlicher, sondern ein Polar-Tag, und dieser dauert bis gegen zehn Uhr; man darf ihn auch nicht vor dem Ende loben, denn die leise rosa angehauchte Dämmerung ist bei ihm gerade das Schönste. Eine herrliche Abenddämmerung begrüßte den Einzug unserer Wenigkeit in die große Halle des Warschawski Machin, des Warschauer Bahnhofs, eines der bedeutendsten Petersburgs.

Welch eine mächtige Wagenburg auf der breiten Esplanade der Ankunftsseite! Nicht nur uns, die wir an ein paar magere Droschken oder an eine anmuthig langsam hinter einander auffahrende, von fadenscheinigen Mähren gezogene Fiakerreihe gewöhnt sind, imponirt die vierfache Schlachtordnung wohlbespannter, gefällig gebauter Caleschen und zahlloser Droskys, jener niedlichen einsitzigen leichten Spielwägelchen, die ein nerviges Steppenpferd durch Straßen und Feldwege zieht, als jagten alle Teufel der Hölle hinterher. Das Gepäck erlaubte mir nicht, wie ich Lust hatte, sofort auf den Sitz eines solchen Drosky zu springen, denn das Fahren, oder richtiger das Dahintraben auf einem solchen Gefährte hat etwas magnetartig Bestechendes. Es muß ein eigener Reiz darin liegen, in dem schärfsten Trabe über Stock und Stein zu jagen, oder in Pelze eingehüllt, wenn der ausgepolsterte Schaukelsitz auf den Schlitten gesetzt wird, bei sternenheller Nacht auf dem Schnee dahin zu gleiten. Da verspürt man wohl jenes Wohlbehagen der Kälte, das Theophile Gautier[WS 2] in seiner russischen Reise so anziehend beschreibt und das er lebhaft genug empfand, um mit den auf der Newa campirenden Samojeden nach dem Lapplande fliehen zu wollen.

Es giebt wohl nichts Angenehmeres, als, wenn man in einer wildfremden Stadt ankommt, sofort offene Gastfreundschaft und zugethane Herzen zu finden. Dieses Glück wurde mir seitens unserer verehrten Collegen vom „St Petersburger Herold“ beschieden, einer der bedeutendsten und verbreitetsten Zeitungen Rußlands. Die Redaction besteht zum größten Theil aus eingewanderten Deutschen, die sich in Rußland so wohl fühlen, daß sie jeden Gedanken an Rückkehr wohl aufgegeben haben dürften. „Dieses Rußland,“ erklärte mir Dr. S., der Herausgeber des Blattes, „ist eine Mausefalle; wer einmal hineingerathen ist, geht zwar wieder hinaus, aber er kann es dann anderswo nicht mehr aushalten; er muß zurück.“ Man muß gestehen, daß die Herren Collegen von der russisch-deutschen Presse es verstehen, die „Mausefalle“ in recht verlockender Weise auszustatten. „Sie müssen, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen, eine Sterlet-Suppe essen,“ war die sofortige Losung.

Wir verfügten uns denn – es war Mitternacht vorüber – in das echt russische Restaurant zum „Kleinen Jaroslaw“. Das Vorzimmer sah einer Pelzwaarenhandlung ähnlich: die verschiedensten, mit allerhand Thierfellen reichgefütterten Paletots hingen da der Reihe nach unter dem wachsamen Auge eines ausgedienten Soldaten. Mein unschuldiger kaffeebrauner Frühjahrsüberwurf mußte sich wohl in Gesellschaft dieser Felle sehr unbehaglich [336] fühlen. Trotz oder eben wegen der vorgerückten Stunde der Nacht war das Restaurant stark besucht, aber man sah keine einzige Dame um die kleinen runden Gesellschaftstische, auf welchen Kerzen in Leuchtern von getriebenem Silber brannten. Im zweiten Stockwerke aber bemerkte ich einen ungeheuren schwerfälligen Schrank aus Ebenholz, dessen oberster Theil durch eine Gardine von rothem Reps verdeckt war. Das seltsame Ding war eine Orgel. Mein Begleiter machte dem Aufwärter ein Zeichen; dieser öffnete eine Seitenthür des Schrankes, zog eine ungeheure Walze heraus und begann, wie bei einem Leierkasten, zu drehen; es kam eine Arie aus irgend einer Offenbach’schen Operette zu Stande. Eine solche Orgel darf in keinem großen russischen Etablissement fehlen. Sie kostet an acht- bis zehntausend Rubel, eine Kleinigkeit für Gasthäuser, wo Wein à fünfzehn Rubel die Pulle verabreicht wird.

Auf dem Gange wurde mir dann ein Reservebehälter gezeigt, wo der König der Wolga, der Sterlet, in vielen Exemplaren herumschwimmt, bis durch den Willen eines Gastes der eine oder der andere in die Pfanne gebracht wird. Mein Begleiter bezeichnete als Opfer einen der schönsten herumschwimmenden Fische, und eine Viertelstunde später wurde derselbe auch mit erforderlicher Zubereitung aufgetragen. Gepreßter Caviar, Heringssalat und Meerrettig hatten mit entsprechendem Schnapsaccompagnement für die Sterletsuppe Quartier gemacht. Ich möchte keine gastronomische Lobhymne anstimmen – aber der Sterlet ist ein königlicher Bissen. Dies der Wahrheit zur Huldigung!

