Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[845]

No. 51.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Herr Fäustelmann strebte, während ihm diese und andere Gedanken durch den Kopf gingen, heimwärts und als er in Wilstorp wieder angekommen war, wandte er sich sogleich der Wohnung seines jungen Herrn zu. Dieser saß noch immer in seinem Eckzimmer in einem Sessel am Fenster, ohne dem Anschein nach weiter beschäftigt zu sein, als die hochaufgethürmten weißen Wolkenberge draußen am blauen Himmel zu betrachten.

„Nun, was bringen Sie für Nachrichten, Fäustelmann?“ rief er dem Rentmeister, als dieser bei ihm eintrat, entgegen.

„Nachrichten nicht gerade befriedigender Art – das Ergebniß ist, daß wir uns selber werden helfen müssen. Das Beste ist, daß ich aus den Reden der Prinzessin den Schluß habe ziehen können, wer Ihr Doppelgänger ist, obwohl sie mir directe Auskunft verweigerte. Es ist ganz ohne Zweifel der Emissär, von dem der Apotheker redete, der Mann, der die Waffen für die Kropp in’s Land geschafft hat …“

„Ah – und wie sollte der dazu kommen, sich Uffeln zu nennen?“

„Sehen Sie nicht ein, wie schlau das von ihm war? Welche bessere Maske konnte der Mensch sich wählen, als den Namen eines solchen neuen Ankömmlings im Lande, wie Sie sind? Wird ein Verdacht wider ihn erweckt, vernehmen die Franzosen etwas von einem Uffeln, der im Lande für den Tugendbund arbeitet, heben sie vielleicht solch einen an einen Herrn von Uffeln adressirten Waffentransport auf, dann fallen sie natürlich über Sie her, und dieser Schwindler behält unterdeß völlig Zeit, sich bei Seite zu machen und zu verschwinden.“

„So erklären Sie sich die Sache?“

„Wissen Sie eine bessere Erklärung?“

„Nein. Freilich nicht. Aber was wollte die Prinzessin von mir?“

„Ihrem Edelmuth ein großes Opfer abverlangen, Sie bitten, auf die Hand von Fräulein Adelheid zu verzichten.“

„Ah – nicht möglich!“

„Es ist so – sie wollte Ihnen die Herzensneigung von Fräulein Adelheid und Doctor Adolf Günther in einem so romantisch verklärten Lichte darstellen, daß Sie in tiefster Rührung und überquellender Seelengüte freiwillig auf alle Bewerbungen um Fräulein Adelheid’s Hand verzichten sollten.“

„Aber das kann ich ja gar nicht.“

„Nein, das können Sie nicht. Obwohl es die Prinzessin sehr ernsthaft nimmt. Denn sie läßt es Ihnen durch mich feierlich als Bedingung vorschreiben.“

„Als Bedingung? Ah – die Prinzessin schreibt mir Bedingungen vor! Wofür?“

„Sie übernimmt es dann, Ihren Doppelgänger sofort unschädlich zu machen und von hier zu vertreiben.“

„Vertreiben? Wodurch kann sie das, welche Macht hat sie über ihn? Ich werde ihr sehr dankbar sein, wenn sie ihn vertreibt – aber …“

„Aber Sie möchten wissen, welche Mittel sie dazu hat. Nun, eines, dessen sie auch erwähnte, liegt auf der Hand: sie kann das Geheimniß seines Aufenthaltes verrathen – sie kennt es.“

„Und würde sie das thun?“

„Nein! das würde sie nicht thun. Sie versprach, im Nothfall ihm damit drohen zu wollen, aber ich bin überzeugt, daß sie mit diesem Versprechen nur mich beruhigen wollte; in der That wird sie, wenn dieser Mensch ihr sich anvertraut hat, ihn auch nicht verrathen. Daran ist nicht zu denken. Sie muß also, wenn sie verspricht, ihn zu entfernen, andere Mittel haben auf ihn zu wirken, die sie nicht angeben will, statt deren sie von einer solchen Drohung redet.“

„Aber wie erklären Sie sich denn das? Wie kann diese Prinzessin mit dem Emissär zusammenhängen, wie kann sie Mittel haben, seine Entschlüsse zu bestimmen?“

„Das weiß der liebe Gott,“ sagte Herr Fäustelmann, „ich verstehe es eben so wenig wie Sie. Das Beste ist, daß wir es nicht gerade zu ergründen brauchen um uns helfen zu können, das heißt um Ihnen helfen und diesen gefährlichen Doppelgänger vom Halse schaffen zu können.“

„Und welche Mittel hätten wir dazu?“

„Dieselben ungefähr, welche die Prinzessin hat; sie scheint zwar den Aufenthaltsort des Menschen zu kennen, während er uns unbekannt ist. Dagegen können wir handeln, ohne durch Rücksichten auf Vertrauen und dergleichen gebunden zu sein. Und kennen wir seinen Aufenthaltsort nicht, den wir denunciren können, so kennen wir etwas, das uns ebenso weit hilft – sein Waffenlager.“

„Wollen Sie das der Polizei denunciren?“

„Weshalb nicht? Es muß freilich anonym geschehen, denn sonst würde man als schlechter Deutscher verfehmt, und Apotheker Widmer würde seiner vaterländischen Entrüstung in schlimmen Worten Luft machen.“

[846] „Es wäre doch auch schlecht,“ warf hier Herr von Uffeln fast erschrocken ein.

„Man wehrt sich eben wie man kann, Herr von Uffeln, wenn Sie aber vorziehen, in der Gefahr zu bleiben, die der Mensch über Sie bringt …“

„Nein, nein, jeder ist sich der Nächste, thun Sie, was Sie für nöthig halten!“

„Ich werde es mir überlegen und wahrscheinlich für nöthig halten. Die Entdeckung und obrigkeitliche Beschlagnahme des Waffenvorrats in der Kropp würde ein ganz gewaltiges Aufsehen, einen heillosen Lärm machen und Alles, was zur Polizei gehört, auf die Beine bringen. Es würde, denk’ ich, völlig genügen, unsern Tugendbundmenschen an seine Rettung denken zu lassen – er würde sich so hastig, wie wir es nur irgend wünschen können, aus dem aufgewirbelten Staube machen.“

„Das ist freilich zu erwarten,“ versetzte Herr von Uffeln, und Beide schwiegen dann eine Weile.

„Ich muß Ihnen gestehen,“ sagte endlich Herr von Uffeln mit einem Seufzer und in ziemlich verzagtem Tone, „bei allem dem fühl’ ich mich immer unbehaglicher hier. Es bleibt immer die Abneigung von Fräulein Adelheid gegen mich, die mich sehr trübsinnig stimmt, und nun gar noch dieser Tugendbundmensch, wie Sie ihn nennen, der mir die Luft hier drückend macht – das Alles läßt mich wünschen …“

„Sie könnten eine Luftveränderung vornehmem? Das ist mir sehr erklärlich,“ erwiderte Herr Fäustelmann mit einem leisen spöttischen Lächeln. „Und,“ fuhr er fort, „das trifft ja auch auf’s Beste mit der schon lang gehegten Sehnsucht unserer Familie nach einer Luftveränderung, mit dem Verlangen des Arztes nach einem anderen Klima für Fräulein Adelheid überein. Also beschleunigen wir diese Luftveränderung!“

„Was könnten Sie dazu thun?“

„Etwas immerhin, vielleicht gerade so viel wie nöthig ist. Das Geld ist ja da – es sind die für Sie beim Justitiar deponirten baaren Einkünfte des Guts, die auf Ihren Antheil fielen, und die Sie nun großmüthig Herrn von Mansdorf zur Disposition gelassen haben. Damit Sie nun einpacken und Alle zusammen einträchtiglich sich aus dem Waldschatten von Wilstorp in den Sonnenschein eines glücklicheren Klimas verziehen können, bedarf es nur noch der ausgesprochenen Verlobung mit Fräulein Adelheid, denn als ihr abgewiesener Freier können Sie freilich hinter der Familie nicht dreinziehen.“

„Sicherlich nicht! Aber diese Verlobung …“

„Müßte ohne Zeitversäumniß jetzt endlich zu Stande gebracht werden. Und das lassen Sie meine Aufgabe sein! Ich werde Frau von Mansdorf schon dafür stimmen, daß sie dem jetzigen unbestimmten Zustande, diesem Hangen und Bangen ein Ende macht. Wollen Sie mich dabei unterdtützen – wohl, so betrinken Sie sich ein paar Abende nach einander mit Herrn von Mansdorf.“

„Betrinken – wozu? Soll mich das etwa in Fräulein Adelheid’s Augen liebenswürdiger erscheinen lassen?“

„Nicht just das – es soll nur dazu dienen, den Wunsch der Frau von Mansdorf, ihren Mann aus dieser Einsamkeit hier fort zu bringen, zu verschärfen. Es soll ihr die Möglichkeit geben, zu dem Fräulein zu sprechen: mach’ ein Ende, damit wir hier fortkommen! Du hast es sonst auf dem Gewissen, daß dein Vater hier in einem Laster verkommt, an dem nur seine Einsamkeit und Beschäftigungslosigkeit schuld ist.“

„Sie sind eigentlich ein merkwürdig schlauer Gesell, Fäustelmann,“ sagte Herr von Uffeln, nachdenklich ihn anschauend.

„Danken Sie Gott dafür, daß ich Ihnen mit meiner Ueberlegung ein wenig zu Hülfe komme!“

„Das soll auch geschehen, sobald Ihre Ueberlegung und Hülfe mich an’s Ziel gebracht haben. Ich habe nicht eher Ruhe mehr. Ohne Fräulein Adelheid glaube ich nicht mehr leben zu können.“

„Das kommt blos daher, weil sie Sie mißhandelt,“ versetzte lächelnd Herr Fäustelmann. „Aber seien Sie getrost und vertrauen Sie auf meinen Eifer, Sie glücklich zu machen!“

Damit ging Herr Fäustelmann, ohne daß Uffeln doch ein großes Vertrauen zu diesem Eifer mit den Blicken ausgedrückt hätte, womit er ihm nachschaute. Im Gegentheil – der junge Mann behielt in seinen Mienen denselben Ausdruck von Schwermuth, der bei Fäustelmann’s Kommen darin gelegen hatte.

„Ich fürchte,“ flüsterte er vor sich hin, „dieser Mensch hat noch ganz andere Motive, als die er mir angiebt. Weshalb ist ihm so daran gelegen, seine Herrschaft von hier abziehen zu sehen? Er betrügt zuerst seinen alten Herrn und dann mich, den er zu seiner Puppe gemacht hat, der wie Wachs in seiner Hand ist. Wahrhaftig, wenn mein Herz mich nicht so rasch an dieses Haus gefesselt hätte …“

Herr von Uffeln endete nicht, sondern blickte trüben Auges wieder auf die hohen, weißen Wolkenberge. Nur nach einer langen Pause sagte er mit einem tiefen und schmerzlichen Seufzer:

„Ich wollte, ich wäre nie hierher gekommen.“




8.

Einige Tage waren vergangen. Der Jochmaringhof lag im hellen Sonnenscheine eines merkwürdig schönen Herbstnachmittages da. Die außerordentliche Reinheit und Klarheit der Luft ließ die näheren Gegenstände sich ungewöhnlich bestimmt und deutlich von den entfernteren abheben, so daß die Landschaft dadurch Vorder-, Mittel- und Hintergründe bekommen hatte, welche man zu andern Zeiten gar nicht so unterschieden wahrnahm. Und wie eine große Abwechselung und eine reichere Belebung, so hatte diese Landschaft dadurch auch einen größeren Farbenreichthum bekommen; die Blätter von des Meyers alten Eichen zeigten da, wo die Sonne darauf lag, ein ganz wunderbar saftiges, tiefgesättigtes Grün, und die Ziegel auf dem alten Gaden seitwärts vom Haupthause wiesen Farben und Töne auf, die einen Maler hätten entzücken müssen. Eine wunderbare Stille und fast weihevolle Ruhe lag zudem über dem Ganzen; man hörte nichts, als von einem entfernteren Gehöfte her den gedämpften Schlag im Tacte arbeitender Flachsbrecher. Die alten mächtigen Wipfel aber standen so still, als wären sie in ein tiefes, tiefes Sinnen versunken und gedächten der uralten heiligen Zeiten Widukind’s und seiner „Gesaljos“, seiner Saalgenossen und Gesellen.

Unter einer dieser Eichen, da, wo wir sie zuerst erblickten, sitzt heute einmal wieder die Prinzessin Elisabeth auf der rauhen Holzbank hinter dem weißgescheuerten Tische von Lindenholz, den die Meyerin für Gäste hinauszutragen pflegt. Diese selber, des Meyer’s Ehegesponst, wandelt mit der Prinzessin Kammerfrau drüben im Garten auf und ab, der an der andern Seite des Hauses einige Astern, einige Phloxbüsche und sonst sehr wenig Gegenstände zeigt, welche auf einen idealen Zug in bäuerlicher Gartenpflege hindeuten, dagegen eine große Sorge für die Cultur von Zwiebeln, Cichorien und Gurken verräth. Die Prinzessin pflegt unterdeß geheimer Zwiesprache mit der rätselhaften Persönlichkeit, welche es bei dem Besuche, den wir sie der Prinzessin im Schlosse machen sahen, verstanden haben muß, sich diese wieder vollständig zu versöhnen.

Der Fremde sitzt der Prinzessin gegenüber auf einem Strohstuhle und hat das Kinn auf den auf der Tischplatte ruhenden Arm gestützt; sein Hut liegt neben ihm, so daß seine hochgewölbte, von dunkelbraunem Haare umwallte Stirn völlig frei sichtbar ist. Es laufen einige zarte Linien in der Quere darüber, als Andeutungen, wo Zeit und Sorge nur zu graben haben werden, wenn sie auch in diesem Menschenantlitze die Runen herstellen wollen, die von des Lebens Mühsal sprechen. Seine dunklen großen, aber halb verschleierten Augen liegen mit einem eigenthümlichen, halb fragenden, halb verwunderten Blicke auf der jungen Dame, während um den streng geschlossenen und schön gezeichneten Mund doch wieder ein Zug von Spott, oder wenn der Ausdruck zu stark sein sollte, von Neckerei liegt.

