Die Gartenlaube (1876)/Heft 38
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No. 37. | 1876. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten. |
„Ich leugne diese Beobachtung keineswegs,“ entgegnete Wanda stolz, „aber Sie werden sich wohl selbst sagen, Herr Nordeck, daß jedes persönliche Interesse dabei von vornherein ausgeschlossen blieb.“
Er lächelte mit unverstellter Bitterkeit. „Sie haben vollkommen Recht. Bei Ihnen setze ich kein Interesse für meine Person voraus. Vor dem Verdacht sind Sie von meiner Seite sicher.“
Wanda wollte die Hindeutung nicht verstehen, aber sie vermied es doch, seinem Blick zu begegnen. „Sie werden mir wenigstens das Zeugniß geben, daß ich offen gewesen bin,“ fuhr sie fort. „An Ihnen ist es jetzt, nur meine Beobachtungen zuzugeben oder abzuleugnen.“
„Und wenn ich Ihnen nun nicht Rede stehen will?“
„So habe ich eben recht gesehen, und werde es ernstlich versuchen, meine Tante zu überzeugen, daß ihr Sohn nicht so ungefährlich ist, wie sie denkt.“
Der sarkastische Ausdruck von vorhin spielte wieder um Waldemar’s Lippen, als er antwortete. „Ihr Urtheil mag sehr hoch stehen, Gräfin Morynska, eine Diplomatin aber sind Sie nicht, sonst würden Sie Ihre Ausdrücke vorsichtiger wählen. Ungefährlich! Das Wort giebt zu denken.“
Die junge Dame schrak unwillkürlich zusammen. „Ich wiederholte nur Ihren eigenen Ausdruck von vorhin,“ sagte sie, sich rasch fassend.
„Ah so, das ist etwas Anderes. Ich glaubte schon, es ginge irgend etwas in Wilicza vor, bei dem meine Anwesenheit als eine Gefahr betrachtet wird.“
Wanda gab keine Antwort, sie sah jetzt erst ein, wie grenzenlos unvorsichtig es gewesen war, den Kampf gerade auf dieses Gebiet hinüberzuspielen, wo der Gegner sich ihr so vollständig gewachsen zeigte. Er parirte jeden Streich, gab jeden Schlag zurück und verstrickte sie zuletzt rettungslos in ihre eigenen Worte, und dabei hatte er den Vortheil der Kälte und Besonnenheit für sich, während sie nahe daran war, ihre ganze Fassung einzubüßen. Auf diesem Wege ging es nicht weiter, das sah sie, und so faßte sie denn einen raschen Entschluß und zerriß energisch das Netz, das ihre eigene Unvorsichtigkeit ihr um das Haupt gewoben hatte.
„Lassen Sie doch den Hohn!“ sagte sie, ihr großes Auge finster und voll auf ihn richtend. „Ich weiß ja, daß er nicht der erwähnten Sache, sondern einzig und allein mir gilt. Sie zwangen mich endlich doch, einen Punkt zu berühren, den ich sicher nie der Vergessenheit entrissen hätte, wenn Sie mich nicht immer wieder darauf zurückführten. Ob ein solches Benehmen ritterlich ist, will ich dahingestellt sein lassen, aber Sie fühlen wohl so gut wie ich, daß es uns in eine Stellung gebracht hat, die anfängt unerträglich zu werden. Ich habe Sie einst beleidigt, und Sie haben mir das bis auf den heutigen Tag noch nicht verziehen. Nun denn –“ sie hielt einen Moment lang inne und athmete tief auf – „ich war damals im Unrecht gegen Sie; ich gestehe es ein. Ist Ihnen das genug?“
Es war eine eigenthümliche Abbitte und noch eigenthümlicher die Art, in welcher sie ausgesprochen wurde. Es lag darin der ganze Stolz einer Frau, die recht gut fühlt, daß es für sie keine Demüthigung ist, wenn sie sich herabläßt, einen Mann dafür um Verzeihung zu bitten, daß sie ihn zum Spielball ihrer Laune gemacht hat. Gräfin Morynska besaß offenbar das volle Bewußtsein davon, sonst hätte sie sich auch schwerlich zu diesen Worten verstanden, aber die Wirkung derselben war eine ganz andere, als sie erwartete.
Waldemar war einen Schritt zurückgetreten und sein Auge richtete sich mit einem durchbohrenden Ausdruck auf ihr Antlitz. „Wirklich?“ sagte er langsam und jedes Wort schwer betonend. „Ich wußte nicht, daß Wilicza Ihrer Partei so viel werth sei.“
„Sie glauben –?“ rief Wanda heftig.
„Ich glaube, daß ich es schon einmal theuer habe bezahlen müssen, Herr dieser Güter zu sein,“ unterbrach er sie, und man hörte, daß es jetzt auch mit seiner Ruhe zu Ende ging; es lag in seinen Worten etwas wie wühlende Gereiztheit. „Damals galt es Wilicza meiner Mutter und ihren Interessen zu öffnen; jetzt soll es diesen Interessen erhalten werden, um jeden Preis, aber man vergißt, daß ich nicht der unerfahrene Knabe mehr bin. Sie haben mir selbst die Augen geöffnet, Gräfin, und jetzt werde ich sie offen halten, auf die Gefahr hin, von Ihnen der ‚Unritterlichkeit‘ geziehen zu werden.“
Wanda war todtenbleich geworden. Ihre herabhängende Rechte ballte sich krampfhaft in den Sammetfalten des Kleides.
„Genug!“ sagte sie, sich gewaltsam beherrschend. „Ich sehe, Sie wollen keine Versöhnung und nehmen Ihre Zuflucht zur Beleidigung, um jede Verständigung unmöglich zu machen. Nun gut, ich nehme die gebotene Feindschaft an.“
„Sie irren,“ versetzte Waldemar ruhiger. „Ich biete Ihnen keine Feindschaft; das wäre in der That eine Unritterlichkeit gegen –“
[628] „Gegen wen?“ rief die junge Gräfin mit flammenden Augen, als er inne hielt.
„Gegen die Braut meines Bruders.“
Wanda zuckte zusammen – seltsam, das Wort traf sie wie ein jäher schmerzlicher Stich; ihr Blick heftete sich unwillkürlich auf den Boden.
„Ich habe es bisher versäumt, Ihnen meinen Glückwunsch abzustatten,“ fuhr Waldemar fort. „Wollen Sie ihn heute annehmen?“
Sie neigte mit stummem Danke das Haupt; sie wußte selbst nicht, was ihr die Lippen schloß, aber es war ihr unmöglich, in diesem Augenblicke irgend eine Antwort zu geben. Es war das erste Mal, daß dieser Gegenstand zwischen ihnen berührt wurde, und mit der bloßen Erwähnung schien es auch schon genug zu sein, denn auch Waldemar fügte seinem Glückwunsche nicht eine einzige Silbe hinzu.
Der gelbe Schein am Himmel war längst verblaßt, und ein ödes trübes Grau an seine Stelle getreten; der Abendwind strich durch die halbentlaubten Gebüsche und rauschte in den Kronen der Bäume, die zum Theil noch den bunten Blätterschmuck trugen, aber er hing welk und matt an den Zweigen, und jetzt sank Blatt an Blatt hernieder und deckte den Rasen und die stille, dunkle Fläche des kleinen Sees. Es rauschte und flüsterte in dem dürren Laube wie eine leise Herbstesklage um all das Leben, das gegrünt und geblüht hatte im Sonnenglanze und nun zu Grabe ging. Düster stand der Wald mit seinen unheimlich dämmernden Schatten, hier auf der nebelathmenden Wiese aber wallten die feuchten Schleier immer dichter empor, schwebten hierhin und dorthin und ballten sich über dem Gewässer zusammen. Dort stand es jetzt wie ein weißes gespenstiges Luftgebilde, unruhig wogend und wallend, und griff mit seinen feuchten Nebelarmen nach den Beiden am Rande des Sees, als wollte es sie zu sich hinüberziehen, und zeigte ihnen tausend Bilder und Gestalten, eins das andere verdrängend, eins in das andere fließend, in endlosem Wechsel.
Man hörte nichts als das einförmige Rauschen des Windes, das leise fallende Laub, und doch klang es daraus hervor wie fernes, fernes Meeresbrausen, und aus dem wogenden Nebel tauchte es empor wie eine Fata Morgana, die grünen Zweige uralter mächtiger Buchen, umleuchtet von dem letzten Abendgolde, die blaue wogende See in ihrer unermeßlichen Weite. Langsam sank der glühende Sonnenball in’s Meer, und aus der Lichtfluth, die sich über die Wellen ausgoß, stieg sie wieder auf, die alte Wunderstadt der Sage, umwoben von Märchenduft und Zauberglanz; das Wunderreich that sich wieder auf mit seinen unermeßlichen Schätzen, und aus der Tiefe klangen die Glocken Vinetas, immer voller, immer mächtiger, wie sie geklungen hatten in jener Stunde auf dem Buchenholm.
Sie hatte nicht Wort gehalten, die Märchenstunde, wenigstens den Beiden nicht, die sie damals mit einander erlebten. Fremd und feindselig hatten sie sich getrennt; fremd und feindselig waren sie wieder einander begegnet, und so standen sie sich noch gegenüber. Der Jüngling war zum Manne geworden, der kalt und einsam durch das Leben ging; das Kind war zu einem Weibe voll Schönheit und Glück herangereift, aber was jene Stunde ihnen gegeben, das hatten sie Beide doch nie wieder empfunden; erst an diesem düstern Herbstabende wurde es wieder lebendig. Und als die Erinnerung jetzt zu ihnen herüberwehte, da versanken die Jahre, die dazwischen lagen, versanken Haß, Streit und Erbitterung, und nichts blieb zurück als das tiefe unaussprechliche Sehnen nach einem ungekannten Glück, das zum ersten Male aufgewacht war unter den Geisterklängen Vineta’s – nichts als der Traum beim Sonnenuntergange.
Waldemar war der Erste, der sich daraus emporiß; er fuhr heftig mit der Hand über die Stirn, als müsse er sich gewaltsam losreißen von all den Bildern und Gedanken.
„Wir thun wohl besser, nach der Försterei zurückzukehren und die Jagd dort zu erwarten,“ sagte er hastig. „Es fängt an zu dämmern und – man kann ja nicht athmen in diesem Nebelmeere.“
Wanda stimmte ihm sofort bei; auch sie wollte nicht länger sehen, was dieses Nebelmeer ihr zeigte, wollte diesem Zusammensein ein Ende machen um jeden Preis. Sie nahm die Schleppe ihres Reitkleides auf und machte sich zum Gehen bereit. Waldemar warf die Flinte über die Schulter, plötzlich aber hielt er inne.
„Ich habe Sie vorhin beleidigt mit meinem Verdachte; vielleicht war ich ungerecht. Aber – seien Sie aufrichtig gegen mich! – galt die halbe Abbitte, zu der Sie sich herabließen, wirklich Waldemar Nordeck? Oder galt sie nicht vielmehr dem Herrn von Wilicza, mit dem man eine Versöhnung sucht, damit er zuläßt oder doch wenigstens übersieht, was auf seinen Gütern geschieht?“
„Sie wissen also – –?“ fiel Wanda betreten ein.
„Genug, um Ihnen jede Besorgniß darüber zu nehmen, daß Sie vorhin unvorsichtig gewesen sind. Hat man mich wirklich für so beschränkt gehalten, daß ich allein nicht sehen sollte, was man sich sogar schon in L. erzählt, daß Wilicza der Sitz eines Parteigetriebes ist, dessen Seele und Mittelpunkt meine Mutter bildet? Sie dürfen mir ohne jede Gefahr zugeben, was bereits die ganze Umgegend weiß – ich wußte es, ehe ich hierher kam.“
Wanda schwieg; sie versuchte in seinen Zügen zu lesen, wie viel er bereits wisse, aber in Waldemar’s Gesicht ließ sich nun einmal nicht lesen. Es war und blieb verschlossen.
„Doch davon ist ja jetzt nicht die Rede,“ hob er wieder an. „Ich bat um Antwort auf meine Frage. War der Act der Selbstüberwindung vorhin ein freiwilliger oder wurde nur ein – Auftrag vollzogen? O, fahren Sie doch nicht so entrüstet auf! Ich frage ja nur, und Sie müssen es mir schon verzeihen, Wanda, wenn ich mißtrauisch bin gegen eine Freundlichkeit von Ihrer Seite.“
Die junge Gräfin hätte diese Worte wahrscheinlich als eine erneute Beleidigung angesehen und demgemäß geantwortet, hätte nicht etwas darin gelegen, das sie wider ihren Willen entwaffnete. Waldemar’s Haltung war eine andere geworden, seit er in den Nebel dort geblickt hatte; es fehlte das Eisige, Feindselige darin, auch seine Stimme klang anders als vorhin, weicher, halb verschleiert, und Wanda bebte leise zusammen, als er zum ersten Mal wieder nach Jahren ihren Namen aussprach.
„Wenn meine Tante mich einst unbewußt zum Werkzeuge ihrer Pläne benutzte, so rechten Sie mit ihr darüber und nicht mit mir!“ entgegnete sie leise, und es war, als habe eine unsichtbare Macht den Stachel aus ihren Worten genommen. „Ich ahnte nichts davon; ich war ein Kind, das nur den Eingebungen seiner Laune folgte. Jetzt aber –“ sie hob mit ihrem ganzen Stolze das Haupt – „jetzt stehe ich selber ein für mein Thun und Lassen, und was ich vorhin that, geschah auf meine alleinige Verantwortung. Sie haben Recht, es galt nicht Waldemar Nordeck; er hat mir seit unserem Wiedersehen keine Veranlassung gegeben, eine Versöhnung mit ihm zu suchen oder auch nur zu wünschen; ich wollte den Herrn von Wilicza zwingen, endlich einmal das geschlossene Visir zu öffnen. Es bedarf dessen nicht mehr. Seit der heutigen Unterredung weiß ich, was ich bisher nur ahnte, daß wir in Ihnen einen erbitterten, erbarmungslosen Gegner haben, der seine Macht im entscheidenden Augenblick brauchen wird, und müßte er auch alle Bande der Familie und der Natur mit Füßen treten.“
„Und an wen sollen mich denn diese Bande ketten?“ fragte Waldemar finster. „An meine Mutter vielleicht? Wir wissen es beide, wie wir mit einander stehen, und sie vergiebt es mir jetzt weniger als je, daß ich der Erbe des Nordeck’schen Reichthums geworden bin und nicht ihr Jüngstgeborener. An Leo? Es ist möglich, daß so etwas wie Bruderliebe zwischen uns existirt, aber ich glaube nicht, daß sie Stand halten wird, wenn unsere Wege sich kreuzen, wenigstens von seiner Seite nicht.“
„Leo wäre Ihnen gern als Bruder entgegen gekommen, wenn Sie es ihm nicht unöglich gemacht hätten,“ fiel Wanda ein. „Unzugänglich waren Sie immer, auch für ihn, aber es gab doch früher Momente, wo er Ihnen näher treten konnte, wo man eine Ahnung davon erhielt, daß Sie Brüder seien, jetzt dagegen hieße es seinem Stolze zu viel zumuthen, wenn er noch länger versuchen wollte, die eisige Abwehr zu durchbrechen, mit welcher Sie ihm und Allem gegenüberstehen, was Sie hier umgiebt. Es wäre ganz vergebens, wenn Mutter und Bruder Ihnen Liebe entgegentragen wollten; sie würde zerschellen an einer Härte, die nichts nach ihnen und nichts nach irgend Jemand in der Welt fragt.“
Sie hielt inne, denn Waldemar stand dicht neben ihr und sein Auge traf unmittelbar das ihrige.