Die Müdigkeit der Reise war in solch angenehmer Gesellschaft verschwunden, und zum dritten Male sah ich den Morgen anbrechen. Nach und nach wurden die Lichter ausgelöscht, und durch die Gardinen drang in den Saal die silberähnliche Morgenhelle. Das in deutscher Sprache geführte Gespräch wurde immer lebhafter – und, wie es einmal nicht anders möglich ist, man gerieth auf das Gebiet der Politik. Auf einmal winkte einer von uns mit dem Zeigefinger und deutete mit den Augen auf einen wohlgekleideten am Tische neben uns sitzenden Quidam, der anscheinend damit beschäftigt war eine Papyroscigarette anzuzünden, dabei aber die Ohren nach unserem Tische zu gewaltig spitzte. Sofort verstummte Alles. Die Furcht vor der geheimen Polizei lastet eben wie ein Alp auf dem Gemüth und den Gewohnheiten des Petersburgers.

Die Dazwischenkunft des unberufenen Horchers hatte wenigstens die gute Folge, daß das Nachtgelage aufgehoben wurde und Jedermann den Rückweg antrat, um sein Lager aufzusuchen. Draußen wurde uns eine Ueberraschung zu Theil. Während da drinnen in der warmen Stube gezecht worden, hatte der Himmel seine Schleußen geöffnet, und es schneite tüchtig. Im Nu waren die Dächer und Straßen mit einem dicken weißen Teppich bedeckt. Der eisige Polarwind wehte uns die Flocken unbarmherzig in’s Gesicht. Wohl dem, der sich im Besitze eines Pelzes befand und den Kragen bis über die Ohren hinauf thun konnte! Aber wehe dem nichts Arges ahnenden Westeuropäer, der, auf den wunderschönen Monat Mai vertrauend, sich für St. Petersburg nicht hinlänglich mit Kleidern ausgerüstet hat!

Die winterliche Hülle steht der russischen Hauptstadt übrigens herrlich, und wenn die großartige Newski-Perspektive unter Schnee steht, so gewinnt sie gewiß um hundert Procent an Originalität. Das ist’s ja eben, was der Reisende aufsucht. Drum Dank dem Winter, da er so gefällig gewesen uns diese Gastvorstellung zu geben, die er übrigens öfter wiederholt, wenn selbst die Petersburger an den Frühling glauben. Nur bitte ich schön, daß die Gastrolle sich nicht allzusehr in’s Unendliche ziehe. Es bricht bald die Zeit an, wo der Kriegsberichterstatter draußen Sonne und laue Luft wird brauchen können. Von Moskau her tönt das Echo der Jubelrufe, die den Czaren auf seiner Rückreise von Kischinew begrüßen. Bald wird sich hier Aehnliches wiederholen. Dann kommt die Maiparade, und dann heißt es trotz Schnee und Regen nach dem Süden ziehen, dorthin, wo kaum Muße und Stimmung sein dürfte, über die Sterlet-Suppe Betrachtungen anzustellen.

Paul d’Abrest.




Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


In dem großen Wohnzimmer blieb Bandmüller einen Augenblick stehen und betrachtete den Brief, den er in der Hand hielt, mit innigster Genugthuung. Dann warf er einen Blick des Behagens auf die elegante Ausstattung, die ihn umgab, und klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn, indem er vergnügt vor sich hin murmelte: „Alter Freund da drin, ich danke Dir, daß Du mich nicht im Stiche gelassen hast. Du hast Dir heute wieder etwas Anwartschaft auf die hübschen Siebensachen hier herum erworben –“

Er schwieg plötzlich und horchte. Nebenan ging die Thür; Frauenkleider rauschten und herein trat – Frau Hornemann.

„Der Herr Commerzienrath ist unwohl und empfängt keinen Besuch,“ sagte Bandmüller, der nicht sofort ihr Gesicht zu sehen bekam. Aber kaum hefteten sich die durchdringenden Augen der energischen alten Frau auf den Sprecher, so drehte sich derselbe auf dem Absatze herum und trat mit anscheinender Rücksichtslosigkeit an das Fenster. Er warf die Lippen auf und kniff die Augen ein – die Mienen seines Gesichtes drückten eine Verlegenheit aus, welche zu dem ganzen Schnitte desselben wenig genug paßte.

„Hol’ der Henker dieses Weib!“ zischte er leise durch die Zähne.

„Ich hoffe, Sie werden mich nicht hindern, wenn ich trotzdem gehe,“ versetzte Frau Hornemann scharf nach einer Pause, während welcher sie die Rückseite des Fabrikleiters gemustert hatte. „Vielleicht haben Sie die Gnade, sich herumzudrehen und mir Ihren Namen zu nennen. Ich bin Ihrem Gesichte schon einige Male begegnet, und es hat jedesmal ein ganz besonderes Interesse für mich gehabt.“

Der spöttische Ton forderte die ganze dreiste Frechheit des Ueberrumpelten heraus.

„Sehr schmeichelhaft,“ erwiderte er im nämlichen Tone; „mein Name ist Bandmüller. Und mit wem habe ich die Ehre?“ Er starrte, das Licht im Rücken, mit großen Augen der alten Frau in’s Gesicht.

„Hornemann heiße ich, Wittwe Hornemann.“

„Sie entschuldigen, wenn ich nicht in der Lage bin, Sie zu ehelichen,“ fuhr der Gereizte giftig heraus, dem es offenbar unter den Sohlen brannte. Er durchmaß rasch den Raum, der ihn von der Thür trennte, riß, dicht neben der Angreiferin stehend, die Thür auf und schmetterte sie hinter sich in’s Schloß.

Da stand sie, das alte, saubere Gesicht mit den blitzenden Augen von den schwarzen Bändern des Stoffhutes umrahmt, der den ganzen Kopf einschloß, im schwarzen Shawltuche über dem gleichfarbigen Wollkleide, ganz Trauer, von der nur in ihren Zügen keine Spur zu finden war. Die eine der filetüberzogenen Hände hielt ein Ledertäschchen.