„Sie sind von einer bewunderungswürdigen Güte, Durchlaucht,“ sagte er, „und wissen Sie, daß mir von dem Allem in diesem Augenblicke ganz eigenthümlich, ganz traumhaft zu Muthe geworden ist?“

„Wie Ihnen zu Muthe ist, darum handelt es sich hier nicht,“ versetzte die Prinzessin, „und insbesondere nicht um Ihre Träume. Sie sollen sich entschließen und das sofort, jetzt auf der Stelle, nachdem Sie Zeit genug gehabt haben, meine Worte zu überlegen.“

[847] Es handelt sich für mich doch ein wenig darum, wie mir zu Muthe ist,“ entgegnete er. „Sie wollen mich vertreiben von hier. Wenn ich nun aber mich hier wie in einem wundervollen Traume fühlte, von dem ich wollte, daß er nie zu Ende gehe, so sehen Sie ein, wie schwer es sein wird, daß ich mich gerade jetzt zu dem entschließe, was Sie von mir verlangen. Ich fühle mich eben wie mit Zaubergewalt an diesen Erdfleck gefesselt; die sonnige Welt um uns her mit ihrer reizenden Abwechselung von Hain und einzelnen Baumgruppen, von Kornflur und Rasenflächen, diese still an saftig grünen Waldwiesen vorübergleitenden wasserreichen Flüßchen, dieser Wechsel der Bodenerhebungen und Senkungen, das Alles gefällt mir ausnehmend, und mehr noch die Staffage dieser grünen Landschaft, die schönen reichen Höfe mit ihren prächtigen Sassen. Wo finden Sie einen solchen Bauernschlag wieder?“

„Aber ich bitte Sie, wie können Sie jetzt von Dingen reden, auf die es ja gar nicht ankommt?“

„Für mich kommt es wohl darauf an. Aus dem sonn- und hirnverbrannten Spanien gekommen, seh’ ich mich in einer so erquickenden, herzstärkenden Welt wie diese. Und mitten in dieser reizenden Umgebung, wo ich vergessen kann, was hinter mir liegt, wo mir der Muth, sorgenlos in die Zukunft und in das Glück hineinzuleben, wiedergekommen ist und täglich stärker in mir aufquillt, da sitzen Sie mir gegenüber, Sie, ein fremdes, schönes rührendes Märchengebilde, und reden mir mit einer Stimme, deren Töne so wunderlich zum Herzen gehen, von einer jungen Liebe, von Liebesglück und Liebeskummer vor, müssen Sie nicht gestehen, daß ich mich wie in einem Traume voll Poesie befangen fühlen muß – und können Sie mir zumuthen, ich soll mich daraus aufraffen, mein Bündel schnüren und fortwandern auf Nimmerwiedersehen?“

Die Prinzessin schüttelte den Kopf. Die Complimente, welche der Fremde ihr gemacht, schienen sie heute zwar durchaus nicht mehr zu erzürnen, aber ein wenig ungeduldig war der Ton doch, mit dem sie antwortete:

„Ich meine Ihnen doch klar gemacht zu haben, daß Sie keine Zeit haben zu träumen … daß die höchste Gefahr über Ihnen schwebt.“

„Gewiß, Sie haben es nicht an Eifer fehlen lassen, mir das Schreckliche meiner Lage klar zu machen. Der junge Mann drüben auf Wilstorp fühlt sich auf’s beklemmendste und ängstlichste dadurch compromittirt, daß ich seinen Namen mißbraucht habe, um darunter meine gefährlichen Emissar-Umtriebe zu machen. Sie haben versprochen, ihn von dieser Angst zu befreien, falls er dagegen auf seine Bewerbungen um ein Fräulein verzichtet, das längst ihr Herz einem jungen Arzte, Ihrem Protégé, geschenkt hat. Um ihn von seiner Angst zu befreien, verlangen Sie von mir, daß ich meine Umtriebe einstelle und je eher desto besser verschwinde. Wenn ich nicht verschwinde, wenn es Ihnen nicht gelänge, durch Ihr gütiges Zureden mich unverzüglich aus dem Lande zu schaffen, dann, drohen Sie, würde ganz unzweifelhaft, trotz aller patriotischen Gefühle, die ihn abhalten könnten, der Rentmeister, Herr – wie nannten Sie ihn? – selber vorgehen und mich sammt meinem Waffenvorrath, den ich in dem alten verlassenen Gebäude ‚die Kropp‘ geborgen und den ihm der Zufall entdeckt, den französischen Behörden denunciren, worauf diese mich einfangen, verurteilen und erschießen würden. Das Alles ist klar, logisch und schlagend. Namentlich ist das Erschossenwerden eine Sache, der – ich kann ja aus eigener Erfahrung darüber reden – man besser thut auszuweichen.“

„Und wie können Sie noch zaudern?“ fragte die Prinzessin.

„Weil es mir hier gefällt. Weil ich hier so wohl aufgehoben bin, wie seit vielen Jahren nicht. Weil ich mit Wonne diese reine, weiche, stille Luft hier athme. Deshalb zaudere ich. Und dann auch vielleicht ein wenig aus Trotz. Vielleicht aus bösem Trotze, weil gerade der Mund, aus dem ich dieses Wort am wenigsten gern hörte, mir sagt: ‚Geh! geh!‘ Sie wissen wohl nicht, Sie hochmüthige Durchlaucht Sie, daß unter Umständen das Wort: ‚Geh!‘ ein sehr grausames sein kann?“

Die Prinzessin erröthete leicht.

„Für Sie liegt doch keine Grausamkeit darin, wenn ich das Wort Ihnen gegenüber ausspreche. Ich mache Ihnen eine Gefahr kund, die Ihnen droht; ich sage Ihnen: man hat entdeckt, wer Sie sind, was Sie hierher führt – also retten Sie sich, fliehen Sie – nennen Sie das grausam?“

„Wollen Sie mir einräumen, daß es persönliche Theilnahme für mich, Güte, Fürsorge Bekümmertheit um mein Schicksal ist, dann will ich allerdings das Wort ‚grausam‘ widerrufen. Aber Sie senden mich fort, damit Fräulein Adelheid wieder nach Herzenslust ihren Doctor Günther lieben darf – und deshalb …“

„Würden Sie gehen, wenn ich Ihnen einräumte, daß ich auch aus Theilnahme und Sorge um Ihr Schicksal wünsche, Sie gingen und brächten sich in Sicherheit?“

„So viel würden Sie mir einräumen, so sehr würde Ihr hochfürstlicher Stolz sich herablassen, so sehr sich demüthigen, nur um mich glücklich fortzuschaffen?“

Prinzessin Elisabeth wandte sich zornig ab.

„Sie sind argwöhnisch, also schlecht.“ sagte sie. „Sie verdienen die Worte nicht, die ich an Sie gerichtet habe.“

„Habe ich Sie beleidigt?“

„Ja – tief.“

„So haben Sie also die Wahrheit geredet? Sie schenken mir wirklich eine persönliche Theilnahme, die sich um meine Sicherheit ängstigt? Das wäre ein Glück, an das ich gar nicht mehr zu glauben wage. Mein Gott – seit wann hat ein Weib mir eine wahre Theilnahme bewiesen? Seit meine Mutter todt ist, nicht mehr.“

„Dann haben Sie keine gesucht oder keine verdient.“

„Gesucht – ich habe nichts anderes gethan als sie gesucht mein Leben lang. Aber wohl nicht auf die rechte Weise. Ich bin immer etwas von einem Träumer gewesen. Ich lebte in’s Leben hinein wie ein Kind seinem Weihnachten entgegen, in ruhiger Erwartung. Wozu waren die Wolken über mir da, wenn nicht zur richtigen Stunde mir das Glück daraus zufallen sollte? Aber bis jetzt ist es mir nicht zugefallen aus den Wolken. Es ist mir nichts zugefallen als das Glück, welches die Träumer haben, daß sie heiler Haut durchkommen, wo Andere den Hals brechen. Ich bin nie verwundet worden und ich schreibe es dem Umstande zu, daß ich in einem Gefechte jedesmal in einen wunderlichen Zustand geriet, wo alles, was um mich her war und vorging, mir wie ein Traum vorkam und ich an eine Gefahr für mich gar nicht dachte.“

„Und so haben Sie auch hier gelebt, und an die furchtbare Gefahr, die über Ihnen schwebt, haben Sie nicht gedacht.“

Er sah sie lächelnd, sinnenden Auges an und sagte dann:

„Tadeln Sie mich deshalb nicht, Prinzessin Elisabeth! Seit ich Ihnen damals im Walde drüben begegnet bin, habe ich an Anderes und Besseres gedacht. Stets an Eines, das mir aber so viel zu sinnen und zu denken gegeben hat, daß ich unmöglich auch noch an Anderes denken konnte. Nun, werden Sie nicht böse, daß Ihnen ein gewöhnlicher Sterblicher so etwas sagt! Sie wollen, ich soll gehen, für immer scheiden von hier, und einem Scheidenden verzeiht man ja, wenn er ausspricht, wie ihm zu Muthe ist.“

„Aber einem Manne,“ fiel Prinzessin Elisabeth, die leicht erblaßt war, jetzt erröthend ein, „verzeiht man nicht, wenn er redet, wie’s ihm einfällt und ohne an die Tragweite seiner Worte zu denken.“

„Thu’ ich das?“

„Ja, das thun Sie,“ entgegnete die Prinzessin fast heftig, „gerade so unbesonnen und unbedacht jetzt wie damals, als Sie sich ohne Weiteres den Namen Uffeln beilegten. Jetzt sprechen Sie mir Dinge vor, die kein ehrlicher junger Mann einem jungen Mädchen sagt, auf die Gefahr hin, Ihren Frieden damit zu stören. Müssen Sie sich nicht sagen, daß das ein schlechter Lohn für die Theilnahme ist, welche ich Ihnen gezeigt habe und deren Aufrichtigkeit Sie nicht verkennen konnten? Jetzt, ehe Sie scheiden, reden Sie mir von Gefühlen, von Gedanken vor, die, wenn ich sie für wahr hielte, doch einen Eindruck auf mich machen müßten. Und kann, wenn Sie fort sind, um nie wiederzukehren, dieser Eindruck mich glücklicher machen? Sie haben kein Gewissen.“

Er sah sie überrascht und verwundert an.

„Kein Gewissen? Darin mögen Sie Recht haben. Ich werde in der Leidenschaft, fürchte ich, gerade so kopflos und um die Einwürfe des Gewissens unbekümmert vorwärts gehen, wie [848] in der Schlacht unbekümmert um die Kugeln. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch? Glauben Sie das? Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß ich bin, wie der liebe Gott mich wachsen ließ, und daß wenig an mir geändert werden könnte. Verzeihen Sie mir deshalb – auch dann, wenn ich von den Worten, die ich sprach und die Sie gewissenlos finden, nichts zurücknehmen kann! Seit ich Sie gesehen, wird mein Leben nur von einem Gedanken beherrscht, und das wird auch später nicht anders werden, niemals. Was geht es Sie an? Ihre Ruhe werde ich dadurch nicht mit mir fortnehmen.“

Die Prinzessin sah in den Schooß. Sie war ein wenig bleicher geworden; es glänzte etwas in ihren Augen. Plötzlich hob sie den Kopf, sah ihr Gegenüber mit einem eigenthümlich sprechenden, aber sehr flüchtigen, sehr raschen Blicke an, reichte ihm ebenso flüchtig die Hand und sagte dabei:

„Da Sie nicht aufhören, davon zu sprechen, so muß ich gehen. Ich nehme Ihr Wort mit, daß Sie von hier abreisen. Adieu – mit Gott – Gott sei mit Ihnen!“

Dabei war sie aufgestanden, und ehe er noch den Druck ihrer Hand hätte erwidern können, war sie bereits drei Schritte vor ihm auf dem Wege zu der Umzäunung des Gartens, um ihrer Kammerzofe zu winken, mit der sie nach einigen Abschiedsworten an die Meyerin den Heimweg einschlug, dem Walde zu, der nach wenigen Minuten sie aufnahm und den Blicken des Nachschauenden verbarg.

Dieser sah ihr lange mit seinen eigenthümlichen, durch die halbgeschlossenen Lider einen so merkwürdigen Ausdruck von Träumerei bekommenden Blicken nach.

„Und jetzt,“ flüsterte er nach einer Pause vor sich, „jetzt, wo diese edle goldreine Natur aus der naiven Offenheit ihres großen Herzens heraus mir solch ein Geständniß gemacht hat – gehen? Jetzt von hier scheiden? Ja, gehen will ich, aber nicht, wohin sie mich sendet.“

Er blickte lange zu Boden, stampfte dann, während er zornig ein paar Worte vor sich hinmurmelte, mit dem Fuße, und wandte sich dem Schem zu, um hinter den Wallhecken jenseits des Flusses zu verschwinden. –

Die Nachmittagssonne hatte sich unterdeß mehr und mehr geneigt und senkte sich dem Horizonte zu. Auf dem Hofe von Wilstorp spielten ihre letzten Strahlen, bevor sie hinter den Wipfeln des umgebenden Waldes und den Dächern der Vorgebäude verschwand, mit dem dunkeln Laub des Epheus, dessen Geranke sich an den Thürmen hinaufspann und den hübschen Platz zwischen den letzteren vorn abschloß. In diesem reizenden versteckten Winkel saß auch heute wieder die Familie versammelt um den großen Steintisch, mit denselben Hausfreunden, welche wir früher dort antrafen, dem Justitiar und dem Oberförster, auch Herr Fäustelmann fehlte nicht, er saß vorn, mit dem Rücken dem Hofe zugekehrt, während im Hintergrunde Herr von Uffeln neben Mansdorf saß, zur Seite vom Fräulein Adelheid. Diese sah sehr bleich aus und ließ von Zeit zu Zeit ihre Häkelarbeit in den Schooß sinken, um dann, nach einer Pause, wie erschrocken aus ihren Gedanken auffahrend desto hastiger darin fortzufahren; Herr von Uffeln, dem Anscheine nach ganz von den Gesprächen der Männer absorbirt, beobachtete doch mit häufigen raschen Seitenblicken diese Spuren von innerer Aufregung in dem jungen Mädchen neben ihm; Frau von Mansdorf strickte an ihrem obligaten Strumpfungeheuer und horchte dabei ebenfalls auf die Gespräche der Männer.

Diese waren in die neuesten Kriegsnachrichten vertieft. Napoleon spielte eben eine Rolle, welche man nicht begriff, welche man bei ihm nicht verstand – er war noch immer in Dresden mit dem Haupttheile seiner Heere, wie festgenagelt blieb er seit vielen Tagen schon an derselben Stelle, und wenn unbefangene Menschenkinder sich dadurch verführen lassen konnten zu glauben, er habe die Macht verloren, den Feldzug nach seinem Sinne und nach seinem Plane zu leiten, er habe wohl gar keinen festen Plan mehr und schwanke in seinen Entschlüssen, so wußten die Klügeren ganz genau, daß dies eben nur die Ruhe des Löwen vor dem Sprunge, das Zusammennehmen seiner Kraft sei, worauf die furchtbaren, alle seine Gegner zermalmenden Schläge folgen würden. Diese Meinung wurde auch von Leuten vertheidigt, welche die besten Wünsche für die Sache des Vaterlandes hegten, denn um diesen französischen Soldatenkaiser lag nun einmal trotz Rußland und trotz Spanien der Nimbus der Unbesiegbarkeit.

In unserm Kreise war es merkwürdig, mit welcher Ruhe und welcher Friedfertigkeit die sich einander entgegenstehenden Ansichten darüber ausgetauscht wurden. Heute würden so durchaus verschiedene Ansichten über politische Dinge unfehlbar zu heftigem Streite führen und die so sehr sich widersprechenden Propheten nächster Zukunftsereignisse sich bald in die Haare gerathen. Damals jedoch war der deutsche Unterthan so daran gewöhnt, in den politischen Ereignissen, in Krieg, Frieden, Ländervertheilungen Dinge zu sehen, welche für ihn den Charakter elementarer Erscheinungen mit elementarer Gewalt hatten, dunkle Wetter, die über sein Haupt dahinzogen, ohne sich um ihn zu kümmern, und aus denen für ihn nur die Schauer, die Schloßen oder auch die Blitze, die sein Dach in Flammen setzten, niederfuhren – so sehr, sagen wir, war der deutsche Unterthan daran gewöhnt, daß nach und nach die apathische Geduld der wesentliche Zug im Charakter der öffentlichen Stimmung geworden war. Einzelne Hitzköpfe machten eine Ausnahme; in einzelnen Herzen kochte es, und die Heftigeren machten, von einer gewissen Erregung durch den eben wüthenden Krieg ergriffen, von ihrer Gesinnung kein Hehl, wenn es ohne Gefahr war; Apotheker Widmer hatte ja sogar in seiner Propaganda für die Zwecke des Tugendbundes manche befriedigende Erfolge. Im Ganzen aber war in unserm Lande von der stürmischen Begeisterung, von der uns die Geschichte der „Freiheitskriege“ aus anderen deutschen Landschaften berichtet, nicht viel zu verspüren, und Herr von Mansdorf sagte mit gemüthlicher Ruhe, nachdem das Für und Wider einer Entscheidung nach dieser oder jener Seite erörtert war:

„Jedenfalls soll mich wundern, wer uns hier nachher bekommt.“

Fortsetzung folgt.  




Schneesturm in den Tauern.


In den Bergen ist der Winter ein wilder, ungestümer Geselle, der keinen Spaß versteht; in tobenden Schneestürmen drückt er seine Wildheit aus, und wehe dem einsamen Wanderer, welcher von einem solchen Unwetter überrascht wird! Er ist in den meisten Fällen sein Opfer. Von den Gefahren und Schrecken eines solchen Schneesturmes im Hochgebirge kann sich Derjenige, welcher niemals im Winter im Gebirge war, gar keinen Begriff machen. Ich hatte vor Jahren auf einer Reise von Salzburg nach Klagenfurt die Gelegenheit, den furchtbaren Ernst eines solchen Unwetters kennen zu lernen, und will hier versuchen, die Erlebnisse dieser Reise zu schildern; dieser Erzählung muß ich aber eine ganz kurze Beschreibung der Straße, auf welcher ich die Tour machte, vorausschicken.

Von dem reizenden Salzburg führt südwärts eine Straße über drei Alpenketten in das Kärntnerland. Dieser Weg ist an Naturschönheiten überreich. Zuerst führt derselbe das Salzachthal entlang durch den von den Kämpfen im Jahre 1809 her bekannten Paß Lueg; hier ist das Thal so enge, daß die Straße neben der Salzach kaum Platz hat. Von Werfen biegt der Weg links ab nach Radstädt, durchschneidet das Thal der Enns und führt über den Radstädter Tauern in das Lungenthal nach Sanct Michael, von wo die Straße wieder den Katschertauern hinanzieht, nach dessen Uebersteigung sie in das Kronland Kärnten gelangt. Die höchste Höhe dieser Paßstraße ist die Spitze des Radstädter Tauern, welche viertausendachthundert Fuß über der Meeresfläche liegt. Hier ist zur Aufnahme und Rettung von Reisenden eine Art Hospiz, ein sogenanntes Tauernhaus, erbaut, in dessen Nähe ein Kirchhof zur Beerdigung der im Schnee Verunglückten sich befindet. Aus diesem Umstande allein kann man schon entnehmen, daß eine Reise im Winter über diesen Alpenpaß zu den gefährlichen Unternehmungen gehört.