[629] „Sie urtheilen sehr richtig und sehr schonungslos,“ sagte er langsam. „Haben Sie sich denn schon einmal gefragt, was mich hart gemacht hat? Es gab doch eine Zeit, wo ich es nicht gewesen bin, wenigstens gegen Sie nicht, wo ein Wort, ein Blick mich lenken konnte, wo ich mich geduldig selbst jeder Laune beugte. Sie hätten damals viel aus mir machen können, Wanda, vielleicht Alles. Daß Sie es nicht wollten, daß mein schöner ritterlicher Bruder schon damals bei Ihnen den Preis davontrug, war am Ende nur natürlich, was hätten Sie denn auch mit mir anfangen sollen! Aber Sie begreifen doch wohl, daß das ein Wendepunkt in meinem Leben gewesen ist, und wer da kein Talent hat zum Unglücklichsein, wie ich zum Beispiel, der wird hart und argwöhnisch. Jetzt freilich halte ich es für ein Glück, daß die Jugendschwärmerei so jäh zerrissen wurde, meine Mutter wäre sonst sicher auf den Gedanken gekommen, uns das Drama wiederholen zu lassen das vor einigen zwanzig Jahren hier spielte, als ein Nordeck eine Morynska heimführte. Sie hätten sich als sechszehnjähriges Mädchen vielleicht auch dem Familienwillen unterworfen und ich – das Schicksal meines Vaters getheilt. Davor sind wir Beide bewahrt geblieben, und jetzt ist das ja alles längst versunken und vergessen. Ich wollte Sie nur daran erinnern, daß Sie kein Recht haben, mir Härte vorzuwerfen oder mich anzuklagen, wenn diese Härte sich gegen Sie und die Ihrigen wendet. – Darf ich Sie jetzt nach der Försterei begleiten?“
Wanda fügte sich schweigend seiner Aufforderung; so gereizt und kampfbereit sie ihm auch im Anfange gegenüberstand, die Wendung, die das Gespräch schließlich nahm, hatte ihr die Waffen aus der Hand gewunden. Sie schieden auch heute als Feinde, aber sie fühlten Beide, daß der Kampf zwischen ihnen von dieser Stunde an ein anderer geworden war – vielleicht war er darum nicht leichter geworden.
Nebel athmend wie vorhin lag die Wiese, dichter und dichter umsponnen von den trüben Schatten der Dämmerung. Ueber dem See schwebte noch die weiße Wolke, aber jetzt war sie nur noch ein formlos zerfließender Nebel; das Traumbild, das ihr entstieg, war wieder versunken, ob auch vergessen – das konnten nur die Beiden wissen, die jetzt so wortlos neben einander hinschritten. Hier in den herbstlich öden Wäldern, in der unheimlichen Dämmerstunde hatte sie der Hauch der alten Meeressage aus dem fernen Norden umweht und ihnen wieder ihre Prophezeiung zugeflüstert. „Wer Vineta nur einmal geschaut hat, den läßt die Sehnsucht danach nicht wieder ruhen sein Lebenlang, und müßte sie ihn auch hinabziehen in die Tiefe.“
Die beiden Zimmer, welche Doctor Fabian im Schlosse bewohnte, lagen nach dem Parke hinaus, etwas abgeschlossen von den übrigen, und es hatte damit seine eigene Bewandtniß. Als die Fürstin die bisher unbewohnten Zimmer ihres ersten Gemahls für dessen Sohn in Bereitschaft setzen ließ, war natürlich auch Rücksicht auf den ehemaligen Erzieher genommen, der ihn begleitete, und ein anstoßendes Gemach für diesen reservirt worden. Es war freilich etwas klein und sehr unruhig, da es unmittelbar neben der großen Haupttreppe lag, aber nach Ansicht der Dame vollkommen geeignet für den Doctor, von dem sie ja wußte, daß in Altenhof nicht viel Umstände mit ihm gemacht wurden, am wenigsten von Seiten seines früheren Zöglings. Das mußte sich aber wohl bedeutend geändert haben, denn Waldemar hatte sofort nach seiner Ankunft jenes Gemach als völlig unzureichend verworfen, sich die auf der anderen Seite gelegenen Fremdenzimmer aufschließen lassen und ohne Weiteres zwei derselben für seinen Lehrer mit Beschlag belegt. Nun war aber gerade diese Wohnung eigens für den Grafen Morynski und seine Tochter eingerichtet worden, die oft Tage und Wochen in Wilicza verweilten, was der junge Gutsherr freilich nicht wissen konnte. Als jedoch Pawlick, der jetzt die Rolle eines Haushofmeisters im Schlosse spielte, den Mund zu einer Erwiderung öffnete, trat Waldemar ihm mit der kurzen Frage entgegen, ob die betreffenden Zimmer etwa zu den Wohnräumen der Fürstin oder des Fürsten Leo gehörten, und erklärte auf die verneinende Antwort sehr bestimmt: „Dann wird Herr Doctor Fabian sie von heute an bewohnen.“ Noch an demselben Tage war der in unmittelbarer Nähe befindliche Corridor, den die Dienerschaft häufig zu passiren pflegte, abgeschlossen und der Befehl ertheilt worden, künftig den Umweg über die Treppe zu nehmen, damit das fortwährende Hin- und Herlaufen den Doctor nicht störe, und dabei war es geblieben.
Die Fürstin sagte kein Wort, als man ihr diese Vorgänge meldete; sie hatte es sich nun einmal zum Gesetz gemacht, ihrem Sohne in Kleinigkeiten niemals zu widersprechen. Sie ließ sofort andere Zimmer für ihren Bruder und ihre Nichte in Bereitschaft setzen, so unangenehm ihr der „Mißgriff“ Waldemar’s auch sein mochte, aber es war am Ende natürlich, daß sie die unschuldige Ursache desselben, den armen Fabian, nicht gerade mit freundlichen Augen ansah. Freilich zeigte sie ihm das nicht, denn sie und das ganze Schloß machten bald genug die Erfahrung, daß Waldemar in Bezug auf seinen Lehrer jetzt äußerst empfindlich war und, so wenig Rücksicht er auch für sich selbst beanspruchte, jeden Mangel derselben dem Doctor gegenüber auf das Schärfste rügte. Es war dies fast die einzige Gelegenheit, wo er sein Gebieterrecht geltend machte. Hier geschah es aber auch mit einem solchen Nachdruck, daß Alles, von der Fürstin an bis herab zu der Dienerschaft, Doctor Fabian mit der größten Aufmerksamkeit behandelte.
Das war nun freilich keine schwere Aufgabe dem stillen, immer bescheidenen und höfliche Manne gegenüber, der Niemandem im Wege stand, fast gar keine Bedienung beanspruchte und sich für jede kleine Aufmerksamkeit dankbar bezeigte. Man sah ihn nicht viel, denn er erschien nur bei Tische, brachte den ganzen Tag bei den Büchern zu und war Abends meist bei seinem ehemaligen Zöglinge, mit dem er sehr vertraut zu sein schien. „Es ist der einzige Mensch, auf den Waldemar überhaupt Rücksicht nimmt,“ sagte die Fürstin zu ihrem Bruder, als sie ihn von dem Umtausch der Zimmer benachrichtigte. „Wir werden diese Laune wohl respectiren müssen, wenn ich auch nicht begreife, was er an diesem langweiligen Erzieher hat, den er früher so vollständig bei Seite setzte und den er jetzt förmlich auf Händen trägt.“
Wie dem nun auch sein mochte, die vollständige Aenderung des früheren Verhältnisses hatte einen unverkennbaren Einfluß auf Doctor Fabian ausgeübt. Seine Schüchternheit und Bescheidenheit waren ihm zwar geblieben; sie lagen zu tief in seiner Natur begründet, aber das Gedrückte, Aengstliche, das ihm sonst anhaftete, hatte sich zugleich mit der gedrückten Stellung verloren. Sein Aussehen war um Vieles kräftiger und frischer als ehemals; der mehrjährige Aufenthalt in der Universitätsstadt, die Reisen mochten das Ihrige dazu beigetragen haben, aus dem kränklichen, scheuen und zurückgesetzten Hauslehrer einen Mann zu machen, der mit seinem immer noch blassen, aber angenehmen Angesichte, seiner leisen, aber wohllautenden Stimme einen durchaus günstigen Eindruck machte und dessen eigene Schuld es war, wenn seine Schüchternheit ihm nicht erlaubte, sich irgendwie zur Geltung zu bringen.
Der Doctor hatte Besuch, ein bei ihm seltenes Ereigniß. Neben ihm auf dem Sopha saß Niemand anderes als der Herr Regierungsassessor Hubert aus L., diesmal aber augenscheinlich in der friedfertigsten Absicht und ohne jede Verhaftungsideen. Jener fatale Irrthum war es ja gerade, der die Bekanntschaft einleitete. Doctor Fabian hatte sich als einziger Freund und Tröster gezeigt in dem Mißgeschick, das über den Assessor hereinbrach, als die Sache bekannt wurde, und das geschah nur zu bald. Gretchen war „herzlos genug gewesen“, wie Hubert sich ausdrückte, sie mit allen Details ihren Bekannten in L. preiszugeben. Die Geschichte von der projectirten Verhaftung des jungen Gutsherrn von Wilicza machte die Runde durch die ganze Stadt, und wenn dem Herrn Präsidenten auch nicht amtlich darüber Vortrag gehalten wurde, so erfuhren Seine Excellenz sie doch, und der allzu eifrige Beamte mußte eine scharfe Mahnung hinnehmen, künftig vorsichtiger zu sein und, wenn er wieder verdächtige polnische Emissäre suche, nicht an die deutschen Großgrundbesitzer der Provinz zu gerathen, deren Haltung gerade jetzt von entscheidender Wichtigkeit sei. Auch in Wilicza war die Sache bekannt geworden. Waldemar selbst hatte sie der Fürstin erzählt; die ganze Umgegend wußte davon, und wo sich der arme Assessor nur blicken ließ, mußte er versteckte Anspielungen oder offenen Spott hinnehmen.
Er hatte gleich am nächsten Tage Herrn Nordeck einen Entschuldigungsbesuch [630] machen wollen, ihn aber nicht angetroffen, und da war es denn der Doctor gewesen, der, obwohl der Mitbeleidigte, sich doch großmüthig zeigte. Er empfing den ganz zerknirschten Hubert, tröstete ihn nach Kräften und übernahm es, die Entschuldigung zu vermitteln. Nun war aber die Zerknirschung des Assessors weder von allzu großer Tiefe noch von allzu langer Dauer; er besaß eine viel zu große Dosis Selbstbewußtsein, um zur Selbsterkenntniß zu gelangen, und schnellte wie eine Stahlfeder, die man gebogen, sofort wieder in seine frühere Haltung zurück, wenn der Druck nachließ. Der allgemeine Spott ärgerte und kränkte ihn, aber sein Vertrauen zu sich selber war nicht im Mindesten erschüttert. Jeder Andere hätte sich nach einem solchen Vorfalle möglichst ruhig verhalten, um die Sache erst in Vergessenheit zu bringen, und sich vorläufig nicht zu ähnlicher Aufträgen gedrängt, aber gerade das that Hubert mit einem wahrhaft fieberhaften Eifer. Es hatte sich bei ihm die fixe Idee festgesetzt, er müsse das Fiasco um jeden Preis wieder gut machen und den Collegen, dem Präsidenten und ganz L. zeigen, daß seine Intelligenz trotzalledem über jeden Zweifel erhaben sei. Jetzt mußte er nothgedrungen ein paar Verschwörer aufgreifen oder eine Verschwörung entdecken, gleichviel wo oder wie – das wurde zu einer Art Lebensfrage für ihn, und er war fortwährend auf der Jagd nach diesen beiden Objecten.
Wilicza blieb dabei nach wie vor sein Hauptaugenmerk, dieses Wilicza, dessen Gefährlichkeit man in L. sehr gut kannte und dem man doch niemals beikommen konnte, jetzt weniger als je, seit es sich zeigte, daß man so gar keine Hoffnungen auf die Anwesenheit des jungen Gutsherrn setzen durfte. Er war, obwohl ein Deutscher, doch gänzlich in den Händen seiner polnischen Verwandten und entweder mit ihrem Thun und Treiben einverstanden oder er kümmerte sich nicht darum, wie er sich denn überhaupt um nichts kümmerte, was auf seinen Gütern geschah. Dieses Benehmen, das in L. sehr hart beurtheilt wurde, fand gerade an dem Assessor seinen strengsten Richter. Hubert hätte in einer solchen Stellung natürlich weit energischer gehandelt und all die geheimen Umtriebe sofort niederschlagen und vernichtet; er wäre der ganzen Provinz ein leuchtendes Beispiel von Loyalität gewesen, hätte sich den Staat zum Danke verpflichtet und überhaupt alle Welt in Erstaunen gesetzt. Da er aber leider nicht Herr von Wilicza, ja nicht einmal Regierungsrath war, so blieb ihm nichts übrig, als die zweifellos existirende Verschwörung vorläufig erst zu entdecken, und darauf richtete sich denn auch sein ganzes Sinnen und Trachten.
Von all diesen Dingen war freilich nicht die Rede in dem Gespräche der beiden Herren. Man durfte es dem gutmüthigen Doctor Fabian doch nicht merken lassen, daß der Besuch bei ihm eigentlich nur dem brennenden Wunsche entsprang, endlich einmal Eingang in das Schloß zu finden, und so mußte denn ein Vorwand herhalten, der allerdings für den Assessor von Interesse war, den er aber füglich bei dem Administrator hätte zur Sprache bringen können, wo er und Fabian bisweilen zusammentrafen.
„Ich habe eine Bitte an Sie, Herr Doctor,“ begann er nach den ersten Einleitungs- und Begrüßungsreden, „einen kleinen Anspruch an Ihre Gefälligkeit. Es handelt sich dabei allerdings nicht um mich, sondern um die Frank’sche Familie, deren Haus Sie ja öfter besuchen. Sie sind als ehemaliger Lehrer des Herrn Nordeck jedenfalls des Französischen mächtig?“
„Ich spreche es allerdings,“ antwortete der Doctor, „bin aber in den letzten Jahren etwas aus der Uebung gekommen. Herr Nordeck liebt die Sprache nicht, und hier in Wilicza erweist man ihm und mir die Rücksicht, ausschließlich Deutsch mit uns zu reden.“
„Ja, ja, die Uebung!“ fiel der Assessor ein, „die ist es eben, die dem Fräulein Margaretha fehlt. Sie sprach ganz allerliebst Französisch, als sie vor einigen Jahren aus der Pension zurückkam, aber hier auf dem Lande mangelt ihr jede Gelegenheit dazu. Da wollte ich Sie denn ersuchen, bisweilen mit der jungen Dame französisch zu lesen oder zu sprechen; es fehlt Ihnen ja nicht an Zeit, und mich würden Sie dadurch ganz außerordentlich verbinden.“
„Sie, Herr Assessor?“ fragte Fabian betreten. „Ich muß gestehen, es befremdet mich einigermaßen, daß ein solcher Vorschlag von Ihnen ausgeht, und nicht von Herrn Frank oder dem Fräulein selbst.“
„Das hat seine Gründe,“ sagte Hubert in würdevollem Tone. „Sie werden vielleicht schon bemerkt haben – und ich mache ja auch durchaus kein Geheimniß daraus – daß ich gewisse Wünsche und Absichten hege, die sich in nicht allzuferner Zeit verwirklichen dürften. Mit einem Worte – ich betrachte das Fräulein als meine künftige Braut.“
Der Doctor bückte sich schnell nieder, um ein Blatt Papier aufzuheben, das am Boden lag, und das er angelegentlich betrachtete, obwohl es unbeschrieben war. „Ich gratulire Ihnen,“ entgegnete er einsilbig.