„Mensch,“ sagte sie hinter dem Davongestürmten drein, „wenn Du wirklich ein Anderer bist, als der, den ich meine, dann ist ein Mann doppelt auf der Welt.“

Und es kam etwas über sie, daß sie die Hände ballen und drohend gegen die Thür ausstrecken mußte, bis sie sich plötzlich besann und die Arme sinken ließ.

„Und nun zu ihm!“

Sie schritt leise über den Teppich; leise öffnete sie die Thüren – –

Der Commerzienrath, der mit schwerem Kopfe auf dem Sopha lag, schnellte empor und stierte sie mit Augen an, welche denen eines Trunkenen glichen.

„Annette,“ brachte er schwerfällig hervor, und man sah, wie er mit seinen Gedanken rang, bis ihm plötzlich die heftige Erregung die Kraft über sich selber zurück gab. „Mein Gott,“ murmelte er erschreckt vor sich hin, „ich glaube, daß ich wirklich krank werde.“

[337]

Tunesische Hülfstruppen vor einem Waffenladen in Tunis.
Originalzeichnung von Albert Richter in Haking.

[338] „Herr Seyboldt! – Sie sehen gut aus, mein lieber Herr Seyboldt,“ lachte sie, und es lag etwas Grausames in diesem Lachen. „Sie sind merkwürdig stark geworden im letzten Monat, seitdem wir uns nicht gesehen haben.“

„Wa – was?“ stotterte der Commerzienrath in einem Tone, als traue er seinen Ohren nicht, und mit einer Behendigkeit, die seltsam gegen jene Schlaffheit abstach, welche er ein paar Secunden zuvor gezeigt, sprang er auf die Füße und schritt in drohender Haltung auf sie zu. „Was veranlaßt Dich, diesen Ton gegen mich anzuschlagen, Weib, gegen mich, der ich die Macht habe, Dich zu vernichten? Hilft denn keine Beschwörung, keine Buße, die ich Dir von Monat zu Monat auferlege, um den Hochmuthsteufel aus Dir hinaus zu treiben dessen Herberge Du von Deiner Jugend an gewesen bist? Und willst Du mich mit Gewalt zwingen, von jenem schönen Papiere Gebrauch zu machen, in welchem Du so gefällig warst, die Schulden Deines Gatten zu übernehmen? Oder genügt das Wort ‚Schuldgefängniß‘, um den höllischen Nebel aus Deinem Hirne zu verjagen, wie schon so manches Mal? Du wirst mich nöthigen, die Bußübungen zu verschärfen, Annette; es ist meine Christenpflicht, für das Heil Deiner Seele in ausreichenderem Maße zu sorgen, auch wenn ich es nicht aus alter Freundschaft thun wollte.“

Es lag soviel Grimm und Galle in der Art, wie der kleine alte Herr mit der wunderlich ausgestopften Figur und dem seidenen Schlafrocke dies sprach, daß seine Erscheinung aufhörte, komisch zu sein.

Die Frau, welche so stolz und gerade vor ihm stand, maß ihn mit einem verächtlichen Blicke. „Heuchler,“ sagte sie, und ihre Stimme verrieth den innern Triumph, „Deine Macht ist vorüber. Du hast geträumt, Deine frivole Rache ein Leben lang genießen zu können. Jahre hindurch ist meine Schmach Deine Weide gewesen, und diese Jahre haben mich Menschenalter gedünkt. Ja, Karl Seyboldt, es ist lange her, seit ich mir den Tod wünsche, um aus den Händen eines elenden Feiglings erlöst zu werden. Du hast das Unglück eines Weibes gemißbraucht, um sie jammervoll zu demüthigen, und hast äußerlich salbungsvoll und innerlich grinsend wie ein Teufel dabei zu stehen vermocht. Jetzt ist meine Stunde gekommen, und ich werde dem gottseligen Commerzienrathe Seyboldt die Maske vom Gesichte reißen, ich werde der Welt eine Geschichte erzählen, und der Kalender wird um einen Heiligen ärmer werden.“

„Du bist mir ja merkwürdig plötzlich über den Kopf gewachsen,“ höhnte der Commerzienrath. Aber sein Gesicht zuckte mit einem Male schmerzhaft, und seine Stimme klang dumpf, als er fortfuhr: „Hast Du das große Loos gewonnen oder einen Schatz aus der Erde gehoben? Vierzigtausend Thaler! Du hast doch die Summe richtig behalten?“

„Vierzigtausend Thaler,“ wiederholte sie kopfnickend. „Ich möchte nun wissen, ab Du mir die Papiere sofort gegen die Summe aushändigen willst, oder ob Du die Vermittelung eines Notars wünschest. Aber Du scheinst gar nicht zufrieden damit zu sein, daß ich Dir soviel schönes baares Geld bringe. Du siehst krank aus, Karl Seyboldt, sehr krank.“

„Das ist nicht wahr,“ schrie der Commerzienrath, der sich mit aller Macht aufrecht erhielt. „Ich werde Dir zeigen, daß ich Kraft genug besitze, um Deinen harten Sinn zu zwingen; Du wirst heute in jener Ecke liegen und Dein Bekenntniß sprechen, wie vor einem Monate, meine theure Annette. Aber Dein Geld – nun gut, es ist mir in jedem Falle lieber, als die nutzlosen Papiere da drinnen.“ Und er trat schwankenden Schrittes zu einem Geldspind, schloß es auf und brachte aus einem zweiten Verschlusse eine Hand voll Papiere hervor.

Sie gingen an den Tisch vor dem Sopha, und der Commerzienrath setzte sich, während Frau Hornemann, ein geringschätziges Lächeln auf den Lippen, ihre Tasche vor sich nahm und diese öffnete.

„Eintausend,“ sagte der Fabrikant. Seine Hand zitterte heftig, als er das Papier vorschob und die Banknote an sich zog, welche Frau Hornemann ihm hinwarf, und durch seine Züge flog ein nervöses Zucken, aber seine Stimme klang hart und fest.