Der Eilwagen, mit welchem ich die Reise machte, ging damals

[849]

Auf der Winterreise zwischen Salzburg und Klagenfurt.
Nach der Natur aufgenommen von J. Hörmann.

[850] um zehn Uhr Nachts von Salzburg ab, so daß wir des andern Tages um Mittag nach Untertauern, dem letzten Orte vor dem Tauernpasse, kamen. Die Fahrt bis dahin ging glücklich und ohne nennenswerte Erlebnisse vor sich. Die Reisegesellschaft bestand zufälliger Weise diesmal aus mehreren Personen, während sonst in dieser Jahreszeit der Eilwagen gewöhnlich nur einen, nicht selten gar keinen Reisenden führt.

Außer meiner Wenigkeit befand sich im Fond des Wagens noch eine Dame, das nach vorne offene Coupé wurde von dem Conducteur und einem Bauer aus Kärnten eingenommen.

Bis Untertauern ging es, wie gesagt, ganz gut, obgleich die armen Pferde den schweren Wagen durch tiefen Schnee immer bergan und bergab ziehen mußten, doch sind die Postmeister an dieser Straße so menschlich und in ihrem, so wie im Interesse der Reisenden so verständig, nicht alte abgerackerte Klepper, sondern kräftige, wohlgenährte Pinzgauer Gäule zu halten, welche große Kraft mit entsprechender Schnelligkeit verbinden.

In Untertauern wurde ein einfaches Mahl eingenommen, und man rüstete sich zur beschwerlichen und gefährlichen Fahrt.

Der Himmel hatte sich allmählich mit bleigrauen, schweren Wolken überzogen, und aus Nordwest erhob sich von Zeit zu Zeit in kurzen Stößen ein höchst verdächtiger Wind. Vor das Dreigespann wurden noch zwei große, schwere Gäule gelegt, und es wären noch ein oder zwei weitere Pferde vorgespannt worden, wenn nicht zufälliger Weise vor uns schon einige Frachtwagen dieselben in Anspruch genommen hätten.

Die Fahrt begann. Bald erhob sich der Wind, welcher früher sich nur in kurzen Stößen bemerkbar gemacht hatte, immer heftiger und trieb den ohnehin tiefen Schnee an vielen Stellen zu sehr ansehnlichen Hügeln zusammen, welche nur mit der größten Anstrengung überwunden werden konnten, zum Glück hatten wir schon von Untertauern einige Männer, mit Schaufeln versehen, mitgenommen, welche dem Wagen immer vorangingen und, so weit es in kurzer Zeit möglich war, den Weg einigermaßen fahrbar machten; die Spur der uns schon in der Frühe vorausgefahrenen Wagen war schon vollkommen verweht. Das Wetter gestaltete sich immer bedrohlicher, und der anfangs blos heftige Wind artete endlich, je höher wir kamen, in einen förmlichen Sturm aus.

Die durch den Schneefall herbeigeführte Unebenheiten der Straße verursachten ein sehr starkes Schwanken des Wagens, welches ein Umstürzen desselben befürchten ließ. Dies veranlaßte endlich die männlichen Insassen, den Wagen zu verlassen, um ihn an solchen Stellen, wo die eine Seite tief in den Schnee sank, während die andere über „Schneeg’waht’n“ ging, zu stützen, damit er nicht ganz umkippe. Das Unwetter wurde immer fürchterlicher, die Kälte höchst empfindlich und durch den schneidenden Wind und die glassplitterähnlichen, gefrorenen Schneeflocken, welche die Haut wie mit Nadelstichen peinigten und das Offenhalten der Augen sehr erschwerten, oft geradezu unerträglich, auch auf die Pferde übte dieses Wehen des gefrorenen Schnees eine äußerst empfindliche Wirkung, sodaß dieselben ganz störrig wurden und manchmal kaum mehr von der Stelle zu bringen waren, ja, das eine Deichselpferd, der Sattelgaul, mußte vom Postillon am Zügel geführt werden und wurde so ungeberdig, daß es ausgespannt und das Pferd, welches bisher in der Wildbahn gegangen, an seine Stelle gespannt werden mußte.

Das fortwährende, durch den hohen Schnee sehr erschwerte und oft sehr steile Aufwärtssteigen, sowie die dünne Luft verursachten mir eine beängstigende Herzbeklemmung, welche wohl auch der Aufregung zuzuschreiben war. Die mitreisende Dame, von ohnehin schwächlicher Natur, war durch die äußerst empfindliche Kälte (denn trotz geschlossener Fenster und einer dicken Heulage am Fußboden des Wagens drang der Wind in schneidender Kälte in das Innere desselben) und die Angst in einen ohnmachtähnlichen Zustand verfallen, sodaß wir fast um das Leben der armen Frau besorgt waren; leider konnten wir ihr nicht einmal beistehen, da wir Männer mit dem Antreiben der Pferde und dem Vorwärtsschieben und Stützen des Wagens alle Hände voll zu thun hatten. Die Arme hatte auch nicht die Wohlthat einer ruhigen Lage, da sie durch das Schwanken des Wagens auf ihrem Sitze hin- und hergeworfen wurde. Wir konnten überdies nur im langsamsten Tempo vorwärts kommen und immer nur höchstens hundert Schritte weit in einer Tour fahren, da wir alsdann selbst wieder nach Athem ringen und die Pferde, welche trotz der hohen Kälte in Folge der großen Anstrengung schwitzten, verschnaufen lassen mußten.

Diese Pausen waren noch beängstigender, als das Vorwärtsgehen, da wir immer fürchten mußten, daß der Weg vor uns gänzlich verweht werde, in welchem Falle wir das schreckliche Schicksal, zu erfrieren, vor Augen hatten. Zu alledem begann es schon sehr stark zu dämmern, und der Einbruch der vollständigen Nacht war nicht mehr fern.

Die hereinbrechende Dunkelheit und das Schneegestöber, welches vor und hinter uns nur eine Wand von Schneeflocken sehen ließ, erschwerte das Vorwärtskommen sehr. Der Weg war nur noch an den Telegraphenstangen zu erkennen, da auch die Straßenbrüstung ganz verweht war, wodurch wir der Gefahr, mit Roß und Wagen in den Abgrund zu stürzen, nicht fern standen.

Alle Versuche, in die Wagenlaterne Licht zu bringen, mißlangen, und so mußten wir in stockfinsterer Nacht, welche nun ganz hereingebrochen war, durch hohe „Schneeg’waht’n“ uns vorwärts helfen. Fünf volle Stunden waren wir nun schon von Untertauern aus auf dem Wege, und uns sowohl wie den Pferden begannen bereits die Kräfte zu schwinden; das Schlimmste sollte aber erst kommen. Eines der Vorspannpferde brach in eine „Schneeg’waht’n“ bis an den Kopf ein, und nur den äußersten Anstrengungen gelang es, dasselbe vor dem gänzlichen Versinken zu retten. Als es wieder auf den Beinen war, wollte es um keinen Preis mehr vorwärts, und die übrigen Pferde konnten unmöglich die schwere Last fortbewegen.

Es wurde mithin beschlossen, daß drei Mann, worunter ein Schneeschaufler, bis zum Tauernhause, das nicht mehr fern sein konnte, gehen und dort die Vorspannspferde, welche die uns vorausgegangenen Frachtwagen den Berg heraufgebracht hatten, requiriren sollten, mit deren Hülfe wir sodann endlich zum Tauernhause gelangen wollten.

Der Conducteur, der kärntnerische Bauer und einer der Schneeschaufler unternahmen die Expedition, während die anderen zwei Schneeschaufler, der Postillon und ich bei den Pferden und dem Wagen zurückblieben. Dadurch hatte wir Gelegenheit, uns unserer Reisegefährtin, welche dem Erfrieren nahe war, zu widmen. Durch Frottiren der Füße und Hände, sowie durch Einreiben der Schläfe mit Schnee, gelang es uns endlich nach einer langen bangen halben Stunde, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen, aber noch war weder für sie noch für uns alle Gefahr vorüber, denn wenn die drei wackeren Männer, welche die Expedition nach dem Tauernhause unternahmen, verunglückten, so entgingen auch wir nicht dem Schicksale, zu erfrieren, denn ein Weiterkommen war bei dem abgehetzten Zustande der Pferde nicht möglich.

In schrecklicher Spannung harrten wir nahe an zwei Stunden, während welcher Zeit wir uns durch allerlei Hand- und Fußbewegungen vor dem Erstarren bewahrten, der Rückkehr der Ausgesandten. Dabei hatten wir mit unserer Reisegefährtin unsere schwere Noth, da ihr Zustand wieder sehr bedenklich zu werden anfing. Sie wurde mehrere Male ohnmächtig und nur mit starken Schneeeinreibungen gelang es, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Endlich, nachdem wir schon jede Hoffnung aufgegeben hatten und entschlossen waren, aller Gefahr zum Trotze doch vorwärts zu dringen, gewahrten wir durch die dichten Schneeflocken das Licht einer Laterne, welches uns Erlösung aus unserer bis zum Wahnsinn peinlichen Lage verhieß. Aber es dauerte immerhin noch lange, bis uns diese ward, denn die mit den Pferden Rückkehrenden hatten schwere Arbeit, durch den oft mannshohen Schnee zu dringen.

Als sie nun endlich bei uns angelangt waren, wurden die mitgebrachten vier Pferde vor unser Fünfgespann gelegt, und nun ging es vorwärts; es waren noch einige Männer mit Schaufeln mitgekommen, welche im Verein mit unseren Schauflern die Bahn so gut wie möglich fahrbar machten.

Dennoch brauchten wir noch eine ganze Stunde, bis wir endlich die erleuchteten Fenster des Tauernhauses zu Gesicht bekamen. Nachdem der Wagen Halt gemacht, hoben wir unsere Reisegefährtin, welche abermals ohnmächtig geworden war, aus [851] demselben und brachten sie unter das schützende Dach; die weiblichen Insassen des Tauernhauses nahmen sie nun in Pflege, und ihren Bemühungen gelang es bald, sie in einen beruhigenden Zustand zu bringen. Nachdem wir Männer inzwischen ein durch die Verhältnisse in diesem so hoch gelegenenen Asyle bedingtes, sehr einfaches Abendmahl genommen, wurde beschlossen, für heute die Reise nicht fortzusetzen, da der Sturm draußen ärger denn je tobte und die Gefahr, obgleich nun die Thalfahrt zu beginnen hatte, die gleiche wie bei der Bergfahrt war.

Nach einer auf sehr primitiven Lagerstätten, aber in tiefem und erquicklichem Schlafe zugebrachten Nacht brachen wir des andern Morgens auf und traten die Thalfahrt an.

Auch unsere Reisegefährtin hatte sich, dank der Pflege der Wirthin und ihrer weiblichen Dienstboten, soweit erholt, daß sie die Weiterreise unternehmen konnte. Wir kamen glücklich und wohlbehalten in Klagenfurt an.

Ich werde aber Zeit meines Lebens diese so äußerst mühe- und gefahrvolle Reise über den Radstädter Tauern, bei welcher ich die ganze Wildheit und den furchtbaren Ernst des Winters im Hochgebirge kennen gelernt, nicht vergessen.

J. Hörmann.




Die heiligen zwölf Nächte.
Von Moritz Busch.

Die Tage, wo der Weihnachtsbaum leuchtet und Sanct Sylvester seine Freunde um die Bowle versammelt, sind vor der Thür. Eine Schilderung von Glauben und Brauch, wie das Volk sie an die Zeit vom Christabend bis zur Nacht des Dreikönigstages knüpft, dürfte daher jetzt nicht unwillkommen sein. Ich glaube namentlich die Gestalten und Vorstellungen in’s Auge fassen zu müssen, welche den altheidnischen Hintergrund des deutschen Volkslebens in jenen Tagen bilden. Vieles davon ist heutzutage verblaßt oder ganz verschwunden, wenigstens in den Städten und da, wo die Eisenbahnen wirken. Anderes lebt fort, zumal unter Kindern und alten Leuten.

Die christliche Kirche feiert diese Zeit mit nächtlich erleuchteten Gotteshäusern, in denen unter Orgelschall die Lieder von der Geburt des Weltheilandes erklingen und dem frommen Gemüthe das heilige Kind in der Krippe, umgeben von seiner Mutter, den freudenvollen Hirten und den anbetenden und Gaben spendenden drei Weisen aus dem Morgenlande, erscheint. Früher allenthalben, jetzt nur noch hier und da schlossen sich daran die Umzüge der „Sternsänger“, die, mit geschwärzten Gesichtern und mit weißen Hemden und Goldpapierkronen von Haus zu Haus wandernd, in naiven Weisen dem Volke jene Bilder und Vorgänge vergegenwärtigten. Noch früher knüpften sich an die kirchliche Weihnachtsfeier und die ihr folgenden Feste förmliche Schauspiele, welche in Rede und Gegenrede und allerlei Gruppen die Begebenheiten der Evangelien, die uns von der Kindheit Jesu berichten, darzustellen bestimmt waren, und wo solche kleine Dramen sich nicht ausbildeten, wurde wenigstens unter Lobgesängen vor dem Altare das Christkind gewiegt.

Neben allen diesen Gebräuchen aber gingen andere her, die auf nichtchristliche Vorstellungen hindeuteten und in der That dem altgermanischen Heidenthume entstammten, das überhaupt noch Jahrhunderte nach der Zeit, wo die Deutschen sich Christen zu nennen begannen, im Denken und Empfinden der Seelen fortglimmte und noch heute in gewissen Volksheiligen, in gewissen Spukgestalten, namentlich aber in dem sich erhalten hat, was der Aberglaube in bestimmten Landschaften zu thun oder zu lassen gebietet.

In der Heidenzeit zogen die Götter in den nächsten Monaten nach der Ernte, entweder nur gedacht und in Visionen geschaut, oder durch Processionen dargestellt, segnend und Verehrung heischend durch die Lande: Wuotan, der Himmelsgott, auf seinem weißen Rosse, das die Sonne bedeutete, und mit seinem breiten grauen Hute, der die Wolkendecke versinnbildlichte; Berchta oder Frau Holle, die Erdmutter, die der Saat Gedeihen gab, die Bewahrerin der ungeborenen und früh gestorbenen Kinder, die Göttin, welche dem Hauswesen vorstand, hier und da wohl auch Donar, der Gewitterlenker, oder Fro, dessen Attribut, der goldborstige Eber, das Feld mit den reifen Gerstenähren darstellte. Allerhand Bräuche waren während dieser Annäherung der Gottheit an die Menschen zu beobachten. Große Schmäuse und Gelage fanden statt. Mancherlei Zauber wurde in diesen Wochen vorgenommen.

In der Heidenzeit ferner feierten die deutschen Stämme in den Tagen, wo jetzt auf den Kanzeln die Geburt des Erlösers verkündet wird, das eine ihrer zwei größten Jahresfeste, das sich um die winterliche Sonnenwende gruppirte. Wieder stiegen die Götter zu den Menschen hernieder, wieder verbanden sich mit ihrem Erscheinen oder der Vorstellung ihrer Nähe allerlei religiöse Handlungen, Gebote und Verbote, Aufzüge und Opferschmäuse; wieder knüpfte sich an den Gedanken, daß die hülfreichen Gewalten dem Hülfesuchenden näher als sonst seien, der verschiedenste Zauber.

Das Christentum hat diese Gebräuche nicht ausrotten, nur verwandeln können, und dasselbe war der Fall mit den Gestalten der Götter, die mit ihnen verehrt wurden. Jene sind aus symbolischen Handlungen religiöser Natur zu bloßen Lustbarkeiten, mehr oder minder inhaltslosen Possen diese, wo sie sich nicht in Heilige umgestalteten, zu Gespenstern oder Fratzenbildern geworden. Die Feste nahmen andere Namen an, die Ernteschmäuse des Spätherbstes hießen jetzt Kirmsen, das Julfest, die Feier der Wintersonnenwende wurde zum Weihnachts- und Neujahrsfest, die Feier des neuen Sonnenscheins, der sich mit der Geburt Christi über die Welt ergossen hatte, aber eine Menge von Sitten, abergläubischen Meinungen und zauberischen Handlungen blieben bestehen als Denkzeichen daran, daß sowohl die Adventszeit wie die der Zwölf heiligen Nächte einst anderen himmlischen Gewalten geweiht gewesen waren als jetzt.