„O, das muß ich vorläufig noch ablehnen,“ lächelte der Assessor mit unbeschreiblicher Selbstzufriedenheit. „Wir haben uns gegenseitig noch nicht ausgesprochen, wenn ich auch sicher auf ein Ja rechnen darf. Offen gestanden, ich möchte erst als Regierungsrath, der ich baldigst zu werden hoffe, mit meiner Werbung hervortreten; eine solche Stellung macht doch immer größeren Effect, und Sie müssen wissen, Fräulein Frank ist eine sehr gute Partie.“
„Wirklich?“
„Eine ausgezeichnete Partie! Der Administrator ist ohne Zweifel ein reicher Mann. Was hat er in den zwanzig Jahren hier allein an Gehalt und Tantiemen bezogen! Es ist ja auch ausgemacht, daß er seine Stellung nur verläßt, um selbst Gutsherr zu werden, und ich weiß, daß er zu diesem Zwecke ganz bedeutende Capitalien flüssig macht. Fräulein Margarethe und ihr Bruder, der gegenwärtig auf der landwirthschaftlichen Akademie studirt, sind die einzigen Kinder; ich kann auf eine hübsche Mitgift und dereinst auf ein gar nicht unbedeutendes Erbtheil rechnen. Nebenbei ist die junge Dame ja auch ein reizendes liebenswürdiges Mädchen, das ich anbete.“
„Nebenbei!“ sagte der Doctor ganz leise, aber mit einer bei ihm ungewöhnlichen Bitterkeit. Dem Assessor entging der leise Ausruf; er fuhr mit großer Wichtigkeit fort:
„Frank hat bei der Erziehung seiner Kinder nichts gespart; seine Tochter ist lange Zeit in einem der ersten Institute P.’s gewesen und hat dort alles Mögliche gelernt, zu meiner großen Befriedigung, denn Sie werden wohl begreifen, Herr Doctor, daß mir in meiner künftigen Stellung die höhere Bildung meiner Frau unerläßlich ist. Man muß doch nothgedrungen repräsentiren, und da halte ich mich verpflichtet, schon jetzt dafür zu sorgen, daß die gesellschaftlichen Erfordernisse, wie Clavierspiel und Französisch, nicht in Vergessenheit gerathen. Wenn Sie also in Bezug auf das letztere die Güte haben wollten –“
„Mit Vergnügen, wenn Herr Frank und seine Tochter es wünschen,“ sagte Fabian in gepreßtem Tone.
„Gewiß wünschen sie es, aber eigentlich war ich es, der darin auf Ihre Gefälligkeit rechnete,“ erklärte Hubert, der offenbar sehr stolz auf seine kluge Idee war. „Als Fräulein Margarethe neulich klagte, daß sie nahe daran sei, ihr Französisch ganz zu verlernen, gerieth der Administrator auf den Gedanken, ihr bisweilen den Sprachlehrer aus der Stadt kommen zu lassen. Ich bitte Sie! einen jungen Franzosen, der gleich in der ersten Lehrstunde seiner Schülerin die Cour machen würde. Frank hat immer nur seine Landwirthschaft im Kopfe und kümmert sich nicht um dergleichen, aber ich war vorsichtiger. Ich wollte um keinen Preis den galanten Franzosen so oft bei dem jungen Mädchen wissen, ein älterer Herr wie Sie dagegen –“
„Ich bin siebenunddreißig Jahre alt,“ unterbrach ihn der Doctor.
„O bitte, das hat gar nichts zu sagen,“ lächelte Hubert, „bei Ihnen hege ich durchaus keine Besorgnisse, aber ich hätte Sie wirklich für älter gehalten. Ja, das kommt von der Stubenluft und den Büchern. Sagen Sie, Herr Doctor, wozu haben Sie denn eigentlich diese Menge von Büchern mitgebracht, die hier überall herumstehen, und was studiren Sie denn? Pädagogik vermuthlich, darf man einmal zusehen?“
Er stand auf und wollte sich dem Schreibtisch nähern, aber Doctor Fabian war schneller als er. Mit einer beinahe angstvollen Bewegung warf er ein Zeitungsblatt über einige brochirte Bände, die auf dem Tische lagen, und stellte sich davor.
„Es ist nur Liebhaberei,“ versicherte er, während ihm eine helle Röthe in das Gesicht stieg, „historische Studien.“
Jedes Volk erlebt einmal mindestens eine Zeit, wo das ganze Geschick desselben in der Hand eines Volkshelden zu ruhen scheint. Oftmals stirbt die Blüthe des Volkslebens für immer dahin mit diesem Helden; oftmals auch vererbt sich dieses Einen Geist und Charakter dem ganzen Volke in einer langen Reihe tüchtiger Geschlechter.
Auch in jedes Menschen Leben tritt mindestens einmal bahnbrechend und leitend der Einfluß eines einzigen hervorragenden Menschen zu Tage: zum Guten, zum Bösen. Dieser leitende Geist ist vielleicht unser Vater, unsere Mutter, vielleicht ein Lehrer, ein Buch, ein Vorgesetzter, ein Freund. In irgend einer Gestalt kommt er Jedem einmal im Leben.
So hat auch – wenigstens im alten Europa – jede nennenswerthe Stadt Tage gesehen, deren Glanz und Ruhm den Stempel eines einzigen bedeutenden Bürgers trug. Jenseit des Oceans mag das anders sein. Da muß es die Masse bringen. Von Massen werden Städte dort gegründet; Massen erheben sie zu Großstädten, der Einwohnerzahl nach; selten ragen Einzelne hervor im Meere der Zeit aus dem ungeheuren Gewoge der Mittelmäßigkeit. Aber bei uns, namentlich in Deutschland, wo so viel langsamer und historischer gelebt wird, stellt uns die große Epoche jeder unserer alten Städte auch scharf und klar das Bild eines Mannes vor Augen, dem diese einzige oder dauernde Blüthe zu danken war. Was wäre Berlin ohne Schinkel und Ranch, München ohne König Ludwig den Ersten, Dresden ohne die polnischen Auguste, Weimar ohne Karl August und Goethe, Straßburg ohne Erwin von Steinbach und die Humanisten, Colberg ohne Nettelbeck – und was wäre das moderne Leipzig ohne seinen heimgegangenen Bürgermeister Dr. Koch?
Der Schreiber dieser Zeilen ist kein Freund von Autoritäten. Er ist überzeugt, daß der gesunde Bürgersinn der Stadt Leipzig unter allen Umständen Tüchtiges schaffen, die Wohlfahrt, die Größe, den deutschen Ruf dieser Stadt stets fördern wird, gleichviel, wer immer an der Spitze der städtischen Verwaltung stünde. Dazu kommt, daß sicherlich ein ganz erheblicher Beitrag [632] zu der im letzten Jahrzehnte fast in amerikanischen Proportionen gewachsenen Bevölkerung der Stadt jenem gewaltigen Umschwunge der öffentlichen Verhältnisse in Deutschland zu danken ist, welche zum ersten Male den hohen Gedanken eines deutschen Reichsbürgerrechts, eines Heimathsrechts, allgemeiner Zug-, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit durch ganz Deutschland zur vollen Wahrheit werden ließen. Und es darf nicht Wunder nehmen, daß eine Stadt von der Lage, der Handelsblüthe und der Creditstrenge Leipzigs von diesem segensreichen Umschwunge den größten Nutzen für sein eigenes Wachsthum gezogen hat.
Aber all das kann und soll keineswegs die Verdienste des Mannes verkleinern, der Leipzig seit siebenundzwanzig Jahren als Bürgermeister durch alle Stürme und Wandlungen der Zeiten geführt hat. Vielmehr dienen diese Erwägungen nur zu einer gerechteren Würdigung seiner Absichten und seines Wirkens. Am reinsten zeigt sich die unvergängliche Bedeutung, die Bürgermeister Koch für seine Vaterstadt und für sein gesammtes sächsisches und deutsches Vaterland sich errungen, wenn man die Tage seiner Jugend, seines ersten öffentlichen Wirkens im Dienste seiner Stadt, seines Volkes vergleicht mit dem, was er am Ende seiner Tage erreicht und erfüllt sah.
Als Karl Wilhelm Otto Koch am 3. Mai 1810 im Hause des Rathsoberförsters Koch zu Grasdorf bei Leipzig das Licht der Welt erblickte, lastete auf Deutschland noch der ganze Jammer der Napoleonischen Fremdherrschaft. Auch auf dem Königreich Sachsen. Denn wenn auch der von Napoleon zum König beförderte Kurfürst von Sachsen als allertreuester Rheinbundfürst dem Frankenkaiser zur Seite stand, so war doch nicht vergessen, daß Sachsen vor vier Jahren erst noch an der Seite Preußens den unseligen Tag von Jena durchkämpft hatte. Furchtbar war dann der Entscheidungskampf, den das arme mißhandelte, entehrte, niedergetretene deutsche Volk mit der nie besiegten Uebermacht des Eroberers wagte; furchtbar vor Allem jene dreitägige Schlacht in der weiten Ebene Leipzigs, die wohl die früheste Erinnerung Koch’s ausmachte.
Aber der Siegespreis war die furchtbaren Opfer nicht werth. Für einen Welttheil hatte Deutschland geblutet, aber die Früchte seiner Opfer pflückten Andere. Ohnmächtiger und zerrissener als je trat das deutsche Land in die Tage des Friedens nach dem größten und herrlichsten seiner Kriege.
Am trübsten sah es wohl in Sachsen aus. Durch die unselige Theilung, welche das beim Wiener Congreß nach und nach von allen Verbündeten verlassene und verrathene Preußen, statt der beabsichtigten Annexion von ganz Sachsen, an dem Königreiche vollziehen mußte, war die Stimmung des Hofes, der Beamten, des Heeres, der ganzen sächsischen Bevölkerung auf’s Tiefste gegen Preußen erbittert. Die kleinliche Politik des Hofes und der väterliche Freund aller preußenfeindlichen Dynasten, Fürst Metternich, sorgten auf’s Kräftigste für Erhaltung dieser zwieträchtigen Gesinnung. Bis in die Mitte der Zwanziger Jahre ist die Haltung der sächsischen Regierung gegen die Zollvereinsbestrebungen Preußens die denkbar feindseligste. Erst im Jahre 1833 ist das Königreich, unter dem erleuchteten Lindenau, dem Zollvereine beigetreten.
Ich weiß, alles das ist den Lesern der „Gartenlaube“ aus hundert Schilderungen längst bekannt. Aber immer wieder muß daran erinnert werden, wenn wir einen Mann zu beurtheilen haben, der in diesem tiefsten Jammer deutscher Kleinstaaterei und vergeudeter Nationalkraft seine Jugend verlebte, seine Mannesjahre kommen sah. Wer in diesen Tagen nicht verkümmerte und verbitterte, sondern fähig war, den Glauben und die Thatkraft für eine herrlichere Zukunft der deutschen Nation zu bewahren und zu bethätigen, wahrlich, den müssen wir schon von Haus aus mit viel größerem Maße messen, als die Patrioten, denen heutzutage die Liebe zum deutschen Vaterlande so außerordentlich bequem gemacht wird.
Und Karl Wilhelm Otto Koch gehörte zu diesen edelsten deutschen Männern, deren unbeugsamen Mannesmuth und unausrottbaren Idealismus die zwei lange Jahrzehnte auf Deutschland lastende Reactionsnacht nicht zu verkümmern vermochte. Den Grund zu dieser herrlichen Weltanschauung und Charakteranlage legte außer dem trefflichen Vater die Nicolaischule (Gymnasium) Leipzigs und der Umgang mit einer Anzahl gleichstrebender Schüler dieser Anstalt. Koch ward das seltene Glück zu Theil, schon auf der Schule vielversprechende Freunde zu gewinnen, die, zu gleichem Streben mit ihm verbunden, ihm für das Leben treu zugethan blieben. Wir nennen als solche Jugendfreunde drei große Todte: Karl Bock, Weinlig (später die Seele der volkswirthschaftlichen Abtheilung des sächsischen Ministeriums des Innern) und den später weitberühmter Arzt Francke. Auf der Universität hielt sich Koch vom Verbindungsleben – das damals gerade auf den gefährlichen Bahnen geheimer Verschwörungen oder „gutgesinnter“ rein materieller Genußsucht wandelte – zwar fern, aber dafür schloß er auch hier die werthvollsten Verbindungen für’s ganze Leben. An seinem elterlichen Herde, der damals und bis zum Tode seines Vaters in dem zinnengekrönten Rathsforsthause zum Kuhthurme bei Leipzig sich befand, und in den herrlichen Anlagen, die daran grenzen, sammelte sich häufig eine gleichgesinnte Schaar jugendfroher bedeutender Menschen um Koch. Da sah man außer den bereits genannten Freunden vom Gymnasium her die Studenten der Rechte von Zahn, Stelzner, Craushaar, die heute als Geheime Räthe die höchste Staffel juristischer Carrière erklommen haben, dann als Werber um die Hand einer Schwester Koch’s Krug, der als Geheimer Rath und weithin gefeierter Jurist gestorben ist, endlich Karl Biedermann, der sich mit dem hohen Vorsatze trug, der deutschen Culturgeschichte einen Lehrstuhl an den deutschen Hochschulen zu bahnen. Biedermann gehörte bald, und namentlich nach Zurücklegung der beiderseitigen akademischen Studien, als das „Philisterium“ die Juristen unter den akademischen Freunden in alle Winde zerstreut hatte, zu Koch’s allerintimsten Freunden – ein Freundschaftsband, das später durch die Vermählung des jungen Docenten der Literatur- und Culturgeschichte mit Koch’s vorjüngster Schwester noch inniger sich gestaltete.
Alle Genossen dieser frohen natürlichen Jugendtage Koch’s erinnern sich noch heute mit Behagen, wie er schon damals als leitender und ordnender Geist unter ihnen wirkte. Sein merkwürdiges Talent zum Anstellen, Anregen und Organisiren zeigte sich Allen im hellsten Lichte, als er mit den Freunden, Schwestern und deren Freundinnen im Elternhause und im Hause seines Schwagers Neubert ein kleines Liebhabertheater organisirte, dessen Seele er war. Auch einem anderen hatte er schon als junger Student als Hauptregisseur und -Faiseur gedient; er hatte hier sogar die öffentliche Aufführung der „Emilia Galotti“ ermöglicht und dabei auch Mitglieder des Stadttheaters zur Mitwirkung gewonnen, die sich seiner Regie zu fügen hatten. Kein Wunder, daß der spätere Bürgermeister dann und wann einmal sich auch dem städtischen Theater gegenüber als Oberregisseur fühlte und zur Geltung brachte. Und auch eine andere Eigenschaft seines Wesens trat schon damals hervor, die jedem mächtig wirkenden Charakter angeboren, vor Allem aber jenem Holze eigenthümlich ist, aus dem historische Bürgermeister geschnitten werden – denn jeder echte Bürgermeister muß etwas vom Tyrannen von Mottenburg an sich haben – jene starke, unbeugsame Willenskraft, die im Interesse der von ihm richtig erkannten und praktisch durchgeführten Sache das Widerstreben von Personen durch einen eisernen Machtspruch und einen in der Form manchmal rauhen, harten und unangenehmen Anstrich seines Wesens unbedingt und nachhaltig zu brechen wußte.