„Eintausend fünfhundert – eins, zwei, drei, zusammen zweitausend dreihundert – fünftausend –“

Wie Schachspieler, Zug gegen Zug, vollzogen die Beiden den Umtausch.

Der Commerzienrath erhob sich, indem er die Banknoten zusammenraffte.

„Es fehlen noch dreitausend, höhnte Frau Hornemann. „Du willst sie mir doch nicht schenken, Karl Seyboldt? Ich gehöre nicht zu den Armen, welche Du mit Deinem Geld kaufst, damit sie im Himmel Fürbitte einlegen für Dich.“

„Nur Geduld, meine Traute!“

Er schloß hastig das Geld ein und kehrte zurück. Sie hatte es nicht gehört, wie er leise stöhnte, als er vor dem Spind stand; das Rasseln der Schlüssel hatte es übertönt.

„Eintausend, zweitausend, dreitausend –“ sagte er, nachdem er auf's Neue Platz genommen. Die drei Papiere lagen vor ihm, und er legte diesmal die Hand darauf und sah sein Gegenüber eine Weile mit unsicheren Augen an.

„Nun?“ fragte sie ungeduldig.

„Du dauerst mich im Grunde, Annette, und wenn Du heute eine Andere wärest, als Du zu mir kamst, wer weiß, was ich gethan hätte. Diese Wechsel hat Dein Mann ausgestellt; Du kennst zweifelsohne seine Handschrift wieder?“

„Allerdings.“

„Du siehst auch, daß hier drei Accepte von Seyboldt und Compagnie stehen; ganz meine Handschrift, Zug für Zug.“

Sie blickte flüchtig über den Tisch und trat dann zurück.

„Nun, meine süße Annette: diese drei Accepte sind – gefälscht.“

„Das ist nicht möglich,“ stieß sie mit glühendem Gesicht hervor und that einen Griff nach den Papieren.

Der Commerzienrath zog dieselben vom Tische, faltete sie zusammen und steckte sie in die Westentasche. „Es ist doch so, und Du wirst begreifen, warum sie mir lieber sind als Deine dreitausend Thaler. Karl Seyboldt war vorbereitet auf Deinen Reichthum, mein Kind. Vor dem Schuldgefängniß bist Du freilich sicher, den Vortheil hast Du davon, daß Du reich gegeworden bist; – vielleicht beichtest Du mir gelegentlich einmal die Quelle Deiner Schätze. Aber unter Umständen werde ich der Welt auch eine Geschichte erzählen; ich werde den Schatten eines Fälschers in das Zuchthaus sperren, dem dieser lebend entgangen ist. Du wirst mir alle Monate die Zinsen bringen, Annette, hörst Du wohl? Wir wollen nicht aus der Uebung der Gottseligkeit kommen; Du bist noch lange nicht reif in der Demuth.“

Die schwarze Gestalt der alte Frau kauerte auf dem Boden; ihre wirren Augen irrten in alle Richtungen; jede Spur ihrer sonstigen Energie war aus dem Gesicht geschwunden, welches fast so fahl aussah, wie dasjenige ihres unerbittlichen Feindes.

„Mein Gott, laß mich sterben!“ murmelte sie mit bebenden Lippen. „Hab’ Erbarmen mit meiner Schmach und tödte mich!“ Ihre Hände falteten sich in einander und lösten sich wieder in mechanischem Spiele. „Ich glaube es nicht, Karl Seyboldt, und wenn er selber aus dem Grabe herausstiege und die Finger zum Schwure erhübe, daß er es gethan – ich kann nicht an ihm irre werden. Wer das dort geschrieben hat, Gott verzeih’s ihm, wenn er will! Oder spielst Du falsches Spiel mit mir?“

„Ich sagte Dir ja, daß Dein Triumph ein voreiliger war. Du willst nicht an die Fälschung glauben? Es steht Dir ganz frei, die Entscheidung der Gerichte zu provociren. Siehst Du, das ist wieder Dein Hochmuth, Annette, daß Du die Wahrheit von Dir weisen willst. Gott bewahre – wie wäre es möglich, daß Du das Weib eines Fälschers gewesen wärest! Das ist derselbe Hochmuth, mit dem Du einst den armen Karl Seyboldt von Dir gestoßen hast, als er es wagte, Dir seine Liebe zu gestehen, damals, wo er noch ein ‚Betteljunge‘ war. Weißt Du noch? Es war auf dem Maskenfeste in der Eremitage, in das Ihr übermüthig gegangen waret, Du und ein paar Freundinnen, und Du strichst Dir über den Aermel Deines Dominos, an den ich gefaßt hatte, und sagtest, Du wolltest Dir die Spulwolle abwischen –“

„Weil Du mich verfolgt hast, Mensch, weil Du mich zum Gespött meiner Bekannten gemacht hattest, weil Du mich belagert hast in meinem Elternhause –“

„Ich hatte Dich lieb, Annette, vielleicht etwas überschwänglich; die Liebe und die Thorheit sind Zwillinge. Aber Du hast mich dafür beleidigt, so tief, wie nur ein Mensch den andern beleidigen kann – und damals habe ich es geschworen, Dich zu demüthigen, bis der letzte Funke von Deinem Hochmuth mit [339] Thränen erstickt wäre. Thue Buße, Annette! Dort steht der Schemel.“

Der eigensinnige alte Mann hatte mit äußerster Anstrengung gesprochen. Seine Augen rollten und auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Frau Hornemann rutschte auf den Knieen zu ihm hin.