Der „Schimmelreiter“, eine Mummerei, die bei den Kirmsen verschiedener Gegenden Norddeutschlands und Schlesiens aufgeführt wird, ist nichts Anderes als der alte Gott Wuotan der „Bär“, welcher ihn begleitet, der Eber Fro’s (Bär heißt im Plattdeutschen das männliche Schwein), der „Klapperbock“, der in Pommern in seinem Gefolge ist, das Attribut Donar’s. Der heilige Martin und der fromme Bischof Nicolaus sind ebenfalls nichts als ehemalige Götter. Welches Kind im Meißnischen und Brandenburgischen, in Niederschlesien und Thüringen endlich hätte nicht die Bekanntschaft des „Knechts Ruprecht“ gemacht, der in den Wochen vor Weihnachten von Haus zu Haus geht, um brummend zu fragen, ob die Kleinen gefolgt haben, und zuletzt aus seinem Sacke Aepfel und Nüsse unter sie zu werfen? Ruprecht, Hruodperaht (Ruhmespracht), war ein Beiname Wuotan’s, des stolzen Götterkönigs, der hier freilich von seinem sturmschnellen Rosse gestiegen ist, statt des flatternden Wolkenmantels einen Zottelpelz trägt, statt des Schwertes die Ruthe schwingt und als bloße Kinderscheuche vor uns steht.

Ganz ebenso wie von der heidnischen Feier der Erntezeit haben sich auch von den Sitten und Vorstellungen, die sich mit dem Julfeste der alten Germanen ausbildeten, eine große Anzahl bis nahe an die Gegenwart und in manchen Gegenden bis in diese hinein erhalten. Dieses Fest war, wie bemerkt, einer der beiden höchsten Feiertage unserer Urväter oder vielmehr ein ganzer Kreis von Feiertagen. Die ganze Periode von der Stunde an, wo die Sonne dem Anscheine nach ihren Wendepunkt erreicht, bis zu der, wo sie nach dem Volksglauben wieder vorwärts rückt, in der einen Gegend die „zwölf Nächte“, in der anderen einfach die „Zwölften“, wieder anderswo die „Rauhnächte“ oder die „Loostage“ genannt, war geheiligt. Während derselben hielt man sich möglichst still, ruhten die Ackergeräthe, die Spindeln und die Waffen. Man brachte den Ueberirdischen Opfer, besprengte die Wohnungen um Mitternacht mit Wasser aus heiligen Quellen zündete Feuer zu Ehren der Götter an oder rollte brennende Räder, das Symbol der Sonne, nach welchem das Fest (Jul gleich Rad) seinen Namen bekommen hatte, von Anhöhen herab. Bei den Festschmäusen spielte ein Schweinskopf die Hauptrolle; bei den daran sich schließenden Trinkgelagen [852] legte man Gelübde ab und pries den Ruhm der Götter. Endlich wurde in dieser Zeit der Herd erneuert.

Zahlreiche Spuren dieser Jul-Feier dauern, wenn auch meist verstümmelt und durch Zuthaten verunstaltet, in den Gebräuchen fort, die sich im Norden oder Süden Deutschlands an die heiligen zwölf Nächte knüpfen. Noch heute will in manchen Gegenden der Aberglaube des Landvolks, daß in dieser Zeit alle Arbeit und vorzüglich die der Spinnerinnen ruhe. Es darf nicht gewaschen werden, und kein Wagenrad soll sich drehen. Das Haus mußte sauber gefegt und gescheuert sein, wenn die heilige Zeit nahte, und noch jetzt wissen alte Frauen in den steierischen Bergthälern, daß auf den Höfen, die in der Weihnachtswoche nicht in Ordnung gehalten werden, die Kinder wegkommen. Diese Stille muß gewahrt werden, und wer in den heiligen Nächten die Thür zuschlägt, daß es Lärm macht, hat im folgenden Sommer den Blitz zu fürchten. In gewissen Strichen am Niederrhein geht unter altgläubigen Leuten die Sage, daß in der Nacht vor dem ersten Weihnachtsfeiertage während einer Minute, welche der Kundige wahrzunehmen weiß, alles Wasser Wein ist, daß das in dieser Nacht geschöpfte Wasser sich das ganze Jahr hindurch frisch erhält und gut gegen das Fieber ist, und daß in ihr die Glocken aller versunkenen Kirchen und Capellen ihr Geläute hören lassen. In Schwaben heißt es, daß die Sonne in der Christnacht zwei Freudensprünge thue und darauf ihren Lauf ändere, in welchem Augenblicke das Vieh in den Ställen und das Wild im Walde, auf den Knieen liegend, bete. Wer in Tirol in dieser Nacht um zwölf Uhr auf den Kirchhof geht und sich eine Handvoll frischer Graberde auf das Herz legt, befreit sich von Brustleiden. Holz am Weihnachtsabend gehauen dorrt nicht ein; alles, was an ihm gesäet wird, muß gedeihen; wer an ihm geboren ist, der sieht die himmlischen Geister.

An die Julopfer erinnert die schwäbische Sitte, nach welcher man zu Weihnachten eine Garbe für die Vögel auf eine Stange steckte, noch deutlicher aber der bei Alpach in Tirol noch vor einigen Jahrzehnten herrschende Gebrauch, am Christabend die Elemente zu füttern, wobei man Mehl in die Luft streute, etwas von einer Speise in die Erde vergrub, etwas in den Brunnen und etwas in das Feuer warf.

Die Ausbesserung des Herdes ist in folgenden Bräuchen erhalten geblieben. An der Sieg wurde noch vor zwei Jahrzehnten zu Weihnachten ein Klotz aus Eichenholz, gewöhnlich ein Wurzelstummel, in die Feuerstelle eingesenkt oder in einer dazu bestimmte Nische unter dem Haken angebracht, an dem der Kessel hing. Der Klotz glimmte, wenn Feuer angezündet wurde, mit, verbrannte aber kaum binnen Jahresfrist ganz. Seine Kohlen wurden, wenn er durch einen neuen ersetzt wurde, zu Pulver zerstoßen und auf die Felder gestreut.

Die Julfeuer, die das deutsche Heidenthum auf Bergen lodern ließ, erhielten sich am längsten in gewissen niederrheinischen Orten und zu Schweina in Thüringen, wo die Jugend auf dem Döngelsberge eine Pyramide aus Feldsteinen errichtete, zu welche man am Weihnachtsabend mit Fackeln hinaufzog, Weihnachtslieder sang und zuletzt die Fackeln auf einen Haufen warf.

Ein anderer an heidnische Sitte gemahnender Festbrauch war das Verwachen der Christ- oder der Neujahrsnacht. Sogar die Hausthiere durften sich dem Schlafe nicht überlassen, ja in Thüringen pflegte man in den Zwölften selbst die Obstbäume aufzurütteln und ihnen zuzurufen „Bäumchen, schlaf’ nicht! Frau Holle ist da.“

Besonders zahlreich haben sich die Beispiele von Nachklängen der alten Julfeier erhalten, nach denen man meinte, in der mit göttlichen Kräften erfüllten Zeit der zwölf heiligen Nächte, namentlich aber in der Christnacht die Zukunft erforschen und durch Zauberwerk sich Glück sichern zu können.

Wenn man sich im Ober-Innthale, während es zur Christmette läutet, unter drei Brücken das Gesicht wäscht, so sieht man Alles, was das nächste Jahr bringen wird. Wenn man am heiligen Abende auf Kork schwimmende Lichtchen in Wasser setzt, so kann man an der Dauer ihres Brennens erkennen, ob man noch lange leben wird, oder nicht. Noch jetzt gehen hier und da Abergläubische in dieser Nacht in die Wintersaat, um die Geister von kommenden Dinge reden zu hören. In der Christnacht gießen in verschiedenen Gegenden die Mädchen Blei, um den Stand ihres Zukünftigen zu erfahren. Wenn man im Eisackthale wissen will, was das nächste Jahr Einem bescheeren wird, so muß man in der Christnacht Schlag zwölf Uhr mit einem Mörser voll Mohn auf einen Kreuzweg gehen und mit der Keule dreimal zustoßen, worauf man in dumpfe Tönen hört, was Einem Wichtiges passiren wird. Was man in Kalw bei Stuttgart in den zwölf Nächten träumt, das wird in den zwölf Monaten des folgenden Jahres wahr. In thüringischen Dörfern horchen die Mägde in der Weihnacht auf der Schwelle des Pferdestalles, und wenn ein Hengst wiehert, so glauben sie, daß bis zu Johanni ein Freier bei ihnen erscheinen wird. Andere schlafen um zukünftige Dinge zu erfahren, in der Pferdekrippe. Wieder Andere lauschen an Kreuzwegen und Marksteinen; vermeinen sie Schwertergeklirr oder Roßgewieher zu vernehmen, so prophezeien sie für das nächste Frühjahr Kriegsnoth.

Diese Beispiele eines aus der Heidenzeit stammende Aberglaubens, der in den Zwölften prophetische Versuche anstellt, ließen sich noch durch Dutzende vermehren. Noch zahlreicher aber sind die, wo der Abergläubige in dieser Zeit sich Zauberkräfte zu verschaffen bemühte. In der Christnacht um die zwölfte Stunde gossen und gießen dann und wann noch jetzt die Jäger Freikugeln, die Alles treffen sollen, was man wünscht, sei es auch meilenweit entfernt. Zu derselben Zeit grub man die Springwurzel, die durch bloße Berührung Schloß und Riegel öffnete, schnitt man die Wünschelruthe, welche verborgene Schätze verrieth, und suchte man den unsichtbar machenden Farnsamen. Im Pusterthale versuchten die Wildschützen sich „gefroren“, das heißt kugelfest zu machen, indem sie das Lamblbrod aßen, das während der Christmette gebacken werden mußte und zwar aus während derselben gemahlenem Mehle und dem Blute eines ebenfalls während derselben geschlachteten Lammes. Kugelfest und unsichtbar zugleich sowie überdies befähigt Diebe herbeizubannen, wird man zu Trens in Tirol, wenn man in der Christnacht, sobald es auf Zwölf aushebt, in einen Kirchthurm geht, sich ein Stück vom Glockenstrange schneidet und, bevor es ausgeschlagen hat, wieder in’s Freie läuft. Doch muß man dabei allein sein und kein Wort sprechen, was auch geschehe. Ebendaselbst kann man sich in der Christnacht eine Sense verschaffen, die niemals ihre Schneide verliert. Zu diesem Ende setzt man sich in der Tracht, die Adam vor dem Falle trug, auf den Dachfirst, um zu dengeln. Sobald man hier auf der Sense einen Gang gemacht hat, erscheinen allerlei Spukgestalten, das wilde Heer, Leute ohne Köpfe, Hexen, Lastwagen von Ameise gezogen, Reiter auf Heupferden, zuletzt der Teufel in eigener Person. Läßt der Dengler sich dadurch verblüffen und in die Flucht treiben, so fährt der Böse mit ihm in die Hölle, bleibt er aber ruhig, so nimmt jener die Sense und wetzt sie ihm.

Von den Tagen nach dem 25. December weist gleich der nächstfolgende, jetzt dem heiligen Stephan geweiht, deutlich auf altheidnischen Brauch hin. In Schwaben und am Niederrhein heißt er im Volksmunde der „Pferdstag“, indem man hier an ihm, wie anderwärts zu Pfingsten, in Schaaren von Ort zu Ort reitet und eine Art Wettrennen anstellt. Das soll vor Hexerei und Seuche schützen. Früher schlug man an diesem Tage den Pferden eine Ader, auch nagelte man ihnen Roßhufe über die Stallthüren zur Abwendung von Zauberei.

Eine Erinnerung an die Schmause und Gelage der Julzeit haben wir in der sogenannten Johannisminne oder dem Johannissegen vor uns, einem in katholischen Gegenden Schwabens sowie in Tirol noch üblichen Gebrauche. Beim Julfeste leerte man auf das Gedächtnis der Götter feierliche Becher, und noch heute wird am 27. December in der Nachbarschaft von Eßlingen von jedem Gliede der Dorfgemeinde ein Maß Wein zur Kirche gebracht, dort vom Pfarrer geweiht und hierauf zu Hause getrunken, indem man meint, daß dies vor allem Schaden bewahre. Im Lechthale sichert es vor dem Blitze, im Pusterthale vor dem „Vermeintwerden“, in anderen Strichen Tirols giebt man von dem Johannissegen den Brautleuten bei der Trauung zu trinken. Ein anderer Rest der Julschmäuse ist der Eberkopf, der in vielen Gegenden Englands am Christfeste herkömmlich auf den Tisch kommt, sowie die Eberform, die in Schweden das Weihnachtsgebäck hat. Weitere Ueberbleibsel des heidnischen Julfestes in der Speisekarte der zwölf Nächte mögen wir in dem schwäbischen [853] Huzelbrod, in den Neujahrskuchen, die man zu Neujahr im Bergischen bäckt, in den Christstollen Mitteldeutschlands, in den Pfeffernüssen in Mecklenburg und Pommern, in den Knödeln mit Heringen, die im Saalfeldischen nothwendige Sylvesterspeise sind, in dem Hirsebrei, den man in Dresden in Häusern von altem Schrot und Korn am Neujahrstage zu essen pflegt, damit es im begonnenen Jahre nicht an Gelde fehlt, mit ziemlicher Bestimmtheit vermuthen. Andererseits aber giebt es auch Gerichte, die in den Zwölften nicht genossen werden dürfen, und zwar gehören hierher Erbsen, Linsen und Bohnen. Wer dieselben in dieser Zeit dennoch genießt, bekommt, wenn der Aberglaube der Rockenphilosophie Recht hat, Krätze, Schwäre und Ungeziefer.

Wie bei den Festen der Erntezeit, deren Nachklänge sich jetzt um Martini und andere Tage des Spätherbstes gruppiren, so stellten sich in den Nächten des Mittwinterfestes die Götter ein, bald in milder, freundlicher Gestalt, bald nach ihrer erhabenen oder furchtbaren Seite, und auch hiervon zeigen die Tage der Zwölften deutliche Spuren. Ruprecht und Frau Holle sind bereits erwähnt worden. Jetzt treffen wir in dem alten Tübingen das Attribut Fro’s, des Gottes der Fruchtbarkeit, als weißes Schwein, welches in der Geisterstunde der Christnacht aus dem Kornhause an der Ammer die Marktgasse entlang bis an die krumme Brücke lief und dann verschwand. Der Böse ferner, der in verschiedenen Gegenden denen, die ihn citiren, erscheint, um ihnen Freikugeln, Farnsamen, stets schneidende Sensen und dergleichen zu geben, wird schwerlich ein Anderer sein, als Wuotan der „Wunschverleiher“, von der Kirche zum Teufel verwandelt.

Ganz vorzüglich aber gehört in diesen Zusammenhang der Umzug des „wilden Heeres“, welches in Westfalen gewisse Landstriche als „wilder Jäger“, „Buddejäger“, „Jäger Jap“ oder „engelske Jagd“ unsicher macht, und in Schwaben schon durch die Bezeichnung „Muotisheer“ oder „Wuotesheer“ als der Heereszug desjenigen Gottes bezeugt ist, welchem das Julfest in Deutschland vor Allem gegolten zu haben scheint. Bald als riesenhafter Reiter auf einem Schimmel, bald als rasselnder Wagen, bald als langer Gespensterzug braust schwäbischer Sage zufolge in der Weihnachtszeit und zu Neujahr dieser grausenvolle Spuk über das Land hin. Er hat seine bestimmten Wege, in Immenhausen und Pfullingen die Heergasse, in Undingen die Muotesgasse. Bisweilen läßt das wilde Heer eine wohlklingende Musik, auch Gesang von vielen hundert Stimmen hören. Ein gewaltiger Sturmwind saust vor ihm her. Kommt es einem im Freien entgegen, so thut man, um sich vor Gefahr zu sichern am besten, sich mit dem Gesicht auf den Boden zu legen, den Kopf zwischen ein Wagenrad zu stecken oder in ein Fahrgeleis zu treten. In Wurzacherried hörte es ein Hirtenknabe hoch in den Lüften kommen, wie wenn Hunderte von Kuhschellen läuteten. Bald war es wunderschöne Wolkenmusik, bald fürchterliches Lärmen. Klostermägde von Maria-Kirchheim im Ries gingen einmal noch spät Abends in’s Baierische hinüber, wo sie etwas auszurichten hatten. Auf einmal hörten sie ein Toben, Sausen und Brausen, Pfeifen, Geigen und Gesang. Die Mädchen legten sich augenblicklich in Gräben wobei sie die Arme kreuzweise über die Brust schlugen. Eine aber fand nicht schnell genug Platz, und so wurde sie von dem wilden Heere ergriffen und zwei Stunden weit durch die Lüfte mit fortgeschleppt, bis die Unholden sie bei einem Brunnen fallen ließen, wo ihre Gefährtinnen sie später bewußtlos auffanden. Bei Huldstetten muß man, wenn das „Muodersheer“ im Anzuge ist, die Augen schließen, weil man sonst erblindet, auch reitet ihm hier ein Mann auf einem weißen Pferde voraus, der auf einem Horne bläst und die Leute durch den Ruf: „Aus dem Wege! Aus dem Wege!“ warnt, und welchen man schlechtweg den „Schimmelreiter“ nennt.