Aber wie weich und herzlich war er allen Denen, denen er wohl einmal im Interesse der von ihm vertretenen oder beabsichtigten höheren Zwecke wehe thun mußte, oder auch nur einmal wehe gethan zu haben glaubte! Ein Mann, der Jahrzehnte lang später an seiner Seite geschritten ist in der Verwaltung der Stadt Leipzig, ruft in einem Briefe dem theuren heimgegangenen Chef und Collegen noch im Grabe nach: „Sein Herz treu, offen und bieder, erfüllt von edler Bonhomie – ich finde nicht gleich den rechten deutschen Ausdruck – war er ein Vater jener Beamten, oft rasch und aufbrausend, aber nie nachtragend und mit rührender Offenheit und Treue dann selbst die Hand zuerst bietend und bittend, wenn er in seinem Eifer einmal etwas zu weit gegangen war oder nur gegangen zu sein glaubte.“
Doch greifen wir nicht vor! Koch hatte bei Beendigung seiner akademischen Studien die Absicht, die höhere Steuercarrière zu durchlaufen. Er begann sie als Actuar beim königlichen Steueramt zu Leipzig. Für ihn und für die ganze Stadt ward diese seine Stellung hochbedeutsam. Denn hier, im steten Verkehr [633] mit den namhaftesten Großhändlern der alten Meß- und Handelsstadt, in dem liebenswürdigen, bald von der ganzen Handelswelt Leipzigs dankbar erkannten Streben des jungen Beamten, die Plackereien und Schwierigkeiten der Verzollung und Versteuerung im Interesse des freien Handels- und Meßverkehrs möglichst zu erleichtern, reifte in Koch der Gedanke zu einem der segensreichsten und fruchtbarsten Pläne seines Lebens, zur Einrichtung von Lagerhäusern in Leipzig, in denen die zum bloßen Durchgangsverkehr bestimmten Güter unter Zollverschluß friedlich lagern konnten, ohne den zeitraubenden und kostspieligen Verzollungsformalitäten beim Ein- und Ausgang aus dem Zollvereinsgebiet ein- bis zweimal unterworfen zu werden. Auch dankt speciell die Stadt Leipzig, ja Sachsen und ganz Deutschland den Erfahrungen, welche der junge Steuerbeamte in den ersten Jahren seines praktischen Wirkens sammelte, das tiefe Verständniß und das hohe Interesse, welches der spätere Bürgermeister und Abgeordnete der Ersten sächsischen Kammer, Dr. Koch, in allen wichtigen Handels- und Zollfragen zum Segen unserer ganzen Wirthschaft bekundete und, unbekümmert um den Zorn des allmächtigen Beust, vor dem ganzen Lande oder an Allerhöchster Stelle freimüthig zur Geltung brachte. Die großen Freihandelserrungenschaften, die unter dem Schutze Preußens sich zu Anfang der sechsziger Jahre vom Westen Europas her auch im deutschen Zollverein Bahn brachen, haben an Koch stets ihren beredtesten und unerschrockensten Anwalt gefunden.
Vermuthlich um die volle Unabhängigkeit zu gewinnen, welche die Beamtencarrière dem selbstständigen Feuerkopf auf ihren unteren Staffeln nie gewähren kann, verließ Koch zu Anfang der vierziger Jahre den Staatsdienst und wurde Advocat in Leipzig. Er hatte zuvor mit den Spitzen des Leipziger, ja deutschen und ausländischen Handelsstandes werthvolle Verbindungen angeknüpft. Sein wunderbar praktisches Geschick, seine rasch entschlossene sichere Behandlung und Ausführung schwierigster Fälle und die selbstverständlich über jeden Zweifel erhabene Solidität und Ehrenhaftigkeit seiner Person und Handlungsweise machten ihn rasch zu einem der geachtetsten und beschäftigtsten Sachwalter seiner Vaterstadt, mit einer ebenso einträglichen wie auch sachlich interessanten und bedeutenden Praxis. Bis nach Krakau, Kopenhagen etc. führte ihn die Vertretung seiner Clienten.
Damit war die Basis geschaffen für eine freundliche deutsche Häuslichkeit, nach der sein Herz sich sehnte. Im Jahre 1842, wenige Woche nach seinem Schwager Biedermann, führte auch er die Braut zum Altar, die zweite Tochter des berühmten Theologen und Superintendenten Tzschirner, Bertha, ein durch Geist, Gemüth und Erziehung gleich ausgezeichnetes Mädchen, die ihm in seinem vielbewegten Leben, in guten wie bösen Tagen, die würdigste, treueste Gattin gewesen ist und mit ihm leider auch den tiefsten Schmerz des Elternherzens, hoffnungsvolle Kinder durch den Tod zu verlieren, wiederholt durchleben mußte. Mit seinem reichbegabten Sohne Ernst trug ich einst dasselbe Burschenband der „Wartburg“. Wir mußten den treuen Gesellen schon 1861 wegen vorgeschrittener Symptome von Tuberkulose nach dem milden Meran ziehen lassen. Als wir ihm das große Geleite zum Bahnhofe gaben, meinte er selbst, es sei wohl der letzte Abschied. Er kehrte nach langer Zeit zurück, scheinbar geheilt, doch rasch erneuerte das rauhe Klima der Vaterstadt das alte tückische Leiden, und an seinem einundzwanzigsten Geburtstage, 1864, entschlief er. Eine blühende Tochter Koch’s wurde in noch kindlichem Alter, während des Aufenthaltes der Familie in Meran, plötzlich von einer Adergeschwulst am Halse befallen, an der sie starb. Auch die jüngste Tochter kränkelte lange und schwer. Wer Koch in solchen Tagen schweren häuslichen Kummers sein tiefstes Herz in den weichsten und wahrsten Tönen menschlichen Leides ausklagen hörte, der konnte wohl an dem reichen Gemüthsleben dieser nach außen mit so tapferer Herzenshärtigkeit gekehrten Natur nicht zweifeln. Er mußte aber auch um so höher schätzen die rücksichtslose Selbstüberwindung, die trotz dieser häuslichen Sorgen nimmer erlahmte im Dienste öffentlicher Pflicht.
Zum ersten Male im politischen Leben hervorgetreten ist Koch im Jahre 1840, wo er sich durch seinen Schulfreund Raymund Härtel (den bekannten „Stadtältesten“ Leipzigs) zum Protocollführer des Comités gewinnen ließ, welches das große Buchdruckerjubiläum vorbereitete. Auch seine Häuslichkeit ward bald ein Brennpunkt für geistreiche und politische Strebungen. Hier verkehrten Härtel, Georg Wigand, Gustav Mayer und jüngere Männer, die der Schwager Biedermann als Docent dem Hause Koch’s zuführte: Cichorius (gestorben als Vicebürgermeister Leipzigs), Klemm (jetzt sächsischer Oberappellationsgerichts-Rath), beide Wencks (der Geschichtsprofessor und der Vicepräsident des Leipziger Appellationsgerichts), Stephani, Berthold Auerbach, Gustav Kühne, der Maler und Schriftsteller Pecht. Dieser weitere Bund hieß die „Maikäfergesellschaft“ und flog, seinem Namen getreu, im Wonnemond der Jugend und des Frohsinns hinaus in Garten, Flur und Wald, oder schwärmte bis tief in die Nacht, wie Maikäfer nur schwärmen können, aber – wie Schartenmeier singt – „sich des höhern Zwecks bewußt“. Ein engerer Bund aber, der sich hiervon abzweigte, hieß das „Landtagskränzchen“ und verfolgte rein politische Zwecke. Hier berieth Koch mit Biedermann, Cichorius, Stephani, G. Wigand, Klemm, Stadtrichter Steche, Dufour, dem alten wackern Pohlentz, vorübergehend auch mit – von der Pfordten (!), die Aufgaben und die Thätigkeit des sächsischen Landtags vor und nach der Session – eine vortreffliche und nachahmungswerthe Vorschule für parlamentarisches Wirken, die plötzlich für fast alle Theilnehmer die besten Früchte tragen sollte.
Denn mit dem Jahre 1845, der deutschkatholischen Bewegung, die unter Ronge und Robert Blum in das Land drang, und mit der tiefen Bewegung, welche sich in Folge der unglückseligen Leipziger Augustereignisse in der Leipziger Bürgerschaft festsetzte, brach plötzlich eine neue Aera in der städtischen Verwaltung Leipzigs herein. Die bis dahin kleine Zahl der Liberalen im Stadtverordneten-Collegium – zu welcher Koch schon gehörte – ward wesentlich verstärkt durch neugewählte liberale Männer (wie Hirzel, Reimer, G. Mayer, Biedermann, beide Wigands und eine noch weiter links gehende Gruppe (Robert Blum, Bertling, Rüder, Löwe etc.) und zwar so, daß das alte conservative Element in der Minorität blieb und durch die Wahlen des Jahres 1847 noch mehr in die Minorität gerieth. Bedeutsam für die neue Signatur dieses Collegs erscheint der Antrag Koch’s auf einen Protest des Collegs gegen die von einem Theile der orthodoxen Geistlichkeit versuchte Wiederherstellung des Athanasischen Glaubensbekenntnisses bei der Taufe. Als Mitglied und Vorsitzender des „Verfassungsausschusses“ der Stadtverordneten suchte Koch sein organisatorisches Talent vornehmlich zum Zwecke der Ausarbeitung eines Localstatuts für Leipzig (1846/47), welches aber vorerst noch an den zopfigen Vorstellungen scheiterte, die damals auf dem Leipziger Rathhause herrschten, zur Geltung zu bringen.
In fruchtbarster Weise war so der Boden vorbereitet, in welchen das Jahr 1848 Sturm säete. Schon seit den Februartagen gewann das Leipziger Stadtverordneten-Collegium beinahe die Bedeutung eines Landtages für Sachsen. Es nahm schon Anfang März eine Adresse an den König an – bei deren Abfassung und Zustandekommen Koch den wesentlichsten Antheil hatte – auf Gewährung von Preßfreiheit und Berufung eines deutschen Parlaments. Unverrichteter Sache kehrte die Deputation von Dresden zurück. Da gährte es in den Massen. Ohnmächtig und lendenlahm standen die überalten Menschen auf dem Rathhause dem Drange des großen „Völkerfrühlings“ gegenüber. „Nieder mit den Ministern!“ donnerte Robert Blum vom Balcon des Rathhauses. „Nieder mit dem System!“ rief zornig das Stadtverordnetencolleg, als es Koch mit der zweiten drängenderen und drohenderen Deputation nach Dresden an den König sandte. Und das „System“ brach elend zusammen. Zusammen brachen die alten Rathsherren zu Leipzig. Bürgermeister Groß, Vicebürgermeister Otto und der alte Stadtrath Demuth legten ihr Amt nieder, da es Männer forderte.[WS 1] Es war Platz vorhanden für Männer. Am 19. April 1848 wurde Koch mit zweiundvierzig von dreiundfünfzig Stimmen zum Vicebürgermeister gewählt, am 13. Mai erfolgte seine Einweisung in das Rathscolleg. Er entsagte einer finanziell weit glänzenderen Stellung als Anwalt, um jene Pflichten gegen seine Stadt zu üben, die nur Leipzigs beste Söhne vollbringen konnten. Von Anfang an drängte er den mit ihm gewählten neuen Bürgermeister Dr. Klinger bedeutend in den Hintergrund. Vorläufig aber war der Schauplatz seines Wirkens derjenige der Versammlung der Nation.
[634] Die Ereignisse nahmen unaufhaltsam ihren Fortgang. Was Anfang März mit non possumus von den Höfen beantwortet wurde, gehörte wenige Wochen später bereits zu den „Märzerrungenschaften“, so unter anderen Kleinigkeiten auch ein deutsches Parlament. Koch wurde als Abgeordneter für Borna in die Nationalversammlung nach Frankfurt am Main entsandt. Er nahm bereits Mitte Mai seinen Sitz daselbst und gehörte zu den Schweigern. Er hat nur ein einziges Mal über eine volkswirthschaftliche Tagesfrage gesprochen. Desto eifriger und wirkungsvoller war seine Thätigkeit im „Club“ – wir würden heute sagen: in der Fraction – zuerst des „Württemberger“, dann des „Augsburger Hofes“, immer mit Biedermann zusammen. Das große Bild der Erbkaiserpartei aus jenen Tagen zeigt auch seinen scharfen klaren Kopf. Oftmals riefen ihn die dringendsten Sorgen der städtischen Geschäfte, welche die wohlmeinende Nonchalance Klinger’s verwickelt hatte, nach Leipzig. Gleichwohl nahm er den ihm von der Stadt regelmäßig gezahlten Gehalt nicht an. Er wurde angesammelt und bildete später nach Koch’s eigener Anordnung den Grundstock zu den so segensreichen „Privatfonds“ des Rathes, einer Trosthülfe für manche still und verborgen geweinte Thräne, einer Quelle zur Linderung mancher drängenden, aus öffentlichen Mitteln nicht zu beseitigenden Noth.
So wirkt noch heute der Segen seiner Anordnung aus jenen Tagen, da er den Interessen der ganzen Nation diente, fort nach seinem Heimgange, wie die Strahlen der Sonne noch lange wärmend nachwirken, auch wenn das Gestirn unseren Blicken entschwunden.
Nach der verunglückten Kaiserwahl im Frühjahre 1849 kehrte er dauernd nach Leipzig zurück. Die Stadt hatte ihn wahrlich nöthiger als je. In Dresden war der Maiaufstand ausgebrochen. Ungestüm forderten, unter Arnold Ruge’s Führung, die republikanischen Vereine Leipzigs und der Umgegend, daß der Rath die provisorische Regierung ausrufe, Waffen an das „Volk“ vertheile und zum „Zuzug“ nach Dresden einlade. Klinger war bereit, nachzugeben; hin und her schwankte der Rath. Aber Koch widerstand. Er setzte durch, daß Waffen und Zuzug verweigert, die in Leipzig errichteten Barricaden gestürmt wurden und daß die Stadt, bei dem Interregnum in Sachsen, wo es thatsächlich nirgendwo eine findbare Regierung gab, unter den Schutz der provisorischen Centralgewalt in Frankfurt sich stellte. Später wollte man ihm wegen dieses klugen Schrittes einen kleinen Hochverrathsproceß machen und zog ihn wenigstens zu strenger Verantwortung, da der Hochverrath nicht auf einen grünen Zweig zu bringen war. Beust war erfinderisch.