„Gnade, Karl Seyboldt! Ich flehe Dich an, was ich noch nie gethan habe: entlaß mich aus Deiner Gewalt, und ich will Alles vergessen und Dich segnen. Gott wird Dir dafür gnädig sein am jüngsten Tage.“

„Zu spät!“ stöhnte der Commerzienrath; „dort steht der Schemel. In zwei Minuten muß es geschehen sein.“

Sie erhob sich und wankte wie im Traume zu dem kleinen, schwarz bekleideten Betschemel hin, vor welchem in der Nische der Wand ein Crucifix stand.

„Barmherziger Gott und Vater,“ hob sie tonlos an, indem sie niederkniete, „ich armes, elendes – –“

Ihr schwindelte.

„Weiter – weiter – nur rasch!“ klang es mit unwillkürlichem Ausbruche tiefster Angst vom Sopha her. Der stöhnende, schauerliche Ton mußte ihre Aufmerksamkeit erzwingen.

Die Knieende blickte hinüber und richtete sich jäh empor, den Commerzienrath scharf fixirend.

„Hast Du Dein Testament gemacht, Karl Seyboldt?“ fragte sie, und ihr Auge leuchtete plötzlich so hell, wie sonst.

„Was soll das heißen?“ Er versuchte noch einmal zu imponiren, aber es ging nicht mehr. Seine Zähne schlugen knirschend auf einander.

„Was soll das heißen?“ fragte sie dagegen und verschränkte die Arme mit dem schwarzen Shawltuche darüber. „Nichts weiter, als daß Dich die Cholera erfaßt hat und daß Gott zwischen mir und Dir richtet.“

„Weib,“ keuchte er, „steh’ nicht da und starre mich nicht so an! Hole Hülfe, rufe, schreie! Sie sollen zum Doctor Urban laufen! Der ist der Einzige, der mir noch helfen kann.“

„So hast Du zwölfmal im Jahre seit einem Jahrzehnt vor mir gestanden, und Du hast Dich an meinem Elend geweidet; ich kann das nicht, denn ich bin ein Weib, und ich habe Mitleid mit Dir. Aber Eines zu sagen, bin ich mir schuldig: gieb mir die Wechsel, die Du zu Dir gesteckt hast, und nimm mein Geld! Dann will ich Dir Beistand herbeirufen, und mehr als das: ich will Dich retten.“

„Nein!“ rief er, „und tausendmal nein!“ Und er taumelte mit entsetztem Gesicht vom Sopha empor und durch die Stube. „Die Cholera – zur Hülfe, zur Hülfe!“ Er riß das Fenster auf und rief mit den Tönen der Verzweiflung hinaus; er tastete an der Thür, bis er den Griff erfaßt hatte, und stürzte hinaus. –

„Gericht Gottes, laß ihn leben!“ sagte die alte Frau leise vor sich hin und schauderte in sich zusammen. Sie ging an den Tisch, that den Rest des Geldes in die Tasche, schloß sie ab und verließ das Gemach.

Alle Thüren der Zimmerflucht standen offen; ein kühler Luftzug wehte ihr entgegen und bewegte seitwärts leise die Gardinen. Von der Fabrik her schollen die Töne der Abendglocke. Als sie in das Treppenhaus hinaustrat, vernahm sie über sich Angstrufe und das Rascheln von Frauenkleidern; ein Mädchen stürmte die Treppe herab an ihr vorüber und riß drunten das Zimmer des Kutschers auf: „Ist Ihr Mann schon fort? – Kommen Sie rasch herauf! Fräulein von der Herberge ist ohnmächtig. Ach Gott, wenn ich nur aus dem Hause fortkönnte, aber ich weiß nicht, wohin.“

Aus dem Hofe schwirrten ihr die Tauben um den Kopf, welche der kleine Herr Pieper eben zum Füttern lockte. Er hatte die Sorge für die Lieblinge seiner jungen Herrin übernommen, seit sie krank darniederlag – selber eine kranke Taube.

Frau Hornemann ging stolz aufgerichtet die Straße hin, wie es ihre Art war. Der Schauder vor dem, was sie gesehen, drängte auf Minuten hinaus noch jede andere Empfindung zurück. Aber dann hoben die Gespenster ihres eigenen Elends allmählich die Köpfe und sahen ihr in’s Auge und gruben die Krallen mit heimtückischer Freude in ihr Herz. Alles umsonst! Das große Opfer nutzlos gebracht! – Dreifach geschlagen und gedemüthigt kehrte sie heim, und das Andenken ihres Gatten, die Ehre ihres Hauses – wie brachte sie das zurück? Befleckt und besudelt, mit dem Fluche des Verbrechens überschattet! Die Häuser drehten sich vor ihren Augen, und sie beschleunigte ihre Schritte. Die Wagen, das Treiben der heimkehrenden Arbeiter und Arbeiterinnen, das ganze Gewühl und der Lärm um sie herum gewann etwas Schattenhaftes. Das Wasser im Canale strudelte, ein goldener Streifen Abendsonne fiel neben der Brücke über die bewegliche Fläche, und der Wasserdunst wehte sie kühl und verlockend an.

Im Zimmer neben dem Laden saß Karl Hornemann und las in einem Buche.

„Was ist Ihnen, Mutter?“

„O Karl, mein Sohn, mein Sohn, ich bin sehr unglücklich.“

Er sprang auf und hielt die Kraftlose, die in wildes Schluchzen ausbrach. Es war das erste Mal, so weit er zurückdenken konnte, daß er sie weinen sah.

„Brechen Sie Ihr verschlossenes Schweigen, Mutter! Vertrauen Sie mir an, was Sie so lange schon drückt! Ich vermag viel; vielleicht daß ich Ihnen rathen, helfen kann.“

Sie schüttelte den Kopf, während ihre kräftige Gestalt an seiner Brust bebte.