Der wilden Jäger aber oder das wüthende Heer ist Niemand anders, als der zu einem Gespenste gewordene alte Heidengott Wuotan mit der Schaar der nach Walhalla geladenen Helden, der an seinem Feste durch die Lande zieht. Wäre daran noch ein Zweifel gestattet, so müßte er bei der Betrachtung des Umstandes schwinden, daß der Anführer des Geisterzuges in einigen Landstrichen geradezu der „Breithut“ heißt, was dem Beinamen „Sidhöttr“ entspricht, den Odhin, der skandinavische Wuotan, in der Edda führt.



Miterlebtes.
Eine einfache Weihnachtsgeschichte von W. Marr.

Unvorhergesehene Geschäfte hielten mich um die Weihnachtszeit des Jahres 186* in der Stadt B. zurück. Statt das fröhliche Fest im Kreise meiner Familie und Verwandten zu begehen, hätte ich den „Heiligen Abend“ im Hôtel oder am Speisetische einer Restauration verbringen müssen, wenn mein alter Freund, der Justizrath Brömsel, nicht so freundlich gewesen wäre, mich zu bitten, der Christbescheerung seiner drei Kinder in seiner Wohnung beizuwohnen. Es waren drei prächtige muntere Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen – die Jungen wild wie zwei kleine Teufel, das Mädchen mild und sanft wie ein kleiner Engel. Die Mutter – –

Als mich Brömsel in meinem Hôtel aufsuchte – er hatte meine Ankunft zufällig erfahren und meinen Besuch nicht abgewartet – erschrak ich über das Aussehen des sonst so kräftigen Mannes. Die hohe Gestalt war gebeugt; das volle dunkle Haar war grau gemischt geworden. Er glich einem Menschen, der zum ersten Male nach einem hitzigen Nervenfieber das Lager wieder verlassen hat. Gekleidet war er schwarz von oben bis unten.

„Meine Frau ist todt,“ sprach er mit dumpfer Stimme, als er mein Erstaunen über die mit ihm vorgegangene Veränderung bemerkte, und ließ sich in einen Sessel fallen.

Die Erklärung kam so plötzlich, so unerwartet, daß sie mir jedes Wort des Beileids abschnitt.

Ich hatte Henriette gekannt. Sie war eine Landsmännin von mir, eine Hamburgerin. Seit acht Jahren mit dem Justizrath verheirathet, lebte sie in B. mit ihm in der glücklichsten Ehe, die man sich nur denken kann. Beide waren wie für einander geschaffen. Er ein hochgebildeter, idealer Mann, sie eine feinangelegte und dabei praktische, resolute, kleine Frau. Führte mich, was fast alljährlich geschah, mein Weg durch B., so versäumte ich nie, einen Abend im Familienkreise dieser glücklichen Menschen zuzubringen. Und drückte ich ihnen beim Abschiede die Hände, so geschah dies so derb und kräftig, wie nur der Neid die Hände drücken kann.

„Meine Frau ist todt,“ wiederholte Brömsel.

Ich näherte mich ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

„Armer Junge“, sprach ich erschüttert, „erlaß’ mir Worte!“

Brömsel holte tief Athem. Seine Brust keuchte. Er schien das Bedürfniß zu fühlen, sich Luft zu machen, sich auszusprechen, aber er fand keine Worte.

„Sprich Dich aus, mein Junge!“ sagte ich.

„Henriette ist ertrunken,“ brach er aus und ein krampfhaftes Schluchzen erstickte seine Stimme.

„Ertrunken!“ rief ich erschrocken. „Um Gotteswillen, Mensch! Wie? Wo?!“

„Laß’ uns gehen!“ sagte Brömsel. „Zu Hause erzähle ich Dir das. Nicht hier! Nicht hier!“

Wir nahmen eine Droschke und fuhren, schweigend neben einander sitzend, in die Vorstadt hinaus, wo mein Freund ein reizendes Gartenhaus bewohnte.

Der Schnee fiel in dichten, schweren Flocken auf die Erde nieder und dämpfte das Rasseln der Wagenräder. Es war ein Wetter, wie zum „Spleen“ gemacht. Ein echtes „Weihnachtswetter“ ohne die Freude der Weihnacht, die uns im warmen Zimmer den griesgrämigen Decemberhimmel vergessen läßt.

Die Kinder lärmten die Treppe herab uns entgegen, als wir ausgestiegen waren. Es war ein fröhliches, erwartungsvolles Jauchzen. Sie umringten uns. Die Knaben versuchten, an uns heraufzuklettern, das Mädchen zerrte uns an den Händen.

„Gretchen wollte durch das Schlüsselloch sehen,“ rief der eine Knabe.

„Das ist nicht wahr, Eugen,“ rief das Kind zurück, „Curt wollte es.“

[854] „Nein, Eugen wollte es,“ meinte der jüngste Knabe.

So beschuldigten sich die muthwilligen Kleinen gegenseitig der Neugierde, einen Blick durch’s Schlüsselloch in das Zimmer zu thun, wo der Tannenbaum stand, der Tannenbaum, dieser stete Mittelpunkt aller Kinderweihnachtsfreuden.

Contraste des Lebens! Die drei Kinder waren, wie der Vater, schwarz gekleidet – in Trauer um die Mutter, die „zum lieben Gott gegangen war“, „wo es viel schöner wäre als auf der Erde“, und „wo es immer Weihnacht wäre“, wie der kleine Curt meinte.

Das hatte ihnen die alte Magd des Hauses erzählt, und der Vater dem frommen Trost nicht widersprochen. Die alte Magd hatte auch hinzugefügt, wenn sie, die Kinder, recht artig wären, so käme die Mutter nach einigen Jahren wieder und brächte ihnen vom Himmel viel Schönes zu Weihnacht mit. Dabei hatten sich die Kleinen beruhigt.

Derselbe vollständige Comfort wie früher herrschte noch in Brömsel’s Wohnzimmer. Das Feuer prasselte so lustig im Kamin, wie das letzte Mal, als ich der Gast der Familie gewesen war. Und dennoch herrschte in dem Raum ein Etwas, das sich nicht beschreiben läßt – eine Leere. Es war, als ob die Wände eine „Stimmung“ reflectirten.

„Geht hinunter in die Kinderstube, Kinder!“ sprach Brömsel. „Ihr wißt ja, wir müssen auf ‚Onkel Schmidt‘ warten, bis der Tannenbaum angezündet werden kann.“

Die Kleinen gehorchten. Bald darauf schallte ihr fröhliches Scherzen und Jubeln vom Parterre zu uns herauf, und ein gelegentlicher gellender Ton verrieth, daß die Knaben in ihrer Freude recht ausgelassen waren und vielleicht gar akrobatische Uebungen an Tischen und Stühlen anstellten.

Brömsel holte aus einem Eckschrank eine Karaffe Portwein und zwei Gläser und stellte sie auf den Sophatisch.

„Das pflegte sonst Henriette zu thun,“ sprach er. – „Es waren dann drei Gläser. Jetzt sind es deren nur zwei.“

„Ich bitte Dich, Brömsel, befriedige endlich meine Theilnahme an Deinem Schicksal!“ sagte ich.

„So höre denn!“ nahm der Justizrath das Wort. „Es ist ebenso einfach wie kurz. Meiner Frau war eine Erbschaft von einem Verwandten in San Francisco zugefallen. Die Regulirung derselben hätte vielleicht Jahre in Anspruch nehmen können, wenn wir nur einen Bevollmächtigten mit der Wahrung unserer Interessen beauftragt hätten. Mich hielten meine amtlichen Geschäfte hier fest. Da erklärte meine Henriette eines Tages, sie wolle selbst die Reise machen. – Eure Hamburger Frauen sind nicht wie die des Binnenlandes. Das Leben und Treiben der großen Seestadt giebt ihnen andere Ansichten von der See und den Seereisen. Eine Reise nach New-York ist eine ‚Ueberfahrt‘, und Henriette hatte diese Ueberfahrt als junges Mädchen schon zweimal zum Vergnügen gemacht, um ihre dort verheirathete Schwester zu besuchen. Sie lachte geradezu, als ich ihr mein Bedenken äußerte. ‚Was ist’s denn?‘ sagte sie, ‚eine Ueberfahrt nach New-York. Von da mit einem bequemen Dampfer nach Aspinwall. Dann ein paar Stunden auf der bequemen Eisenbahn nach Panama und von dort in acht bis zehn Tagen wieder auf einem Dampfer nach San Francisco.‘ Henriette spricht fertig englisch, und ich verstehe nur wenig von dieser Sprache. Kurz, sie wußte mir die Sache so plausibel zu machen, daß ich mich ordentlich schämte, ihr zu widersprechen.

Anfangs Mai reiste sie ab. Ihre Mittheilungen über die Reise nach New-York, Panama und San Francisco beruhigten mich vollständig. Das beste Wetter, die schnellste ‚Ueberfahrt‘ und die rasche Regulirung unserer Angelegenheit wurden mir gemeldet. Die Erbschaft war erhoben. Die mercantile Unsicherheit, welche herrschte, bewog Henriette, das ganze Vermögen, das ihr zugefallen war, in Banknoten statt in Wechseln zu erheben. Die Frau dachte an Alles. Ein paar Fallissemente, wie sie an der Tagesordnung waren, und Alles wäre verloren gewesen. Sie meldete mir, daß sie mit dem Dampfer ‚Ohio‘ von San Francisco abreisen werde. Ich konnte fast den Tag ihrer Ankunft in Europa berechnen. Heute vor vier Wochen –“

„Ja, mit dem ‚Ohio‘,“ wiederholte Brömsel, als er mich erschrecken sah. „Die Passagiere dieses Dampfers kamen wohlbehalten in Panama an. Gesund und munter fuhren sie per Eisenbahn nach Aspinwall. Dort stiegen sie an Bord des Dampfers ‚Central–Amerika‘. Du hast das Schicksal dieses Schiffes in den Zeitungen gelesen. Von nahe zweihundert Menschen nur sechszehn gerettet. Henriette war nicht unter den Geretteten. Aber“ – und Brömsel’s Stimme war hier dem Ersticken nahe – „unter der Namensliste der Verunglückten las ich – ihren Namen. – –

Die Erbschaft ist theuer genug bezahlt. Ich danke Gott, daß sie mit zu Grunde gegangen ist,“ fügte er nach einer langen Pause bitter hinzu.

Brömsel schwieg. Ich fühlte, daß ich die Verpflichtung hatte, Etwas zu sagen, aber ich wußte nicht was. Ich kannte die näheren Details jener Katastrophe und wußte, daß ein amerikanischer Schooner und eine englische Barke, welche sich in der Nähe des untergegangenen Dampfschiffes befanden, die ganze Nacht und den halben folgenden Tag in der Gegend des Unfalles gekreuzt hatten, um von den Opfern zu retten, was noch zu retten war, und ich konnte mit dem besten Willen meinem Freunde auch nicht den leisesten Hoffnungsschimmer zeigen. Die spätere gewisse Enttäuschung wäre noch fürchterlicher gewesen, als die jetzige schreckliche Gewißheit.

„Trage es so gut Du kannst, lieber Freund!“ rief ich endlich und drückte ihm die Hand. „Trost kann ich Dir nicht geben. Du hast verloren, was Dir nicht zu ersetzen ist.“

Brömsel brach in lautes Schluchzen aus.

Ich ließ ihn gewähren. Thränen erleichtern; Thränen sind – ich möchte sagen eine Wollust des Schmerzes.

Wohl eine Viertelstunde gab sich Brömsel dem Ausbruche seiner Stimmung hin. Wir Beide hörten es nicht, daß draußen ein Wagen vorgefahren war. Nur nach einer kurzen Weile darauf vernahmen wir wieder den erneuerten Lärm, der aus der Kinderstube im Erdgeschosse jetzt stärker zu uns herauftönte.

Bald darauf erschien die Magd im Zimmer und ersuchte mich, herunter zu kommen. Es sei ein Bote aus dem Hôtel da, der mich persönlich zu sprechen wünsche.

Ich folgte der Aufforderung und – doch ich will meiner einfachen Erzählung nicht vorgreifen. – –

„Was ist Dir?“ rief mir Brömsel entgegen, als ich wieder in’s Zimmer trat.

„Es ist weiter nichts,“ antwortete ich. „Eine unangenehme Nachricht von Haus, Familienstreitigkeiten. Ich werde morgen früh abreisen müssen. Doch reden wir von etwas Anderem!“

„Wovon?“ gab Brömsel zurück.

„Ja, wovon?“ versetzte ich, mit Gewalt die Aufregung, in der ich mich befand, niederkämpfend.

„Mein Freund Schmidt muß den Zug versäumt haben,“ sagte Brömsel. „Es ist bald sieben Uhr. Er müßte längst hier sein. Ich habe vergessen Dir mitzutheilen, daß er in Geschäften nach Hamburg gereist ist und heute wieder zurück sein wollte, damit ich an diesem Abend nicht allein sei.“

„Er wird Dir oder den Kindern vielleicht noch ein Geschenk besorgen wollen, hat die Besorgung in Hamburg vergessen, wie das oft auf Reisen geschieht, und macht sie nun hier am Ort,“ meinte ich.

„Nein,“ versetzte Brömsel; „Schmidt ist in dieser Hinsicht ein Pedant. Er hat den Zug versäumt und trifft erst morgen ein. Es ist gut, daß Du hier bist,“ fügte er hinzu. „Aber Du bist ja nachdenklich.“

„Ach!“ rief ich, mir die Stirn reibend, „es ging mir da so ein Gedanke durch den Kopf – aber – doch nein! es wäre zu phantastisch, ja, geradezu romanhaft! Schriftstellerphantasie!“

Brömsel lächelte traurig.

„Vielleicht gab Dir mein Loos Stoff zu einer Novelle.“

„Vielleicht,“ versetzte ich, „wir Schriftsteller sind aus dem Stamme Nimm. Wo wir ein Sujet oder nur dessen Gerippe finden, präpariren wir den Fund, schmücken ihn mit allerlei Erfindungen aus und bringen ihn dann auf den Büchermarkt.“

Abermals schallte ein lautes Lachen und Jubeln aus der Kinderstube zu uns herauf.

„O ja,“ meinte Brömsel düster; „Ihr macht sogar die Todten wieder lebendig und Du hättest Phantasie genug, mir meine Henriette aus dem Grunde des Meeres wieder hervorzuholen. – Doch es wird spät. Ich will die Kerzen am Tannenbaume anzünden. Wollte Gott, die Christbescheerung wäre erst vorüber!“

[855] „Warte doch noch ein Weilchen!“ sagte ich. „Komm’, laß’ uns anstoßen auf bessere Zeiten!“

„Ja, auf bessere Zeiten!“ murmelte Brömsel und stürzte den Inhalt seines Glases hinunter. „Bei ihr! – Du bist lange unten geblieben,“ fügte er hinzu. „Doch keine allzu schlimmen Nachrichten von Haus?“

„Ich setzte dem Boten nur eine Depesche auf, die er auf’s Telegraphenamt bringen sollte,“ antwortete ich. „Trink’ noch einmal!“

„Ich mag nicht mehr trinken!“ rief Brömsel und zog sein Glas zurück.

„Thu’ mir’s zur Liebe!“ sagte ich. „Es soll kein perfider Sorgenbrecher sein. Du bedarfst der Stärkung an diesem Abend.“

Die Flamme im Kamine prasselte so lustig. Eine frische große Kohle hatte Feuer gefangen, und es knitterte und knatterte so fröhlich, daß es eine wahre Freude war, oder – hätte sein können.