An allen letzten Anstrengungen, die Errungenschaften des großen Jahres zu retten, nahm Koch lebhaftesten Antheil, obwohl ihn die Gemeindevertretung Leipzigs am 13. Juni 1849 mit einundfünfzig von vierundfünfzig Stimmen zum Bürgermeister gewählt und er am 30. Juni dieses Amt angetreten hatte. Er nahm im Juli 1849 an der Versammlung der alten Frankfurter Genossen in Gotha Theil. Er ließ sich von Leipzig auf den Landtag von 1849 bis 1850 wählen, dem immer unverhüllter die deutschfeindliche Reaction unter Beust entgegentrat. Er gehörte hier mit Schwarze, Raschig, Ziesler, Braun, Biedermann dem „deutschen Ausschuß“ an. Er sprach in der deutschen Frage vor der Kammer. Er weigerte sich mannhaft, in die erste Kammer der durch den Beust’schen Staatsstreich „reactivirten“ Stände einzutreten. Unbeschreiblich sind die Anfeindungen einer feilen Presse und Meute, die Maßregelungen einer übermüthigen Reactionsregierung gewesen, die ihm aus diesem Anlaß bereitet wurden. Mit faunischem Behagen drohte ihm Beust mit Disciplinaruntersuchung, Amtsentsetzung. Die eigene Zukunft, die ihm dann beschieden war, stand sicher und sorgenlos vor seinem Blicke. Aber was sollte aus der geliebten Stadt werden, die ihm ihr Bestes anvertraut hatte, wenn ein reactionärer Bürgermeister an seine Stelle trat? Was aus der freien Blüthe der städtischen Schulen, der Selbstregierung der Stadt bis auf die Polizei, was aus der Fülle herrlicher Pläne für die Zukunft der Stadt, die er für eine friedliche, ruhige Zeit zurückgelegt hatte? Und wer in aller Welt begriff und dankte das Opfer seiner Entsetzung, wenn er es brachte? Von der grenzenlosen Gleichgültigkeit, die in jenen Tagen Alle, auch die besten, eifrigsten Patrioten, ergriffen hatte, haben nur diejenigen eine Ahnung, welche quellenmäßig in jenen Zeiten lesen – welche Seiten voll der niederbeugendsten Thatsachen! Man kann nicht lange, nicht ohne tiefste Zornesröthe dabei verweilen.
Auf’s Heftigste in seinem Innersten erregt durch diesen großen Seelenkampf, ist Koch in eine schwere Nervenkrankheit gefallen, von der er nie wieder völlig geheilt wurde. Seine körperliche Schwäche und Gemüthskrankheit benützten wohlmeinende Freunde, um ihn zur Nachgiebigkeit zu bereden im Interesse der guten Stadt. Er folgte ihrem Rath und nahm seinen Sitz ein in der Kammer, die er für verfassungswidrig hielt. Ein Volk von Catonen könnte ihm den Schritt nicht verzeihen, wie er selbst nie es that. Aber dieses Volk war nicht da. Er hat dem Gemeinwesen ein höheres Opfer gebracht, indem er gegen seine persönliche Ueberzeugung handelte, als wenn er Recht behalten hätte. Er hat auch Sachsen und Deutschland mehr genützt auf diese Weise.
Er ist fortan in der Kammer des nach Alleinherrschaft in der Regierung strebenden sächsischen Adels jahrzehntelang fast der einzige Mann gewesen, der stolz und unerschütterlich die Rechtsgleichheit der Staatsbürger, die hohen Rechte des gesammten deutschen Volkes auf eine gemeinsame kräftige Staatsverfassung vertrat. Er verdient unsern Dank dafür auch heute noch, wo wir lange erreicht, was er gewollt, was ihm so oft von den erlauchten Collegen höhnend bestritten wurde. Wer gedächte nicht jener nur unter der Aegide eines Präsidenten von Friesen möglichen Scene, wo der berufene Kammerherr von Zehmen im Jahre 1868 Koch mit den Worten Cicero’s anredete: „Quousque tandem, Catilina, abutere patientia nostra (Wie lange noch willst Du, Catilina, unsere Geduld mißbrauchen)?“ und Koch durch seine mannhafte Erwiderung zahllose Glückwunschadressen aus dem mächtig erregten Bürgerthume erhielt?
Und in derselben langen Periode, da Deutschland im Todesschlummer unter der Reaction seufzte und der kluge zweite Brühl in Dresden durch Entfesselung und Hebung aller materiellen Strebungen und Güter die Geister mit seinem Rechtsbruche und seiner undeutschen Politik zu versöhnen suchte, in dieser Zeit vollzieht Koch den gewaltigen Aufschwung Leipzigs. Das Ideal seines ersten praktischen Wirkens, die Lagerhäuser, werden gebaut. Die Georgenhalle, das Museum, das neue Theater folgen, zuletzt der riesige Prachtbau des neuen Krankenhauses. Schulen schießen wie Pilze aus der Erde. Die alten hölzernen Mauern werden beseitigt, der alte ungesunde Stadtgraben ausgefüllt und in breitem Gürtel um die innere Stadt in den Stolz Leipzigs, die neuen Promenaden, umgewandelt. Vor Allem aber faßt und verwirklicht er den Gedanken, der Stadt von weit her gutes Trinkwasser zuzuführen. In riesigen Verhältnissen wachsen die Aufgaben und Ausgaben, aber auch die Seelenzahl und die Mittel des reichen Gemeinwesens.
Und dann, als endlich wieder ein neues nationales Leben in Deutschland pulsirte und Leipzig so oft der Mittelpunkt deutscher Feste, deutscher Wanderversammlungen war – wer hätte Koch’s markige, von tiefstem nationalem Geiste getragene Empfangsreden vergessen? Auch Fürsten und Königen hat er oft echt deutsche Begrüßungsworte gesprochen. Seine letzte Sorge war, daß der deutsche Kaiser in Koch’s geliebtem Leipzig würdig empfangen wurde. Die Hoffnung, diese Tage selbst zu erleben, sollte ihm nicht in Erfüllung gehen – es sollte sich nicht erfüllen jener tausendstimmige Segenswunsch, den Leipzig am fünfundzwanzigjährigen Amtsjubiläum seinem Bürgermeister darbrachte. Am 14. August 1876 Abends hat sich dieses klare Auge für immer geschlossen.
Mit tiefer Rührung gedenke ich jener Stunde, da Bürgermeister Koch am Beginne dieses Jahres uns zum letzten Male im Colleg der Stadtverordneten die vollendete Arbeit des vergangenen Jahres vorführte. Um ein Menschenalter streifte sein Blick rückwärts, in eine Zeit, an deren Anfang auch der Anfang seines städtischen Wirkens lag. Und wie herrlich, wie völlig frei von jedem Eigenlobe war das Bild urkräftiger, ureigenster Entwickelung, welches die Stadt, der er sein Leben bis zum letzten Augenblicke gewidmet, in diesen dreißig Jahren bot! Nun, da Er von uns genommen ist, klingt der bescheidene Rückblick wie die rühmlichste Grabrede, die ein großer Mensch sich wünschen kann.
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Mitten im südatlantischen Ocean, zwischen den Küsten zweier Continente, liegt einsam und allein die Felseninsel St. Helena. Hunderte von Meilen trennen sie von der Schwesterinsel Ascension. Von der gewaltigen Kraft des unterirdischen Feuers aus den Tiefen emporgehoben, scheint sie wie eine „ungeheure düstere Arche“ auf dem Meere zu schwimmen. Vergebens schweift das Auge über die starren Felswände, die zerrissenen, zerspaltenen Klippen; vergebens durchforscht es die dunklen Schluchten. Den felsigen Abhang verschönt weder Gras noch Moos mit grünender Decke; im öden Gestein haftet weder Baum noch Strauch. Nackt, hart und trostlos wie das Schicksal, das den Verbannten gleich Prometheus an das öde Eiland schmiedete, steigen die massigen Basaltmauern aus der brausenden See.
Wie unser Schiff hart an der eisernen Küste hinglitt, sahen wir deutlich, wie hier die Elemente miteinander gerungen. Wo sich die Brandung schäumend an der steilen Felswand bricht, scheint es dem Auge, als wären Galerien aus dem Steine herausgesprengt, als wären Tunnel von Menschenhand gebohrt, als hätte man Brücken von Klippe zu Klippe geworfen. Der harte Basalt hat dem steten unermüdlichen Angriffe des Wassers widerstanden, aber der weichere Tuffstein ist herausgewaschen, und so bietet der Küstensaum ein abenteuerliches Bild grotesker Architektur. Es ist, als ob das Gerippe geblieben, während die zarteren Theile verzehrt sind.
Zwischen den Trümmern treiben die Wellen ihr wunderbares Spiel. Langsam rollt die See zurück mit gurgelndem Tone, in die Trichter und Höhlen verschwindend, welche sie selbst gegraben, um im nächsten Augenblicke mit donnerähnlichem Tosen die Fluth gewaltigen Fontainen gleich durch die engen Spalten in die Höhe zu schleudern. Wem ruft dieser Anblick nicht Schiller’s „Taucher“ in’s Gedächtniß!
Die unwirthsame Küste scheint jeden Versuch zu landen drohend abzuweisen. Vergebens suchen wir nach einer Oeffnung in diesen Felsenmauern, bis endlich in engem Thale, von steilen Felswänden eingezwängt, Jamestown, der einzige Ort der Insel, vor uns liegt. Auf der offenen Rhede ist ein ziemlich reges Leben. Hier ein großer Postdampfer, soeben vom Cap gekommen und schon wieder zur Weiterfahrt nach Southampton rüstend; dort ein paar Walfischfänger, mit ihrer schmutzigen Arbeit beschäftigt; in der Ferne weiße Segel, dunkle Rauchwolken. Schiffe kommen und gehen hier täglich. Die Insel ist reich an Frucht und Gemüse und hat vorzügliches Wasser. Wir lassen unsern Anker dicht neben einem großen Schiffe fallen. Eine ganze Flotille von Booten segelt und rudert um die Schiffe her. Obst, Elfenbein, Vögel, Korallen, Ketten und Täschchen von Samenkernen, Alles, was das Eiland hervorbringt und den Käufer anlocken kann, wird von der munteren schwarzen Schaar feilgeboten. Wir nehmen uns ein Boot, und glücklich den höchst desperaten Attaken verschiedener Händler und Händlerinnen entgehend, landen wir unter einigen Schwierigkeiten auf dem Grunde, der aus dem sicheren Felsen gehauen dem Wellenschlage mehr als angenehm ausgesetzt ist.
Jamestown liegt in einer engen Schlucht, die nur wenige hundert Schritte breit ist; ein Bach stürzt sich mit reißender Schnelle durch die kleine Stadt dem Meere zu. Die Gebäude sind wenig ansprechend. Wie die Bevölkerung sich in Europäer und Afrikaner theilt, so scheidet sich auch die Stadt in zwei Theile, der eine von Schwarzen, der andere von Weißen bewohnt. Die Insel verdankt ihre Ansiedelung der Ostindischen Gesellschaft. Portugiesen und Holländer hatten sie nach einander in Besitz genommen, aber wieder aufgegeben. Ihren Namen verdankt sie dem Umstande, daß sie am Jahrestage der Mutter Constantin’s des Großen von dem Portugiesen Juan Nova de Castella entdeckt wurde. Lange Zeit war sie eine Station für die nach Ostindien segelnden Schiffe. Noch wichtiger aber wurde sie, als England dem Sclavenhandel den Krieg erklärte. Von hier aus bewachten britische Schiffe die afrikanische Küste und brachten manch gute Prise in den Hafen von St. Helena. In dem kleinen öffentlichen Garten sind auf [636] weißer Marmorsäule die Namen derer verzeichnet, die in diesem Dienste ihr Leben verloren. Es ist eine lange, lange Liste.
Mir that es wohl, auch hier einen Deutschen zu finden, der sich im fremden Lande eine ehrenvolle Stellung erobert hatte. Herr Janisch, der jetzige Gouverneur der Insel, ist der Nachfolger des bekannten Sir Hudson Lowe und ein geborner Hamburger. Es war interessant zu hören, wie der Sohn des Mannes, der den Onkel in strengster Haft gehalten, unserem freudig überraschten Landsmann die Kunde von dem Falle des Neffen und der Einigung Deutschlands gebracht hatte. Während man auf dem einsamen Felsen im Meer Europa im tiefsten Frieden glaubte, war ein Kaiserthron gestürzt, ein anderer neu aufgebaut worden. Das Geklirr der Waffen war bis in diesen stillen Winkel der Erde nicht gedrungen.
Wie öde und unfruchtbar nun auch beim ersten Anblick St. Helena erscheint, so grün und lieblich sind Thäler und Matten auf der Höhe. Seewinde führen Frische und Feuchtigkeit zu, und während glühende Hitze den Aufenthalt drunten in der Stadt unerträglich macht, erquickt auf dem hochgelegenen Plateau die ozonreiche Luft Menschen und Thiere. Von Jamestown führt in steiler Linie eine in den Felsen gehauene Treppe von mehr als siebenhundert Stufen zur Citadelle, die von dem über tausend Fuß hohen Felsen Stadt und Rhede beherrscht. Wer aber der Anstrengung, sie zu besteigen, sich nicht gewachsen fühlt, der mag bequemer auf dem in Schlangenwindungen am steilen Bergabhange ansteigenden Fahrwege zur Höhe gelangen. Oben angekommen, sehen wir uns durch einen herrlichen Blick über den Ocean belohnt. Die Oberfläche der Insel bildet hier eine wellenförmige Ebene, die wir, sobald wir der See den Rücken wenden mit dichtem Baum- und Graswuchs bedeckt finden. Reichliche Regengüsse und treibender Sonnenschein hatten ringsum Höhen und Tiefen mit duftigem Grün bedeckt. Strauch und Baum prangten im schönsten Blätterschmuck.
Wie ich dahinritt unter der schattigen Eichenallee, die zum Sitze des Gouverneurs führt, schien mir ein Aufenthalt auf dieser Insel recht erträglich. Durch grüne Wiesen, an sprudelnden Quellen vorbei, hart am Rande des Abgrundes, in den sich schäumend der Felsbach stürzt – wie ein Silberband auf grünem Teppiche hängt er an der Bergesseite – über zerbröckelnde Lavatrümmer, durch die Schatten blühender Bäume geht es, bis durch’s Laub der blaue Meeresspiegel blinkt. Wir sind nach kurzem Ritte auf der anderen Seite der Insel angelangt. St. Helena ist nur etwa zwei Meilen lang und ein und eine viertel Meile breit. Zu Füßen liegt der kaum noch erkennbare Krater des längst verloschenen Vulcans, aus welchem ehedem die Feuersäule über das noch unerforschte Meer leuchtete. Aus den Ruinen einer schreckenvollen Vergangenheit ist die liebliche Gegenwart entsprossen. Friedlich weideten auf dem verschütteten Schlote buntgefleckte Rinder und weißwollige Schafe; schimmernde Villen lugten aus fruchtbeladenen Bäumen zu uns herauf. Wir blicken hinunter auf das herrliche Panorama zu unseren Füßen. Hinter uns die grünen Halden, zur Rechten der alte Krater, links, tief unten, der schmale Streifen von Häusern, den sie die Stadt nennen, und vor uns, auf kahler Fläche, das Ziel unserer Reise – Longwood, das Haus, in dem der erste Napoleon gelebt und in dem er gestorben. Ein Gürtel von Föhren grenzt den schönen fruchtbaren Theil des Eilandes von der felsigen Fläche ab, welche die Vorsicht des argwöhnischen Lowe als sichersten Wohnsitz für den gefährlichen Gefangenen erwählte. Wie der Sturm über diese nackte Ebene dahinbraust, kann man an den Bäumen wahrnehmen, deren Zweige von den gebeugten Stämmen sich sämmtlich landeinwärts neigen.