„Laß mich weinen, mein Sohn! Nur ein paar Minuten halte mich aufrecht – dann finde ich mich selber wieder.“

Und traurig resignirt hielt der Sohn die Mutter fest umschlungen, bis ihr Schluchzen allmählich erstickte und sie das Tuch hervorzog, um ihre Thränen zu trocknen. –

Nur wenig früher war es, daß der Doctor Urban mit finsterm Gesichte die Länge seines Zimmers durchmaß, den Absagebrief des Commerzienrathes in der Hand. Dann und wann schüttelte er den Kopf, und ein zorniges Lachen flog über seine Lippen.

„Freiheit, die ich meine –“ sagte er. „Es scheint, daß diese Dame Freiheit sehr eifersüchtig meinetwegen ist. Ich denke, ich lasse erst einmal meine kleine Braut gesund werden; sie dürfte doch in der Sache das letzte Wort zu sprechen haben, mein Herr Commerzienrath. – Politische Gründe: ah! mit einem Male? Sie waren doch in der vergangenen Nacht nicht entscheidend. Es muß etwas Besonderes dahinter stecken – das scheint mir außer Zweifel.“ –

Ein Schatten flog dicht beim Fenster vorüber, und es entstand Geräusch im Hause.

„Herein! Ah – Johannes. Wollen Sie meine Antwort auf das Schreiben dort holen?“

Der Kutscher stand mit verstörtem Gesicht vor ihm. „Ich sollte Sie holen, Herr Doctor. Es hat Gott gefallen, daß unser Herr Commerzienrath die Cholera gekriegt hat.“

Urban trat zurück. „Die Cholera?“ In seinem Antlitze spielte ein wunderliches Gemisch widerstreitender Empfindungen.

„Und der Herr Commerzienrath glaubt wirklich, daß ich nach dem Briefe da noch kommen werde?“

„Muß er wohl,“ entgegnete der Kutscher mit unerschütterlicher Haltung, „denn sonst hätte man mich nicht hierhergehen heißen.“

„Richtig, sehr weiser Johannes,“ sagte der Doctor, und seine Augen glänzten. „Ich werde allerdings kommen; Sie dürfen vorausgehen und das melden.“

„Nun, mein Herr Commerzienrath Seyboldt,“ fuhr er im Selbstgespräche fort, als der Kutscher das Zimmer verlassen hatte, „ich denke, wir werden uns jetzt verständigen. Das wird eine theure Cur werden, und ich werde auf Vorausbezahlung dringen müssen.“

Er ging an die Schublade und nahm eine der blinkenden Flaschen Karl Hornemann’s heraus.

„Ich habe Dich schaffen helfen,“ sprach er und hielt die Arzenei gegen das Licht. „Ich will an Dich glauben, denn ein Vater darf sein Kind nicht verleugnen.“ –

Kurz nachher befand er sich in dem hellerleuchteten Krankenzimmer, – dem zweiten des stolzen Kaufmannshauses mit dem Balcon und den Karyatiden darunter.

„Doctor, um Gotteswillen, warum bleiben Sie so lange?“ stöhnte es aus der dicken Kissenlage hervor.

Er war allein mit dem Alten; selbst der Kutscher, der Einzige, der im Hause den Muth hatte, in die Nähe des Kranken zu kommen, verließ ungerufen nicht das Nebenzimmer.

„Es schüttelt mich – mir ist sterbenselend. Aber ich will nicht sterben. Hören Sie wohl, ich will nicht. Sie müssen Ihr Wort halten – ah!“

Urban kreuzte die Arme über der Brust.

[340] „Es ist ein eigenes Ding um das Worthalten.“

„Nein, nein, ich weiß, daß Sie Ihr Wort halten können. Der Brief – ja, der dumme Brief – ich habe ihn nicht geschrieben; er ist Luft, Wind. Aber freilich, man hat mir allerlei erzählt – die Revolution, die Sie haben machen wollen – ich weiß Alles – ewige Barmherzigkeit, machen Sie schnell, Doctor!“ –

„Revolution? Alle Teufel, wer hat – –“

„Bandmüller, Doctor; ich sollte es eigentlich nicht verrathen, aber jetzt gilt mir Alles gleich; nur nicht sterben, Doctor!“

„Dann bin ich freilich nicht würdig – dieser Schuft –“

„Sie sind doch würdig – Sie sollen mein Kind haben, wenn Sie mich retten. Aber zur Union müssen Sie übertreten. Nicht wahr, das versprechen Sie mir?“

(Fortsetzung folgt.)



Der Krieg.

Der russische Adler und der türkische Halbmond stehen sich abermals im Kampfe gegenüber. In dem Augenblicke, wo wir dieses niederschreiben, sind wohl alle Tageszeitungen bereits mit Kriegsberichten angefüllt, denn die Rüstung der gesammten europäischen und amerikanischen Presse ging bedeutend rascher vor sich, als die der kriegführenden Mächte. Hunderte von Berichterstattern und Feldmalern stehen bereit, den Ereignissen auf jeder Spur zu folgen und Helden- und Missetaten in Illustrationen zu verewigen. Der Rüstung und dem Aufmarsch stellen jedoch auf beiden kriegführenden Seiten sich so viele Hindernisse und Schwierigkeiten entgegen und die Fama bemächtigt sich der wenigen Tagesereignisse mit solcher Eile, daß diese jene bei Weitem überholt und die Zuverlässigkeit des Gebotenen noch außerordentlich viel zu wünschen übrig läßt. Wir haben deshalb, ehe unsere eigenen Gewährsmänner auf dem Kriegsschauplatz ihre Thätigkeit beginnen können, noch Zeit genug, um einen kurzen Rückblick auf die Vorgänge der letzten zwei Jahre zu werfen, welche wir als die Vorläufer des neuen Kriegs zweier großen Mächte bezeichnen müssen.