„Wenn ich wüßte, daß es Dich nicht betrübte,“ fuhr ich fort, nachdem Brömsel getrunken, „so möchte ich wahrhaftig der erregten Phantasie die Zügel schießen lassen und –“

„Erwecke die Todten!“ schrie Brömsel auf.

„Das kann ich nicht,“ gab ich ruhig zurück. „Doch genau betrachtet, schafft meine Phantasie nicht einmal Wunder, wenn sie – Deine Henriette zum Vorwurf nehmen dürfte und Dir sagte: ‚es ist doch noch nicht alle Hoffnung verloren.‘“

„Ein exaltirter Mensch würde Dir den Vorwurf machen,“ sagte Brömsel, „Du versuchtest mit Phantasiegebilden mein Elend noch zu vergrößern. Dessen bist Du unfähig, lieber Freund. Also sprich Deinen Roman!“

„Zuvor noch ein Glas Wein! Ich bitte Dich darum.“

„Meine Nerven brauchen das nicht.“

„Dann erzähle ich auch nicht.“

„Nun, meinetwegen!“ rief Brömsel halb verdrießlich, schenkte sich das Glas halb voll und trank es aus. – „Jetzt ist’s aber genug.“

„Höre mich an!“ nahm ich das Wort wieder. „Die ‚Central-Amerika‘ ist untergegangen. Du hast den Namen Deiner Frau in der Liste der Vermißten gelesen. Wer sagt Dir denn aber, daß Henriette wirklich am Bord jenes Schiffes gewesen sei?“

„Mensch, mache mich nicht wahnsinnig!“, fuhr Brömsel auf und schnellte vom Sopha an meiner Seite in die Höhe.

„Ruhig, Freund!“ gebot ich ihm. „Du hast es gewollt, daß die Phantasie des Schriftstellers arbeite. Willst Du sie zu Ende hören? Oder willst Du es nicht?“

Brömsel ließ die Arme schlaff sinken, lehnte sich an das Sophakissen und sagte ruhig: „Weiter!“

„Es ist ein Hoffnungsschimmer des Poeten, den ich Dir geben zu können glaubte,“ fuhr ich fort. „Nenn’ es Phantasie, nenn’ es wie Du willst! Es berühren sich im Leben zu oft die Extreme, als daß wir an den Extremen vollständig verzweifeln dürften. Henriette konnte sich für die Reise mit der ,Ohio’ ein Billet gelöst haben. Eine Krankheit, ein Fieber konnte sie verhindert haben, mit diesem Schiffe nach Panama zu gehen. Es konnte also folgerichtig möglich sein, daß sie ihr Passagierbillet einer anderen Frau verkaufte. Es kommt ja in Amerika mehr auf das Geld an als auf die Identität der Personen, und solche Billetverkäufe passiren alle Tage. Ist das geschehen, so war Henriette nicht am Bord der ‚Central-Amerika‘, welche mit der ‚Ohio‘ correspondirte.

Eben so wohl aber konnte Deine Frau mit der ‚Ohio‘ einen Brief an Dich geschickt haben, der die Verspätung ihres Eintreffens meldete, und dieser Brief ist – ich wollte sagen: wäre allerdings mit der ‚Central-Amerika‘ im atlantischen Ocean zu Grunde gegangen, während Henriette in San Francisco krank darniederlag. Du siehst also, ohne erwünschte Abenteuer, ohne zum Verschlagenwerden an eine wüste Insel die Zuflucht zu nehmen, ohne sich an einen Stuhl anzuklammern, der uns einundzwanzig Stunden über Wasser hält, was, beiläufig gesagt, keine Frau aushalten würde, könnte die ‚Phantasie‘ des Schriftstellers eine Erklärung auch in Deinem Falle finden. Henriette blieb krank bis zur Abfahrt des zweitfolgenden Dampfers. Sie glaubte Dich inzwischen beruhigt, denn sie kannte das Schicksal der ‚Central-Amerika‘ noch nicht, konnte es nicht eher erfahren, als bis es zu spät war, Dich brieflich zu beruhigen. Sie konnte endlich von Aspinwall direct über Westindien nach Europa zurückkehren und, um schneller selbst bei Dir zu sein, den Umweg über New-York vermeiden, den sie anfangs beabsichtigte. Sonst würde sie Dir eine Kabeldepesche gesandt haben. Dies Alles konnte der – kann der Fall gewesen sein. Sieh, alter Junge, das waren die Gedanken, die mir so durch den Kopf flogen, als ich vorhin die Treppe heraufstieg.“

Brömsel war sehr bleich geworden.

„Mensch!“ rief er aus, „wenn Du ein Anderer wärst, ich sagte, Du wärst mit Deinen Sophismen ein Teufel. Du verlängerst meine gräßlichen Qualen durch eine künstliche Erregung des Glaubens an die Ungewißheit, und das wäre – infam. – Verzeihe mir!“ fuhr er fort, „ich sage nicht, daß es so ist; denn Du bist mein Freund.“

Er drückte mir die Hand.

„Und ich sage Dir jetzt, Brömsel,“ rief ich lebhaft, „Du hast dennoch kein Recht zu verzweifeln.“

„Schriftstellerphantasmen! Nicht einmal Schriftstellerphantasie mehr!“ gab mein Freund zurück. „Brechen wir das Gespräch ab!“

„So seid Ihr Laien!“ rief ich. „In Büchern laßt Ihr Euch Alles gefallen, das Tollste, das Unglaublichste. Wenn man Euch aber die Möglichkeiten des wirklichen Lebens schildert, dann zuckt Ihr die Achseln. Ich bedaure, daß ich – meiner Phantasie die Zügel schießen ließ.“

„Ich wollte Dich nicht kränken, Freund,“ sagte Brömsel.

„Wenn es nun so wäre,“ sprach ich weiter, „wenn ein Zusammentreffen von Umständen und Zufälligkeiten Dir Deine Frau am Leben erhalten hätte – meiner Treu! ich glaube, Du würdest den freudigen Schreck noch weniger ertragen können, als den traurigen. Nimm mir’s nicht übel, Du bist nicht Mann’s genug gewesen, um jedes Für und Wider von Möglichkeit zu erwägen. Du hast nicht den Muth der Hoffnung gehabt.“

„Quäle mich nicht mehr!“ rief Brömsel.

„Doch, mein Junge, ich halte es für meine Pflicht, Dich zu quälen,“ versetzte ich. „Du sollst und darfst nicht alle Hoffnung schwinden lassen. Du mußt hoffen und – ich nehme die poetische Licenz für mich in Anspruch – bist Du der Mann, der den Anblick der Auferstehung von den Todten ertragen könnte? Wenn er will, nicht in vier Wochen, in vierzehn Tagen, vielleicht –“

„Hahaha!“ lachte Brömsel bitter, „und wäre es in dieser Stunde, in dieser Minute. Ich glaube nicht an Gespenster. Meine Henriette!“ seine Stimme zitterte, „ich fürchte mich nicht vor der auferstandenen Todten.“

„Ich glaube doch,“ gab ich zurück.

„Nein, nein, nein!“

Dieses dreimalige Nein klang mir wie die Stimme der tiefsten Ueberzeugung.

Wäre es möglich? Wäre ein Zufall möglich, der das ,Wunder’ ersetzte?! O Gott! mein Glück wäre so groß, daß ich vor dem Glücke knieen würde, wie der Gläubige vor dem Altare.“

Seine Stimme war ruhiger geworden. Ich athmete tief auf.

„Die Kinder schlafen am Ende ein,“ sagte ich, nach der Uhr blickend. „Es ist schon acht Uhr, und es scheint, die Ungeduld der kleinen Herzen hat ausgetobt. Komm’, zünden wir die Lichter am Weihnachtsbaume an!“

Wir standen auf. Das Bescheerungszimmer lag neben dem Wohnzimmer. Wir öffneten die Thür. Die Kerzen am Tannenbaume brannten bereits und strahlten uns freudig entgegen. Der Tisch mit den Geschenken für die Kinder stand vor uns, an seinem Ende der leuchtende Christbaum. Ganz vorn auf dem Tische lag eine kostbare Pelzgarnitur, welche Brömsel für seine Henriette wenige Wochen zuvor gekauft hatte. Ein Zettel lag dabei, von Brömsel’s Hand geschrieben:

„Für meine Henriette!“

Das Zimmer war von dem Dufte der Tannenzweige erfüllt, der uns Allen, wir mögen noch so alt sein, die Erinnerung der Kinderzeit wieder in’s Gedächtniß zurückheimelt. Das Zimmer aber war leer. Wo waren die Kinder? Wer hatte die Lichter am Tannenbaume angezündet?

Thränen entstürzten Brömsel’s Augen, als er das für seine [856] Henriette bestimmte Geschenk sah, als er den Zettel, den er selbst geschrieben, las. Er hatte es vergessen, daß er sich diese wehmüthige Selbstqual am Christabende bereiten wollte.

Und da schien es in den Zweigen des Weihnachtsbaumes zu rauschen. – Nein! – Wirklich! die Zweige zitterten, die Lichter flackerten. Und hinter dem Tannenbaume hervor trat zuerst Gretchen und sagte:

„Papa, Du bekommst das Beste zu Weihnacht.“

Und hinter Gretchen hervor aus dem Schatten, den der Tannenbaum warf, zwischen Curt und Eugen, trat – – Henriette!

Ein Aufschrei. Brömsel lag in den Armen seines Weibes. Nun war kein Halten mehr. Die Kinder hatten ihre kurze Rolle, die ihnen der „Onkel Schmidt“ unten in der Kinderstube einstudirt hatte, zu Ende gespielt und tummelten sich jetzt nach Herzenslust um den Christbaum herum, nach ihren Geschenken haschend. Der „Onkel Schmidt“ war gleichfalls hinter dem Tannenbaum hervorgetreten und reichte mir die Hand.

Lärm, Jubel und Getöse der Kinder; zwei Männer, die sich herzlich die Hände drückten und sich gegenseitig zu sagen schienen: „Wir haben es recht gemacht.“ Denn der Leser wird bereits errathen haben, daß jener „Bote aus dem Hotel“, zu dem die Magd des Hauses mich rief, kein Anderer war als „Onkel Schmidt“, der Henriette in Hamburg getroffen hatte. – Mann und Frau lagen lautlos in minutenlanger Umarmung.

Das war das Bild unter dem Tannenbaume.

Der „Onkel Schmidt“ trat vor und sagte zu Brömsel: „Ihr Freund hat Sie, wie ich sehe, gut vorbereitet. Es ist Alles so gewesen, wie er Ihnen wahrscheinlich erzählt haben wird. Der Hauptzweck ist und bleibt, daß Ihre liebe Frau noch unter den Lebenden weilt und hoffentlich noch recht lange, lange Zeit in der ‚schlechten Gesellschaft‘ verweilen wird. Nun aber, Kinder – ich habe einen mörderlichen Appetit. Hoffentlich habt Ihr noch etwas zu essen für mich übrig. Geschenke habe ich vergessen mitzubringen, aber Ihr seht es ja – ein Geschenk hat mir der Himmel zugeführt und damit begnügt Euch Alle!“

Brömsel und Henriette hielten sich noch immer lautlos umschlungen. Die Kinder begannen Angst zu empfinden vor der Gruppe der beiden Eheleute, denen das Schweigen der Gott der Glücklichen war.

„Kommt zu Tische! Die Karpfen werden sonst kalt,“ rief ich und trennte die Umarmung.

Onkel Schmidt ‚pustete‘ die Lichter am Tannenbaum fürsorglich aus. Von uns Andern würde Keiner daran gedacht haben, und es hätte am Ende noch ein Freudenfeuer und ein Trauerfeuer gegeben durch den Tannenbaum.

Es war aber wirklich Alles so gekommen, wie ich es meinem Freunde Brömsel vorbereitend erzählt hatte. Henriette war in San Francisco erkrankt; sie hatte ihr Passagierbillet weiter verkauft; so war sie erst nach ihrer Genesung, vier Wochen später, nach Europa zurückgereist. Der ‚Onkel Schmidt‘ hatte sie in Hamburg getroffen und wußte sich nicht zu rathen und zu helfen, wie er die Freudenpost dem Gatten Henriettens mittheilen sollte, denn er hatte den Mann im Uebermaße seines Schmerzes verlassen.

Ich selbst war bei der ganzen Geschichte der „Deus ex machina“ geworden und hatte in raschem und flüchtigem Einverständnisse mit Onkel Schmidt und Henrietten meine Rolle so gut oder so schlecht gespielt, wie ich es eben konnte.

Ein vergnügterer „heiliger Abend“ aber als in B., im Hause meines Freundes Brömsel, ist im Jahre 186* gewiß und wahrhaftig in der ganzen Welt nicht gefeiert worden. –


Genau zehn Jahre später, am Weihnachtsabend, saß ich selbst einsam und beweinte eine Todte, die nicht wiederkam. –




Hamburgs großer Geldschrank.


Unter den vielen „berechtigten Eigenthümlichkeiten“ der freien Stadt Hamburg ist eine, die namentlich dem nichthamburgischen Geschäftsmann, wenn er von ihr erfährt, wunderlich genug erscheint. Wird dem Hamburgischen Kaufmann ein fälliger Wechsel präsentirt, so ruft er nicht, wie etwa der süddeutsche Großhändler thun würde, seinen Cassirer, der dann Gold, Silber, Banknoten, Coupons und wie alle die Variationen des Themas „Geld“ heißen mögen, aufzählt. Der Hamburger, respective sein Handlungsgehülfe, spricht vielmehr das große Wort gelassen aus: „Wird abgeschrieben“. Und der Bringer des Wechsels entfernt sich zufriedengestellt. Erst am Nachmittag erfährt der Wechselinhaber, ob sein Geld wirklich eingegangen ist.

Bei der in Rede stehenden Ausgleichung wandert nämlich weder Münze noch Papier von Hand zu Hand. Von beiden hat der Hamburger Kaufmann fast immer nur verhältnißmäßig ganz geringe Beträge in Cassa. Sein Geld liegt in dem „gemeinsamen großen Geldschrank“ der Hamburger Kaufmannschaft, in der „alten Hamburger Bank“. Jeden Mittag an Wochentagen kurz vor oder nach ein Uhr erscheint der Bankinteressent oder sein Specialbevollmächtigter, dem er die „Bank-Procura“ verliehen hat, persönlich in der Bank und giebt eine Anzahl von „Bankzetteln“ ab. Das gedruckte Formular eines solchen Zettels lautet:

 Die Herren und Bürger der Bank
gelieben zu zahlen an ……………… die Summe
von ………… und mir solche Mark …………………
von meiner Conto Folio ………… abschreiben zu lassen.
Solches soll mir gute Zahlung sein. (Folgt Raum
für das Datum und gewöhnlich noch der gleichfalls gedruckte Name des betreffenden Bankinteressenten.)

Die Summe wird einmal in Zahlen und einmal in Buchstaben, das „Folio“ nur in Zahlen ausgedrückt. Die noch übrige Lücke füllt selbstverständlich der Name Desjenigen aus, an den die Bankzahlung geleistet werden soll.

Dann übertragen die „Bankschreiber“ die betreffenden Summen von einem Conto auf das andere und übergeben am Nachmittage dem Boten des Bankinteressenten einen Zettel, auf welchem die eingegangenen Beträge verzeichnet stehen. Von Zeit zu Zeit wird auch dem Bankinteressenten sein Bank-Saldo aufgegeben, um conforme Rechnung zu sichern.

Auf diese Weise wird „per Bank abgeschrieben“. Unter der „Bank“ versteht der Hamburger in dieser Beziehung immer nur die alte Hamburger Giro-Bank, nie eine der vielen anderen Privatbanken des Platzes. Hier sei gleich erwähnt, daß auch die weltberühmte Hamburger Giro-Bank eigentlich ein Privatinstitut ist. Der Staat Hamburg garantirt indessen den Bankfonds gegen Feuer und Diebstahl und übt eine gewisse Controle über den Geschäftsbetrieb aus. Staatliche und private Verhältnisse sind hier, wie in manchen anderen Hamburgischen Einrichtungen, auf eigenthümlichste Weise mit einander verbunden.

Eine einfachere, praktischere Zahlungsweise, als dies „Abschreiben per Bank“, läßt sich kaum denken. Nur weniger Federzüge, sowie eines einmal täglich zur Bank zu machenden Weges bedarf es, um die größten Summen in Bewegung zu setzen. Das in dem großen gemeinsamen Schrank liegende Geld der Kaufmannschaft circulirt, ohne sich vom Platz zu bewegen.