Longwood wurde erst an zweiter Stelle zum Wohnsitz Napoleon’s bestimmt. Man quartierte ihn zuerst in einem reizend gelegenen Landhause, dicht bei dem schäumenden Wasserfalle ein, bis das alte Haus auf der Höhe zu seiner Aufnahme hergestellt worden war. Es ist ein niedriges, unscheinbares Gebäude. Wie das Aeußere wenig Anziehendes hat, so ist auch das Innere gemein und kleinlich. Die leeren Zimmer sind mit vielen Kosten genau ebenso gemalt und tapeziert worden, wie sie es zur Zeit waren, wo sie den Gefangenen einschlossen. Nach alten, fast verwitterten Fetzen, wie sie vernachlässigt an den Wänden hingen wurden die Tapeten in den Fabriken des kaiserlichen Neffen hergestell. Karten mit französischen und englischen Aufschriften geben die Zwecke an, zu denen die Räume dienten. Aber alles erscheint ärmlich und unwürdig. Im früheren Empfangssalon steht auf schwarzem Sockel eine wohlgelungene Büste des Kaisers von einem eisernen Gitter eingeschlossen. Nicht weit von dem alten Hause erhebt sich Neu-Longwood, gebaut, um den Klagen des Verbannten zu begegnen, doch nie von ihm bewohnt. Eine weit bessere Structur und, seit Longwood von England an Frankreich abgetreten, die Residenz eines französischen Genieofficiers, als Conservators der Reliquien. Ehe diese Besitzergreifung seitens Frankreichs vor sich ging, war das Haus, in dem der Kaiser gelebt und gestorben, von einem englischen Pächter bewohnt, der die „Profanation“ so weit trieb, die geheiligten Räume zum Theil in Ställe für sein Vieh zu verwandeln. Trotzdem aber erhob er einen kleinen Zoll von den schaulustigen Reisenden, die den historisch so berühmten Platz zu besichtigen kamen. Wie ich durch die verlassenen Zimmer hinauswandle in’s Freie und auf die ferne See hinausschaue, male ich mir das Bild des Franzosenkaisers, wie er wohl hier oft stand und
Arm über Arm gebogen,
Blickt’ in den Kampf der Wetter und der Wogen,
Die Gitter seines Kerkers.
Napoleon entfernte sich nie weit von Longwood. Die lästige, verletzende Ueberwachung nahm ihm jede Lust dazu. Er hat die kleine Insel nie kennen gelernt. Am liebsten besuchte er die Familie des General Bertrand, der unfern in einem anspruchslosen Häuschen wohnte und wohl sein treuester Freund in der Verbannung war. In den ersten Wochen nach seiner Ankunft scheint er noch die Elasticität des Geistes besessen zu haben, die ihn später verließ. Damals wohnte er in der Villa am Wasserfall. Mrs. Abell, die Tochter des Besitzers, damals ein frisches lebenslustiges Mädchen von vierzehn Sommern, erzählt uns in ihren Memoiren manchen interessanten Zug aus dem Leben ihres hohen Gastes. Wie sie seine Finger mit geschmolzenem Siegellack verbrannt, wie sie den Kammerherrn Las Cases, einen alten ceremoniösen Herrn, den Berg hinuntergestoßen, dem aufsteigenden Kaiser entgegen, sodaß eine heftige Collision die Folge war, wie sich Napoleon rächte, indem er ihr erstes neues Ballkleid gerade am Balltage versteckte, wird uns in naiver Frische geschildert. Einmal wurden Napoleon und seine jugendlichen Begleiter von einer etwas zu übermüthigen Kuh bedroht, und General Gourgaud fügte zu den übrigen Heldenthaten, deren er sich gern rühmte, auch die hinzu, mit gezogenem Schwerte die kleine Gesellschaft zu schützen.
Wie die Jahre der Gefangenschaft über Napoleon hinzogen, versank er mehr und mehr in düsteres Grübeln, wenn er sich nicht in leidenschaftlicher Weise in Declamationen erging über die Fehler seiner Marschälle, den Verrath falscher Freunde, die unwürdige Behandlung seitens seiner Kerkermeister. Vornehmlich verwundete es ihn tief, daß man ihm den Kaisertitel verweigerte. „Ich bin der Kaiser Napoleon,“ sagte er zu dem Gouverneur Hudson Lowe, „und wenn England und Europa nicht mehr sind, wenn Lord Bathurst’s Name längst vergessen ist, werde ich noch immer Kaiser heißen.“ Stundenlang dictirte er oft an seinen Memoiren. Wie unwürdig falsch die in ihnen enthaltenen Angaben sind, wie lahm die Vertheidigung seiner schmählichsten Rechtsverletzungen, ist denen bekannt, welche diese Actenstücke gelesen. Eines seiner schwärzesten Verbrechen, den Mord des Herzogs von Enghien, suchte er wiederholt zu vertheidigen oder die Schuld auf Andere zu schieben. Es gelang ihm der Versuch selbst nicht den wenigen treuen Anhängern gegenüber, die das Brod der Verbannung mit ihm aßen. Die letzten Jahre seines Lebens geben uns ein häßliches, verzerrtes Bild des einst so großen Mannes. Die Sonne Napoleon’s war untergegangen, in Blut untergegangen. Sein Leben zeigt hinfort nur Schatten; alle die Schwächen seines Charakters kamen zur unerfreulichen Geltung. Auf St. Helena war der große Mann „ein Gebinde Kleinigkeiten nur“. In fortwährenden unerquicklichen Zänkereien mit seinen Wächtern, selbst gegen seine treuesten Diener oft herb und verletzend, im Umgang launisch und schroff, verbrachte er das Ende seines Lebens. Oft saß er stundenlang auf dem kahlen Berggipfel, die Augen auf den weiten Ocean geheftet; noch öfters weilte er unten im Thale bei der sprudelnden Quelle, an der man später sein Grab grub. Das war sein Lieblingsplatz. [637] Seine Gedanken weilten in der Vergangenheit. Für ihn gab es keine Zukunft. Der bittere Gram, der wie ein Geier an seinem Herzen nagte, machte seinem Leben ein Ende. Der Geist, der leicht die gewaltigsten Lasten getragen, brach zusammen, von täglichen kleinen Aergernissen untergraben.
In seinem Testamente bestimmte er ausdrücklich den Platz neben der geliebten Quelle zu seiner letzten Ruhestätte.
Wir steigen hinab in das kleine Thal, wo von Cypressen umgeben, von Trauerweiden überschattet, das nun leere Grab des Kaisers liegt. Noch immer sprudelt unter Farnen und rothblühendem Geranium die Quelle, bei der er so gern weilte. Die Weiden, vom Alter gebeugt und morsch, werden kaum noch von eisernen Bändern gehalten. Auch sie werden bald fallen. Auf einer Kupferplatte, angeheftet an den größten Stamm, lesen wir die Worte:
Auf der Rückfahrt von China hatten die Mannschaften das Grab ihres einstigen Kaisers besucht. Die Stätte zeigt die Wittwe eines Unterofficiers der alten Kaisergarde unentgeltlich, aber sie entschädigt sich für ihre Mühe durch den Verkauf von Photographien. Früher trieb man auch einen lucrativen Handel mit allerlei Napoleonischen Reliquien. Das hat nun aufgehört. Nachdem man Dutzende von Handschuhen, Stiefeln und Hüten von dem bekannten Schnitte verkauft hatte und Haare genug vom Haupte des großen Todten, um eine Kindermatratze zu stopfen, verbot die hohe Obrigkeit den Schwindel. Unsere Führerin beklagte sich bitterlich über diese „Albernheit“ der englischen Behörden. Sie war Kammerjungfer gewesen und viel gereist. Sie hatte vom veritablen Kreuze genug gesehen, um eine Hütte davon zu erbauen, und mehr heilige verrostete Nägel, als der Eisenhändler unten in der Stadt in einer Woche verkauft.
St. Helena wird den Kaiser nie vergessen. Mit Napoleon’s Tode versiechte der goldene Strom, der, aus Englands Koffern fließend, die Insel befruchtet und verschönert hatte. Mit der Erinnerung an Napoleon’s Aufenthalt verknüpfen sich die Reminiscenzen an den Wohlstand der Bewohner; sein Tod bezeichnet den Anfang des Verfalles und der Verarmung. – Der Rückweg führte uns über die steilen Felsabhänge, die das kleine Thal einschließen, in dem die Stadt gebaut ist. Zwischen den losen Felsblöcken wachsen wilde Geranien, kriecht das fleischige Mesembryanthemum mit seinen rothen und gelben Blumen. Hier und da klammert sich ein Strauch an den harten Fels. Drunten liegen, fast senkrecht unter uns, grüne Gärten, aus denen über frisches Laub die dunkelgrünen Kuppeln der Dattelpalmen, Bananen und Cocosnußbäume ragen. Wie wir den Berg hinuntersteigen und durch die Stadt reiten, an dem Schwanze eines jeden Pferdes ein Paar schwarzer Burschen, eine ganze Schaar schwatzend, lachend, gesticulirend neben und hinter uns trabend, bilden wir gewiß eine recht eigene Procession. Vom Schiffe hatte man uns gesehen, und das Boot stieß eben ab. Inzwischen hatten wir Gelegenheit, die Schwimmfertigkeit unserer jugendlichen Begleiter zu bewundern. Im Nu ist der leichte Anzug abgestreift, und wie ein Pack gut dressirter Wasserhunde umsteht uns die schwarze kleine Schaar, bereit, sich in die Tiefe zu stürzen, sobald das Geldstück, das wir in die See werfen, unsere Hand verlassen. Oft giebt’s unten im Wasser einen kurzen, recht lebhaften Kampf um die kleine Münze. Doch unser Boot ist da; bald ist das gute Schiff erreicht. Eine kurze Zeit noch, und die grünen Felder, die gewaltigen Steinmassen schwinden vor unseren Blicken, bis das Eiland in der Abendsonne wie ein Wölkchen am Horizonte erscheint.E. J.
Es war ein thaufrischer herrlicher Morgen. Die Nachtigallen sangen von den Granatbäumen der Berge, als ich, ohne jedoch wie Romeo eine glückliche Nacht durchlebt zu haben, in Rjeka mit meinen fünf Bootsleuten die Barke bestieg, die mich nach Scutari bringen sollte. Kaum eine Viertelstunde unterhalb dieses Ortes verliert der Fluß gleichen Namens seinen Charakter als Fluß und wird bei seitwärts weit zurücktretenden Ufern ein stehendes Wasser, dicht bewachsen mit weißen und gelben Wasserrosen, durch welche ein offener Wasserstreifen führt. Zahlreiche Möven, sowie kleine weiße und graue Reiher durchkreuzen die Luft, und schwarze Wasserhühner tummeln sich auf den lederartigen Blättern der Nymphäen; bei unserem Näherkommen tauchen sie plötzlich unter.
So ging es zwei Stunden, bis wir zum Scutarisee kamen. Gleichzeitig mit der Rjeka ergießt sich die von Nordosten kommende Muraca, ebenfalls als stagnirendes Wasser, in den See. Wir sind bereits in der Türkei. Auf einer Felseninsel, gleich am nördlichen Theile des Sees, wo dieser noch ziemlich schmal ist, liegt ein türkisches Fort; es könnte mit seinen Kanonen leichthin die Passage von jeglichem Schiffe auf beiden Seiten verhindern. Als wir in die Nähe desselben gekommen, luden meine Montenegriner die mitgenommenen Hinterlader und stellten sie mit den Mündungen herausfordernd an den Rand des Bootes, der den Türken zugekehrt war. Die Besatzung des Forts erschien zwar auf den Wällen, aber da der Krieg factisch noch nicht erklärt war, kam es zu keinen Feindseligkeiten. Ich glaube gar nicht, daß das Fort Kanonen besaß, denn die hierzu bestimmten Schießscharten erschienen leer. Immer weiter schwamm die Barke, von kräftigen Fäusten getrieben, auf dem schönen klaren See; immer heißer brannte die Sonne und zeigte die kahlen steilen Berge, die im Norden und Westen den See einrahmen, in ihren feinsten Contouren. Kein Schiff, kein Nachen begegnete uns. Höchst selten zeigte sich ein armes Fischerdörfchen am Ufer, nur zahlreiche weiße Reiher flogen an uns vorüber, und einzelne scheue Pelikane schwammen auf der ebenen Fluth, gleich kleinen Schiffen ohne Mast, doch mit weit vorragendem Bugspriet. Ganz fern im Norden Montenegros zog ein Gewitter zusammen. Es war elf Uhr Morgens, als meine Begleiter nach sechsstündiger Fahrt erklärten (einer derselben sprach etwas italienisch), wir hätten den halben Weg zurückgelegt und sie wollten jetzt rasten und essen. Zu dem Zweck wurde auf eine Felsenklippe zugerudert, die ziemlich weit in den See vorragte und an deren Hang zwei Bäume ihren Schatten warfen, die einzigen in der ganzen Gegend. Ich hatte ein halbes Lamm braten lassen und mitgenommen, sowie für Wein gesorgt.
Nach halbstündiger Rast ging es abermals vorwärts, gegen Scutari zu. Das Gewitter folgte uns langsam nach, begleitet von der eigenthümlichen stechenden Sonnenhitze. Um drei Uhr war die Sonne so brennend heiß, daß meine Leute stets trinken und Kopf und Hände mit dem kühlen Seewasser benetzen mußten. Ich hatte unvorsichtiger Weise den Rock ausgezogen und saß in weißen Hemdärmeln, den Kopf und einen Theil der Schultern wohl durch einen breitrandigen Panamahut geschützt, aber meine beiden Arme derart dem Sonnenstich ausgesetzt, daß sie bei meiner Ankunft in Scutari roth angeschwollen waren und heftig schmerzten. Je mehr wir uns Scutari näherten, desto häufiger wurden die Dörfer am Seeufer und die Nachen, welche, von der Stadt kommend, uns begegneten.
An den Nachen der Türken fuhren wir mit gegenseitigen grimmigem Anstieren vorüber, waren aber die Boote mit christlichen Albanesen besetzt, welche sich durch die Tracht von den Mohamedanern unterscheiden, so entstand ein lebhafter eiliger Austausch von Fragen und Antworten. Zahlreiche Schüsse krachten aus den verschiedenen Barken, denn in Scutari hatte man auch unter die mohamedanischen Albanesen Hinterlader vertheilt; auf Reiher und Pelikane wurde bei den unglaublichsten Distanzen geschossen. Ich erwartete jeden Augenblick eine Kugel in unser Boot fliegen zu sehen, und die Montenegriner schienen diese Besorgniß zu theilen. Sie erklärten mir, daß sie sich, laut eingezogener Erkundigung, nicht mehr in den Hafen von Scutari hineinwagen
[638][639] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [640] dürften und mich deshalb in einem christlichen Dörfchen an’s Land setzen würden, wo sie auch zu übernachten gedächten. So geschah es auch, trotz meines Protestirens. Nach Allem, was ich später selbst erfahren, kann ich den Leuten heute nicht Unrecht geben.
Zum Glücke war im Oertchen bald ein kleiner Kahn gefunden, und zwei kräftige Albanesen ruderten mich und mein Gepäck in einer halben Stunde bis zum türkischen Mauthamte, woselbst ich nach zwölfstündiger Fahrt an’s Land stieg. Der Seeanblick von Scutari war wunderschön.