In den ersten Tagen des Juli 1875 brachen in der Umgegend der Stadt Revesinje in der Herzegowina Unruhen aus, denen man anfangs wenig Beachtung schenkte. Das arme Landvolk schüttelte eben wieder einmal am harten Türkenjoch. Die anfänglichen Unruhen erweiterten sich jedoch bald zu einem Aufstand, welcher selbst der türkischen Regierung kein Geheimniß mehr bleiben konnte. Truppen rückten an, natürlich „Pacificationstruppen“, wie der Diplomatenjargon solche kampfbereite Friedensboten nennt, und der Kampf begann und zeigte sofort seinen dort gewohnten Charakter. Schlappen gab es links und rechts, nur wurden die der Regierungstruppen in dem Grade schädlicher, als die Montenegriner ihre Theilnahme für die Aufständischen bethätigten. Serbien hatte bis dahin sich ruhig verhalten, obwohl die verdächtigen Blicke, die es nach rechts und links warf, selbst in Constantinopel nicht unbeachtet geblieben waren.

Ein Guerillakrieg mit all den Metzeleien, Mordbrennereien und scheußlichen Trophäen von Köpfen oder Nasen und Ohren hatte bereits bis in den Winter hinein gedauert und war eben im Begriffe, vor der steigenden Kälte einzuschlafen, als die europäische Diplomatie den rechten Zeitpunkt erkannte, ihm ein Ende zu machen. Auf ihre im Interesse des Weltfriedens gethanen Schritte hin veröffentlichte am 12. December der Padischah seinen „Reform-Ferman“; diesem folgte dann Andrassin’s bekannte „Reform-Note“ und ein „Nachtrags-Hat“ des Sultans. Während man aber die außerordentlichen Concessionen der hohen Pforte allenthalben noch mit jener Verwunderung betrachtete, die in Kopfschütteln über die Möglichkeit der Ausführung des Verheißenen überzugehen pflegt, hatte schon, wie man behauptet, nicht ohne russisches Zureden, der Aufstand einen neuen Boden in Bosnien gefunden. Jetzt, wo der Aufstand von dem faustähnlichen Winkel an, mit welchem die Türkei die dalmatinisch-kroatisch-slavonischen Königreiche Oesterreichs voneinander trennt und sie ihrer naturgemäßen Hinterlande beraubt, bis zur immer kampfbereiten Czernagora einen hoffnungsvollen Zusammenhang zeigte, erließ, ein Frühlingsgruß von 1876, der Fürst Serbiens von Belgrad aus eine Mobilisirungsordre, die er als Nothwehr-Schutz gegen die türkischen Truppenanhäufungen bei der Festung Risch, dem serbischen Alexinatz gegenüber, rechtfertigte.

Da derselbe kriegerische Zug sich allenthalben bei den Balkanvölkern zu regen schien, so erkannten die bisherigen Hüter des europäischen Friedens, die Glieder des Drei-Kaiser-Bündnisses, es als ihre Pflicht, die orientalische Frage auf den grünen Tisch zu bringen. Eine Ministerconferenz in Berlin (im Mai) überließ dem russischen Diplomaten Gortschakoff „die diplomatische Führung in der orientalischen Frage“, aber sein bekanntes „Memorandum“ erfuhr sofort Englands Widerspruch; ebenso wenig allgemeinen Anklang fanden die übrigen russischen Vorschläge: „einzelne Provinzen der Türkei militärisch zu besetzen und durch entsprechende Flottendemonstrationen an den Küsten die Ausführung der türkischerseits verheißenen Reformen zu beschleunigen und für die Zukunft zu sichern.“

Während in dieser Weise der Friedenseifer mit der Feder arbeitete, brachten Ereignisse die Geschichte wieder in Fluß. Etwas seit langer Zeit Unerhörtes, eine türkische Revolution, war in Constantinopel ausgebrochen und hatte, an die Stelle eines Mißliebigen, den Erzfeind Rußlands, Hussein Aoni zum Großvezier erhoben. Schon bejubelte das Volk die kühne That in Hoffnung auf bessere Tage, – da führte die Ermordung des deutschen und des französischen Consuls in Salonichi mit der Panzerflotte der Großmächte eine neue Demüthigung der hohen Pforte herbei. Letztere gab die verlangte Genugthuung. Während aber die fremden Schiffe wieder abdampften, hatte sich Bulgarien erhoben. Neue Metzeleien begannen: die Tscherkessen hielten eine Lorbeerernte in ihrer Art. Da nimmt eine Palastrevolution in Constatinopel dem Sultan Abdul Aziz Thron und Leben; Murad der Fünfte folgt ihm nach und winkt bereits mit dem Zeugnisse einer neuen türkischen Reichs-Aera, mit dem Verfassungsentwurf. Das Erstaunen über so Unerlebtes bannte sogar die zwei stärksten Revolutionsschwerter, die von Serbien und Montenegro, in die Scheide. Aber schon am 21. Juni machte Fürst Nikita sein ganzes Volk mobil, und eine Woche später erklärte Serbien der Pforte den Krieg.

Von jetzt an läßt die russische Diplomatie die Absicht ihrer Thätigkeit, Zeit für Rußlands Rüstungen zu gewinnen, immer leichter errathen. Dahin wies deutlich genug schon der Umstand, daß Rußlands Ansprüche an die türkische Nachgiebigkeit von jetzt an stets jedes gebührende Maß übersteigen. Als im September die Diplomatie zusammentrat, um den Gräueln in Bulgarien ein Ende zu machen, forderte Rußland nicht nur für die Großmächte das Recht, Bulgarien zu besetzen, sondern auch für bisherige slavische Vasallenstaaten der Türkei die Selbstständigkeit.