Die Mühe des Zählens wird erspart, desgleichen die des Prüfens der eingehenden Münzen und Werthpapiere, ob nicht schlechtes oder falsches Geld sich einschleiche. Noch wichtiger ist der Umstand, daß nur ausnahmsweise der Cassirer eines großen hamburgischen Handlungshauses es möglich machen könnte, im Portrait-Album der Kladderadatsch-Beilage zu figuriren, denn größere Baarvorräthe kommen, wie gesagt, beim hamburgischen Kaufmann nur ganz selten vor, und mit dem Banksaldo kann kein Cassirer durchbrennen. Gern bezahlt daher der Bank-Interessent für die Aufbewahrung seines Geldes jährlich eine kleine Summe, denn das ist wieder eine besondere Eigenthümlichkeit der Hamburger Bank, daß sie niemals Zinsen vergütet, auch wenn man ihr die größten Capitalien jahrelang belassen wollte, vielmehr sich in jedem Falle für die Aufbewahrung ein Geringes vergüten läßt. Sie macht eben keine Geschäfte mit dem Gelde, fungirt vielmehr ausschließlich als großer feuer- und diebsfester Geldschrank, der zu jeder Zeit das gesammte ihm anvertraute [857] Gut blank und baar herausgeben könnte, wenn es verlangt würde.

Von der praktischen Einrichtung ihrer Clearing-Houses sind die Engländer des Lobes voll. Im Clearing-House treffen Mittags so und so viele Commis verschiedener Banken zusammen und rechnen mit einander ab, so daß nachher nur die Saldi der gegenseitigen Rechnungsverhältnisse ausgezahlt zu werden brauchen. Die Hamburger Bank dagegen dient als Clearing-House für die Kaufleute und für viele Nichtkaufleute der größten Welthandelsstadt des europäischen Kontinents und steht somit als Clearing-House unübertroffen und einzig in seiner Art da.

Und trotz alledem wird am 1. Januar die alte Hamburger Bank aufhören zu existiren. Das klingt räthselhaft und bedarf der Erläuterung.

Wohl nimmt die eigentliche alte Hamburger Bank ein ehrenvolles Ende; das von ihr innegehabte Gebäude, dessen Abbildung wir unseren Lesern vorführen, geht für dreihunderttausend Thaler an die „Reichsbank-Hauptstelle Hamburg“ über. Das Clearing-House aber bleibt. Die Reichsbank wird, laut bereits abgegebener Erklärung, das Giro-Geschäft der alten Bank unverändert fortführen. Dagegen ist in anderer Beziehung die Letztere überflüssig geworden. Die Dienste, welche sie dem hamburgischen Handel Jahrhunderte lang in den schwersten Zeiten der Münzcalamitäten leistete, sind im neuen deutschen Reiche Gottlob nicht mehr von Nöthen. Welcher Art diese Dienste waren, sei in einem kurzen geschichtlichen Rückblick auf die Entstehung und das Wirken der Bank dargethan.


Die alte Bank in Hamburg.


Als zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts nicht nur Kipper und Wipper, sondern leider auch Fürsten und hohe Herren das Geld fälschten und leichte oder schlechte Münze prägten (die anschaulichste Schilderung dieser heillosen Münzverwirrung entwirft Gustav Freitag in seinen „Bildern aus Deutschlands Vergangenheit“), trug E. E. (Ein Ehrbarer) Rath Hamburgs bei der Bürgerschaft auf „Anrichtung einer Banke in dieser guten Stadt“ an, und zwar nach dem Vorbilde Venedigs, Barcelonas, Rotterdams und Amsterdams, wo bereits Giro-Banken zum Segen des Handels existirten und florirten.

Die Bürgerschaft besann sich lange. Nach vieljähriger Ueberlegung ward endlich am 29. Januar 1619 die Gründung der Bank bewilligt. Zur Valuta wählte man das beste Geld, welches Deutschland damals besaß, den reichsconstitutionsmäßigen „Species“ (= Thaler), neun Stück auf eine cölnische Mark feinen Silbers. Ein solcher Species ward gleich drei „Mark Banco“ gerechnet, und in dieser imaginären Münze „Mark Banco“ wurden damals schon die Bücher geführt. Der Staat übernahm die Garantie für den Bankfonds. Gerichtlicher oder sonstiger Beschlag auf das Geld, welches Jemand in der Bank hatte, ward für nicht zulässig erklärt; nur Falliten durften nicht über ihr Bankguthaben disponiren. Die Bank erhielt das Privilegium, daß alle Wechsel über vierhundert Mark nur per Bank bezahlt werden durften. Die mit der Verwaltung des Instituts betrauten „Bankbürger“, desgleichen die Angestellten wurden darauf vereidigt, über den Status, wie über alle geschäftlichen Operationen der Bank das strengste Schweigen zu bewahren, auch keinem Unbefugten mitzutheilen, wie viel das Guthaben irgend eines Bank-Interessenten betrage.

Schon in demselben Jahre ward der Wirkungskreis der Bank erweitert, indem eine „Lehn-Banco“ mit dem Institut verbunden wurde. Dieselbe lieh größere Summen auf Wirthschaften aller Art, gegen mäßige Zinsen. Dieses Lombardgeschäft hat die Bank bis zum heutigen Tage beibehalten, beschränkt sich aber seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auf die Belehnung von Contanten und Edelmetallen, sowie Kupfer.

Die Fundirung der Bankvaluta auf Species erwies sich nur zu bald als ungenügend, da Kaiser Leopold schlechte Species prägen ließ, die nur fünfhundertsechszehn (statt fünfhundertvierzig) As enthielten. Viele Bankinteressenten zogen nun nach und nach die alten schweren Species zum Zwecke des vortheilhaften Einschmelzens aus der Bank und brachten neue leichte Species hinein. Dadurch schwankte bald die Bancomark im Course, und zwar so erheblich, daß man z. B. für hundert Species außerhalb der Bank hundertachtzehn in der Bank liegende Species erhalten konnte.

Man sann auf radicale Reform. Der alte Baumeister Sonnin, Erbauer der großen Michaeliskirche zu Hamburg, soll durch eine zufällige Bemerkung den Anstoß zu der eingreifenden Neuerung gegeben haben, welche die Bankvaluta phönixartig verjüngte. Eines Abends unterhielt man sich in der „Patriotischen [858] Gesellschaft“ über die ungenügende Speciesvaluta. Da meinte Sonnin: „Ei, ei! Was doch die Chinesen für kluge Leute sind! Die kehren sich an kein Gepräge, sondern nehmen alles Silber nach Gehalt und Gewicht. Wenn wir das auch thäten, so brauchten wir uns nicht die Köpfe über die Species zu zerbrechen, sondern wir rechneten dann am einfachsten und gewissesten.“

Einige intelligente Kaufleute nahmen den Sonnin’schen Gedanken auf und machten Propaganda für die Einführung einer Barrenvaluta. Dieselbe wurde endlich Anno 1770 theilweise eingeführt, so daß Barrenvaluta und Speciesvaluta neben einander bestanden; bald aber überzeugte man sich allgemein von den Vortheilen der ersteren, und 1790 ward die Speciescasse ganz aufgehoben. So hatte man denn das Ideal einer Valuta, die absolut unveränderlich blieb, denn dem in den Kellern der Bank ruhenden, mit dem Stempel des Wardeins versehenen Silberbarren konnte keinerlei Münzverwirrung draußen in der Welt etwas anhaben.

Zu jener Zeit nahm die Bank einen ganz außerordentlichen Aufschwung. Auswärts ward mit dem verhältnißmäßig neuen Papiergelde der schmählichste Mißbrauch getrieben. Wie es mit den „Assignationen“ der ersten französischen Republik ging, ist bekannt, aber selbst in England herrschte eine schlimme Banknotenwirthschaft, die sogar das wirkliche Werthmaß, Edelmetall, den stärksten Coursschwankungen unterwarf; im Jahre der Handelskrisis wußte Niemand, welchen Werth ein Pfund Sterling nach einigen Monaten haben werde. Dagegen stand „Banco“ unerschütterlich wie ein Fels im Meere; siebenundzwanzigdreiviertel Mark Hamburger Banco waren immer gleich einer Kölner Mark Feinsilber – das glaubte die ganze Welt. Ausländische Capitalisten brachten nicht selten einen Theil ihres Vermögens in die Hamburger Bank; gute hamburgische Wechselbriefe waren immer begehrt; neben dem Wechselgeschäft florirte auch der Waarenhandel, und endlich ließ auch der Umstand, daß Silberbarren in Masse zur Hamburger Bank wanderten, die Stadt zum Silbermarkt ersten Ranges werden.

Doch bald folgten schlimme Zeiten. Die französische Herrschaft und die Continentalsperre fügten Hamburg unberechenbaren Schaden zu, und um das Maß des Unglücks voll zu machen, ließ zur Zeit der Belagerung Hamburgs, am 4. November 1813, Davoust die Bank unter Siegel legen. Das hatte Niemand geahnt, war doch der Bankfond Privateigenthum. Der Marschall aber erklärte, es solle Alles wiedererstattet werden, einstweilen brauche er dringend Geld zum Kriegführen. So ward denn bis zum 17. April 1814 nach und nach der gesammte Inhalt der Bank, 7,506,956 Bancomark 4 Schilling, geraubt. Der Raub lieferte den glänzendsten Beweis von der Solidität des Instituts, denn das Guthaben der Bankinteressenten hatte nur 7,489,343 Bancomark 12½ Schilling betragen. Das eigene Vermögen der Bank war also um 17,612 Bancomark 7½ Schilling geschmälert worden.

Gleich nach der Befreiung Hamburgs, am 1. Juni 1814, erfolgte die Wiedereröffnung der Bank. Durch den Pariser Frieden ward Frankreich auferlegt, der Bank 10 Millionen Franken Ersatz in fünfprocentigen Renten zu leisten.

Während des nächsten halben Jahrhunderts führte die Bank ein Leben idyllischer Ruhe; die Organisation des Instituts hatte sich so vortrefflich bewährt, daß man die größte Scheu hegte, auch nur das Geringste an derselben zu ändern. Die Hamburger Bank stand isolirt, aber weltbekannt und weltberühmt da, als alle anderen europäischen Girobanken längst eingegangen waren. Auch im Jahre 1857, zur Zeit der großen Handelskrisis, konnte die Bank ihren Verpflichtungen jederzeit gerecht werden. Die fünfzehn Millionen, welche der Staat Hamburg damals von Oesterreich entlieh, um der Geldklemme abzuhelfen, wurden wohl in den Kellern der Bank aufbewahrt; das Institut selbst war aber nur Verwahrer und Hüter des Schatzes und bedurfte keiner fremden Hülfe. Ueberhaupt blieben die fünfzehn Millionen unangerührt und wanderten nach sechs Monaten in den nämlichen Kisten mit Zinsen und Dank zurück.

Mit der wachsenden Bedeutung der vielen Privatbanken, die sich nicht auf das Girogeschäft beschränkten, sondern ihren Kunden alle möglichen anderen Banquiersdienste leisteten, mußte indessen der Glanz der alten Bank nach und nach verlöschen. Und als endlich die Münzverhältnisse Deutschlands zur endgültigen Regelung gelangten, als das neugestaltete deutsche Reich auch auf diesem Gebiete Ordnung schaffte, da schlug die Stunde der „Banco-Mark“. Am 15. November 1872 wurden neben den Silberconten auch Reichsmarkconten eröffnet, und am 15. Februar 1873 ward die Barren-Valuta endgültig aufgegeben. Von diesem Tage an schreibt der Hamburger Kaufmann in Reichsmark ab.

Nunmehr war die Aufhebung der Girobank selbst nur eine Frage der Zeit. Es ließ sich voraussehen, daß früher oder später die Reichsbank den Posten einnehmen würde, welchen die alte Hamburger Bank Jahrhunderte lang so würdig ausgefüllt hatte. Sie sicherte während der schlimmsten Zeiten der Münzverwirrung dem Handel Hamburgs die solide Basis einer zuverlässigen Valuta. Das war ihre Hauptaufgabe, welche sie treulich erfüllte, und es ist erfreulich, daß sie dieselbe heutzutage nicht mehr zu erfüllen braucht. Ihre Nebenaufgabe, als Clearing-House par excellence zu fungiren, kann sie getrost der „Reichsbank-Hauptstelle Hamburg“ überlassen; darf man doch zur Solidität der Deutschen Reichsbank dasselbe Vertrauen hegen, welches man der alten Hamburger Bank schenkte. Die Hamburger Börse wird das altehrwürdige Institut nicht vermissen; wohl aber darf sie sich mit Dank seiner früheren Leistungen erinnern, und so wird das Andenken der alten Hamburger Bank ein ehrenvolles bleiben.

Gustav Kopal.



Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
12. „Dividendenbier“. (Schluß.)

Die Gründer beschränkten sich darauf, Privatbrauereien in Actiengesellschaften umzuwandeln. Was aber von manchen Brauereien fabricirt, an vielen Orten verschänkt wurde, war fast ungenießbar, war oft geradezu Gift. Um die Bieractien unterzubringen, warf man hohe Dividenden aus, und um bei der ungeheuren Belastung und der kostspieligen, verschwenderischen Wirthschaft überhaupt Dividenden erzielen zu können, producirte man ein Getränk, dem das Volk mit vollem Rechte und höchst treffend den Namen „Dividendenjauche“ beilegte.

Unter diesem widerlichen Getränk, das den Durst nicht stillte und doch auch wieder nicht reizte, das mancherlei Unbequemlichkeiten und sogar Unpäßlichkeiten erzeugte, litten Publicum und Gastwirthe gleichmäßig. Man trank es nur mit Unbehagen und Widerstreben.

Alle Biere, auch die, welche die noch übrig gebliebenen Privatbrauereien herstellten, wurden schlechter. Das früher so beliebte „Actienbier“ von Tivoli verlor schnell seinen Ruf, und das Wort „Actienbier“ wurde nur noch im verächtlichen Sinne gebraucht, wo man nicht „Dividendenjauche“ sagen wollte. Alle Actienbrauereien liefern ein miserables Getränk, das miserabelste aber diejenigen Gesellschaften, welche sich später als faule und oberfaule Gründungen erwiesen, wie Schloßbrauerei Schöneberg, Adler, Societäts-Brauerei und Hasenhaide. Im besten Falle wurde ein Gebräu fabricirt, das früher als „Bier zweiter Classe“ galt und das, die Tonne einen oder zwei Thaler billiger, in gewissen Tanzlocalen und Vergnügungs-Etablissements verschänkt worden war.

Nur Eine Ausnahme ist zu vermerken. Der alte brave Patzenhofer ließ sich zu dem Schwindel der „Dividendenjauche“ nicht herab. Auch in der Gründerperiode behauptete „Patzenhofer“, wiewohl jetzt ebenfalls „Actienbier“, seinen alten Geschmack und Gehalt. Selbstverständlich war es sehr begehrt und konnte der Nachfrage nicht genügen. – Uebrigens ist auch dieses Bier in der allerletzten Zeit schlechter geworden.

[859] Aber nicht genug an der Dividendenjauche – die edeln Fabrikanten beschlossen auch den Preis für dieses köstliche Naß noch zu erhöhen. Ihnen vorauf gingen freilich die Weißbierbrauer. In Berlin wird noch immer viel Weißbier getrunken; auch bei der jüngeren Generation hat das „Bairisch“ die „kühle Blonde“ nicht verdrängen können. Weißbier ist ein moussirendes, in heißen Sommertagen ganz probates, nur in Cholerazeiten etwas gefährliches Getränk. Um es überhaupt trinken zu können, muß man mindestens zehn Jahre in Berlin gelebt haben. Um es mit Geschmack zu trinken, muß man in Berlin geboren sein. Dem Fremden, dem Anfänger erscheint es wie Lehmwasser, und es schmeckt ihm auch nicht besser. Dem geborenen Berliner dagegen dünkt es Champagner; als gewitzter und vorsichtiger Mann vergißt er aber doch nicht, auf die „kühle Blonde“ stets eine „Strippe“, das ist den landesüblichen Gilka oder Kümmel, zu setzen.

October 1871 traten die Weißbierbrauer zusammen und erklärten, die übliche „Rabatt-Tonne“ nicht mehr gewähren zu wollen. Alsbald versammelten sich im großen Saale des Handwerkervereins die Weißbier-Schänker und Weißbier-Verleger[1], sprachen ihre moralische Entrüstung aus und verpflichteten sich auf Ehrenwort zu einem gemeinsamen Strike. Nach einigen schwachen Versuchen mußten die Brauer sich wieder zu der hergebrachter „Rabatt-Tonne“ verstehen.