Die Sonne stand schon tief im Westen und warf ihre schrägen, glühend rothen Strahlen auf den Wasserspiegel. Dieser, von einem leichten Gewitterwind erregt, blitzte und leuchtete aus tausend gekräuselten Wellen. Im Norden standen schwarze Gewitterwolken, zeitweilig durchzuckt von fernen Blitzen. Der Donner rollte dumpf in den Gebirgen. Das weit ausgedehnte Scutari, sanft vom Ufer aufstrebend, mit seinen schlanken Minarets und den vielen dichtbelaubten Bäumen in den Gärten und Friedhöfen der Stadt, stand in vollster Abendbeleuchtung, und ein Hügel am Ufer des Sees war mit weiß-schimmernden Soldatenzelten übersäet, beherrscht von einem größeren Zelte, ganz aus grünem Zeuge. Eine Schaar neugieriger Mauthbeamten umringte mich sofort. Ein alter Türke mit fliegendem schneeweißem Schnurr- und Knebelbarte, den Yatagan und zwei Pistolen im Gürtel, bedeutete mich, den Koffer zu öffnen. Da ich kein Wort der vielen an mich gerichteten Fragen verstand, so nahm ich all mein Türkisch zusammen und sprach: „Drago-man.“ Das half. Es wurde ein junger Mann herbeigerufen, der geläufig französisch sprach. Mit dessen Vermittelung ging denn auch die Visitation glücklich zu Ende, zumal ich, um keine Plackereien zu haben, niemals zollpflichtige Sachen ankaufe. Ferner hatte dieser Herr die Gefälligkeit, einen Gepäckträger für mich anzuwerben und mir das Gasthaus des Anastasio Papanico zu empfehlen, als das einzige einigermaßen anständige in Scutari, für mich besonders geeignet, da der Sohn des Hauses französisch spreche. Von der Mauth bis zum Gasthause mußte ich wohl eine halbe Stunde marschiren, von allen Begegnenden mit meist finsteren, mißtrauischen Mienen angegafft. Der bevorstehende Krieg mochte wohl schuld hieran sein; außerdem sind abendländische Fremde selten in Scutari. Das Gasthaus verfügte nur über zwei bessere Fremdenzimmer, und diese waren von einem türkischen Divisionsarzte, Obersten (Dey) Dr. Matkovic, einem so enragirten Türken, wie es nur ein Renegat sein kann, und einem Feldtelegraphendirector besetzt. Ich, an montenegrinische Quartiere gewöhnt, war auch mit einer schlechteren Kammer zufrieden und fand über meine Erwartung sogar ein leidliches Bett. Kaum hatte ich Wäsche gewechselt und meinen ersten schrecklichen Durst gestillt, als auch schon ein Polizeicommissar mit seinen ganz roth gekleideten Häschern erschien, um das Woher, Wohin und Warum des Fremdlings zu erkunden, der direct aus dem Lande des türkischen Erbfeindes dahergeschwommen. Ich schrieb ausführlich mein ganzes Nationale nebst Zweck der Reise französisch nieder, und der Sohn des Wirthes übersetzte dies in’s Türkische. Scheinbar befriedigt, entfernte sich der Commissar mit seinen Trabanten, wahren Galgengesichtern, aus denen man das Mißbehagen ablas, mich nicht mitschleppen zu können.
Seit Cettinje fand ich zum ersten Male ein ordentliches Nachtmahl, welches ich gemeinschaftlich mit dem Divisionsarzte und Telegraphendirector in der zum Speisesaale umgewandelten Stube des Hausknechts verzehrte. Beide Herren sprachen französisch, und Beide hielten mich, wie ich aus ihren Fragen und Reden entnahm, für einen Agitator oder gar für einen Spion.
Am folgenden Morgen durchlief ich mit dem Sohne des Wirthes die Stadt, besah den mehrere Straßen entnehmenden Bazar mit den offenen Verkaufslocalen, Garküchen und Werkstätten und ließ mich schließlich in ein Geschäftslocal führen, wo ich eine Barke miethen wollte, um den Wasserlauf und die Tiefe des Flusses Bojanna zu untersuchen, der, den Scutarisee berührend, diesen mit dem adriatischen Meere in Verbindung setzt.
Die beiden Repräsentanten der Firma hatten vielleicht ein Commissions- und Speditionsgeschäft, jedenfalls großen Zuspruch von Clienten und Geschäftsfreunden. Würdevoll mit gekreuzte Beinen auf den Teppichen einer Art Tribüne sitzend, zu welcher drei Stufen hinaufführten, empfingen sie die einzelnen Parteien mit dem orientalischen Gruße, die Hand auf Stirn und Herz legend, und diese setzten sich, die Pantoffeln auf den Stufen lassend, gleichfalls auf die Tribüne, um mit kurzen Worten das Geschäft abzuschließen. Sofort, wenn ein Gast die Pantoffeln ausgezogen, eilt ein Diener herbei und dreht dieselben in die umgekehrte Richtung, damit der Besucher beim Fortgehen wieder bequem hineinschlüpfen kann. Jedenfalls eine große Aufmerksamkeit. Außerdem waren zwei junge Leute beständig beschäftigt, Kaffee zu serviren und glühende Kohlen für die Cigarretten und Tschibuks darzureichen.
Scutari ist eine Stadt von 32,000 Einwohnern mit durchaus asiatischem Charakter. Die meist von Gärten umgebenen Wohnhäuser mit den eng vergitterten Fenstern der Frauengemächer, die fünf Moscheen, von ebenso vielen großen baumreichen Friedhöfen umschlossen, die dicht verschleierten und verhüllten Türkinnen, die christlichen Albanesinnen, unverschleiert, mit seidenen Hosen und rothen goldgestickten Mänteln, die zahlreichen Packpferde und Esel, zuweilen ein von Ochsen gezogener Karren, ganz von Holz ohne den geringsten Eisenbestandtheil, versehen mit zwei enormen Rädern von sechs Fuß Durchmesser, das rege Leben der hier concentrirten türkischen Truppen in ihren verschiedenen Uniformen, dazwischen von den Minarets das singende Rufen der Muezzins zum Gebet, dazu die erschlaffende Hitze – dies Alles versetzte mich in eine eigenthümliche träumerische Stimmung.
Kaum auf mein Zimmer zurückgekehrt, sah ich den Gouverneur von Albanien vorbeifahren, um dem österreichischen Consul einen Besuch abzustatten: zwei Vorreiter, den gespannten Carabiner aufrecht auf die Lende gestützt, dann der Wagen mit dem Pascha, dahinter zwei Ordonnanzofficiere und schließlich wieder zwei Reiter mit schußfertigem Carabiner. Ich ahnte nicht, daß dieser Besuch durch meine Person veranlaßt worden sei.
Kaum hatte ich zu Mittag gespeist, wobei ich mich nach acht Tagen zum ersten Male an Rindfleisch delectirte, so erschien ein Haiduck des österreichischen Consuls und ersuchte mich, ihn zu seinem Herrn zu begleiten. Ich folgte in’s Consulat und wurde von einem sehr artigen Herrn empfangen, der mir mittheilte, daß der Pascha gegen meine Person großes Mißtrauen hege und daß es in meinem eigenen Interesse liege, mich möglichst gründlich zu legitimiren. Ich gab dem Consul meinen Paß, sowie das Schreiben, in dem ich zur Besichtigung der Wälder in Montenegro aufgefordert worden war. Aus diesen Papieren machte er sich Notizen und versprach, dem Pascha jetzt derart beruhigen zu wollen, daß mich die Polizei nicht weiter belästigen würde. Nach Einnahme der obligaten Tasse Kaffee, bereits der sechsten an diesem Tage, empfahl ich mich. Am nächsten Morgen fuhr ich mit vier albanesischen christlichen Bootsleuten die Bojanna hinab, untersuchte hier und da die Tiefe des Wassers und drang so weit vor, wie es der Gegenfluß des Meeres der Ruderkraft gestattete. Die Gegend in der Richtung zum Meere ist flach und fleißiger angebaut, als ich dies bisher gesehen, obgleich die Cultur auch hier noch viel zu wünschen übrig läßt.
Bei den zahlreichen Niederschlägen und der großen Wärme ist die Vegetation üppig und reich. Ein herrliches Stimmungsbild bot am Ufer die Ruine einer christlichen Kirche, halb versteckt unter dem Schatten riesiger Maulbeer- und Wallnußbäume, von blühenden Schlingpflanzen überwuchert, dabei belebt von vielen hundert Dohlen, die durch das Boot aufgeschreckt, schreiend umherflogen.
Da die Bojanna bei ihrem Austritt in’s Meer keinen Hafen hat, so ankern die Handelsschiffe, die mit Scutari verkehren, zwei Stunden von dieser Stadt entfernt, beim Dörfchen Abot. Näher können sie nicht heran kommen, weil die Bojanna bei Scutari zu seicht wird. Gegen Abend war ich zurück in Scutari, aber auch der Polizeicommissar erschien bald darauf, wenn auch dieses Mal ohne Begleitung seiner spitzbübisch aussehenden Trabanten. Er erkundigte sich in Auftrage des Gouverneurs, was ich auf der Bojanna zu thun gehabt hätte, und meine vielleicht nicht gut übersetzte Erklärung schien ihn so wenig zu befriedigen, daß schließlich der Consul wieder beruhigend für mich eintreten mußte. Aber noch an demselben Abend schickte dieser Herr seinen Secretär mit der Mittheilung zu mir, der Statthalter habe erklärt, da ich jetzt Alles gesehen hätte, was mich interessire, so wäre es ihm höchst angenehm, wenn ich die Stadt verließe.
[641] Gegen diese halbe Ausweisungsordre ließ sich nicht opponiren; ich gab die Versicherung, daß ich am andern Morgen nach Antivari abreisen würde.
Durch Vermittelung des jungen Papanico war ausgemacht worden, daß der kaiserliche Postillon, der die Post zwischen Scutari und Antivari reitet, mir ein gutes Pferd besorgen und mich mitnehmen solle. Pünktlich um fünf Uhr früh war der junge, wirklich schöne Mann vor meiner Thür. Auf der einen Seite seines kräftigen Packpferdes hingen die Poststücke; auf der anderen befestigte er meinen Koffer, dann schwang er sich selbst hinauf. Ich bestieg einen schönen breitbrüstigen Schimmel mit bequemem türkischem Sattel und verließ Scutari, froh der summarischen Paschajustiz entgehen zu können. Von Scutari nach Antivari bestand früher einmal ein gepflasterter Reitweg. Um denselben in irgend einem Kriege unwegsam zu machen, hat man das Pflaster in Unterbrechungen von etwa je einer Büchsenschußweite aufgerissen. Da du ersten vier Wegestunden meistens in der Ebene fortlaufen, und zwar über Moorboden, der durch die häufigen Gewitterregen tief aufgeweicht war, so hatten sich in den pflasterlosen Stellen wirkliche Sümpfe gebildet, deren festere Durchgänge man genau kennen mußte, um nicht mit dem Gaul stecken zu bleiben. Ich ritt deshalb dicht hinter dem Postillon und folgte dessen Fährte auf das Genaueste. Wie anstrengend aber ein Ritt von vier Stunden ist, auf dem man seine Aufmerksamkeit nie vom Pferde und vom Wege abwenden darf, weiß nur der, welcher schon einmal solche Höllenwege gemacht hat. Endlich bekamen wir festes Land unter die Hufe, und dann ging es aufwärts über den Gebirgsrücken, der sich zwischen Scutari und Antivari bis an’s Meer hinzieht. Das waren wieder montenegrinische Reminiscenzen, aber es war immerhin besser als der scheußliche Sumpfritt. Um elf Uhr machten wir Mittag bei einem einzelnen Hause hoch oben im Gebirge, wo sich gutes Wasser vorfand. In meinen Satteltaschen war Wein und Fleisch aus der Küche Papanico’s genug vorhanden, aber mein Postillon, mit dem ich übrigens kein Wort reden konnte, aß rasch und trank wenig. Als ich eben, lang hingestreckt, eine Cigarre rauchen wollte, führte er schon wieder die knappgefütterten Pferde vor. Da half keine Widerrede in Zeichen und Geberden; er zog die Uhr heraus und schüttelte ernst den Kopf. Also vorwärts!
Ich glaube nicht, daß ich während meiner Touren durch die Czernagora und Türkei irgendwo einer persönlichen Gefahr durch Menschen ausgesetzt gewesen, wäre es auch wohl ohne Reisebegleitung nicht, dort aber, scheint mir, ziemlich oben auf dem Gebirgskamme Albaniens, hätte sich doch der Fall ereignen können.
Der Postillon war ungefähr hundert Schritte voraus, als er auf einmal sein Pferd anhielt. Als ich mich ihm näherte, sah ich acht oder neun wild aussehende Burschen in zerfetzter Landestracht, alle mit langen türkischen Flinten, Pistolen und Messern bewaffnet, auf dem Boden lagern und uns, leise sprechend, aufmerksam betrachten. Nachdem ich beim Postillon angelangt, der mich ruhig erwartete, ritt dieser ohne irgend ein Wort oder Zeichen im Schritt weiter, und ich folgte ihm, an der Gruppe vorbei, die uns lautlos anstarrte. Er würdigte sie keines Grußes und keines Blickes. Endlich ging es bergunter, und das ewige Meer blitzte mir grüßend entgegen. Mir war zu Muthe, als wäre ich einem Gefängniß entflohen. Vor mir breitete sich wieder das Leben aus mit den Freuden und Genüssen der Civilisation.
Da der Abstieg steil und schwierig, so waren wir abgestiegen und folgten den Pferden, die mühsam und vorsichtig zwischen den Felsen hinunter kletterten. Nie hat mir bei dieser heißen Arbeit ein Wasser so gut geschmeckt, wie der kalte Quell aus dem schönen gewölbten Laufbrunnen auf der Hälfte des Weges. Der Cultus des Wassers ist das Schönste, was ich in der Türkei entdeckt; auch Scutari besitzt vorzügliches Trinkwasser.
Am Fuße des Berges angekommen, stiegen wir in den Sattel und ritten meistens in kurzem Trab durch die etwa stundenweite Ebene, die Antivari vom Meere trennt. Die Stadt und Festung liegt auf einem niedrigen Vorberge der gewaltigen Gebirgskette. Sie blieb uns zur rechten Hand, denn wir eilten direct auf die Riva zu. Ein eigentlicher Weg war es nicht, dem wir folgten. Wir ritten zwischen Hecken, auf Fußpfaden, über Oedland, über kleinere Bäche, stets durch eine blühende Wildniß von Tamarisken, Granatbäumen, Berberitzen, Waldreben, Bryonien und verstrickenden Brombeerstauden, bis wir gegen vier Uhr Nachmittags, also nach elfstündigem Ritt, an dem Hafen Antivaris ankamen. Vier Häuser sind an dem Strande gebaut: das Zollhaus, ein Wirthshaus, ein Gebäude mit der Agentur des österreichischen Lloyd und ein Contumazgebäude.