Endlich kam die große Botschafter-Conferenz in Constantinopel zusammen. Auch sie wurde russischerseits nur zum Zeitgewinnen ausgebeutet. Mitten in den Diplomatenhader hinein that die Türkei den kühnsten Schachzug gegen Rußland, indem sie „die türkische Constitution“ verkündete, welche, wenn auch noch so unvollkommen durchgeführt und noch so stark als Scheinstück mißbraucht, dennoch die Türkei wegen ihrer slavischen Bevölkerung des verführerischen Beispiels halber zum gefährlichsten Nachbar Rußlands machen mußte. Diese Gefahr ist offenbar erkannt worden, denn Rußlands Mobilisirung wurde auf’s Aeußerste beschleunigt und kein Mittel unversucht gelassen, um der constantinopolitanischen Conferenz zu einem ebenso späten wie für Rußlands Pläne praktische Ende zu verhelfen. Dies gelang nach Wunsch. Das gemeinsame Ultimatum, nach dessen Zurückweisung von Seiten der Pforte die großmächtliche Vertreterschaft auseinander ging, abermals ein „schätzbares Material“ zurücklassend, gab Rußland die Scheinberechtigung, die Execution gegen die Türkei im Namen Europas zu übernehmen. Denn jede Gewalt sucht nach einem Rechtsboden.

Ehe aber Rußland von den 700,000 Soldaten seiner Regimenterlisten nur ein Drittheil schlagfertig an den Feindesgrenzen aufstellen konnte, war Serbiens Kraft gebrochen und die Bulgarei in einer Weise „pacificirt“, die sogar einzelne Engländer erschütterte. Besser wußte der Fürst der Schwarzen Berge die Friedensverhandlungen in die Länge zu ziehen; mit gleichem Geschick erfand man in Petersburg eine neue Frage, um für die Vollendung der Rüstungen und die Möglichkeit, den Feldzug zu beginnen, noch ein paar Monate Zeit zu erübrigen: man erfand die Protocollfrage. Diese wanderte von Hof zu Hof, um das scheinbare europäische Executionsrecht Rußlands gegen die Türkei zu einem wirklichen zu erheben. Bekanntlich mißlang das Manöver, aber der Zweck war erreicht: die russische Armee stand am Pruth und in Kaukasien zum Marsch über die Grenze bereit; der Czar selbst überzeugte sich davon durch einen Besuch im Lager von Kischeneff und erließ am 26. April 1877 die Kriegserklärung gegen die Türkei.

Es ist in diesem Jahrhunderte der vierte Krieg, welchen Rußland gegen die Türkei führt. Welche Fortschritte in der Zwischenzeit die Völker beider Reiche in dem Streben nach Bildung des Geistes und einem menschenwürdigen Dasein gemacht, diese Frage müssen wir unbeantwortet lassen; in den Künsten der Zerstörung, in der „Kriegswissenschaft“, haben sie mit den cultivirtesten Westeuropäern gleichen Schritt zu halten gesucht. Dafür zeugt die Bauart und Armirung ihrer Festungen und Kriegsschiffe und die Armatur ihrer Truppen mit den besten Waffen neuester Erfindung. Natürlich gilt dies nur für den regulären Theil ihrer Armeen; bei der nicht geringen Zahl irregulärer Fußvolks- und Reitermassen wird manche Waffe zu Tage kommen, welche man bei uns nur noch als Rarität in Zeughäusern und culturhistorischen Sammlungen aufbewahrt. Wie Rußland wohl auch fernere Völker Asiens zum Heere ruft, ebenso wird das osmanische Reich seine Recrutirung ausdehnen, so weit der Halbmond herrscht oder die Fahne des Propheten blinden Gehorsam fordert. Ueber drei Erdtheile erstreckt sich diese Macht, die immer noch über mehr als vierzig Millionen Seelen verfügt. Zu diesen gehören auch die Bewohner der alten Barbareskenstaaten, deren Gebiet von Marokko bis Aegypten reichte. Die Beys von Tunis und Tripolis stellen bereits zum jetzigen Kriege ihre Contingente; der von Tunis kündigt namentlich 18,000 Mann Infanterie an und „5000 numidische Reiter“. Zu Letzteren werden auch die aus unserm heutigen Bilde dargestellten Vier gehören, welche unser Künstler in Tunis vor einem Waffenladen beobachtete und uns im Bilde sandte, ehe noch an den jetzigen Krieg zu denken war. Wir sind dem Zufalle dafür um so dankbarer, als unsere eigenen Künstler aus guten Gründen mit ihren Sendungen noch im Rückstande sein müssen.

Unsere Absicht, den Lesern eine dreifach colorirte Karte des Kriegsschauplatzes zu bieten, wird durch die große Auflage unseres Blattes, die das Erscheinen der Karte bis Mitte Juni hinausschieben würde, unmöglich gemacht. Da nun überdies billige Ansichten vom Kriegstheater inzwischen in Aller Hände gelangt sind, glauben wir den gehegten Plan ganz fallen lassen zu sollen und werden statt dessen unsern Lesern von Zeit zu Zeit, wenn nöthig wöchentlich, kleine in den Text gedruckte Karten vorführen, welche die augenblickliche Situation des Krieges verauschaulichen.

Eben, am Schlusse dieser Nummer, erhalten wir den ersten Kriegsbericht aus Rumänien, der nun in nächster Nummer folgen wird.

D. Red.



  1. Der Aufsatz „P. M. Leontjew und die russische Presse“ in der von Julius Rodenberg herausgegebenen „Deutschen Rundschau“ (Bd. V S. 187 und Bd. VI S. 242) ist ein neuer Beleg, mit welcher Unkenntniß Russland in der deutschen Presse behandelt wird. Das Verhältniß Leontjew’s zur „Moskauer Zeitung“, zu Katkow, wie zur russischen Presse wird dort durchaus falsch geschildert. Dabei wimmelt der Artikel von Schnitzern gegen die Elementarkenntniß russischer Zustände.
    Der Verfasser.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wähend
  2. Vorlage: Sautier