Durch diesen Ausgang nicht belehrt, verbündeten sich jetzt die Actienbrauereien und verlangten für die Tonne „Bairisch“, statt 7 Thaler, von Neujahr ab 7½ Thaler. Auch hier gaben den Anstoß die fragwürdigsten Gründungen, wie Moabit, Schöneberg, Adler, und bald schlossen sich ihnen die anderen Gesellschaften an. Alle verschworen sich, nicht billiger zu liefern, und erließen an die Schankwirthe einen drohenden Ukas. Aber diese handelten ebenso geschlossen und noch energischer. Sie wiesen das „menschenentwürdigende“ Circular, wie sie den Ukas nannten, weit von sich, verpflichteten sich zu Conventionalstrafen, gründeten eine Strike-Casse und bezogen ihr Bier aus Privatbrauereien oder von auswärts. Beide Theile legten den Casus dem Publicum vor; denn beide Theile versicherten, nur die Interessen des Publicums zu vertreten, dem die Brauer nur vorzügliches Bier liefern, das die Wirthe vor Uebertheuerung schützen wollten. Die Brauer behaupteten, daß die Wirthe an jeder Tonne 100 Procent profitiren – was die Wirthe sonder Zögern zugaben. Dagegen erklärten diese, daß die Brauer ihrerseits an jeder Tonne gleichfalls 100 Procent verdienen – was die Brauer nicht leugnen konnten. Das Publicum schien von beiden „Enthüllungen“ nicht überrascht zu sein und sah dem Kampfe gleichmüthig zu. Die Brauer waren die Klügsten, denn sie gaben nach. Einer nach dem andern vergaß seinen Schwur und lieferte zum alten Preise, während sie sich gegenseitig des Wortbruchs und des Meineids anklagten.

Die Wirthe hatten gewonnen, aber nun gingen sie gegen das Publicum vor. Dank unseren Manchesterleuten und der alleinseligmachenden Manchester-Doctrin von der „freien Concurrenz“, existiren in den Restaurationen keine geaichten Gläser und Flaschen, kümmert sich um Quantität und Qualität der verschänkten Getränke kein Gesetz, keine Aufsichtsbehörde. Ursprünglich hatten die sogenannten Bierseidel den Inhalt eines halben Quarts und wurden bis zum Rande ohne Spritzschaum gefüllt. Allmählich verkleinerten sich die Gläser; die Fabriken legten sich förmlich darauf, Vexirseidel zu machen, mit zolldickem Boden, fingerdicken Wänden und nach oben spitz zulaufend. Das war schon vor der Gründerzeit, aber nun wurde es noch weit ärger. Die Wirthe ließen die Gläser immer winziger werden, bis sie in vielen Localen zu einem halben Seidel zusammenschrumpften, das man dem Gaste präsentirt, zu zwei Dritteln Bier und zu einem Drittel Spritzschaum.

Die Tonne Bier kostet dem Wirthe 7 Thaler und bringt ihm, in ordentlichen Seideln verschänkt, 14 bis 16 Thaler. Bei solchen Miniaturgläsern aber schlägt er 18 bis 20 Thaler heraus. Und auch damit begnügten sich die Herren noch nicht, viele von ihnen erhöhten die Preise jetzt um 33 bis 66 Procent. Während man früher für ein normales Seidel guten Bieres 1½ Groschen zahlte, mußte man jetzt für ein Zwergseidelchen „Dividendenjauche“, das der Brauerei höchstens 3 Pfennige, dem Wirth vielleicht 6 Pfennige kostete – 2 und auch 2½ Silbergroschen zahlen.

Dazu kommt noch das Trinkgeld an den Kellner. Die Kellner erhalten vom Wirthe gar keinen oder doch einen erbärmlichen Lohn und sind daher auf den Wohlthätigkeitssinn der Gäste angewiesen. Vor dem Schwindel waren die Trinkgelder facultativ, wie die allgemeine Wehrpflicht; jetzt wurden sie obligatorisch, wie die Civilehe. Ehemals dankten die Kellner schon für einen halben Silbergroschen; nun thaten sie es auch für einen ganzen noch nicht. – Nebenbei bemerkt, übernahmen von den Kellnern die Gründer und Gründergehülfen die Lehre von den Trinkgeldern und bildeten sie zu einem System aus, das statt der Groschen Tausende und Hunderttausende von Gulden und Thalern einbringt.

Um neuen Ausschreitungen der Actienbrauereien vorzubeugen, um dem Publicum etwas Besseres zu bieten, als die ekle „Dividendenjauche“, trat eine Anzahl von Restaurateuren zusammen, lauter politisch und oratorisch ausgebildete Männer, die sich offenbar zu etwas Höherem berufen fühlten, und gründeten unter Führung des Bankhauses Bercht u. Swoboda eine eigene Brauerei, die „Vereinsbrauerei Berliner Gastwirthe“. Das war auf diesem Gebiete die einzige wirkliche Neuschöpfung der Gründer, aber dafür ist sie auch darnach.

Am 15. April 1872 legte man den Grundstein der „Vereinsbrauerei“, und Abends gab’s einen großen Ball, wo gemüthlich mit einander Gründer und Actionäre tanzten. So verlustirt sich die Katze mit den Mäusen, eh’ sie dieselben frißt; so spielen mit einander Wölfe und Lämmer. Hätten die Actionäre ahnen können, was ihnen bevorstand – das Tanzen und Jubiliren würde ihnen vergangen sein.

„Der rühmlichst bekannte Ingenieur Herr Nehrlich, Chef des großen Ingenieurbureaus von Nehrlich und Ellissen in Frankfurt am Main“, wurde „für das Unternehmen gewonnen“, und derselbe Herr Nehrlich fungirte auch zeitweise als „Vorsitzender des Aufsichtsraths“. Herr Hugo Nehrlich baute „mustergültig“, aber überraschend theuer und reichte auch noch hinterher eine „Nachrechnung“ über „Extralieferungen“ ein, die den Actionären fast Thränen erpreßte. Die „Vereinsbrauerei“ ist mit 1¾ Millionen Thaler belastet; daraus erklärt sich der Cours der Actien mit circa 10. Die „Vereinsbrauerei“ producirte noch dünneres und schwächeres Bier als ihre Colleginnen, und sie ist in jeder Hinsicht ein würdiges Seitenstück zu der „Societätsbrauerei“ des Herrn Heinrich Reh. Die Geschichte dieser beiden Gründungen studirt jetzt der Staatsanwalt; aber wir fürchten, es wird dabei wieder nichts herauskommen.

Die 14 Bairisch-Bierbrauereien auf Actien tragen einschließlich der Hypotheken eine Capitalslast von 17 Millionen Thaler – gewiß eine gefährliche Ueberbürdung. Die Gesammtproduction betrug 1874 circa 800,000 Tonnen, welche Leistung gegenüber jener Summe nur mäßig genannt werden kann. Die Durchschnittsrente war in demselben Jahre nur 4½ Procent; 6 Brauereien zahlten über 5 Procent, 8 unter 5 Procent Dividende, Hasenhaide, Societäts- und Vereinsbrauerei – 0. Wenn Friedrichshain 9, Schultheiß 10 und Böhmisches Brauhaus gleichfalls 10 Procent Dividende gaben trotz der großen Belastung und trotz der kostspieligen Wirthschaft, so sieht man, wie hocheinträglich das Braugeschäft ist.

Neben „Bairisch“ machten die Gründer auch in der „kühlen Blonden“. Sie „gründeten“ die drei Weißbierbrauereien von Karl Landré, Emil Gericke und W. A. Bolle. – Landré ist noch verzeihlich, aber bösartig sind wieder Gericke und Bolle, denn sie entstanden beide unter den Händen des Herrn – Jean Fränkel.

Nachdem die Gründer von Bairisch- und Weißbierbrauereien „gegründet“ hatten, was sich irgend gründen ließ, schauten sie scharf aus und entdeckten in einer abgelegenen Straße eine Wittwe Fischer, die in stiller Zurückgezogenheit von der Welt und unbekümmert um die Fortschritte der Cultur in patriarchalischer Weise ein patriarchalisches Getränk braute – das heute nur noch in unterirdischen Gemächern credenzte und nur noch von Kindern und alten Weibern begehrte „Braun- und Bitterbier“. Ueber diese unschuldige Wittwe stürzten her: Benno Beer, Hermann Leubuscher, Max Gerschel, Gustav Loth, Julius [860] Pickardt und Hofrath Moritz Alberts und nöthigten sie, sich flugs in eine Actiengesellschaft verwandeln zu lassen, die sie mit dem pompösen Namen „Berliner Brauhaus“ belegten. Die Bitterbierbrauerei wurde den Actionären mit 390,000 Thalern berechnet und war wirklich eine bittere Gründung. Inzwischen hat man liquidirt, und die Liquidation ergab nicht weniger denn – 2½ Procent.

Selbstverständlich beschränkten sich die Berliner Gründer nicht auf Berlin; sie suchten auch die Provinzen, das ganze große deutsche Vaterland sorgfältig ab.

Jean Fränkel „gründete“ mit Louis Bamberger, Assessor a. D. Plewe und Anderen die Potsdamer Brauerei, vormals W. Hoene: – Cours circa 15. Julius Pickardt „gründete“ mit Leopold Krautheim, Fritz Ramme etc. die von Siegfried Geber und Joseph Julius Seelig vorgekaufte Brauerei Werder bei Potsdam, vormals F. W. Hoffmann. – Cours circa 5. Louis Gratweil verfaßte mit Heinrich Wisotzki, Bernhard Bonwitt, Julius Joseph, Louis Blumenthal, Alfred Glasenfeld, Emil Treitel, Moritz Treitel die von Julius Pickhardt vorgekaufte Oranienburger Schloßbrauerei (Cours?) und mit Kaufmann und Gustav Bendix die bei der Geburt verunglückte Grätzer Actienbrauerei im Posen’schen. Hermann Gratweil „gründete“ in Verbindung mit Samelson und Sackur, David Liepmann in Berlin, Gebrüder Alexander, Ludwig Heyne, Oppenheim und Schweitzer in Breslau die dortige Brauerei Wiesner und in Verbindung mit Seelig und Ferdinand Strahl (Centralbank für Genossenschaften) die Brauerei von Herberz und Compagnie in Dortmund, die beide den Actionären viel Schmerzen gemacht haben. Die Kieler Actienbrauerei, vormals Consul C. Scheibel, ward von dem Consortium Geber-Stahlschmidt „gegründet“ etc.

Wie man sieht, kehren dieselben Personen häufig wieder, treten dieselben Leute bei den verschiedensten Gründungen auf. In sehr intimen Beziehungen stehen zu einander und „gründeten“ oft Hand in Hand: Hermann Geber (gewissermaßen der Häuptling, der aber gern hinter den Coulissen bleibt), Siegfried Geber, Reinhold Alexander Seelig, Joseph Julius Seelig, Eduard Stahlschmidt, Hermann Leubuscher, Hermann Gratweil, Louis Gratweil, Julius Pickardt, Moritz Bonwitt, Bernhard Bonwitt, Bernhard Maywald, Julius Müller, „Generaldirector“ der Wöhlert’schen Maschinenfabrik, Justizrath Hinschius (kürzlich zum Geheimrath ernannt), Julius Schweitzer etc. etc.

Was auswärts nicht Berliner Gründer thaten, thaten Gründer in der Provinz. In jeder Stadt, in jedem Städtchen entstanden „Actienbrauereien“; aller Orten klagte und schalt man über „Dividendenjauche“.

Merkwürdiger Weise fanden diese lauten Klagen in der Presse nicht den geringsten Wiederhall. Die Presse, die sich als Organ der öffentlichen Meinung, als Vertreterin der allgemeinen Interessen geberdet, blieb stumm. Sie hatte auch kein Wort für das Treiben der Bäcker, welche die Backwaaren bis zur mikroskopischen Grenze klein werden ließen und den Preis des kleinsten Gebäcks rasch auf das Doppelte und Dreifache erhöhten. Sie sah es ruhig mit an, wie die Fleischer und Höker, Gewürzer und Händler aller Art die neue Maß- und Gewichtsordnung benutzten, um namentlich die kleinen Leute in der unverantwortlichsten Art zu kürzen und zu betrügen.

Erst neuerdings, wo das Uebel schon nicht mehr so craß auftritt, las man in einigen Zeitschriften Aufsätze über Verschlechterung und Verfälschung des Biers, und auch im Reichstage kam die Sache zur Sprache. Da geriethen die Brauer in Harnisch, wiesen die Beschuldigung mit Entrüstung zurück und drohten mit gerichtlichen Strafanträgen. Herr Richard Rösicke, der „gegründete“ Mitvorbesitzer und jetzige Director der Schultheiß’schen Brauerei, erließ als Inserat eine lange Abhandlung, worin er nachzuweisen sucht, daß die Brauer nur wenig Malzsurrogate und gar keine Hopfensurrogate verwenden. Indeß muß er doch zugeben: „daß die Biere nicht mehr so stark gebraut und nicht mehr so lange gelagert werden, wie früher“. Das aber sind, wie Jedermann begreifen kann, zwei wesentliche Mängel, die allein schon die Verschlechterung des Biers erklären. Herr Rösicke rühmt zwar: die Fortschritte in der Brauereikunst, die Verwerthung des Dampfes, die Vervollkommnung der Maschinen etc. Doch das ist eitel Dunst! Unsere Zunge lehrt uns, trotz Herrn Rösicke, daß die Biere entschieden an Gehalt und Geschmack verloren haben, daß sie lange nicht mehr das sind, was sie vor dem Gründungsschwindel waren.

Und die Regierung thut ein Uebriges. Anstatt die Brauart und den Ausschank des Bieres unter Controle zu stellen, bereitet sie ein Gesetz vor: die Erhöhung der Braumalzsteuer – wahrscheinlich, um die Börsensteuer annehmbarer zu machen, welche sie seit Jahren plant, aber bisher nicht einzubringen wagte, soll das Bier nun doppelt besteuert werden. Nach Aufhebung der Schlacht- und Mahlsteuer, nachdem die Wissenschaft längst die Besteuerung der eigentlichen Lebensbedürfnisse für verwerflich erklärt hat – gewiß ein wunderbares Project, das da zeugt von dem rathlosen Hin- und Herschwanken, von dem verzweifelten Experimentiren unserer manchesterlichen Steuerpolitiker. Die Brauer protestiren gegen die Erhöhung der Braumalzsteuer. Sie erblicken darin eine „neue Schädigung“ des Brauereigewerbes, das „ohnehin durch die hohen Preise der Rohmaterialien, sowie durch die in der Gründungsperiode entstandene große Concurrenz mit einem sehr geringen Nutzen zu arbeiten genöthigt ist“. –

Nun, die Herren Brauer werden sich schon zu helfen wissen. Entweder sie erhöhen die Preise oder sie fabriciren „Steuerjauche“. Vielleicht thun sie auch Beides. Das Publicum allein würde den Schaden spüren, die Steuer zahlen müssen, und zwar nicht einfach, sondern doppelt und dreifach. Darum, so hoffen wir, wird der Reichstag ein Einsehen haben und die Erhöhung der Brausteuer verwerfen, wie er einst die Petroleumsteuer verwarf.




Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!


Gottschall, Rudolf, Janus. Friedens- und Kriegsgedichte. Eleg. geb. mit Goldschnitt. 4 Mk. 50 Pfg.
Stolle, Ferdinand, Palmen des Friedens. Dichtungen. 5. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt. 4 Mk. 50 Pfg.
Werner, E., Gartenlaubenblüthen. Inhalt: „Ein Held der Feder“. – „Hermann“. 2 Bände. Eleg. br. 6 Mk.
Am Altar. Roman. 2 Bände. Eleg. br. 6 Mk.
Glück auf! Roman. 2 Bände. Eleg. br. 7 Mk. 50 Pfg.
Gesprengte Fesseln. Roman. 2 Bände. Eleg. br. 7 Mk.


Nicht zu übersehen.

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal und der dreiundzwanzigste Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Der neue Jahrgang beginnt mit:

E. Marlitt, „Im Hause des Commerzienrathes“.

Darauf folgt sofort:

E. Werner, „Vineta“.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig anstatt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung. 


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wer in Berlin mit Bier in Flaschen oder Kruken handelt, heißt „Bier-Verleger“; es giebt hier auch „Milch- und Sahne-Verleger“ oder „Milch- und Sahne-Bureaux“.