Mein Postillon brachte mich nach abermaliger Koffervisitation in’s Wirthshaus. Ich verlangte ein Zimmer, das mir auch bereitwilligst zugesagt wurde, ließ meine Effecten hineintragen und folgte, um mich umzukleiden, da ich vor Hitze keinen trockenen Faden am Leibe hatte. Der erste Stock hatte geräumige Zimmer, stand aber ganz leer; im zweiten wurde mein Zimmer aufgeschlossen, dessen ganzes Meublement in einer Strohmatte am Boden mit darübergelegter zerrissener Matratze und einem hölzernen Stuhl bestand. Ich war zwar nicht verwöhnt, verlangte aber wenigstens einen Tisch, und vor Allem Waschwasser. Ersterer hatte nur drei Beine, wurde aber so fest an die Wand gestellt, daß das vierte entbehrlich erschien; letzteres befand sich in einer Zinnschüssel, in welcher mir an demselben Abend auch der Salat servirt wurde. Von einem Fenster, mit der Aussicht auf das Meer, fehlte ein ganzer Flügel, dafür war aber der innere Fensterladen zugemacht und, damit ihn der Wind nicht aufreißen könne, mit einem schweren Steine zugedrückt worden. Der Wirth, ein Italiener, erzählte, daß dies ein dem Staate zugehöriges Haus sei, für das er jährlich fünfhundert Gulden Miethe bezahlen und dabei noch die Unkosten der Einrichtung (!!) tragen müsse.
Ich hatte mir das Abendessen, das der Wirth selbst gekocht und das aus gedünstetem Lammfleisch mit hinein geschnittenen und gekochten Gurken bestand, auf’s Zimmer bringen lassen. Ich erinnere mich nur dunkel, daß mir dieses fremdartige Gericht ziemlich gut schmeckte, dann breitete ich meine Reisedecke über die zerrissene Matratze, entkleidete mich nur nothdürftig und war bei offenem Fenster und dem Brausen der Wellen bald so fest eingeschlafen, wie es die Anstrengung eines elfstündigen Rittes zur nothwendigen Folge hatte. Mir war es wohl einmal, als wenn sich mehrere Mäuse oder Ratten um die Ueberbleibsel meines Mahles zankten und als wenn das hüpfende und schleichende Ungeziefer meinen Körper sehr martere, aber die Ermüdung behielt die Oberhand, und ich kam nicht zum vollen Bewußtsein.
Am andern Morgen ankerte ein türkisches Dampfschiff im Hafen. Es hatte ein Bataillon Soldaten an Bord, die nach der Festung Antivari bestimmt waren.
Der Hafen von Antivari ist ein Naturhafen, aber so seicht, daß tiefer gehende Schiffe in der Mitte desselben ankern und ihre Ladung mittelst flach gehender kleiner Boote an’s Ufer bringen müssen. So ging es auch mit den Soldaten. Mehr als acht bis zehn Mann faßten die Boote nicht, und man kann sich denken, wie viel Zeit die Ausschiffung von achthundert bis tausend Mann nebst Train in Anspruch nahm. Von meinem Fenster aus konnte ich das ganze kriegerische Schauspiel leicht und bequem übersehen.
Der Wirth selbst hatte mich gebeten, oben zu bleiben, da ich als Fremder bei den fanatisirten Truppen leicht Unannehmlichkeiten haben könne, außerdem ein Polizeibeamter unten sei, der telegraphisch von Scutari die Weisung erhalten habe, mich zwar nicht zu belästigen, aber sofort zu telegraphiren, ob ich mit dem nächsten Lloyddampfer abgereist sei oder nicht. Dieser Lloyddampfer sollte erst am folgenden Morgen kommen.
Gegen ein Uhr Mittags war die Ausschiffung beendet. Ueberall am Ufer wimmelte es von türkischen Truppen. Untersetzte Gestalten mit dunkelbraunen Gesichtern, gut gekleidet, mit Hinterladern bewaffnet und erträglich einexercirt. Die Einen wuschen ihre Leibwäsche in einem Bache, der hier in’s Meer fällt. Die Anderen aßen mit untergelegten Beinen oder weichten ihren steinharten Schiffszwieback in demselben Wasser auf; wieder Andere schliefen langausgestreckt im Schatten der wenigen dort befindlichen Maulbeerbäume. Ganze Gruppen waren rauchend um einen Erzähler gelagert; die Officiere hatten ein Zelt aufschlagen lassen, unter welchem sie sich erfrischten – allüberall an der Riva herrschte ein farbenreiches, kriegerisches Leben. Gegen drei Uhr ertönten die barbarischen, mir fremdartigen Klänge einer türkischen Musik, und von Antivari her kam ein Theil der Besatzung, um die Cameraden zu begrüßen und abzuholen. Der Abmarsch erfolgte endlich um vier Uhr, aber noch lange bemühte sich die frische Seeluft vergebens, den Geruch von Knoblauch und Zwiebeln zu verscheuchen, der Wirthshaus und Meeresufer verpestete.
[642] Noch eine schreckliche Nacht in stetem Kampfe mit den bösen Geistern der Finsterniß, und glänzend ging die Erlösungssonne auf. Das schon um acht Uhr Morgens erwartete Dampfschiff kam endlich um zehn Uhr an. Da sich, wie schon erwähnt, das Ufer sehr verflacht, so hat man aus roh gezimmerten Balken und Bohlen eine Art Tribüne erbaut, von welcher man mittelst einer Leiter in das Boot steigt. Beim Betreten dieser elenden Brücke mußte ich einem türkischen Beamten für meine Person zwei Piaster und für jedes Gepäckstück einen Piaster bezahlen, wobei mein Sonnenschirm auch als Gepäckstück gerechnet wurde.
Endlich betrat mein Fuß wieder das Verdeck eines österreichischen Schiffes: hinter mir lag die Barbarei des Ostens; vor mir lockten in doppelt glänzendem Lichte die geordneten Zustände des Abendlandes. Leider war der bestiegene Dampfer ein Waarenschiff und hatte keine Passagiercabinen, weßhalb ich in Ragusa wieder an’s Land ging und dort das Personenschiff „Mercur“ erwartete. Mit diesem dauerte die Fahrt nach Triest drei Tage und war gesellig ganz angenehm. Das Meer war bewegter als bei meiner Hinreise, und an einem Tage erhob sich gerade während der Mittagsmahlzeit ein so frischer Wind, daß das Schiff, gleich einem Betrunkenen, nach allen Seiten hin- und herschwankte und wohl alle Passagiere, meine Person ausgenommen, den Meergöttern reichliche Opfer darbrachten.
Jetzt ist der Krieg ausgebrochen in jenen Landstrichen, die ich bereist. Die Türken konnten sich meine Sympathie nicht erwerben, den tapferen Söhnen der Czernagora aber wünsche ich den glücklichsten Erfolg. v. C.
Leipzigs Kaiserfestschmuck. (Mit Abbildungen auf Seite 635, 638 und 639). Als die Nachricht, daß der deutsche Kaiser die Parade und das Manöver des sächsischen Armeecorps in der Nähe von Leipzig abhalten und bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal als des Königs Gast die Stadt besuchen werde, sich bestätigte, beschlossen Rath und Stadtverordnete, dieselbe zu einem Empfange zuzurüsten, wie er der gefeierten Gäste und der Stadt Leipzig würdig sei.
Zu diesem Behufe wurde der Leipziger Architektenverein beauftragt, eine Decoration zu schaffen, die ihren Anfang auf dem Königsplatz nehmen, das Rathhaus bedenken, auf dem Augustusplatz ihre höchste Steigerung erfahren und in der Nähe des königlichen Palais an der Goethestraße ihren Abschluß finden solle. Das Comité, welches zur Prüfung der in Folge einer Concurrenzaufforderung des Architektenvereins eingelaufenen Pläne niedergesetzt war, entschied für den Plan des Bauraths Lipsius, des Erbauers unseres großartigen „Neuen Johannisstifts“ und vieler anderer der neuesten Prachtbauten in und um Leipzig.
Lipsius’ Plan zeichnet sich vor den üblichen Festdecorationen ganz besonders durch seine künstlerische Einheit und Mannigfaltigkeit aus, die dadurch so trefflich gewahrt und gewährt wurde, daß die Decorationsbauten sich möglichst frei von demjenigen Schmucke hielten, welcher die Straßen auszeichnen mußte: wie an den Siegestagen unseres großen Krieges freiwillig sich jedes Haus mit Fahnen schmückte, oft vom Erdgeschoß bis zum Dach, so sollten der Kaiser und seine Feldherren und Mitkämpfer die Straßen wieder sehen; dagegen wurden Kränze und Gewinde das Gemeinsame von Straßen und Decorationsbauten; die Hauptauszeichnung der letzteren war aber das Wort: die Inschriften. Sie mußten Das aussprechen, was dem Tag seine Bedeutung, dem Feste die sittliche Weihe gab. Mit dieser Grundidee im Kopfe durchwandle man in der Erinnerung noch einmal den ganzen Triumphweg, und man wird finden, wie glücklich dieselbe verwirklicht war.
Diesem Plane entprechend war eine hohe, stattliche Triumphhalle vor dem Petersthor errichtet, aber, wie auch das Rathhaus, frei von allem kleinlichen, verhüllenden Schmucke gehalten. Des letztern altersgraue Mauern waren ein geschichtlicher Redner, und was die Gegenwart hinzuzufügen hat, war in der Inschrift über dem Portale ausgesprochen. Der Hauptschmuck des Rathhauses bestand, außer der Draperie des Altans, zu beiden Seiten desselben in zwei mächtigen Standarten, an welchen, in riesigen Frauengestalten dargestellt, Freiheit und Gesetz ihren Standpunkt hatten.
In den Decorationen des Augustusplatzes kam der der ganzen Festfeier zu Grunde liegende Gedanke am klarsten zum Ausdruck. Allerdings ist dieser Platz wie zu einem offenen Festsaale geschaffen und konnte derartig ausgeschmückt werden, daß sein Gesammtbild wohl das Imponirendste und Großartigste war, was je zu vorübergehenden Zwecken für den Kaiser geschaffen worden ist. Begrenzt im Norden in seiner ganzen Breite vom neuen Stadttheater, im Süden vom städtischen Museum, im Osten vom kaiserlichen Reichs-Oberpostamts- und im Westen vom Universitätsgebäude, bot dieser Platz den Raum, auf welchem Kaiser und König und deren Gäste auf dem Theaterbalcon dem „Zapfenstreich“ beiwohnten; daher mußte die Decoration des Augustusplatzes für den Anblick von diesem Balcon aus und zugleich für die beste Illuminationswirkung berechnet werden. Das Museum füllt seine Seite des Platzes nicht genügend aus, und so war es daher höchst geschickt, die stattliche Freitreppe desselben als Ausgangspunkt eines römischen Forums zu benutzen. Rechts und links lehnten sich an die Treppenwangen zwei Pavillons, von denen aus in weiten Bogen nach beiden Seiten Hallen von je dreizehn Säulenpaaren ausliefen und abermals in Pavillons endeten. Das untere Drittel der Säulen war in pompejanischem Roth gehalten, während die ganze übrige Decoration sich der Färbung der nächsten Monumentalbauten, namentlich des Museums, anschloß; und da auf den Ecken der Pavillons dieselben mächtigen Vasen mit großen Blattpflanzen wie auf den stärkeren Pfeilern der Attica des Museums prangten, so bewirkte dies, außer der angenehmen Harmonie dieses Grüns mit dem Gelb und Roth der Säulengänge, auch den beabsichtigten Schein der Zusammengehörigkeit derselben mit dem Museum. Letzterem gereichte zum besonderen Schmuck Clasen’s großes Bild der „Germania, die Hände der Borussia und der Saxonia in einander legend“, welches auf dem Altan, zwischen hohen Fahnenlanzen, von grünem Laubwerk umrahmt und von einer goldstrahlenden Kaiserkrone überragt, würdig prangte. Auf der Brüstung der Freitreppe hatte man die Kolossalbüsten des Kaisers und des Königs, des Kronprinzen und des Prinzen Georg von Sachsen aufgestellt. Außerdem trug das Museum nur noch die sinnige Zierde bunter Schilder, auf welchen in Gold die höchsten Tugenden gepriesen wurden. In ähnlicher Weise war das Universitätsgebäude mit Inschriften, Namen-Schildern und einer Fahnendraperie geschmückt.
Der Schwerpunkt der gesammten Augustusplatz-Decoration lag in den beiden Triumphsäulen, die auf dem weiten Raume zwischen den Pavillons der Rotunde sich sechszig Ellen hoch erhoben. An ihnen sah man zusammengefaßt, was man vor dem Kaiser am höchsten feiern wollte: den Sieg und den Frieden. Die Widmungsworte an den Postamenten, die am blauen Säulenschafte sich golden emporwindenden Inschriften, sowie die Embleme der beide krönenden kolossalen Victorien, Alles kennzeichnete die eine als die Siegessäule, die andere als die Friedenssäule. Die Fundamente, an den Ecken mit schwarzen Adlern besetzt, erhoben sich über mehreren Stufen und nahmen einen bedeutenden, der Höhe der Säulen entsprechenden Raum ein; von den vergoldeten Kolossal-Victorien wog jede acht Centner.
Zwei große Triumphbogen schlossen den Augustusplatz gegen die Grimmaische Straße und den Grimmaischen Steinweg ab. Beide höchst stattliche dreithorige Bauten glichen dem am Petersthore; die inneren Felder derselben waren blau, mit goldenen Lorbeerzweigen verziert, die Säulen weißgeadertem, rothem Marmor nachgebildet und von reichen korinthischen Capitälen gekrönt; über dem Mittelthore zeichnete sie noch ein Aufsatz aus, der an den vier Ecken von sitzenden Victorien flankirt war, deren jede einen goldenen Lorbeerkranz hielt. Den Abschluß nach oben bildete ein von Fahnen umgebener Adler. – Der Ehrenbogen am Ende der Grimma’schen Straße begrüßte den Kaiser mit der schönsten von allen Inschriften: „Wo der Ruhm des Helden mit dem Edelsinne des Herzens sich vereint, da baut das Volk mit Freuden Ehrenpforten.“
Gleich daneben, von Felsche’s Kaffeehaus, winkte dem alten Kaiser beim Einzuge seine Lieblingsblume, die blaue Kornblume, in einem großen Kranze. Der Balcon des Theaters war von einer mächtigen Krone mit Baldachindraperie überragt, mit köstlichen Teppichen geziert und in eine Blumenhalle verwandelt. Hier begrüßte den gefeiertsten Mann der Zeit der Jubel der Tausende im Riesenfestsaale zu seinen Füßen, als nach der Festaufführung im Theater der erste rauschende Gruß der sechshundert Musiker und Trommler des sächsischen Armeecorps den Beginn des großen Zapfenstreichs ankündigte und den obersten Kriegsherrn auf seinen Posten rief.
Einen bezaubernden Anblick genoß der kaiserliche Herr auf seinem Standpunkte. Die langen Fronten der Monumentalbauten wie alle anderen Gebäude des Platzes und die besonders dazu bestimmten Decorationsbauten strahlten in ruhigster Flammenpracht, von Zeit zu Zeit noch überstrahlt von bengalischen Feuern und kostbaren Raketenbouquets, die in Hunderten von Schlangenlinien emporstiegen und in reichfarbigem Lichte ihren Sternenregen ausstreuten. Nicht weniger bezaubernd und ergreifend wirkte die Musik, die in der That den Riesenfestsaal vollkommen ausfüllte, und als nach der harmonischen Retraite der Cavallerie und der Infanterie das „Gebet“ die Feier schloß, verließ gewiß Jeder den Platz mit dem Hochgefühle, etwas Großes, Seltenes, Ueberwältigendes erlebt zu haben.
Berichtigung. In wenigen Tausenden der vorigen Nummer, Seite 618, zweite Spalte, Zeile 19 v. u. fehlt die Bezeichnung: Tausend. Man lese: 45,000.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ vergl. dazu Berichtigung